Im Jahr 2011 veränderte sich für viele Millionen Menschen ihre Alltagswelt. Despoten
wurden gestürzt, Regime in Frage gestellt und dem angestauten Unmut Luft gemacht.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich eine Protestbewegung von Tunesien über Nordafrika
und den Nahen und Mittleren Osten, bis sie schließlich auch in Form von
Flüchtlingsströmen Europa erreichte.
Ein Land im Herzen des Nahen Ostens wird eher selten im Zusammenhang mit dem
arabischen Frühling erwähnt- der Libanon. Dennoch kam es auch in dem kleinen Staat
an der Levante zu Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften.
Hier streiten sich seit Jahrhunderten und vermehrt seit Ausbruch des Bürgerkriegs
Historiker, Politiker und Kleriker über die Existenz einer nationalen Identität und wie
diese auszusehen habe. Die mehrdeutige Identität des Landes spaltete dessen
Bevölkerung entlang lokaler, nationaler und ideologischer Linien. Entlang dieser entstand
ein konfliktträchtiges Spannungsfeld kommunaler, staatlicher und nationaler Grenzen,
welche die Frage nach der Identität sehr problematisch gestalten. Besonders betroffen
sind Grenzregionen, die zudem noch dem Einfluss externer Identitäten und Mächte
unterstehen. Daher entstand im Libanon eine hohe Sensitivität gegenüber sozialer
Kohärenz und nationaler Einheit. Im weitgefächerten Spektrum der libanesischen
Gesellschaft, ist religiöser Kommunalismus die vorherrschende Identität. Daher herrscht
seit langem die Forderung nach einer Säkularisierung, um die trennende Kluft zu
überwinden.
Trotz dieser heiklen Problematik in einem Land mit mehr als 18 verschiedenen
Konfessionsgruppen, kommt es auch hier zu Protesten, vornehmlich von Studenten und
Intellektuellen. Nun stellt sich die Frage, ob diese vom arabischen Frühling beeinflusst
waren. Hatte dieser die Wahrnehmung von nationaler Identität und Alterität, von „wir“ und
„sie“, verändert? Oder sind die Ursachen dem Lande selbst immanent? Was macht die
protestierenden Studenten und ihre Lebenswelt so unterschiedlich von den Taxifahrern?
Welche Rolle spielt dabei das Lauffeuer der arabischen Proteste in nächster Umgebung
des Libanon?
Rund um den Libanon ruft man „Das Volk will den Fall des Systems!“7 Auch
Studenten im Libanon stimmen am 27. Januar unbemerkt vom Rest der Welt in den
Kanon ein. Ein Ergebnis der Protestwelle oder der innerlibanesischen Veränderungen?
Inhaltsverzeichnis
1 EINLEITUNG
1.1 Hintergrund der Arbeit
1.2 Zielsetzung
1.3 Konzeptionelle Vorüberlegungen
1.4 Arbeitsmethoden
1.5 Aufbau und Vorgehensweise
2 THEORETISCHE VERORTUNG
2.1 Fachgebundener Kontext zu „kollektiver Identität“
2.2 Der „Nationalismusbegriff“ und „nationale Identität“ in der Ethnologie
2.3 Identitätsdiskurs für den Libanon
2.4 Festlegung der Arbeitsdefinition
3 METHODIKDERFORSCHUNG
3.1 Entwicklung der Fragestellung
3.2 Auswahl und Bedeutung des Ortes
3.3 Bestimmung der Zielgruppe
3.4 Interviews
3.5 Entwicklung des Leitfadens
3.6 Selbstreflexion
3.7 Schwierigkeiten der Forschung
4 ZEITLICHER UND ETHNOGRAPHISCHER KONTEXT
4.1 Hintergründe
4.1.1 Der arabischeFrühling
4.1.2 Ausgangssituation im Libanon
4.2 Ethnographie des Libanon
4.2.1 Bevölkerungszusammensetzung
4.2.2 Nationalpakt und Proporzsystem
4.2.3 Demographische Entwicklungen
4.3 Geschichte und Geschichtsschreibung im Libanon
4.3.1 Grundzüge der libanesischen Geschichte
4.3.2 Entstehung des libanesischen Feudalsystems und traditioneller Loyalitäten
4.3.3 Auseinandersetzungen und Koexistenz: das schwierige Verhältnis der Gruppen
4.3.4 Der libanesische Bürgerkrieg und sein Vermächtnis
4.3.5 Entwicklungen seitTaif
4.3.6 Synthese
5 AUSWERTUNG DER EMPIRIE: WANDEL VON IDENTITÄT UND ALTERITÄT
5.1 Proteste im Libanon 2011
5.2 Entwicklungen im Libanon: Veränderungen des „Wir“ und „Sie“
5.2.1 Alter Kontext der Identitätskonstruktion
5.2.1.1 Mangelnde Aufarbeitung des Bürgerkrieges
5.2.1.2 Konfessionsgebundener Rahmen der Identitätssuche
5.2.1.3 Entstehung von Angst und Perspektivlosigkeit
5.2.2 Einflüsse und Erfahrungen der Postbürgerkriegsgeneration
5.2.2.1 Überkommen alter Konfliktstrukturen
5.2.2.2 Globale Einflüsse und Diasporaerfahrungen
5.2.2.3 Neue Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion
5.2.2.3.1 Universitäten als Orte der Begegnung
5.2.2.3.2 Digitale Revolution: die Rolle sozialer Medien
5.2.2.4 „nationale“ Schlüsselmomente
5.2.2.4.1 Zedernrevolution 2005
5.2.2.4.2 Sommerkrieg 2006
5.2.2.5 Hamra als Überkommen alter Raumstrukturen
5.2.2.6 Auswirkungen am Beispiel der Ansichten zu interkonfessionellen Ehen
5.2.3 Inkongruenz und Spannungsfelder
5.2.3.1 Resignation und Nationaler Minderwertigkeitskomplex
5.2.3.2 Revitalisierung und Nationalstolz
5.2.4 Aufkommen einer neuen nationalen Jugendbewegung
5.3 Synthese
6 ANALYSE DER VERÄNDERUNGEN
6.1 Anvisierte „Grammatik der Segmentierung“ im Abkommen von Taif
6.2 Die konkurrierende „Grammatik der Vereinnahmung“ der libanesischen Taifiya
6.3 Erfahrungen der „Grammatik der Orientalisierung“ am Beispiel der Zedernrevolution .
6.4 Synthese: Veränderungen in der Konstruktion von identity/ alterity
7 DISKUSSION: SIND DIE PROTESTE IM LIBANON IN DEN ARABISCHEN FRÜHLING EINZUORDNEN?
8 SCHLUSS
9 LITERATURVERZEICHNIS
9.1 Printmedien
9.2 Onlinemedien
9.3 Weitere Quellen:
10 TABELLEN- UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS
11 ANHANG
11.1 Transkriptionszeichen
11.2 Aufschlüsselung der Gesprächspartner
11.3 Interview mit Person 09 am 16.02.2011, Beirut, Achrafiye
Abkürzungsverzeichnis:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Hinweise technischer Art
Um die Aussagen der Interviews möglichst originalgetreu zu halten und den Sinn nicht durch unnötige Übersetzungen zu verfälschen, werden die Interviews im Originalton und der Originalsprache Deutsch, Französisch oder Englisch wiedergegeben, auch wenn dies die Lesbarkeit einschränkt. Die Interviews wurden anhand von Absätzen durchnummeriert, um das Wiederfinden der Textpassagen zu erleichtern. Auf Wunsch meiner Interviewpartner werden die Namen anonym gehalten und stattdessen der neutrale Ausdruck „Person“ benutzt. Im Anhang finden sich nähere Angaben zu den Interviews.
Die Umschrift arabischer Namen und Begriffe erfolgt nach üblichen Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Für Personen- und Ortsnamen, die häufiger in europäischen Sprachen benutzt werden, gelten jedoch Ausnahmen.
1 Einleitung
„Auf, ihr alle! Für Vaterland, Flagge und Ruhm! Unser Mut und unsere Schriften suchen in den Altern ihresgleichen. Unsere Berge und unsere Täler bringen unerschütterliche Männer hervor.
Und der Vollendung widmen wir all' unsere Anstrengungen.
Auf, ihr alle! Für Vaterland, Flagge und Ruhm!“[1]
Erste Strophe der libanesischen Nationalhymne
„Nur einmal machte man mich sprachlos. Es war, als mich jemand fragte: ,Wer bist du?’“[2]
Khalil Gibran, libanesischer Dichter, 1926
Beirut, 20. Januar 2011. Ich bin unterwegs in das christliche Viertel Achrafiye zu einem Interview in der ABC-Shopping-Mall, einer der größten und bekanntesten des gesamten Libanon. Dazu muss ich das angrenzende schiitische Viertel El Zarif durchqueren. Da es in Strömen regnet, beschließe ich ein Taxi zu nehmen. Ich halte einen der unzähligen Fahrer an und frage auf arabisch, ob er mich nach Achrafiye bringt. Wortlos winkt er ab und fährt weg. Während ich an meinen Arabischkenntnissen zweifele, versuche ich mein Glück erfolglos bei ein paar weiteren Fahrern, bis ich an einen ca. 30-40 jährigen Libanesen gerate, der Englisch spricht. Auch er winkt ab. Auf die Frage warum, antwortet er, er würde sich dort nicht auskennen. Ich frage ihn, ob er nicht aus Beirut sei. Er erwidert: „Doch, ich habe mein ganzes Leben hier gewohnt. Aber was hätte ich denn je in einem christlichen Viertel gesollt?“
Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch erreiche ich durchnässt Achrafiye.
1.1 Hintergrund der Arbeit
Im Jahr 2011 veränderte sich für viele Millionen Menschen ihre Alltagswelt. Despoten wurden gestürzt, Regime in Frage gestellt und dem angestauten Unmut Luft gemacht. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich eine Protestbewegung von Tunesien über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten, bis sie schließlich auch in Form von Flüchtlingsströmen Europa erreichte.
Ein Land im Herzen des Nahen Ostens wird eher selten im Zusammenhang mit dem arabischen Frühling erwähnt- der Libanon. Dennoch kam es auch in dem kleinen Staat an der Levante zu Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Die Aufstandsbewegung in der arabischen Welt, die nun ohne Rücksicht auf Konfession und Ethnizität, ein übergreifendes Bewusstsein, mit den Worten von Shirky, ein „shared awarness“ heraufbeschworen hat, trifft auch auf den tief durch den 15 jährigen Bürgerkrieg gespaltenen Libanon.
Hier streiten sich seit Jahrhunderten und vermehrt seit Ausbruch des Bürgerkriegs Historiker, Politiker und Kleriker über die Existenz einer nationalen Identität und wie diese auszusehen habe. Die mehrdeutige Identität des Landes spaltete dessen Bevölkerung entlang lokaler, nationalerund ideologischer Linien. Entlang dieser entstand ein konfliktträchtiges Spannungsfeld kommunaler, staatlicher und nationaler Grenzen, welche die Frage nach der Identität sehr problematisch gestalten. Besonders betroffen sind Grenzregionen, die zudem noch dem Einfluss externer Identitäten und Mächte unterstehen. Daher entstand im Libanon eine hohe Sensitivität gegenüber sozialer Kohärenz und nationaler Einheit. Im weitgefächerten Spektrum der libanesischen Gesellschaft, ist religiöser Kommunalismus die vorherrschende Identität. Daher herrscht seit langem die Forderung nach einer Säkularisierung, um die trennende Kluft zu überwinden.[3]
Trotz dieser heiklen Problematik in einem Land mit mehr als 18 verschiedenen Konfessionsgruppen, kommt es auch hier zu Protesten, vornehmlich von Studenten und Intellektuellen. Nun stellt sich die Frage, ob diese vom arabischen Frühling beeinflusst waren. Hatte dieser die Wahrnehmung von nationaler Identität und Alterität, von „wir“ und „sie“, verändert? Oder sind die Ursachen dem Lande selbst immanent? Was macht die protestierenden Studenten und ihre Lebenswelt so unterschiedlich von den Taxifahrern? Welche Rolle spielt dabei das Lauffeuer der arabischen Proteste in nächster Umgebung des Libanon?
Anhand von Interviews mit Beiruter Studenten, Fotomaterial, Teilnahme an sozialen Netzwerken und Feldnotizen soll dargestellt werden, wie sich die Umgebung der Studenten im Gegensatz zu der der Bürgerkriegsgeneration verändert. Obwohl die Befragten in einer der „most highly politicised and divided societies in the Middle East“[4] leben, stehen ihre Erfahrungen in einem Spannungsfeld der Diskurse des Libanon. Der verdrängte Bürgerkrieg,[5] welcher noch immer die Narrativen und das Verhältnis der Gruppen im Libanon bestimmt und die zunehmende Angst vor der Zukunft und der Stagnation, bilden den eigentlichen Bezugsrahmen jeglicher möglicher Identität.[6] Dennoch erleben die Studenten zunehmend ein Loslösen aus den seit 30 Jahren festgefahrenen Bezugsrahmen. Krieg und Besatzung ließen neue Kategorien von „Opfern“ und „Tätern“ entstehen. Gemischte Universitäten und Internet boten neue Formen die alten Kommunikations- und Interaktionsmuster zu übertreten und der
Universitätsbezirk Hamra, lässt ein über- bzw. unkonfessionelles Miteinander zu, welches noch vor wenigen Jahren höchst problematisch gewesen wäre. Daraus ergeben sich neue Formen der Identität/Alterität, welche an die Parole des arabischen Frühlings erinnern. Rund um den Libanon ruft man „Das Volk will den Fall des Systems!“[7] Auch Studenten im Libanon stimmen am 27. Januar unbemerkt vom Rest der Welt in den Kanon ein. Ein Ergebnis der Protestwelle oder der innerlibanesischen Veränderungen?
1.2 Zielsetzung
In der vorliegenden Arbeit soll nun auf der Basis einer Feldforschung im Libanon auf die Veränderungen und Einflüsse eingegangen werden, welchen die Postbürgerkriegsgeneration ausgesetzt ist. Ziel ist es, heraus zu finden, welche Veränderung sich in der Konstruktion von Alterität und Identität ergeben haben und ob dadurch ein „shared awarness“, im Sinne des arabischen Frühlings, entstehen konnte.
Bei der Forschung haben sich verschiedene Spannungsfelder herauskristallisiert. So ergab sich eine Dissonanz aus den Reaktionen auf die verschiedenen neuen und alten Einflüsse. Der Gegensatz zwischen dem „alten Bezugsrahmen“ innerhalb der jeweiligen Gruppe und der „neuen Einflüsse“ ist von zentraler Bedeutung für die Interpretation von Identität/Alterität. Durch die enorme Inkongruenz der beiden Kategorien ergab sich ein neues Spannungsfeld, in welchem sich die Studenten bewegen. Zum einen kam es zu einer „Resignation“ im Sinne von Negieren von Veränderung und Fortschritt im Libanon, beziehungsweise libanesischer Identität an sich, zum anderen entstand ein enormes Bedürfnis nach „Revitalisierung“ und der Entwicklung von Nationalstolz. Ersteres äußerte sich etwa in dem Anliegen, das Land für immer zu verlassen, wohingegen letzteres etwa in der zunehmenden Popularität der Folklore Sängerin FayrQz zum Ausdruck kommt. Auch wenn diese Dichotomien und Überlegungen den komplexen Realitäten, Entwicklungen und Konstruktionen des Libanon nicht Rechnung tragen können und im Laufe der Ausführungen auch differenzierter darauf eingegangen werden muss, so dienen sie doch einem ersten Überblick über die Zusammenhänge.
Obwohl die Thematik in direktem Zusammenhang mit Diaspora, Geschichtskonstruktion, Globalisierung und Politik sowohl des Libanon, als auch des Nahostkonflikts stehen, wird im Rahmen der Arbeit nur so weit auf diese Konzepte und Themenbereiche eingegangen, als sie zum Verständnis notwendig sind und von meinen Interviewpartnern als wichtig erachtet wurden. Zudem kann der Diskurs um Globalisierung und Vernetzung, welcher sich auf die Studenten in vielerlei Hinsicht auswirkt, nicht ausführliche Erwähnung finden. Obwohl die Konstruktion von Identität direkt mit der Verwendung von Symbolen in Zusammenhang gebracht werden kann[8] und Kertzer sogar davon ausgeht, dass eine Nation nur über Symbole konstruiert werden kann[9], wird hier in Anbetracht des Rahmens der Arbeit und der Gefahr der Überbetonung auf die Analyse von Symbolen verzichtet.
Auch der „arabische Frühling“ und seine Auswirkungen und Entstehungen in den einzelnen Ländern werden in Anbetracht der Fragstellung auf den notwendigen Rahmen beschränkt, obwohl weitergehende Vergleiche sicherlich aufschlussreich sind. Im Fokus der Arbeit steht die Veränderung der Konstruktion von Identität/ Alterität Beiruter Studenten und die mögliche Einordnung der Protestbewegung im Libanon in den arabischen Frühling.
1.3 Konzeptionelle Vorüberlegungen
Obwohl der Fokus auf dem Beitrag libanesischer Meinungen und Stimmen liegt, sollen relevante Untersuchungen anderer Forscher verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen miteinbezogen werden, um einen breiteren Rahmen zu schaffen. Die vorliegende Arbeit kann zudem nicht von einer objektiven und universellen Wirklichkeit ausgehen, da sie auf Meinungen, Beobachtungen, Haltungen und Reflexionen aller Beitragenden, inklusive der Forscherin, beruhen und diese dadurch individuell und kollektiv konstruiert sind.
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen und Problematiken in der vorliegenden Arbeit erfordert zudem Abstraktionen und Verallgemeinerungen. Ausgehend von den einzelnen Ergebnissen soll dadurch ein breiteres Verständnis der Sachverhalte erzeugt werden. Die libanesischen Studenten aus Beirut als homogene Gruppe aufzufassen, wäre jedoch eine falsche Vorannahme. Die Meinungen, Erfahrungen und Herkunftsfamilien sind sehr unterschiedlich und nehmen auch unterschiedlichen Einfluss auf die Ansichten der Befragten. Dennoch stimmen sie in den Merkmalen des Wohnortes Beirut, der Rolle als Studenten, sowie ihrem Alter und daher Zuweisung zur Postbürgerkriegsgeneration im Vergleich mit anderen Libanesen, überein. Obwohl sie diese Eigenschaften teilen und aus den Interviews bestimmte Kategorien generiert werden konnten, können mit großer Wahrscheinlichkeit für alle Erkenntnisse Gegenbeispiele gefunden werden.
1.4 Arbeitsmethoden
Für die Generierung von Erkenntnissen ist es mir wichtig, nicht nur auf Theorien und wissenschaftliche Abhandlungen zurück zu greifen, sondern auch das für die Postkriegsgeneration äußert wichtig und populär gewordene Medium der sozialen Netzwerke zu berücksichtigen. Diese spielen eine große Rolle im täglichen Leben und Umgang miteinander und ermöglichen dadurch eine Teilnahme an der virtuellen Lebenswelt der Studenten. Ebenso greife ich bei der Analyse auf verschiedene Arten der Ausdrucksformen aus der Populärkultur der Studenten zurück, wie etwa ausgewählte Wandzeichnungen oder Internetblogs. Diese anschaulichen Materialien verwende ich, um ein besseres Verständnis der Alltagswelt zu ermöglichen. Zudem lässt diese Methode auch einen Abgleich nonverbaler Interaktionen mit den Forschungsergebnissen zu.
Der Versuch die Protestbewegungen des arabischen Frühlings unter dem Gesichtspunkt der Identitäts- und Alteritätskonstruktion zu durchleuchten, wirkt womöglich auf den ersten Blick ungewöhnlich. Sie lässt sich jedoch dadurch begründen, dass alleine die Parole der Revolten einen Abgrenzungsmechanismus erkennen lässt, welcher unter dem Gesichtspunkt der Identitätskonstruktion viele Einsichten zulässt.
Da die vorliegende Arbeit keinen Anspruch auf Repräsentativität für den gesamten Libanon erhebt, beschränke ich mich auf einige meines Erachtens wichtige Ausführungen, die relevant für das Thema und die Beantwortung der Fragestellung sind.
1.5 Aufbau und Vorgehensweise
Um die Thematik beleuchten zu können, erscheint es mir notwendig, zunächst einen Überblick über den Stand der Forschung zu den Themenbereichen Identität und Nationalismus zu geben, um anschließend eine Arbeitsdefinition zu wählen. Auch die vorhandene Literatur zur Identitätskonstruktion im Libanon soll kritisch betrachtet werden. Im darauffolgenden Kapitel wird die Methodik der Forschung vorgestellt und die Begründung für das Vorgehen während der Forschung dargelegt. Um die Forschungsfrage zu klären, wurden qualitative Interviews mit Studenten verschiedener Konfessionen in Beirut geführt. Zudem wurden die Erkenntnisse durch teilnehmende Beobachtung ergänzt.
In Kapitel 4 werden die Voraussetzungen geklärt, unter welchen die Forschung stattgefunden hat. Dies geschieht, indem zum einen der arabische Frühling an sich kurz erläutert und zum anderen die Geschichte und Bevölkerungszusammensetzung des Libanon aufgegriffen wird, wobei kritisch auf das Problem der Subjektivität der Geschichtsdarstellung des Libanon hinzuweisen ist.
Nachdem im vorangehenden Kapitel nun ein grundlegendes Verständnis für die spezielle Situation im Libanon geschaffen wurde, werden in Kapitel 5 die Forschungsergebnisse zu den Veränderungen der Konstruktion von Identität und Alterität dargelegt und mit Ergebnissen früherer Forschungen und Analysen verglichen.
Im 6. Kapitel werden nun anhand der Arbeitsdefinition die Veränderung analysiert und mögliche Einfluss des arabischen Frühlings dargestellt.
In Kapitel 7 wird die Forschung kontextualisiert. Es soll diskutiert werden, ob die Proteste im Libanon in den arabischen Frühling einzuordnen sind. Die Aktualität der Forschung und ihrer Ergebnisse lassen jedoch keine endgültigen Aussagen zu. Die Verhältnisse im Libanon und der gesamten Region sind stets raschen Wandeln unterlegen, weshalb die Arbeit lediglich eine Momentaufnahme der Dynamiken sein kann und keine Prognosen zulässt.
2 Theoretische Verortung
„Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. Der Mensch improvisiert sich nicht. “[10]
ErnestRenan, französischer Orientalist(u.a.), 1882
In diesem Kapitel soll zunächst ein Überblick über die Entwicklung in der Ethnologie hinsichtlich der Konzepte zu kollektiven Identitäten und Nationalismus sowie ein kurzer Überblick über die Auseinandersetzung mit nationaler Identität im Libanon gegeben werden. Im Anschluss wird das Arbeitskonzept vorgestellt. Vor diesem Hintergrund wird in den folgenden Kapiteln die Problematik im Libanon genauer dargestellt.
Da die Thematik der kollektiven Identität komplex und vielschichtig ist, bedarf sie zunächst eines kurzen fachgeschichtlichen Abrisses.
2.1 Fachgebundener Kontext zu „kollektiver Identität“
Ein Charakteristikum der Debatte um Identität ist die Vielzahl von Begriffen und Definitionen. Der Terminus Identität stammt ursprünglich aus dem Lateinischen und bedeutet „vollkommene Übereinstimmung oder Gleichheit von Personen oder Dingen.“[11] Dieser Begriff wurde während der Aufklärung als Ausdruck eines Ich-Bewusstseins, welches „untrennbar mit der Person verbunden ist“[12], verwendet. Im ethnologischen Verständnis geht es jedoch nicht um völlige Gleichheit oder die Analyse von individueller Identität, sondern um eine Bezeichnung im Bereich der kollektiven Gruppenprozesse. Kollektive Identität ist folglich die Grundlage für soziale Gruppenbildung und dient als Motivation für gemeinsames Handeln.[13]
Lange Zeit war der Terminus in ethnologischen Studien benutzt worden, ohne jedoch nähere Bestimmung zu finden.[14] Der Psychoanalytiker Eric H. Erikson hatte das Identitätsverständnis in der Ethnologie bis in die 60er Jahre nachhaltig geprägt. Er verstand darunter ein unterbewusstes und andauerndes Gefühl der Gleichheit des Selbst.[15] Später wurde dieses Modell auch auf Mechanismen der Sozialisation und kulturellen Akquisition angewendet.[16]
Bereits in den 40er und 50er Jahren befasste sich die Culture und Personality School“ von Margaret Mead und Ruth Benedict mit dem sogenannten nationalem Charakter1 Um diesen zu erforschen, konzentrierten sie sich auf stabile, kohärente und zumeist homogene kollektive Identitäten.[17] [18] Obwohl ihre Ansätze später aufgrund dieser Annahmen stark kritisiert wurden, bleibt ihr Einfluss auf die Ethnologie insoweit erhalten, als dass ein grundlegendes Verständnis der emotionalen Konstanten kollektiver Identitäten geschaffen wurde.[19]
Ab den 60er Jahren gab es in der Ethnologie eine Debatte zum Begriff der Identität per se. 1969 entwickelte Fredrick Barth das Konzept der ethnischen Grenzen. Innerhalb dieses Denkmodells gewannen die Mechanismen der In- und Exklusion von Bevölkerungsgruppen an Bedeutung und lösten objektiv bestimmbare Merkmale wie etwa Sprache und Religion an Bedeutung ab. Diese Mechanismen erhielten ethnische Grenzen aufrecht. Um diese Stabilität erhalten zu können, kommt es zu Stereotypisierungen der Unterschiede zwischen Gruppen.[20] Aus dieser Definition geht hervor, dass Barth diese Abgrenzungen als relativ stabil einstufte.
Das Wechselverhältnis zwischen den Gruppen spielt sich somit nicht in den inneren, zentralen Kernzonen der Gruppen ab, wovon noch bei den Studien zum nationalen Charakter ausgegangen wurde, sondern an den Grenzen, an denen das Wechselverhältnis mit anderen Gruppen ausgetragen wird. Hier entwickelt sich Ethnizität, worunter Barth Wechselbeziehungen und Interaktionen mit anderen Gruppen versteht. Ethnizität bildet dabei eine Form kollektiver Identität. Das Revolutionäre an diesem Zugang war die Konzentration auf die Grenzen zwischen den ethnischen Gruppen und nicht mehr auf Gemeinsamkeiten innerhalb von Gruppen.
Ab den 60er Jahren konzentrierte man sich auf die zugrunde liegenden Ein- und Ausgrenzungsmechanismen. In dieser Dichotomisierung zwischen wir und den anderen liegt auch nach Wildner das Wesen der Identität.[21] Durch das ständige und situationsabhängige Neudefinieren der anderen verändert sich auch das wir. Die Interaktionen erfordern immer wieder neue Positionierungen.[22] Identität wird somit durch differenzierende Merkmale geschaffen, die durch Zuschreibungen entstehen.
Dieser Ansatz wurde in den 70er Jahren diskutiert. Daraus entwickelten sich Theorien zur Standardisierung der zentralen Begriffe Identität und Ethnizität[23] Zwei unterschiedliche Ansätze bildeten sich dabei heraus:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Vergleich des primordialen und konstruktivistische Ansatzes in der Ethnologie[24]
In den 80er und 90er Jahren trat eine neue wissenschaftliche Theorie durch die Postcolonial Studies, vornehmlich in den Arbeiten von Gayatri Chakravorty Spivak (1996) und Homi Bhabha (1994) in Erscheinung. Die postkolonialen Studien beschäftigten sich mit Fragen nach öffentlicher Repräsentation und subjektiven Lebenserfahrungen unter „subalternen“ Hierarchien. Diesen Begriff prägte Antonio Gramsci, der den Terminus für Gruppen verwandte, die unter hegemonialer Kontrolle einer herrschenden Elite standen. Subaltern kann jedoch für jede Gruppe stehen, die kollektiv untergeordnet oder entrechtet ist, egal ob auf der Basis von Rasse, Geschlecht, Ethnie, Religion oder einer anderen Kategorie von Identität. Spivak benutzte den Begriff hauptsächlich für kolonialisierte und dezentralisierte Gruppen.
Nach Spivak hatte der koloniale Diskurs teil an einem Prozess, den sie otheríng nennt. Der Begriff stammt aus einem ganzem Corpus an Texten von Hegel, Sartre, Lacan und anderen. Darunter versteht Spivak den Prozess, in welchem der imperiale Diskurs subalterne, kolonisierte Objekte schafft. Dennoch sieht sie otheríng als dialektischen Vorgang: Das subalterne Subjekt wird im selben Moment geschaffen, wie das kolonisierende Subjekt. Der Prozess drückt zudem eine hierarchische und ungleiche Beziehung aus.[25]
Nach den Ansichten von Spivak und auch Lancan ist das Andere ein fester und wichtiger Bestandteil des Selbst. Othering ist ein ideologischer Prozess, der Gruppen isoliert, die als "anders" gesehen werden. Es kommt zu einer künstlichen Verfremdung des „anderen“ unter Ausblendung der Gemeinsamkeiten, um die eigene Identität abzugrenzen zu können.
Bis heute gibt es keine einheitliche Definition der Begriffe. Jedoch ist davon auszugehen, dass Ethnizität Fragen kollektiver Identitäten tangiert, indem nach kollektiven Gemeinsamkeiten und Unterscheidungen von Gruppen gesucht wird. Differenz ist an sich jedoch nicht gegeben, sondern entsteht durch einen aktiven Prozess des „Sich- voneinander-Unterscheidens“.[26] Damit handelt es sich um einen aktiven Abgrenzungsprozess der jeweiligen Akteure.
Heute ist der konstruktivistische Ansatz zwar das üblichere Paradigma, jedoch blieben Ansätze aus dem Primordialismus erhalten. Der Konstruktivismus betont den ständigen Wandel von Identität in ihrer Konstruktion anhand von historischen und sozialen Kontexten. Auch in der vorliegenden Arbeit wird von der bewussten Konstruktion von Identität durch primordiale Codes ausgegangen. Diese dienen als Identitätskonzepte gesellschaftlicher Akteure und stellen sich etwa in Symbolen, Mythen und Geschichte an sich dar.[27]
„Aus konstruktivistischer Sicht liefern primordiale Beziehungen den Code, durch den Identitäten, Nationen usw. ausgedrückt werden, und sind nicht die Substanz aus denen sie .bestehen’.“ [28]
Der Identitätsbegriff wird heute für viele Forschungsbereiche angewandt. Vor allem der Bereich der „kollektiven“ Identitäten lässt einen sehr weiten Bogen zu und beinhaltet etwa „Nationen, Ethnien, Rassen, Kulturen, Zivilisationen, Geschlechter und Klassen.“[29]
Nach Brubaker sind diese jedoch keine Analysekriterien an sich, sondern ihre dingliche Existenz sollte nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Er kritisiert die Übernahme nationaler Identität als Analysekategorie in den Sozialwissenschaften um Prozesse der Gruppenbildung zu begründen. Brubaker stellt kollektive Identitäten per se in Frage und kritisiert die Essentialisierung des Begriffes der Identität.[30] Wolfsteller kritisiert weiter, dass eine kollektive Identität bedeute, mehrere Einzelpersonen zu vereinheitlichen.[31] Zudem ist der Identitätsdiskurs an Machtverhältnisse gebunden, die sowohl durch die Konstruktion von Identität, als auch durch deren Verweigerung entstehen können. Um diesem Dilemma zu entgehen, empfiehlt Sökefeld auf Identität als objektiv beschreibbares Konzept zu verzichten, um es stattdessen nur mehr als emische Kategorie der Akteure selbst zu betrachten.[32]
„Aus dieser Perspektive muss die Analyse von Identitäten’, sowie von Nationalismus, Rassimus oder Ethnizität stets vom gesellschaftlichen Kontext des politischen und gesellschaftlichen Gebrauchs dieser Begriffe ausgehen.“[33]
Gruppen und Gruppenidentitäten existierten nur dann, wenn die Selbstbeschreibung einzelner Gruppenmitglieder sich selbst als „Gruppe“ identifizieren. Da sich im Libanon die untersuchte Gruppe als „das Volk“ bezeichnet und die Frage nach „libanesischer Identität“ an sich thematisiert wird, erlaubt die Sicht der Akteure die Verwendung des Identitätsbegriffs.
2.2 Der „Nationalismusbegriff“ und „nationale Identität“ in der Ethnologie
Kollektive Identitäten sind multidimensional und umfassen verschiedene Spielarten kultureller, nationaler oder ethnischer Identität, welche je nach Situation und geforderter Rolle des Trägers, abgerufen und verworfen werden können.[34] Sie werden innerhalb einer Gemeinschaft konstruiert, indem verschiedene Wertevorstellungen und Verhaltensmuster geschaffen werden, welche auf individueller Ebene akzeptiert werden müssen. Einerseits sind sie etwa durch Geschichte konstruiert, konstruieren aber andererseits selbst Gemeinsamkeiten innerhalb der Gruppe und Unterschiede zu anderen Gruppen. Dadurch gibt kollektive Identität eine Antwort auf die Frage nach dem „wir.“[35] Der Identitätsbegriff kann also auch auf eine Nation als Gruppe verwendet werden. Nationale Identität kann jedoch widersprüchlich sein oder gar eine Hierarchisierung aufweisen.
Hobswawn argumentiert dazu:
„[...] we cannot assume that for the most people national identification- when it exists- excludes or is always or even superior to the remainder of the set of identifications which constitutes the social being. In fact, it is always combined with identifications of another kind, even when it is felt to be superior to them.”[36]
Nationalismus beschreibt die Entstehung eines nationalen Bewusstseins innerhalb einer Gemeinschaft oder einer nationalen Bewegung.[37] Er wird oft gleichgesetzt mit nationaler Identität. Jedoch gibt es, wie Anthony Smith schreibt, eine klare Trennlinie zwischen diesen beiden. Nach ihm ist nationale Identität ein „collective cultural phenomenon“,[38] welches „fundamentally multidimensional“ ist.[39] Nationalismus hingegen definiert er als ideologische Bewegung zur Erhaltung von Autonomie, Einheit oder Identität. Diese wird von einigen Mitgliedern der Bevölkerung stellvertretend für diese konstruiert, um eine „Nation“ zu konstituieren.[40]
Die Nationalismusforschung kennt zahlreiche Definitionsversuche von Nation und Nationalismus. Prinzipiell bilden die beiden Begriffe jedoch keine sozialwissenschaftlichen Kategorien, sondern vielmehr politische Ideen von mehr oder minder schwankendem Realitätsbezug.[41] Daher bleiben sozialwissenschaftliche Definitionen formal und unbefriedigend. Hinter diesen stehen zumeist hoch komplexe soziale Prozesse, welche sich stark voneinander unterscheiden können.[42] Hinsichtlich der Eigenschaften von Nationen hat sich dennoch ein Konsens herausentwickelt, welcher von der Existenz eines festgelegten Territoriums, eines allgemein und für alle gültigen Regelwerkes und einer territorialen, sozialen und kulturellen Identität ausgeht. Diese bedingen eine nach außen, wie nach innen gerichtete Autonomie und Souveränität, welche durch die ideologische Strömung des Nationalismus hergeleitet und legitimiert werden.[43]
Eine Nation ist jedoch auch nicht gleichzusetzen mit Staat. Dieser ist ein politischer, juristischer oder/und administrativer Corpus, wohingegen Nation eine infinitive und soziale Größe ist, welche auch staatsübergreifend sein kann.[44] Zudem wird sie durch Selbst- und Fremdzuschreibung bestimmt.[45] Obwohl es im allgemeinen Sprachgebrauch zu einer annähernd deckungsgleichen Verwendung von Staat und Nation kommt,[46] verweist letztere auf kulturelle Aspekte und Gemeinsamkeiten, sowie eine symbolische Konstruktion des Volkes.[47]
Die Erforschung kollektiver Identitäten auf nationaler Ebene wurde in der Ethnologie lange Zeit nicht ausreichend durchgeführt. Anthropologen bevorzugten zumeist weniger politisierte Themen[48] und konzentrierten sich eher auf Ethnizität und die Konstruktion von nationalen Stereotypen.[49] Eric R. Wolf jedoch bildete eine Ausnahmepersönlichkeit in der Fachgeschichte, da er sich bereits in den 50er Jahren der Thematik zuwandte und fortwährend die Rolle der Ethnologie in diesem Bereich betonte.[50] [51] Er konzentrierte sich auf das Konzept der Akkulturation,5 wie er Nation-building in seinen früheren Schriften bezeichnet.[52]
Der moderne Begriff des Nation-building allerdings wurde von Karl W. Deutsch geprägt und bezeichnet einen Prozess zur Entstehung nationaler Einheit am Modell westlicher Staaten. Dabei sind vor allem ökonomischer Wachstum und Industrialisierungsgrad entscheidend, welche einen sozialen Wandel in der Bevölkerung bedingen sollen. Dieser Ansatz wurde später von den Dependenztheorien stark kritisiert und wiederlegt, da er von einer gleichmäßigen Entwicklung in allen Ländern, ungeachtet der lokalen und regionalen sozialen, kulturellen und historischen Kontexten, ausgeht.[53] Für Wolf bedeutete der Begriff jedoch das Entstehen eines gemeinsamen nationalen Bewusstseins.[54]
Obwohl sich auch einige Ethnologen, wie Mauss, Dumont, W.L. Warner oder Cliffort Geertz, mit der Entstehung von nationaler Identität und Nationalismus befassten, wurde dem Thema als ethnologisches Problem erst ab den 80er Jahren Bedeutung beigemessen.[55] In diesen Jahren kam es verstärkt auch in Europa zu separatistischen Bewegungen, wie etwa im Baskenland, in der Bretagne oder in Schottland. Daher rückte das Problem in den europäischen Blickwinkel und Ethnologen mussten sich mit Fragen der nationalen Repräsentation oder lokalen kulturellen Differenzen auseinander setzen.[56] Zudem wurde in vielen ehemaligen europäischen Kolonien das politische Konzept des Nation-Building durch Bürgerkriege ersetzt und somit kamen in der Ethnologie vermehrt Fragen nach dem Preis des postkolonialen Nationalismus auf. Darüber hinaus folgte auf den Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 eine Welle von separatistischen und nationalistischen Konflikten, worunter das ehemalige Jugoslawien das bekannteste Beispiel darstellt. Ethnologen, die in diesen Feldern gearbeitet hatten, wurden nun unerwartet nach ihren Einschätzungen und Analysen gefragt, da die Erklärungen der Politikwissenschaften für das Geschehen nicht ausreichten.[57] Somit kam es ab den 80er Jahren zur einer Anzahl an wichtigen theoretischen Werken zur Thematik.
1983 veröffentlichte Ernest Gellner sein Werk Nations and Nationalism. Darin stellte er ein allgemeines soziologisches Modell der Verknüpfungen zwischen Nationalismus und Moderne vor. Seiner Ansicht nach basieren industrielle Gesellschaften auf einer notwendigen kulturellen Homogenität, welche andauerndes kognitives und wirtschaftliches Wachstum sicherstellt. Um Homogenität herzustellen, kontrolliert der Staat kulturelle Reproduktion durch Institutionen und Erziehungseinrichtungen. Daraus entstünde nun der Nationalismus. Er sieht daher Nationalismus als modernes Konstrukt einer künstlichen Homogenität und Einheit(lichkeit). Ernest Gellner merkt zudem an, dass es zumeist Mehrheiten im Nationalstaat sind, die diesen und dadurch die nationale Identität prägen.[58] Somit ist der Prozess der Findung einer nationalen Identität an ein Machtgefälle gebunden. Für Gellner sind Nationen erfundene Einheiten, wie er schreibt:
„Nationalism is not the awakening of nations to self-consciousness: it invents nations where they do not exist.“[59]
Wie Gellner, ist auch Benedict Anderson dem Konstruktivismus zuzuordnen. Zudem teilt auch dieser die Ansicht, dass Nationalismus ein modernes Phänomen sei.[60] In Imagined Communities (1983) konzentriert er sich jedoch mehr auf die Rolle der politischen Imagination, welche wie Religion oder Verwandtschaft untersucht werden müsste und weniger als politische Ideologie.[61] [62] Seine Arbeiten beeinflussten die Ethnologie nachhaltig und eröffneten ein breites Feld an neuen Forschungsmöglichkeiten, etwa im Bereich der Massenmedien, des Konsums, der Kunst oder der Folklore. Anderson betont vor allem das erfundene Element in der Identitätskonstruktion und geht davon aus, dass eine Nation an sich eine erfundene Größe darstellt. Eine (nationale) Gemeinschaft sei vorgestellt, da sich ihre Mitglieder niemals alle persönlich kennen lernen können. Daher bezeichnet er sie als imagined community.82 So geht der Wahrnehmung der Wirklichkeit ein gesellschaftlicher Konstruktionsprozess voraus, welcher auf einer historischen Interpretation beruht.
Zudem geht er davon aus, dass sich das Konzept des Nationalstaates nur durch ein geteiltes Schicksal, wie beispielsweise Unabhängigkeitsbestrebungen gegen Fremdherrschaft, entwickeln kann. Was an Ort und Stelle dieser Fremdherrschaft tritt, ist eine neue Entität, die nicht anders möglich ist als imaginär.[63]
Auch für Hastings kann eine Nation nur durch Imagination bestehen. Diese sei jedoch sehr unbeständig.[64] Die Nation als nicht-fassbare Größe erhält also ihre Bedeutung für die Identität nur durch Imagination. Diese wiederum ist lediglich ihrer Eigenlogik unterworfen.[65]
Dieser Denkweise schließt sich auch Walzer an. Er schreibt:
„Der Staat ist unsichtbar; er muss personifiziert werden, bevor er gesehen werden kann, er muss symbolisiert werden, bevor er geliebt werden kann, vorgestellt werden, bevor er betrachtet werden kann."[66]
Einige Ethnologen befassten sich mit Ritualen und Symbolen im Nationalismus und folgten damit einer Linie, die von Hobsbawm und Ranger in The Invention of Tradition (Ί983) eröffnet wurde. In diesen Forschungen wurden Intellektuelle und kulturelle Meinungsmacher zu unerwarteten Forschungsobjekten. Hobsbawm prägt hierbei den Begriff der „Erfindung von Tradition“. Tradition und dadurch nationale Identität werden immer wieder neu erfunden.[67] Die herrschende Schicht ist sich dessen nicht immer bewusst, aber alles Sichtbare, wie Flaggen, politische Rituale oder Symbole, sind Kreationen eines historischen Prozesses.
Tradition ist insoweit erfunden, als dass sie in ihrer jeweiligen Gegenwart konstruiert, jedoch auf eine bestimmte Vergangenheit zurückprojiziert wird. Sie soll als historische Fiktion dazu dienen Normen und Strukturen gesellschaftlich zu legitimieren und zu festigen. Zu diesem Zweck wird Vergangenheit in ihrer gegenwärtig wahrgenommenen Form neu erschaffen und durch Wiederholung der damit verknüpften Traditionen legitimiert.[68]
Auch Thomas Eriksen geht in „Ethnicity and Nationalism“ davon aus, dass Geschichte nicht das Resultat der Vergangenheit ist, sondern die Antwort auf die Bedürfnisse der Gegenwart.[69] Über diese kann kollektive Identität geschaffen und symbolisch repräsentiert werden.
Diese Ansicht vertritt ferner David Kertzer in Ritual, Politics and Power.[70] Er jedoch sieht den Umgang mit der nicht-greifbaren Größe „Nation“ nur über Symbole verwirklicht. Da eine nationale Identität nicht greifbar oder vorstellbar ist, braucht sie Symbole, über die sie repräsentiert wird. Nur so können sich Loyalität zur Nation und ein emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln.[71]
Aus dieser Herleitung zeigt sich, dass bei der Forschung zum Nationalismus sowohl subjektive, als auch objektive Kriterien berücksichtigt werden müssen.[72] Zum einen muss es zumindest etwas Verbindendes geben, was sich in Sprache, geteilter Geschichte oder Symbolen äußern kann. Zum anderen basiert das Konzept auf dem Bewusstsein, dass es andere Gruppen innerhalb der Nation gibt, welche sich von der eigenen abgrenzen. Diese Konzepte können nur funktionieren, wenn sie zusammengebracht werden und sich aufeinander beziehen. Karl W. Deutsch bezeichnete eine Nation als „(...) a group of people who are united by a common error about their descent and a common aversion against their neighbours.“[73]
Da soziale und kulturelle Identität in einem dynamischen Prozess durch gegenseitige und reziproke Beeinflussung mit anderen Gruppen entstehen, zusammengebracht werden und sich vermischen, sind sie niemals gegeben, sondern konstruiert.[74] Nationalismus baut auf gefühlter Gemeinsamkeit auf und impliziert keine Homogenität, wie etwa Gellner behauptete.
Zudem bleibt festzuhalten, dass nationale Identität ein sensibles Forschungsfeld in der Ethnologie war und bleiben muss. Zumeist sind es Mehrheiten, die Identitätsmerkmale auf nationaler Ebene stiften, wobei Minderheiten oft übergangen werden. Es besteht die Gefahr der Essentialisierung der Unterschiede. Das Vorhandensein einer nationalen Identität erfordert, wie alle Identitäten, ein ausgeschlossenes "Anderes": Das können andere Nationen an sich sein, oder auch Individuen.[75]
Speziell in der arabischen Welt gibt es große Schwierigkeiten bei der Herausbildung von nationaler Identität. Einerseits ist das Nationenkonzept aufgebaut auf innerer Souveränität. Diese Idee der Staatsbürgerschaft wiederspricht jedoch in mancherlei Hinsicht dem bestehen primordialer Bindungen und Loyalitäten zu religiösen oder ethnischen Gruppen oder Familienbanden.[76] Andererseits basiert das Konzept auf äußerer Souveränität, beispielsweise der Anerkennung von Grenzen. Dies ist jedoch in der arabischen Welt nicht ohne weiteres gegeben. Die heutigen Grenzen wurden während des Ottomanischen Reiches gezogen und sind teilweise heute noch sehr umstritten.[77] Wie in manch anderen postkolonialen Staaten konnten auch im Nahen Osten die Bevölkerungsgruppen keine Identität entwickeln, welche an ein Territorium gebunden war, sondern an lokale primordiale oder konfessionelle Einheiten.[78] Ein Zugehörigkeitsgefühl gab es beispielsweise auf Ebene der arabischen Welt oder der islamischen ummah. Diese Heterogenität führte nicht zuletzt auch im Libanon immer wieder zu Spannungen und Gewaltausbrüchen, wie sich in Kapitel 4.3 zeigen wird.
Im Libanon muss der Begriff der nationalen Identität angesichts des geschichtlichen Hintergrundes relativiert werden. Der arabische Begriff für Nationalismus lautet WafanTya[79].[80] Er leitet sich ab von watan, was für Heimat oder Vaterland stehen kann.[81] Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde wafan im arabischen mit Vaterland gleichgesetzt, um neben einer ,,[...]starken emotionalen Bindung an die Heimat“ auch eine ,,[...] politische Loyalität gegenüber dem Vaterland“ zu beschreiben.[82] In dieser Arbeit soll darunter ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine Identifikation auf nationaler Ebene und damit ein Gegenentwurf zur in 4.2. beschriebenen Jä'iffya, der Gruppenidentität im Libanon, verstanden werden. Aus dieser Herleitung erscheint eine Unterscheidung zwischen „Staatsnation“ und „Kulturnation“, wie Rüdiger sie vorschlägt, nicht relevant.[83]
Die Überzeugung, dass lediglich die Überwindung der Jä'iffya, der partikularen Gruppenidentitäten, ein nationales Bewusstsein hervorrufen kann, in welchem Mitglieder verschiedener Konfessions-, Kommunal- oder ethnischen Gruppen inbegriffen werden, vertrat bereits in den I860 Jahren Butrus al-Bustäm.[84] Dieser Gedanke wird auch in den Demonstrationen 2011 in Beirut, Tripoli und anderen großen Städten des Libanon wieder aufgegriffen.
Somit hat Beschäftigung mit Nationalismus zwar eine lange Geschichte, jedoch muss das Konzept mit Vorsicht genossen werden, da die Gefahr besteht, ein westliches Verständnis des Prozesses anzuwenden. Es handelt sich in dieser Arbeit, ausgehend von den Entwicklungen des arabischen Frühlings um eine Re-immagination der Nation, als Selbstbestimmung und Zusammengehörigkeit eines Volkes.[85] Challand beschreibt die arabische Nationalismus-Variante folgendermaßen:
“Make no mistake: we are talking about the secular notion of territory, homeland (in Arabic 'watan') as opposed to the religiously tainted notion of an Islamic ummah. This secular re-imagining of the people as a united nation against its leaders is true for all of the ongoing revolts. Thus, sectarian, religious or class divisions are transcended into a call for national unity. “[86]
Entgegen der unterschiedlichen Ansichten im Libanon zur Vergangenheit und Zukunft des Landes, haben periodisch durchgeführte repräsentative Umfragen selbst während des Bürgerkrieges gezeigt, dass Libanesen gleichwohl welcher Religion oder politischen Richtung, ein Verlangen zum Ausdruck gebracht haben, friedlich im einem gemeinsamen Staat zusammen leben zu wollen.[87] Von diesem Ergebnis ausgehend bezeichnet Theodor Hanf diese Erscheinung als „Entwicklung einer Nation.“[88] Hanf zeigt auch, dass trotz der unruhigen Zeit des Bürgerkrieges ein Gefühl für nationale Identität vorhanden war.[89]
2.3 Identitätsdiskurs für den Libanon
Im Libanon gibt es vor allem drei Formen des Nationalismus: den arabischen Nationalismus, der von einer Gemeinschaft aller arabischer Staaten ausgeht, den syrischen Nationalismus, der während der Zeit „Großsyriens“ entstanden ist und den libanesischen Nationalismus, welcher die Besonderheit und damit Abgrenzung der Libanesen von „den Arabern“ begründet.[90] Hier soll jedoch Nationalismus als Bewusstsein einer sozialen Zusammengehörigkeit aller Libanesen verstanden werden und nicht als ideologisch-politischen Strömung.
Die Literatursuche hinsichtlich dieses Verständnisses zum Libanon und seiner Identitätskonstruktion gestaltete sich zunächst unübersichtlich. Zum einen liegt dies an der Fülle an Publikationen zur Thematik des Konfessionalismus, zum anderen aber an der Ermangelung von ethnologischen Arbeiten über nationale Identität im Libanon. Die meisten Arbeiten sind auf Politik und Religion gestützt. Dies mag an der Essentialisierung dieser beiden Kategorien liegen und erklärt dadurch auch die internationale Popularität der Region für politikwissenschaftliche und historiographische Arbeiten.
Seit 1975 gibt es eine große Anzahl an Abhandlungen zu libanesischer Geschichtsschreibung. Kamal Salibi, einer der führenden libanesischen Historiker, veröffentlichte einige der einfluss- und erkenntnisreichsten Studien zur Thematik. Die Bekannteste darunter ist "A House of many mansions. The History of Lebanon Reconsidered". Salibi kritisiert hierin sowohl seine eigenen früheren Angaben zu libanesischer Geschichte als auch die gesamte libanesische Geschichtsschreibung aufgrund ihrer ethnozentristischen Vorannahmen und konfessionsgestützten Argumentationen.
In der deutschsprachigen Literatur ist besonders Axel Havemann hervorzuheben. Dieser befasste sich in "Geschichte und Geschichtsschreibung im Libanon des 19. und 20. Jahrhunderts. Formen und Funktionen des historischen Selbstverständnisses'' mit den verschiedenen Darstellungen der libanesischen Geschichte durch Historiker. Havemann erörtert den Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung, Ideologie und Politik. Auch Gordon und Harris untersuchen den Zusammenhang zwischen Mobilisierung und dem Selbstverständnis der libanesischen Gesellschaft.[91]
Bei den historischen Arbeiten sind zudem die Beiträge von Zein al Din besonders erkenntnisreich, welche teilweise sehr detailliert Vorgänge der libanesischen Geschichte und deren Auswirkungen auf die Neuzeit beschreiben.
Bei den sozialwissenschaftlichen Analysen ist vor allem auf Theodor Hanf hinzuweisen, welcher zyklisch quantitative Forschungen zum Zusammenleben der Libanesen durchgeführt hat und daher ein gutes Bild über die Veränderungen in der libanesischen Gesellschaft geben kann.
Nennenswert sind zudem die Analysen der Ergebnisse des Bürgerkrieges, hier vor allem Khalaf und Harik, welche auch zwanzig Jahre nach dem Bürgerkrieg hinsichtlich der Bürgerkriegsgeneration nicht an Relevanz eingebüßt haben.
Zum arabischen Frühling gab es zum Zeitpunkt der Arbeit kaum Publikationen. Zudem wurde der Libanon zumeist ausgespart. Meine Analysen stützen sich hier auf meine eigene Feldforschung und auf lokale und regionale Zeitungsartikel.
Speziell zu Perspektiven von Studenten auf die libanesische Identität waren mir keine neueren Forschungen bekannt. 1997 forschte El Amine zu politischen Ansichten an Universitäten. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass christliche Studenten in ihren politischen Ansichten sich zumeist auf 2-4 Antwortmuster bezogen, während muslimische Studenteneine sehr homogene Ansicht vertraten. Eine Studie von Qa'i 2000 bestätigte diese Ergebnisse. Beide Studein befassen sich lediglich mit politischen Ansichten und wurden bisher auch nicht aus dem arabischen übersetzt.[92] Obwohl es sehr viele Arbeiten zur Politik und dem konfessionellen System gibt und in diesem Zusammenhang libanesische Identität thematisiert wird, sind andere Prozesse, wie der Einfluss des Internets oder der Rückwirkung der Diaspora nicht berücksichtigt worden. In den vorhandenen Forschungen wurde zudem auch nicht zwischen Bürgerkriegsgeneration und Postkriegsgeneration unterschieden, was durch die Fokussierung auf die Politik, welche sich im Libanon vordergründig abspielt, zu erklären ist. Viele Analysen und Forschungen erwecken dadurch den Eindruck von Stillstand und Stagnation nach dem Bürgerkrieg. Sämtliche Ereignisse nach 1975 wurden lediglich in Relation zum Bürgerkrieg und dessen Folgen untersucht, wie dies etwa bei Zein al Din, Harik oder Khalaf geschieht. Auch Hanf nimmt keine Trennung bezüglich des Generationenunterschiedes vor und lässt Einflüsse wie Universitätsalltag und soziale Medien unberücksichtigt. Die Auswirkungen dieser auf die Postkriegsgeneration wurden bislang nicht thematisiert. Sozialwissenschaftliche Arbeiten zu den Einflüssen, welchen Studenten in ihrer Konstruktion von Alterität und Identität ausgesetzt sind, vor allem mit dem Hintergrund der arabischen Revolutionen, waren mir weder bekannt noch zugänglich. Zudem ist die Essentialisierung von Politik und Religion in den vorhandenen Arbeiten zu kritisieren.
Aufgrund der Aktualität der Studie müssen Aussagen zum arabischen Frühling auf Zeitungsartikel und Interviews gestützt werden, da es zum Zeitpunkt der Abfassung keine wissenschaftlichen Studien zur Thematik gab.
Um die Forschung besser verorten zu können und das Konstrukt Identität verorten zu können, ist zunächst eine Arbeitsdefinition und Operationalisierung notwendig.
2.4 Festlegung der Arbeitsdefinition
André Gingrich und Gerd Baumann entwarfen 2004 ausgehend von der Fachgeschichte und deren interner und externer Kritik ein neues Konzept, um kollektive Identitäten in der Ethnologie aufzuschlüsseln.[93] Sie gehen von der Annahme aus, dass es auf theoretischer Ebene zumindest drei Klassifikationsmechanismen gibt, durch welche kollektive Identitäten wahrgenommen werden.[94]
Identität beinhaltet für die Autoren immer ein mitgedachtes „Anderes“, welches von der „Wir-Gruppe“ ausgeschlossen wird. Somit werden die Grenzen der Gruppen durch selfing und othering konstruiert. Unter Grammatiken werden diese Klassifikationsstrukturen von wir und die anderen verstanden.[95] Der Terminus Grammatiken dient als:
„simple shorthand for certain simple classificatory structures or classificatory schmetata that we argue can be recognized in a vast variety of processes concerned with defining identity/alterity.”[96]
Durch diese Operationalisierung können empirische ethnographische Daten, welche sich mit „Identität und Alterität“ befassen, hinsichtlich der Konstruktion von Gleichheit und Differenz auf theoretischer Ebene untersucht werden.
Der Prozess des selfing/othering wird als simultaner Prozess gesehen, wobei er lediglich zwei Seiten des selben Vorgangs beschreibt. Dabei lehnen sich die Autoren an Edward Said (1978), E.E. Evans-Pritchard (1940) und Louis Dumont (1980) an, stellen aber gleichzeitig klar, dass ihre Theorie nicht der Erklärung sozialer Systeme dienen soll, sondern lediglich als Leitfaden dafür, wie verschiedene Diskurse die Beziehung zwischen selbst und anderen[97] darstellen.[98]
a) Grammatik der Orientalisierung
Als erste Grammatik wird die Orientalisierung aus Edward Saids Orientalism (1978) vorgestellt. Darunter wird eine (vorerst) binäre Klassifizierung verstanden, die anhand von Gegensatzpaaren unterscheidet.[99] In Edward Saids Werk wird zwischen dem Okzident und dem Orient unterschieden. Er betont, dass es sich hierbei nicht immer um „gut“- und „schlechf-Kategorien handeln muss, sondern dass in der entgegengesetzten Identität auch eine unterbewusste oder bewusste Sehnsucht oder Selbstkritik an der eigenen Identität verankert sein kann:
„What is good in us is [still] bad in them but what got twisted in us [still] remains straight in them.“[100]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Grammatik der Orientalisierung: am Beispiel von Edward Saids Orientalism[101]
Somit ist diese Grammatik des selfing und othering nicht nur eine einfache Spiegelung des Gegenteils, sondern auch eine gegenteilige und reversive Spiegelung von guten und schlechten Charakteristika, die ihrerseits wieder rückwirken.[102]
b) Grammatik der Segmentierung
Die zweite Grammatik bezieht sich auf Evans-Pritchards Modell der segmentären lineage-Systeme der Nuer (1940). Jeder Nuer ist darin Teil einer Pyramide von Identifikationen, welche bis zu sechs genealogischen Levels in die Höhe reichen, vom minimalen lineage-Level, über das von Clans, des Stammes, bis hin zur Identität als Nuer. Dieses Modell unterscheidet zwischen Identität und Alterität anhand des situativen Kontexts.[103] Auf dem lineage-Level kann im Falle einer Blutfehde somit der Nachbar der andere sein, dieser im Falle einer Clanstreitigkeit aber wiederum Teil der eigenen Gruppe, des selbst. Daher verwendet Evans-Pritchard den widersprüchlichen Begriff geordnete Anarchie. Baumann erklärt die Grammatik folgendermaßen: ,,[T]he social grammar of a segmentary system is a logic of fission or enmity at a lower level of segmentation, overcome by a a logic of fusion or neutralization of conflict at a higher level of segmentation.”[104]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Segmentäre Grammatik: am Beispiel von E.E. Evans-Pritchard: Die Nuer
Somit hängt die Identifikation oder gleichbedeutend das Zusammengehörigkeitsgefühl von der Situation und dem Kontext ab und wird innerhalb einer Identitätspyramide abgerufen.
c) Grammatik der Vereinnahmung
Die dritte Grammatik entstammt Louis Dumonts Homo Hierarchicus (1980). Im Vergleich zur vorangegangen Grammatik erscheint diese eher starr und universalisierend. Unter Vereinnahmung wird der Prozess des selfing verstanden durch welchen eine ausgewählte Art von Andersheit der eigenen Identität angeeignet wird.[105] Das System der Vereinnahmung funktioniert auf zwei Ebenen. Auf der ersten unteren Kognitionsebene werden Unterschiede wahrgenommen, auf der höheren wird das, was anders ist, unter dem, was universell ist, zusammengefasst. Anders ausgedrückt,, [y]our difference (...) is a fiction caused by your own low horizon.“[106] Somit wird das Unterscheiden der anderen von der eigenen Gruppe als niedrigere Unterscheidungsform wahrgenommen. Die Identität der anderen wird der eigenen hinzugefügt und untergeordnet unter einer übergeordneten Hierarchie. Damit wird den anderen eine eigene, selbstständig existierende Identität aberkannt.109
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Grammatik der Vereinnahmung :Kastensystems in Dumonts Homo Hierarchicus Die drei Grammatiken können in derselben sozialen Situation des selfing/othering simultan hervorgerufen werden. Sie erscheinen dann als konkurrierende oder rivalisierende Versionen der Konstruktion von Identität und Alterität. Sie sind jedoch nicht klar voneinander zu trennen und stehen auch nicht a priori für eine Gruppe fest. Diese kann zwischen den Grammatiken hin- und herwechseln. In verschiedenen Kontexten wird auf verschiedene Grammatiken zurück gegriffen. So kann beispielsweise im politischen Kontext der Prozess des selfing/othering einer Gruppe anders verlaufen als im religiösen Kontext. ,,[I]t is the asymmetries of grammars which make these grammars into argumentative tools.”[107]
Ausgehend von den vorangehenden Überlegungen definieren sie Identität als:
,,[S]ocial subjectivities[..].‘‘ which are “[...] multidimensional and fluid; they include power- related ascriptions by selves as well a by others and they simultaneously combine sameness, or belonging, with alterity or otherness. [...] [T]hey can only be studied in their contexts and with due attention to agency.”[108]
Diese Definition soll als Arbeitsdefinition verwendet und zudem durch die in 2.1 angeführte fachgeschichtliche Debatte erweitert werden. So beinhaltet das Arbeitskonzept der Identität in dieser Arbeit zudem einen imaginären und symbolischen Pol. Identität erhält ihre Legitimation aus der Schaffung von Geschichte und Tradition und entsteht durch Abgrenzung von anderen Gruppen anhand kontextabhängiger Klassifikationen, wodurch ein Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen wird.
Die Ausführungen von Baumann und Gingrich betonen die verschiedenen Wahrnehmungsprozesse von Identität und Alterität. Über ihre Theorie werden in Punkt 6 die empirischen Ergebnisse aus der Feldforschung im Libanon ausgewertet. Es handelt sich dabei um „soziale Identität“, welche sich als „nationale Identität“ äußert.[109] Dadurch wird das komplexe Konstrukt der Identität greifbarer gemacht und Implikationen für das Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen des Libanon abgeleitet. Die bloße Feststellung, dass jedes „self“ ein „other“ braucht, wäre ohne eine Konzeptualisierung unproduktiv. Durch die Grammatiken ist es möglich Dynamiken und Veränderungen in der Identitätskonstruktion im Libanon aufzuzeigen.
Nachdem nun die theoretischen Vorüberlegungen dargestellt wurden, ist es zunächst jedoch wichtig, den sozialen und kulturellen Hintergrund näher zu beleuchten, vor dem die Arbeit spielt. Dazu wird im nächsten Kapitel auf den Identitätsdiskurs im Libanon eingegangen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3 Methodik der Forschung
“What should you be called, Lebanon?/ What should you not be called? Consumed by each ofyour faces,/ With which eye must you be gazed at? With which ear mustyou be heard?/and which ofyour personas mustyou use?”[110]
3.1 Entwicklung der Fragestellung
Während eines Praktikums in Lomé/Togo im Jahr 2009 hatte ich die Aufgabe erhalten, über die libanesische Diaspora in Togo zu recherchieren und vor Ort Interviews zu führen. Von September 2009 bis April 2010 konnte ich zudem im Zuge eines Erasmussemesters in Paris erneut libanesische Studenten kennen lernen, die wie ich, auf dem Gelände der cité internationale gelebt haben. Durch diese beiden Ereignisse wurde mein Interesse an der Frage der nationalen Identität im Libanon geweckt. Bei Vorgesprächen mit diesen Bekannten für die Magisterforschung, welche über ein Jahr lang stattfanden, konnte ich feststellen, dass die Suche nach einer gemeinsamen und verbindenden „libanesischen Identität,“ welche sich als überkonfessionell oder sogar nicht-konfessionell äußert, eine zentrale Bedeutung für die Studenten hatte. Oft wurde dieses verbindende Element als Garant für Stabilität und Sicherheit thematisiert. Ausgehend von diesen Gesprächen entwickelte ich meine Fragestellung für die Magisterforschung. Für mich war vor allem interessant, wie die Nachkriegsgeneration in Beirut zusammenlebt und welche Veränderungen hinsichtlich Identität und Alterität auf sie wirkten. Dazu wollte ich wissen, welchen Einflüssen die Studenten ausgesetzt sind und wie sie sich im „arabischen Frühling“ als libanesische Nation behaupten. Zentral erscheint mir hier der Aspekt der Schaffung oder Wahrnehmung einer übergreifenden nationalen oder kulturellen Identität. Dieser Prozess wird von Eric Wolf „Akkulturation“ genannt. Heute hat sich eher der Begriff Nation Building durchgesetzt. Da dieser aber die Gefahr mit sich bringt, von einem westlichen „Nationen- und Demokratieverständnis“ auszugehen, wird in der Arbeit der Begriff der nationalen Identität verwendet.
Es wäre falsch jene Identitätskonflikte mit ethnozentristischen Vorannahmen zu analysieren. Die Hypothese, dass Rationalisierung und Säkularisierung unaufhaltsam seien und religiös-politische Ideologien ein Zeichen von Zurückgebliebenheit seien, ist durchwegs abzulehnen. Vielmehr erfordert es Verständnis für die jeweilige Ausgangslage und den besonderen Kontext im Libanon.[111]
Somit lässt sich die Forschungsfrage wie folgt formulieren:
„Welche Veränderungen hinsichtlich der Konstruktion von Identität und Alterität finden in der Postbürgerkriegsgeneration von Beiruter Studenten statt und sind diese eine aufkommende libanesische Form des arabischen Frühlings?“
Um diese Frage beantworten zu können, bot sich eine empirische Forschung vor Ort an. Diese habe ich von 09.01.2010 bis zum 06.03.2010 in der Hauptstadt Beirut durchgeführt.
Im Folgenden sollen nun die Auswahl von Ort und Zielgruppe, sowie die Durchführung der Feldforschung näher beleuchtet werden.
3.2 Auswahl und Bedeutung des Ortes
Beirut kommt als Hauptstadt ein besonderer Status zu. Es wurde zum Nexus der Verbindung zwischen Leuten von Libanongebirge (al-jabal) und Küste (al-sahil) noch bevor es eine libanesische Republik gab. Nach der Unabhängigkeit wurde es ein großes Zuwanderungsgebietfüralle Konfessionen. Daher wird das „nationale Selbst“ nach Harik immer mit Beirut identifiziert. Denn die Stadt Beirut verbindet die Libanesen konfessionsübergreifend und sie alle mit der Welt.[112]
Während des Bürgerkrieges 1975-90 und während des Sommerkrieges 2006 kam es zu zahlreichen Vertreibungen. Salam geht davon aus, dass ca. 45% der Bevölkerung davon betroffen waren. Daher kam es in den großen Städten, vor allem in und um Beirut zu einer großen Anzahl an gemischten urbanen Zentren und Agglomerationen.[113] Zudem ist Beirut das einzige gemischt-konfessionelle Zentrum im Libanon -wenn auch ebenfalls in konfessionell homogene Stadtviertel unterteilt-, was die Möglichkeit einräumte eine möglichst heterogene Gruppe abzubilden.
Zudem kam der pragmatische Aspekt hinzu, dass die meisten Universitäten und Organisationen des Libanon in Beirut beheimatet sind. Somit wurden die Bedingungen für eine Forschung am Besten in Beirut erfüllt.
3.3 Bestimmung der Zielgruppe
Bei der Forschung habe ich mich vor allem auf Studenten im Alter zwischen 18 und 25 konzentriert. Diese Nachkriegsgeneration hat den Bürgerkrieg nicht mehr oder nur im Kleinkindalter erlebt. Diese Eingrenzung war wichtig, um eine klare Linie durch die Generationen ziehen zu können. Die Thematisierung des Bürgerkrieges hätte sich bei dessen Opfern und Augenzeugen weitaus problematischer und komplexer dargestellt.
Um nicht nur die subjektive Selbstbeurteilung der Studenten in die Studie einfließen zu lassen, war es wichtig, in möglichst vielen Situationen Feldforschung zu betreiben. So verbrachte ich viel Zeit an den Universitäten Saint Joseph, American University of Beirut und der Lebanese American University. Diese drei stellen die größten Universitäten der Stadt dar. Bei den Besuchen von Vorträgen, kulturellen Veranstaltungen und Lesungen kam ich zudem in Kontakt mit Studenten anderer Universitäten. Die Beobachtungen beschränkten sich jedoch nicht nur auf den Universitätsalltag, sondern wurden mit der Zeit um Freizeitmilieus und die aufkommenden Demonstrationen erweitert. Weitere Daten zog ich auch aus der Gestaltung des Universitätsviertels Hamra, Musiktexten, Internetblogs und verschiedenen Gruppen der sozialen Plattform facebook.
Das Interview bzw. die Befragung führte ich auf Französisch, Englisch oder Deutsch durch. Zudem waren mir meine Grundkenntnisse in der arabischen Sprache von großem Nutzen.
Es muss sich im Vorfeld bewusst gemacht werden, aus welchen sozialen und kulturellen Hintergründen die befragten Studenten kommen. Dazu gehört sowohl die regionale Herkunft, die ethno-religiöse Zugehörigkeit, sowie die soziale Schicht. Um möglichst Moderatorvariablen zu vermeiden, musste die Befragung bei Studenten unterschiedlichster Universitäten und Fachrichtungen durchgeführt werden.
Obwohl es sich um einen kleinen und nicht-repräsentativen Teil der Gesamtbevölkerung handelt, ist es jedoch interessant eben genau diesen Teil der Bevölkerung zu befragen und auch mit Daten aus der Literatur über die Gesamtbevölkerung zu vergleichen. Für diese Gruppe scheinen die Veränderungen der Konstruktion von Identiät/Alterität am augenscheinlichsten, da sie gemischt-konfessionelle, bzw. nicht-konfessionelle Begegnungen aus dem Universitätsalltag auf dem Campus oder dem Studentenviertel Hamra erleben. Dies erklärt den Zuspruch der Studenten auf die aufkommenden Demonstrationen zur Abschaffung des konfessionellen Systems.
3.4 Interviews
Da Konstruktion von Identität auf subjektiven Wahrheiten und Wahrnehmungen basiert, scheint die qualitative Herangehensweise als besonders geeignet. Sie ermöglicht es die „Konstruktion von Realität aus Sicht der Akteure“[114] zu erfassen. Der Vorteil von qualitativen Interviews liegt in ihrer Offenheit und Flexibilität durch die Möglichkeiten zur freien Artikulation.[115] Obwohl sie schwer überprüfbar sind, sind sie jedoch insofern valide, als dass sie nicht nur Antworten auf abgefragte Items geben, sondern auch auf emische Kategorien eingehen. Somit soll nicht ein vorgefertigtes Bild des Forschers bestätigt werden, ein Phänomen aus Sicht der Akteure beschrieben werden. Die Befragten konnten ihre eigenen Assoziationen und Perspektiven einbringen und die Forschung blieb offen für neue Entwicklungen.[116] Dies war besonders hilfreich, da es ab Ende Januar unerwartet zu Demonstrationen gegen das konfessionelle System gekommen war. Durch die qualitative Methode konnte sich diese unerwartete Entwicklung abzeichnen lassen.
Die transkribierten Interviews wurden schließlich anhand der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring analysiert.[117] Dabei wurden die gewonnenen Daten auf drei Ebenen interpretiert. Zunächst wurden die Aussagen paraphrasiert. Auf der nächsten Ebene folgte die Herausarbeitung latenter Bedeutungen und schließlich die Bildung von Kategorien.
Die Interviews wurden durch teilnehmende Beobachtung, Memos und informelle Gespräche ergänzt.
Nach einem Pretest, den ich über Internetplattformen von Deutschland aus durchgeführt hatte, um meinen Leitfaden für die Interviews zu überprüfen, begann ich meine Forschung im Libanon.
Um einen Überblick zum Diskurs der libanesischen Identität zu bekommen, wandte ich mich zunächst während einer ersten explorativen Phase an verschiedene staatliche und nicht-staatliche Organisationen, die zu diesem Themenkomplex im Libanon arbeiteten. Dadurch konnte ich mir ein besseres Bild von der Thematik machen und so auch die ersten Eindrücke zur Wahrnehmung von Identität gewinnen. Zudem erhielt ich über viele Institutionen Kontakte, die später für die Einzelinterviews sehr wichtig waren.
In der darauffolgenden Interviewhase führte ich vor allem halbstrukturierte Interviews durch, für welche ich einen von mir vorher angefertigten Leitfaden benutzte. Über den DAAD im Libanon kam ich mit den ersten Studenten in Kontakt. Daraufhin wurden weitere Interviews durchgeführt, welche sich zufällig durch ein „Schneeballsystem“ ergaben. Ich versuchte eine Anzahl zufällig ausgewählter Studierender verschiedener Couleur zu befragen, um nicht zu sehr von der Vorauswahl durch den DAAD beeinflusst zu sein. Die Gespräche zeichnete ich mit Hilfe eines Aufnahmegerätes auf und machte mir Feldnotizen zu nicht digital festzuhaltenden Hintergrundinformationen, wie etwa Stimmungen und bestimmten Handlungen.
Im Anschluss an die Interviews, sowie in vielen anderen Situationen, ergaben sich zumeist weitere informelle Gespräche. Diese machten einen wichtigen Bestandteil meiner Forschung aus. Unterstützung erhielt ich zudem von Wissenschaftlern aus dem Orient-Institut, wo ich gewohnt habe und auch intensive Literaturrecherchen unternehmen konnte. So war es mir möglich in der kurzen Zeit ein gut funktionierendes
Netzwerk an Informanten aufbauen, welches wertvolle Informationen zur Thematik lieferte.
Zwei Interviews fanden in einer Gruppenkonstellation statt, welche sich zufällig ergeben hatte. Durch die Anwesenheit von Mitgliedern verschiedener Gruppen konnte so ein Spannungsfeld geschaffen werden, welches dem Alltag näher kam, als ein Einzelinterview.
Durch diese Methoden-Triangulierung, d.h. mit dem Einsatz verschiedener Methoden zur Erfassung desselben Sachverhalts, soll die Gefahr der subjektiven Deutung und damit auch möglicher Fehlinterpretation möglichst gering gehalten werden.
3.5 Entwicklung des Leitfadens
Die Interviews fanden auf Englisch, Französisch und Deutsch statt. Obwohl keines der davon auf Arabisch abgehalten wurde, schien mir dies jedoch nie als Nachteil. Meine Interviewpartner lehnten teilweise auch strikt die arabische Sprache bei der ersten Kontaktaufnahme ab.
Es gab ein sehr großes Interesse an meiner Fragestellung, so dass ich schon zu Beginn der Forschung zwischen vielen verschiedenen Interviewpartnern auswählen konnte. Oft kamen auch Anfragen für eine Teilnahme an der Forschung, welche nicht der Zielgruppe entsprachen. Aus diesem auffallendem Interesse an der Forschung schließe ich, dass diese Frage auch für die Studenten von großer Relevanz ist.
Die Interviews fanden immer an öffentlichen Plätzen statt und dauerten zumeist eine bis zwei Stunden. Ich führte insgesamt 30 Interviews durch, wobei ich unter Berücksichtigung der Genderaspekte und der Verteilung der wichtigsten Gruppen im Land (Maroniten, Griechisch-Orthodoxe, Drusen, Schiiten und Sunniten) letzten Endes nur 13 auswertete. Zudem führte ich auch ein Interview mit einem Dozenten der Universität Saint Joseph durch.
Die Interviews lassen sich in vier Themenkomplexe unterteilen:
Alle begannen mit der allgemeinen Frage, was man unter Identität zu verstehen habe. Daraufhin habe ich das Alltagsverständnis der Interviewten abgefragt, indem ich Fragen nach dem Einfluss der Gruppenidentität in den Familien und im Freundeskreis gestellt habe.
Anschließend habe ich im zweiten Teil nach äußeren Einflüssen auf die Identitätskonstruktion gefragt, die beispielsweise die Diaspora oder den arabischen Frühling in den Nachbarländern betreffen.
Im dritten Themenkomplex habe ich nach den Zukunftsvorstellungen persönlich und hinsichtlich des Libanon gefragt. Dabei waren aber auch Schlüsselmomente im Leben der Befragten wichtige Anhaltspunkte.
Der wichtigste und größte Themenkomplex war der Vierte. Hier ging es um persönliche Vorschläge, Assoziationen und Lösungsstrategien zu nationaler Identität. Dabei war auch die Frage von Bedeutung, was die Interviewten im Libanon verändern würden.
Da die Themenkomplexe bereits im Vorfeld festgelegt waren, waren auch die meisten Fragen schon vorformuliert. Allerdings ergaben sich während der Interviews und im Verlauf der Forschung auch neue und individuelle Fragen spontan und ergänzten den Gesprächsverlauf. Die Reihenfolge der Fragen war flexibel und an die Gesprächsituationen angepasst.
3.6 Selbstreflexion
Bei der Feldforschung muss die Forscherin sich damit auseinandersetzen, wie die eigene Biographie sich auf die Forschung auswirkt. Mögliches Vorwissen und mögliche Vorurteile tragen dazu bei, wie sie mit der Forschungssituation umgeht. Dabei spielt auch die Persönlichkeit der Forscherin eine große Rolle und formt das Projekt mit. Es entsteht eine Resonanz zwischen Forscherin und „Beforschtem.“ Daher muss die eigene Rolle und deren Auswirkungen immer mit reflektiert werden.[118]
Meine Rolle als deutsche Forscherin könnte die Interviewergebnisse beeinflusst haben, da ich selbst Christin bin und kein fließendes Arabisch spreche, sondern die Interviews auf einer europäischen Sprache durchgeführt habe. So konnten die Informanten mich leicht mit den Christen des Libanon in Verbindung bringen. Dies könnte sowohl positiven, als auch negativen Rapport, je nach Hintergrund, erzeugt haben. Als deutsche, weibliche Forscherin war es nicht nur wichtig, mir meines eigenen kulturellen Hintergrundes bewusst zu werden, sondern auch mich in den neuen kulturellen Gegebenheiten zurecht zu finden. Als „Außenseiterin“ der libanesischen Gesellschaft, als welche ich als „neutrale Beobachterin“ wahrgenommen wurde, konnte ich jedoch auch viele sensible oder konfliktgeladene Daten sammeln. Dessen ungeachtet wirkte sich meine mir zugeschriebene Rolle als Europäerin und Vertreterin der „westlichen Welt“, sowie deren „Demokratie- und Modernitätsvorstellungen“ auf den Forschungsprozess und die Interviews aus.
[...]
[1] Nach Nahklé, Rachid 1927
[2] Gibran, К. 1926
[3] Harik, I. 2003: 7
[4] Fakhoury, T.2011:x
[5] vgl. Barak, O. 2007: 50; Khalaf, Samir verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der,,Kollektiven Amnesie" (Khalaf, S. 1994: 273ff)
[6] Münch-Heubner, P. 2002: 8
[7] vgl. Campante, F.; Chor, D. 2011: Titel
[8] Mach, Z. 1993: x
[9] Kertzer, D. 1988: 6; Kertzer, D. 2006: 367
[10] Renan, E. 1882
[11] Böhnke, R. 2002: 11
[12] Wildner, K. 1994:37
[13] ebd: 37
[14] Westin C.1983:95 Westin bezieht sich auf die Verwendung des Begriffs in der Psychoanalyse Eric H. Erikson 1959
[15] vgl. Erikson, E.H. 1974: 123ff
[16] Byron, R. 2006: 292
[17] vgl. Benedict, Ruth 1946: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns ofjapanese culture
[18] vgl. Toren, C 2006: 143 ff
[19] Gingrich, A. 2006: 14
[20] Barth, F. 1969: 17
[21] Wildner, К. 1994: 48
[22] ebd: 65
[23] Orywal, E.; Hackstein, K. 1993: 595
[24] Grafik erstellt auf Grundlage von Orywal, E.; Hackstein, K. 1993: 595f
[25] Spivak G. 1996: 203ff
[26] Sökefeld, M. 2007: 31
[27] vgl. Sokolovskii, S., Tishkov, V. 2007: 192
[28] Sökefeld, M. 2007: 33
[29] Wolfsteller, R.2011: 32
[30] Brubaker, R. 2007: 50-ff
[31] Wolfsteller, R.2011: 35
[32] Sökefeld, Μ. 2007: 35
[33] ebd.: 35
[34] Gewecke, F. 1996: 216
[35] Dürmann, P.1994: 85ff
[36] Hobsbawn, E. 1990: 11
[37] Nötzold, K. 2009: 27
[38] Smith, A. 1995: vii
[39] Smith, A. 1995.: 14
[40] ebd: 13
[41] Weber, M. 1972: 307
[42] Eiwert, G.1989: 450
[43] Smith, A. 1995: 35ff
[44] Harik, I. 2003: 29
[45] Havemann, A. 2002: 58
[46] Weber, M. 1972: 242
[47] Beyme, K.1998: 77ff
[48] im Gegensatz zu anderen Humanwissenschaften: Die großen Sozialtheoretiker wie Marx oder Weber gingen jedoch von der Annahme aus, dass menschliche kulturelle Unterschiede und Nationalismus ein selbstverständliches Faktum unserer Welt seien. Im Gegensatz dazu hoben sie andere kollektive Kategorien, wie etwa „Klasse " besonders hervor.
[49] Spencer, J. 2002 [2006]: 392
[50] Wolf war jedoch stark beeinflusst durch Marx und Weber
[51] Wolf, Eric R. [1952] 2001: 84
[52] vgl. Wolf, Eric. R. [1952] 2001: Vorwort zu Building the Nation 1952
[53] Tibi, B.1991: 49
[54] Wolf, Eric R. [1952] 2001: 95
[55] Spencer,J. 2006: 393
[56] ebd.: 393
[57] ebd. 392
[58] Gellner, E. 1983: 64
[59] Nötzold, K. 2009: 27
[60] Benedict, A. 2006: xiv
[61] Spencer, J. 2006: 392
[62] Anderson,B. 2006: 114
[63] ebd.: 52-54
[64] Hasting, A. 2001:27
[65] Gingrich, A. Fillitz, T. et al. 2007: 18
[66] Walzer, M. 1967: 194
[67] Hobsbawn, E; Ranger, T. 1983: 1ff
[68] ebd.: 1f
[69] Eriksen, T. 2002: 72
[70] Kertzer, D. 1988
[71] Kertzter, D. 2006: 367
[72] Nötzold, K. 2009: 27
[73] Deutsch, K. 1972: 9
[74] Wolf, E. [1988] 2001: 186
[75] Eriksen, T. 1993: 111
[76] Nötzold, K. 2009: 32
[77] Der Libanon beansprucht das Gebiet der von Israel besetzten „Shebaa-Farmen " als Staatsterritorium; Nach Ansicht der israelischen Regierung ist dieses Gebietjedoch Teil Syriens. (Sultan, C. 2008: 86)
[78] Nötzold, K. 2009: 32
[79] in einigen Quellen auch „ QaumTya“, vgl. Havemann, A. 2002: S. 59
[80] vgl. Kropfitsch, L. Langenscheidt Taschenwörterbuch Arabisch 2010: 466
[81] vgl. Ebd.: 466; sowie Havemann, A. 2002: 121
[82] Havemann, A. 2002: 122
[83] vgl. Rüdiger, R. 2010: 25
[84] Havemann, A. 2002: 123
[85] Diese wurde lange Zeit durch das Prinzip des divide and rule zuerst von Kolonialmächten, im Anschluß durch Essentialisierung der ethnischen oder konfessionellen Unterschiede in den postkolonialen Staaten verhindert.
[86] Challand, В 2011: the counter power ofcivil society in the Middle East. In: deliberately considered
[87] Vgl. Hanf, T. 2007; Hanf, T. 1990; Hanf, T. 1993
[88] Hanf,,T. 2007: 5
[89] vgl. Hanf, T. 1990
[90] Havemann, A. 2002: 60
[91] Zein al Din, M. 2010: 31
[92] vgl. Amine, A. El, Muhammad Faour 1997 und vgl. Qa’i, A. 2000
[93] Gingrich, A. 2006: 16
[94] Gingrich und Baumann benennen drei Haupteinflüsse: 1. Mead und Benedicts Culture and Personality Ansatz, 2. die neo-marxistischen Wende 1968. Dabei tritt vor allem Maurice Godelliers epistemologische Kritik an der deutschen philosophischen Tradition in den Vordergrund. Godellier argumentiert gegen die verwirrende simultane Verwendung der Begriffe Identität und Einheit, welche er auf Hegel zurück führt. Seiner Argumentation nach bedarf einheitliches Handeln noch keiner übergeordneten Identität, sondern -wenn überhaupt- einer gemeinsamen Übereinstimmung, wer von diesem Handeln ausgeschlossen wird. Als Beispiel benennt er die Vorgänge während der Sklaverei, Massenvergewaltigungen oder dem Holocaust. (Vgl. Gingrich, A. 2006: 15f) 3. die Einschätzungen von Johannes Fabian hinsichtlich des eigenen Vermächtnisses der Anthropologie 1983. Dieser beschreibt in „Time and the Other" einen Versuch, die kritischen Einsichten aus Edward Saids Orientalism in die Forschungen miteinzubeziehen94 Ethnologie war zu oft daran beteiligt, hierarchische Distanzen in der Vergangenheit zu schaffen, indem Unterschiede hervorgehoben und essentialisiert wurden und es damit zu einer Überspitzung des othering kam.
[95] ebd.: 18,19
[96] ebd.: ix (Vorwort)
[97] Im Original: self und other
[98] Baumann, G. 2006: 19
[99] Baumann geht zudem von einem ternären Charakter der Orientalisierung aus. Es existiert außer dem in Relation zur eignenen Gruppe gesetzten „Anderen" noch ein weiteres, außenstehendes „Anderes". Dazu benutzt er das Beispiel langansässiger Migrantlnnen, welche durch den jeweils nationalen Diskurs, als das „ andere " wahrgenommen wurde. Durch die Ankunft neuer Zuwanderinnen, erhalten diese das Label der „ultimativ Anderen", wodurch die Orientalisierung der ersten Gruppe relativiert werden kann. Eine ternäre Struktur setzt er auch für die beiden anderen Grammatiken voraus. ( vgl. Baumann, G. 2006: 39f) Sie sind jedoch im Rahmen der Arbeit nicht konkret berücksichtigt, müssen jedoch mitgedacht werden.
[100] Baumann, G. 2006: 20
[101] Grafik entnommen aus Baumann, G. 2006: 20
[102] ebd.: 21
[103] Grafik übernommen aus Baumann, G. 2006: 22
[104] im Original:“ encompassment,“ vgl. Baumann, G. 2003: 25
[105] Baumann, G. 2003: 25
[106]
[107] Baumann, G. 2003: 25
[108] 108 Baumann, G. 2006: 25
[109] 109 ebd.: 26
[110] Grafik übernommen aus Baumann, G. 2006: 25
[111] ebd.: 31
[112] Havemann, A. 2002: 58
[113] Chedid, Andrée 1976 zitiert nach: Salameh, F. 2010:42
[114] Molt, P. 2007: 21
[115] Harik, I. 2003: 26ff
[116] Salam, N. 2003: 148f
[117] Schlehe, J. 2003: 73
[118] Kvale, S. 1996: 84
- Citar trabajo
- Magister Artium Sabine Bauer (Autor), 2011, Alterität und Identität im Libanon: Eine Generation zwischen Bürgerkrieg und arabischem Frühling, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199235
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