Wer sich mit „heiligen Orten“ beschäftigt, denkt dabei in der Regel an Wallfahrtsorte, Kirchen und andere Stätten religiöser Relevanz, an Naturheiligtümer oder an Orte der Hierophanie – an konkrete Orte eben, die bestimmten Menschen als heilig gelten.
Allerdings gibt es im großen Spektrum dessen, was als „heiliger Ort“ gilt, ein Phänomen, das sich einer solchen konkreten Lokalisierung entzieht. Gemeint ist die im christlichen Traditionsstrom beheimatete Vorstellung, dass man Christus im Nächsten begegnet; dass also der heilige Ort jeweils dort zu finden ist, wo man dem Heiligen in einem anderen Menschen begegnet – und dass diese heiligen Orte nur situative, nicht-durativ lokalisierbare heilige Orte sind.
Der vorliegende Aufsatz untersucht das Phänomen solcher nur situativer verortbarer heiliger Orte mithilfe eines religionswissenschaftlichen und theologischen Instrumentariums am Beispiel von Erfahrungsberichten von sogenannten „Straßenexerzitien“, wie sie seit einigen Jahren u.a. von Christian Herwatz, SJ und Christoph Albrecht, SJ angeboten werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1 Problembeschreibung
1.2 Begriffe
Teil 1: Das Instrumentarium
2. Belden Lane: Dem Ort eine Stimme geben
2.1 Problemanzeige
2.2 Topos und Chora
2.3 Kulturwissenschaftliche Zugänge
2.3.1 Ontologischer Zugang: Weltachse und Grenzen
2.3.2 Kultureller Zugang: Umkämpfte Orte
2.3.3 Phänomenologischer Zugang: Wiederentdeckte Orte
2.4 Landschaft, Ort und körperliches Subjekt
2.5 Der poetische Zugang
3. Heilige Orte sind bespielte Orte
3.1 Zeichen des Raumes bzw. Ortes
3.1.1 Raumkonzeption
3.1.2 Dekoration
3.1.3 Requisiten
3.1.4 Beleuchtung
3.2 Nonverbale akkustische Zeichen
3.3 Paralinguistische Zeichen der Akteure
3.4 Kinesische Zeichen der Akteure
3.5 Erscheinen der Akteure als Zeichen
3.6 Ensemble der Versammelten als Zeichen
4. Zusammenfassung
Teil 2: Die Untersuchung situativer heiliger Orte
5. Was sind Straßenexerzitien?
Exkurs: Die Stadt als heilige Landschaft in der europäischen Tradition
1. Die mittelalterliche Kathedrale als Evokation des Paradieses
2. Zwischen Lokalisierbarkeit und Nicht-Lokalisierbarkeit
3. Die Stadt als heilige Landschaft
4. Raumtheorien der modernen Stadt
5. Ergebnis des Exkurses
6. Erfahrungsberichte über Straßenexerzitien
7. Erzählungen von heiligen Orten in Erfahrungsberichten von Straßenexerzitien
7.1 Ein Gefängnis als heiliger Ort
7.1.1 Die JVA Nürnberg (2x)
7.1.2 Die JVA Duisburg
7.2 Eine Suppenküche als heiliger Ort
7.3 Ein Grabmal als heiliger Ort
7.4 Ein Park als heiliger Ort
7.5 Ein Restaurant als heiliger Ort
7.6 Eine Gedenkstätte und ein Kinderspielplatz als heilige Orte
7.7 Ein ausgebranntes Haus als heiliger Ort
7.8 Die Wohngemeinschaft der Exerzitien als heiliger Ort
8. Zusammenfassung
Teil 3: Ergebnissicherung
9. Rückblick
10. Ausblick
1. Einführung
1.1 Problembeschreibung
Die Frage danach, wie man sich auf religionswissenschaftliche und theologische Weise dem Phänomen „Heilige Orte“ und „Kraftorte“ nähern kann, ist äußerst komplex. Erfahrungen, die an solchen Orten und Plätzen gemacht werden, sind ebenso subjektiv wie subtil, sie entziehen sich nicht selten gar der Aussagbarkeit. Entsprechend schwierig ist es daher, solche Orte und die Erfahrungen, die dort gemacht werden, zu analysieren.
1.2 Begriffe
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Zwei Begriffe sind zunächst zu bestimmen: Was ist gemeint, wenn im Folgenden von „heiligen Orten“ bzw. von „Kraftorten“ die Rede ist?
Heilige Orte sind im Folgenden Orte, von denen Menschen sagen, dass sie für sie heilig sind – wobei dann zu klären ist, was „heilig“ in diesem Kontext für sie bedeutet.
Kraftorte sind im Folgenden Orte, die nach dem Dafürhalten derer, die sie so bezeichnen, Kraft haben oder ausstrahlen – wobei jeweils zu klären ist, wodurch diese Kraft für sie charakterisiert ist, wie sie beschrieben und empfunden wird, welche Wirkungen man ihr zuschreibt, inwiefern es sich dabei um eine Metapher handelt und was sie in diesem Fall bezeichnet.
Teil 1: Das Instrumentarium
Im ersten Teil unseres Vorhabens sollen verschiedene wissenschaftliche Instrumente vorgestellt werden, die für die Analyse lokalisierbarer heiliger Orte entwickelt wurden. Die folgende Darstellung erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht lediglich darum, einige hilfreiche Untersuchungsmethoden und -fragen vorzustellen.
2. Belden Lane: Dem Ort eine Stimme geben
2.1 Problemanzeige
Belden Lane (US-amerikanischer protestantischer Theologe und Professor der römisch-katholischen Saint Louis University.) hat 2001 einen Aufsatz[1] veröffentlicht, in dem er der Frage nachgeht, auf welche Weise man aus religionswissenschaftlicher Sicht das Phänomen heiliger Orte (engl. „Sacred Space“) so verstehen kann, dass nicht nur soziokulturelle Erklärungsansätze (heilige Orte als kulturelle Konstrukte) berücksichtigt werden, sondern auch traditionelle native Sichtweisen, die darauf verweisen, dass solche Orte imstande sind, „zurück zu reden“. (55f.)
Das Problem, das Lane beschreibt, stellt sich folgendermaßen dar: Wenn man der natürlichen Welt keine Stimme verleiht, ihr also nicht zugesteht, dass sie selbst am Entstehungsprozess von Bedeutung beteiligt ist, dann werden die eigentlich so fesselnden menschlichen Erzählungen über außerordentlich bedeutsame Orte bedeutungslos; dann lässt sich nicht erklären und verstehen, wie es sein kann, dass Menschen die Erfahrung machen, dass bestimmte Orte Macht auf sie ausüben, dass nicht sie den Ort „haben“, sondern dass der Ort im Gegenteil sie „hat“. (56)
Wie aber können solche Phänomene kritisch zugänglich gemacht werden? Wie kann man Orten aus wissenschaftlicher Sicht eine Stimme verleihen, wie kann man erklären, dass Orte bei der Entstehung von Bedeutung selbst eine Rolle spielen? Lane schlägt vor, dem Gedanken Paul Ricoeurs zu folgen und von einer „ersten Naivität“ durch eine Hermeneutik des Verdachts hindurch zu einer „zweiten Naivität“ zu gelangen (die in der Vertiefung des Diskurses das Staunen wieder neu entdeckt). (56f.)
2.2 Topos und Chora
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Lane beginnt mit einer Unterscheidung, die er bei Plato und Aristoteles vorfindet: Aristoteles verstehe den Ort als „topos“: ein Ort sei ein Punkt, der sich von keinem anderen Punkt unterscheide (hiervon leitet sich das Wort „Topographie“ im Sinne einer Aufzeichnung von gleich gültigen Orten ab).[2] Plato hingegen spreche von „chora“: Er habe verstanden, dass Orte die Fähigkeit haben, unmittelbar mit menschlichen Erfahrungen „mitzuschwingen“. An Orten finden die Erfahrungen der Menschen gleichsam einen Widerhall. Als „chora“ trage der Ort seine eigene Energie und Kraft, der die Menschen dazu verleitet, gemeinsam zu tanzen (hiervon leite sich unser Wort „Choreographie“ ab).[3]
Zur Veranschaulichung verweist Lane auf ein McDonalds-Restaurant: Für die meisten Menschen sei solch ein Restaurant ein „topos“: Wenn man eines gesehen hat, hat man alle gesehen. Wer jedoch in einem bestimmten McDonalds einen Heiratsantrag erhalten hat, für den verwandle sich dieses Restaurant zur „chora“. (54)
Ebenso wie im Blick auf den Ort unterscheiden sich die Perspektiven der antiken griechischen Philosophen auch im Blick auf die Zeit: Zeit als „chronos“ wird als das eintönige Ticken der Uhr wahrgenommen, bei der jede Sekunde der anderen gleicht. Als „kairos“ hingegen ist die Zeit ein einmaliger, nicht wiederholbarer Moment, in dem sich Dinge von großer Bedeutsamkeit im Leben eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft ereignen. (55)
2.3 Kulturwissenschaftliche Zugänge
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht gibt es nach Lane drei Möglichkeiten, heilige Orte zu untersuchen: man kann sich ihnen ontologisch, kulturell und phänomenologisch nähern.
1) Der „ontologische Zugang“, für den Mircea Eliade exemplarisch steht, versteht einen heiligen Ort als einen Ort der Hierophanie, als Ort der Offenbarung des Heiligen. Aus dieser Sicht gilt für heilige Orte, dass sie von allen anderen, profanen Orten radikal unterschieden werden. Solche Orte sind Orte des Numinosen, wo übernatürliche Kräfte ins Gewöhnliche eindringen.[4]
Dieser Zugang hat den Vorteil, dass dabei die Innensicht der Gläubigen über den Ort ernst genommen wird. Der Nachteil dieser Sichtweise besteht darin, dass sich das Heilige und das Profane nie auf so einfache Weise voneinander scheiden lässt. Beide sind eher sich gegenseitig überlappende Dimensionen menschlicher Erfahrungen.
2) Der „kulturelle Zugang“ wird beispielsweise von Kulturhistorikern wie David Chidester und Edward Linenthal vertreten: Sie verwerfen die Idee, dass heilige Orte selbst eine „Intentionalität“ hätten, einen Impetus, den sie aus sich selbst heraus oder von etwas außerhalb ihrer selbst bezögen. Statt dessen sind sie der Meinung, dass jede menschliche Zuschreibung von Heiligkeit immer eine soziokulturelle Konstruktion der Wirklichkeit sei. (Lane, 57) Von hier aus ist verständlich, dass sie besonders den konfliktuösen Charakter heiliger Orte betonen: Ein heiliger Ort ist aus dieser Sicht dadurch definiert, dass es ein Ort ist, über den gestritten wird.[5]
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Der Vorteil dieser Sichtweise besteht darin, dass Religion hier in ihrer soziokulturellen Verfasstheit wahrgenommen wird. Auf diese Weise können ideologische und andere kulturelle Dimensionen erfasst und verstanden werden, die im Anspruch auf einen konkreten heiligen Ort zu Tage treten. Allerdings hat dieser Zugang den Nachteil, die Bedeutsamkeit des Ortes selbst für die Konstitution dieses Ortes als eines heiligen Ortes zu vernachlässigen: die Orte selbst sind dann lediglich bedeutungsneutrale Objekte, die von dieser oder jener Gruppe oder Bewegung für die eigenen Zwecke gedeutet und instrumentalisiert werden.
3) Der „phänomenologische Zugang“ schließlich versucht, dem Ort selbst Gehör zu schenken, d.h. seine eigene Topographie und materielle Beschaffenheit als hermeneutische Angebote von Sinnkonstruktion zu berücksichtigen. US-amerikanische ökologische Vordenker wie James Gibson und Edward Casey haben die Idee eingebracht, dass Orte im Prozess ihrer Wahrnehmung selbst an den Entstehung ihrer Bedeutung beteiligt sind. Sie sprechen von einer Intersubjektivität zwischen Ort und Mensch, von einer Reziprozität, die sich etwa darin zeigt, einen Stein zu berühren und umgekehrt von ihm berührt zu werden. Es gilt, die „Ganzheit“ eines Ortes anzuerkennen, wenn wir zu verstehen versuchen, wie ein Ort als heiliger Ort wahrgenommen wird. (58)
Letztlich, so Lane, seien alle drei Ansätze notwendig, um den komplexen Charakter eines konkreten heiligen Ortes zu erfassen. (58f.) Aus diesem Grund geht er diesen drei Zugängen in einem zweiten Schritt noch detaillierter nach:
2.3.1 Ontologischer Zugang: Weltachse und Grenzen
Für M. Eliade[6] galt es als erwiesen, dass ein Ort, an dem sich das Heilige manifestiert, stets vom übrigen Kontext bzw. vom Umfeld abgesondert wird oder werden muss: Sei es, dass ein Kreis um ihn gezogen wird, dass die Schuhe beim Betreten des Ortes ausgezogen werden, dass sich die Kommunikation der Gläubigen verändert etc. Von den Gläubigen würden solche Orte, die das Zentrum der Welt („axis mundi“, Weltachse) bildeten, als „strukturell und ontologisch anders“ erkannt werden. (Lane, 60)
Andererseits hat Jonathan Z. Smith[7], Eliades Nachfolger an der University of Chicago, darauf hingewiesen, dass heilige Orte nicht generell vom Umfeld abgesondert werden, und dass sie sich durchaus auch an der Peripherie der bekannten Welt befinden können. Gerade der Rand, die Grenze, könne ein Ort der Offenbarung des Heiligen sein. (Man denke an den brennenden Dornbusch in der jüdisch-christlichen Tradition, weit entfernt von aller menschlichen Zivilisation.) Zuweilen seien Orte sogar nur temporär heilig. (62)
2.3.2 Kultureller Zugang: Umkämpfte Orte
Aus kultureller, Durkheim'scher Sicht kann ein Ort jede erdenkliche soziokulturelle Bedeutung annehmen. Der grundlegendste Faktor eines heiligen Ortes ist aus dieser Sicht seine Fähigkeit, eine große und widersprüchliche Bandbreite von Bedeutungszuschreibungen und religiösen Praktiken aufnehmen und beherbergen zu können. (Lane, 63)
Aus soziologischer Sicht sind heilige Orte aber nicht nur „Schlachtfelder“ konkurrierender religiöser Stimmen und Bedeutungen, sondern auch Möglichkeiten, sowohl religiöse als auch nichtreligiöse Anliegen miteinander zu „verschachteln“. Manche Orte können demnach sowohl religiös als auch politisch oder zeitgeschichtlich bedeutsam sein. Was solche Orte „heilig“ macht, ist (1.) die Gegenwart ritueller Aktivitäten und symbolischer Bedeutungszuschreibungen und (2.) konkurrierende Macht- und Besitzansprüche auf diesen Ort. (64)
Lane schlägt dementsprechend vor, einen solchen Ort als eine Art „kulturelles Palimpsest“ zu verstehen, ähnlich einer antiken Handschrift, die immer wieder abgeschabt und überschrieben wurde. Auch an Orten könnten sich Inhalte und Bedeutungen gegenseitig überlagern und überschreiben. (62) Damit wird Lane zugleich der diachronen, historischen Fragestellung gerecht, die sich bei einem heiligen Ort oder Kraftort stellt.
2.3.3 Phänomenologischer Zugang: Wiederentdeckte Orte
Der Nachteil sowohl des ontologischen wie auch des kulturellen Zugangs besteht für Lane darin, dass dabei die konkreten Gegebenheiten und Besonderheiten eines Ortes, die seine Deutung stets mitbestimmen, nicht in den Blick geraten. (Lane, 66) Da wir selbst körperliche Wesen sind, können wir die Welt nur verstehen, wenn wir uns körperlich handelnd auf sie einlassen, wenn wir in einen Austausch mit ihr eintreten.
Der ökologische Vordenker und Psychologe James J. Gibson[8] schreibt, dass die Welt uns (und anderen Tieren) unzählige „Angebote“ mache, während wir uns durch sie hindurch bewegen; dabei handelt es sich um grundlegende Möglichkeiten der materiellen Umwelt, die aus sich selbst heraus Bedeutungen vorschlagen, unabhängig davon, was wir damit machen. Eine flache Steinfläche auf Kniehöhe etwa bietet sich für Menschen als Sitzgelegenheit an. Bäume bieten sich Tieren zum Klettern und Ausruhen an. Ein im Sand liegender Stein kann einer Krabbe als Versteck dienen oder von einem Menschen als Werkzeug oder Waffe aufgehoben werden.
Das aber bedeutet, so Lane: Wir kennen einen Ort nur insofern wirklich, als wir an den verschiedenen Angeboten, die er anbietet, teilhaben; insofern als wir uns auf seine wechselnden visuellen, auditiven, olfaktorischen und kinästhetischen Qualitäten einlassen.
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Ein Ort, der etwas in uns heraufbeschwört, der von unbeantworteten Fragen seiner physischen und soziokulturellen Vergangenheit besessen ist, „verlangt“ also gleichsam aus sich selbst heraus bestimmte Deutungen. (67)
2.4 Landschaft, Ort und körperliches Subjekt
Schon der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty[9] hatte 1962 die Bedeutsamkeit unserer Körper und unserer körperlichen Interaktion mit der Umwelt für unsere Wahrnehmung betont. Unsere Körper sind nicht nur Behälter eines Verstandes, sie bewegen sich durch die Umwelt als Teil davon. Wir nehmen wahr und werden dabei wahrgenommen. (Lane, 68)
Der Philosoph Edward S. Casey hat 1993 den Prozess der Wahrnehmung einer Landschaft oder eines Ortes durch ein körperliches Subjekt näher untersucht und beschreibt sechs verschiedene „Momente“, die wesentlich für den Austausch zwischen Landschaft/Ort und Subjekt sind:
1. Der „umgebende Bereich“ ist das, was einen Ort umfasst und von anderen Orten unterscheidet (z.B. kann ein Ort in einem tiefen Tal liegen, an einem großen Binnensee usw.).
2. Die „sinnliche Oberfläche“ ist das, was bei der ersten Begegnung mit einem Ort besonders hervorsteht (z.B. seine Farben, Formen, Oberflächen usw.).
3. Die „Dinge“, die physikalischen Gegenstände also, sind das, was sich von der sinnlichen Oberfläche abhebt (z.B. besondere Steine, Bäume oder andere Dinge, die unsere Aufmerksamkeit erregen).
4. Der „Grund“ ist die Verlängerung der sinnlichen Oberfläche nach unten. Der Grund verankert den Ort in den Tiefen der Erde.
5. Der „Bogen“ (engl „arc“) ist das, was nach hinten/oben entschwindet, was sich der Wahrnehmung entzieht, etwa eine zurückweichende Landschaft oder der Horizont des Meeres.
6. Die „Atmosphäre“ schließlich gibt die „emotionale Tonalität“ oder „Stimmung“ eines Ortes wieder. Orte scheinen zuweilen Gefühle zu beherbergen.[10]
Lane kommt zu dem Ergebnis: Heilige Orte sprechen mit eigener Stimme, selbst wenn diese Stimme mit „kulturell geprägte Ohren“ gehört wird. Zudem sei das „Andere“, das „Heilige“ nur in Relation zum Ort selbst wahrzunehmen. Erst wenn alle drei Dimensionen – Wahrnehmungen des Numinosen, soziokulturelle Analysen und phänomenologische Relationsbestimmungen zwischen Ort und Mensch – in den Blick genommen werden, können wir verstehen, was Menschen zu solchen Orten hinzieht. (70)
2.5 Der poetische Zugang
Wie aber können solche disparaten Zugänge gebündelt werden? Lane schlägt dafür einen narrativen Weg vor: Die Rolle des Menschen im Deutungsprozess eines Ortes bestehe darin, dessen Geschichte zu erzählen; eine Erzählung zu weben, die die Energien des Landes und des Himmels umfasst, weil ihre Bedeutung nur je im Wechselspiel erfasst werden kann. Dabei können heilige Orte „Träger“ moralischer und gemeinschaftlicher Werte werden, etwa wenn topographische Besonderheiten mit menschlichen Mythen verknüpft werden. (71)
Die Aufgabe, vor die jene gestellt sind, die heilige Orte untersuchen, sei daher die Aufgabe eines Dichters. Dichterische Fähigkeiten und interdisziplinäre Zugänge seien nötig, um einen heiligen Ort angemessen definieren und beschreiben zu können. (72) Der poetische Zugang erinnere uns zudem daran, dass heilige Orte seit jeher „erzählte“ Orte sind, an denen Landschaften und kollektive Erinnerungen kunstvoll miteinander verwoben sind. Geschichten davon, wie außergewöhnliche Mächte in den gewöhnlichen Alltag eindringen, sind Teil der menschlichen Erfahrung des Heiligen. Wer sich aus dichterischer Perspektive darauf einlasse, der gelange zur Einsicht, dass es letztlich der heilige Ort sei, der den Interpreten selbst interpretiert: Der heilige Ort stellt jene in Frage, die ihn in Frage stellen. Er deutet jene, die ihn deuten. (73) Er „spricht zurück“ und hat eine Stimme.
[...]
[1] Belden C. Lane, Giving Voice to Place: Three Models for Unterstanding American Sacred Space, in: Religion and American Culture: A Journal for Interpretation, Vol. 11, No. 1 (Winter 2001), 53-81.
[2] Aristoteles, Physik, VI, 1.
[3] Plato, Timaios, 49a, 51a.
[4] Mircea Eliade, The Sacred and the Profane. The Nature of Religion, New York, 1961, 20-29.
[5] David Chidester, Edward Linenthal (Hg.), American Sacred Space. Religion in North America, Indiana, 1995.
[6] Mircea Eliade, The Sacred and the Profane. The Nature of Religion, New York, 1961, 26.
[7] Jonathan Z. Smith, To take to Place: Toward a Theory of Ritual, Chicago, 1987.
[8] James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, Boston, 1979, 127ff.
[9] Maurice Merleau-Ponty, Phenomenology of Perception, London, 1962.
[10] Edward S. Casey, Getting Back into Place: Toward a Renewed Understanding of the Place-World, Indiana, 1993, 204-222.
- Citar trabajo
- Haringke Fugmann (Autor), 2012, Situative nicht-durativ lokalisierbare heilige Orte, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198312
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