Der Beginn kolonialpolitscher Unternehmungen waren die Besetzungen Tunesiens durch
Frankreich und Ägypten durch England. Von Ägypten aus stießen die Engländer den Nil aufwärts in
den Sudan vor. 1884 errichteten sie die Herrschaft über das untere Nigerbecken; zwar scheiterte der
bereits 1881 erste Versuch, die Herrschaft über Transvaal zu festigen, jedoch kreisten sie 1885 die
Burenrepublik durch den Erwerb von Betschuanaland ein. Auch in den weiteren Jahren erweiterten
sie ihr Gebiet, indem sie sich in Berbera an der Somaliküste festsetzten, in Asien Burma gewannen
und Afghanistan ein britisches Protektorat aufzwangen.
Frankreich setzte sich im Zeitraum zwischen 1880 bis 1883 im großen Nigerbogen fest, stieß
zwischen dem Kongogebiet und dem Sudan nach Äquatorial-Afrika vor und besetzte am Ausgang
des Roten Meers Obok und Djibouti. Um 1885 besetzten sie Madagaskar und ihren hinterindischen
Besitz dehnten sie nach Annam aus.[...]
1. Einleitung
Der Beginn kolonialpolitscher Unternehmungen waren die Besetzungen Tunesiens durch Frankreich und Ägypten durch England. Von Ägypten aus stießen die Engländer den Nil aufwärts in den Sudan vor. 1884 errichteten sie die Herrschaft über das untere Nigerbecken; zwar scheiterte der bereits 1881 erste Versuch, die Herrschaft über Transvaal zu festigen, jedoch kreisten sie 1885 die Burenrepublik durch den Erwerb von Betschuanaland ein. Auch in den weiteren Jahren erweiterten sie ihr Gebiet, indem sie sich in Berbera an der Somaliküste festsetzten, in Asien Burma gewannen und Afghanistan ein britisches Protektorat aufzwangen.
Frankreich setzte sich im Zeitraum zwischen 1880 bis 1883 im großen Nigerbogen fest, stieß zwischen dem Kongogebiet und dem Sudan nach Äquatorial-Afrika vor und besetzte am Ausgang des Roten Meers Obok und Djibouti. Um 1885 besetzten sie Madagaskar und ihren hinterindischen Besitz dehnten sie nach Annam aus.
Aber auch Russland, Italien und Belgien traten als Kolonialmächte hervor und besetzten fremde Gebiete. Das führte zu schweren Spannungen, da die einzelnen Kolonialmächte sich in ihren okkupierten Gebieten zu nahe gekommen waren. So stritten sich Frankreich und England wegen des Sudan, England und Russland sich um das afghanische Grenzgebiet.
Zu diesem Zeitpunkt, da sich England durch den Kolonialstreit mit Frankreich und Russland zunehmend isolierte, ging auch Deutschland zum Erwerb von Kolonien über. Im April 1884 stellte das Deutsche Reich das Gebiet, das der Bremer Kaufmann Lüderitz in Südwestafrika erworben hatte, unter Schutz. Im Juli 1884 stellte der deutsche Generalkonsul in Tunis, Gustav Nachtigal, im Auftrag Bismarcks die Hoheit des Reiches über Togo und Kamerun her. Im Februar 1885 wurde für das Gebiet in Ostafrika ein kaiserlicher Schutzbrief ausgestellt, und im Mai 1885 übernahm das Deutsche Reich die Oberhoheit über Nord-Neuguinea (Kaiser-Wilhelm-Land) und die vorgelagerte Inselgruppe, den Bismarck-Archipel.
Der Eintritt Deutschlands in die Kolonialpolitik war ein völlig neuer Augenblick in der deutschen Geschichte. Noch in den 1870er Jahren bestand weder bei Bismarck noch im deutschen Volk Interesse an Kolonialpolitik. Nur einige Gelehrte wie z.B. Treitschke und auch Kaufleute propagierten sie. Sie argumentierten, dass Deutschland nur dann eine Macht ersten Ranges sei, wenn es, wie auch die anderen Mächte, Kolonien erwerben würde. Und zur Verstärkung ihrer Agitation wurde 1882 der erste deutsche Kolonialverein gegründet.
In der Geschichtswissenschaft herrscht Einstimmigkeit darüber, dass Bismarck vor 1884 antikolonial eingestellt war. Aber auch darüber, dass er bald, nachdem die ersten Kolonien erworben waren, kolonialmüde wurde. Seine Abneigung gegen die Kolonialpolitik besitzt demnach eine Kontinuität von 1862 bis 1890. Nur in der kurzen Zeitspanne von 1884/1885 lässt sich ein Interesse an Kolonialpolitik erkennen[1]. Warum?
2. Verschiedene Auffassungen über Bismarcks Einstieg in die Kolonialpolitik
In der Forschung gibt es verschiedene Ansichten darüber, weshalb sich Bismarck plötzlich für eine Kolonialpolitik Deutschland eingesetzt hatte. Im Handbuch der deutschen Geschichte beispielsweise heißt es, dass ihn zwei Motive geleitet hätten:
- Einerseits seien die deutschen Kolonien für ihn keine Erweiterungen des deutschen Herrschaftsbereich gewesen und keine militärischen Stützpunkte, sondern ausschließlich Stützpunkte für den deutschen Handel, die den deutschen Kaufleuten im überseeischen Konkurrenzkampf mit den Kaufleuten anderer Nationen einen Rückhalt geben sollten.
- Anderseits sei sein Eintreten in die Kolonialpolitik das Bestreben gewesen, dem deutschen Volk wieder eine große nationale Aufgabe zu geben, die wie früher die Reichsgründung ein einigendes Element sein sollte[2].
Hermann Oncken und Friedrich Meinecke setzten ihren Schwerpunkt darauf, dass Bismarck dem Druck der deutschen Kolonialbewegung und -propaganda in der deutschen Öffentlichkeit nachgegeben habe[3].
A. J. P. Taylor legt besonderen Wert auf die europäische Mächtekonstellation und will im deutschen Kolonialerwerb ein Instrument Bismarcks sehen, mit dem Bismarck mit Frankreich eine Kolonialentente gegen England einzuleiten versuchte[4]
Hans-Ulrich Wehler, der alle anderen Ansichten negiert, entwickelt eine Sozialimperialismus- These[5].
In der Biographie über Bismarck vertritt Wilhelm Mommsen die Auffassungen, dass Bismarck im Erwerb deutscher Kolonien in erster Linie die Gewinnung neuer Absatzmärkte sah, also keine machtmässige Festsetzung; und dass er sich dem Druck der deutschen Öffentlichkeit gebeugt habe. Die letzte Auffassung schwächte er jedoch ab, indem er hinzufügt, dass die kolonialen Bestrebungen von nicht sehr breiten Schichten des deutschen Volkes getragen wurde[6].
Anhand dieser verschiedenen Ansichten, welche Beweggründe Bismarck für einen Einstieg in die deutsche Kolonialpolitik gehabt hatte, kann man erkennen, dass man sich innerhalb der Forschung bis auf den heutigen Tag über den wahren Sachverhalt in diesem Punkt nicht einig ist.
Jedoch in einem Aufsatz von Winfried Baumgart wird eine neue These aufgestellt. Baumgart berichtet von einem Doktoranden, Axel Riehl, der in minutiöser Spurensuche zahlreiche veröffentlichte und unveröffentlichte Belege gefunden habe, dass das Hauptmotiv für Bismarcks Kolonialpolitik als ein verzweifeltes Arbeiten gegen ein deutsches „Ministerium Gladstone" anzusehen sei. Bismarck war ein entschiedener Gegner von Gladstone und dessen Liberalismus. Für Bismarck stand Gladstone als Synonym für die Zersetzung einer ehrwürdigen englischen Verfassungsinstitution und prophezeite, das ein heruntergekommenes republikanisches England eine Gefahr für ganz Europa bedeuten könne. Da der Kronprinz Friedrich Wilhelm, der ein gespanntes Verhältnis zu Bismarck besaß, einen gemäßigten Liberalismus huldigte, zudem mit der englischen Prinzessin Victoria verheiratet war, versuchte Bismarck die Position von Gladstone nicht nur zu schwächen, sondern ihn mit allen Mitteln zu vernichten. Aus einem Brief zwischen Holstein und Herbert von Bismarck, der im Grunde für seinen Vater spricht, heißt es: „Ich...hoffe, dass unsere Politik..., um Gladstone gegen die Wand zu quetschen, dass er nicht mehr japsen kann..."[7]. Aber auch Bismarck selbst schreibt offen seine Meinung zu Gladstone und äusserst sich in einem vertraulichen Erlass vom 26. Februar 1884: „Ein so wesentliches Glied der europäischen Gemeinschaft, wie England, kann nicht in schwere Krankheit und Zuckungen verfallen, ohne ganz Europa in Mitleidenschaft zu ziehen. Die jetzige englische Regierung, an deren Spitze ein Mann steht, dem außer seiner verhängnisvollen Gabe der Beredsamkeit jede Eigenschaft eines Staatsmannes in dem Maße fehlt, dass ich geneigt bin, ihn als geisteskrank anzusehen, wird mit solchem Ungeschick geführt, dass es, wenn die Möglichkeit dazu überhaupt vorläge, nützlich sein würde, jenes große Reich zur Wahrnehmung seiner Interessen unter eine Curatel der übrigen Christenheit zu stellen."[8]
[...]
[1] Baumgart, Winfried, Bismarck und seine Zeit. Berlin 1992, S. 141-152.
[2] Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Teil 3, § 46, S. 292, 9. Auflage, Stuttgart 1970.
[3] Baumgart, Winfried, Bismarck und seine Zeit. Berlin 1992, S. 141-152.
[4] Ebd. S. 147.
[5] Ebd.
[6] Mommsen, Wilhelm, Bismarck: Ein politisches Lebensbild, München 1959, S. 182ff.
[7] Baumgart, Winfried, Bismarckund seine Zeit. Berlin 1992, S. 150.
[8] Ebd. S. 151.
- Citation du texte
- Dietmar Hube (Auteur), 2012, Bismarck und der Beginn der deutschen Kolonialpolitik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198320