In diesem Aufsatz sollen die Bedingungen der Konstruktion der Wirklichkeit des Künstlerischen innerhalb der klassischen Moderne beleuchtet werden. Die künstlerische Kognition soll dabei als ein System in den Mittelpunkt rücken, dessen Operationen sich im Spannungsfeld von Kommunikation eines Sozialen Systems sensu Luhmann und einerseits von sinnlichen Materialien der Kunst andererseits entfalten. In einem in der Philosophie Hegels angelegten und von Theodor W. Adorno fortentwickelten Sinne erlangen die Potentiale von sinnlichen Materialien der Kunst erst im künstlerischen Produktionsprozess künstlerische Wirklichkeit. Sie ist das Resultat eines durch Kommunikation entstehenden kognitiven Prozesses, der in besonderer Weise auf die sinnliche Wahrnehmung abgestellt ist.
Arnold Wohler:
Betrachtungen zur künstlerischen Kognition der Moderne (März 2011)
I.
Der Künstler nimmt seit der klassischen Moderne für sich in Anspruch, ein sinnliches Material der Kunst nach Maßgabe einer „inneren Notwendigkeit“[1] zu formen. Dieses Axiom einer „inneren Notwendigkeit“, dessen Wortlaut von dem abstrakt malenden Wassily Kandinsky stammt, ist repräsentativ für das Selbstverständnis des Künstlers der klassischen Moderne. Es verweist auf die spezifischen kognitiven Prozesse, die sich im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen der künstlerischen Produktion entfalten.
Der Künstler der klassischen Moderne bildet nicht mehr ein ihm bereits vor dem Produktionsprozess verfügbares Wissen mit Mitteln der Kunst ab. Vielmehr entsteht ihm das Wissen darüber, was er mit Mitteln der Kunst zur Anschauung bringt, erst durch die Anschauung und somit durch das entstehende Kunstwerk selbst. Der künstlerische Produktionsprozess lässt in diesem Sinne das Wissen des Künstlers darüber, was er zur Darstellung bringt, erst entstehen. Er involviert von daher einen besonderen Erkenntnisfortschritt des Künstlers, der insofern die Kunst allgemein betrifft, als dieses Wissens eng an dem geknüpft ist, was die Kunst selbst überhaupt erst ermöglicht, nämlich Kommunikation eines sozialen Systems der Kunst[2] einerseits und ein sinnliches Material der Kunst andererseits.
In diesem Sinne versteht der Künstler der Moderne tendenziell das, was er durch seine Arbeit zur Darstellung bringt, als ein im sinnlichen Material der Kunst selbst angelegtes Potential. Es ist dies das Potential des Materials, im Bewusstsein „Wirklichkeit des Künstlerischen“ zu erzeugen. Sich diesem Potential bewusst zuzuwenden, gilt es für den Künstler umso mehr, wo er sich des Gebrauchs traditioneller Schemata durch eine Kommunikation auferlegte Einschränkung bewusst enthält, obgleich doch solche Schemata ihm im Produktionsprozess als ein Wissen zur Verfügung stünden.
In dem Maße, wie dem Künstler das durch Kommunikation ihm aberverlangte <Kunststück> gelingt, im Produktionsprozess sein traditionelles Wissen auszublenden, um die <eigentlichen> Potentiale des sinnlichen Materials der Kunst zum Kunstwerk durch Formgebung zu heben, in dem Maße werden die <eigentlichen> Potentiale seiner künstlerischen Kognition gehoben, d.h., als eine „Wirklichkeit des Künstlerischen“ ins Bewusstsein gehoben und entfaltet. Die in diesem Sinne durch Potentiale des sinnlichen Materials <gehobenen> Potentiale seiner Kognition setzen erst den Künstler imstand, dem Material künstlerische Form zu verleihen, ohne dabei auf ein ihm bereits verfügbares traditionelles Formenrepertoire rückgreifen zu müssen.
Das <Aufschließen> der Potentiale des sinnlichen Materials und seine künstlerische Formgebung durch die künstlerische Tathandlung[3] bedingen sich gegenseitig: Indem die künstlerische Tathandlung das Material durch ästhetisches Setzen und Gewichten desselbigen seiner Bestimmung zuführt, nämlich im Bewusstsein „Wirklichkeit des Künstlerischen“ zu entfalten, wirken ausgesuchte Potentiale des Materials auf die künstlerische Kognition ein. Zugänglich sind dem Künstler in diesem Sinne nur die Potentiale des sinnlichen Materials, die ihnen entsprechende Potentiale seiner eigenen Kognition auf den Plan zu rufen vermögen.
II.
Dem entspricht, dass der Künstler der klassischen Moderne sich im Produktionsprozess vornehmlich sinnlich wahrnehmend verhalt: Sinnlich wahrnehmend formt er ein Material, weil dieses Material im Akt der Formgebung zugleich etwas mit seiner Kognition anstellt: Indem der Künstler ein Material ohne die Intention, etwas <Bestimmtes> darstellen zu wollen, durch spontane Setzungen gleichsam aufbricht und das im Hinblick auf seine Form für den Künstler selbst noch völlig offene Material auf sich wirken lässt, aktiviert und verstärkt es in ihm spezifische Potentiale seiner Kognition, die außerhalb der künstlerischen Produktion so nicht aktiviert werden. Erst der experimentell-forschende Umgang mit dem Material mit offenem Ausgang, der dem Prinzip des Zufalls Rechnung trägt, eröffnet Möglichkeiten der Begegnungen zwischen Potentialen des Materials und Potentialen der künstlerischen Kognition. Der Schauplatz solcher Begegnungen ist die sinnliche Wahrnehmung des Künstlers selbst. Wann immer solche Begegnungen in ihr sich zutragen, rücken für den Künstler die Parameter von Qualität, Intensität, Zeitstruktur und Örtlichkeit[4] seiner eigenen sinnlichen Wahrnehmung als ein Gradmesser der künstlerischen Formgebung des Materials in den Vordergrund seiner Reflexion.
[...]
[1] Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, S.78/79. Siehe hierzu auch die Ausführungen im Einleitungsteil meiner Dissertation „Synästhesie als ein strukturbildendes Moment in der Kunst des 20. Jahrhundert“.
[2] Zum Begriff der Kunst als ein soziales System siehe: Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft.
[3] Der Begriff der künstlerischen Tathandlung verwendet T.W. Adorno
[4] Siehe hierzu: Gerhard Roth: Das Gehirn uns seine Wirklichkeit, S. 108/109.
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- Dr. Arnold Wohler (Author), 2011, Betrachtungen zur künstlerischen Kognition der Moderne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198844
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