In diesem Essay wird der Versuch unternommen, die "Gesellschaftliche Funktion der Philosophie" nach Max Horkheimer ("Die Gesellschaftliche Funktion der Philosophie", 1940) nachzuzeichnen und dadurch, stets an dessen Aufsatz orientiert, die Philosophie als vehemente Kritikerin bestehender Verhältnisse zu verteidigen. Es werden Gründe angeführt, die Horkheimer und die Kritische Theorie dazu veranlassen, die Philosophie den Einzelwissenschaften gegenüberzustellen und anhand seines Textes dann die besondere Rolle der Philosophie herauszustellen. Stets wird dabei auf die Geschichtlichkeit aller sozialen Prozesse und Phänomene, also deren Werden und Vergehen, rekurriert, sodass gesellschaftliche Verhältnisse, Prozesse und Ereignisse nicht schlicht aus sich selbst heraus und seins-gebunden zu verstehen seien, sondern immer im historischen Prozess und in der Totalität der (bürgerlich-kapitalistischen) Gesellschaft. Nicht zuletzt das macht, wie gezeigt werden soll, den Kern der Philosophie aus, die dadurch - als Kritikerin alles Bestehenden in seiner Gesamtheit - Ideal und Wirklichkeit menschlichen Lebens, gesellschaftliche Verhältnisse und die Grundlagen aller Dinge unversöhnlich zu untersuchen, zu erkennen und zu kritisieren und damit den kategorischen Imperativ nach Marx zu verwirklichen sucht.
Der vorliegende Essay beschäftigt sich mit dem Aufsatz Max Horkheimers (1895 - 1973) über „[d]ie gesellschaftliche Funktion der Philosophie“ aus dem Jahre 1940.[1]Ziel dieser Beschäftigung soll es sein, der Frage nachzugehen, inwiefern die Philosophie ihrer Rolle gerecht werden kann, die ihr laut Kernthese Horkheimers, die wahre gesellschaftliche Funktion der Philosophie sei die Kritik des Bestehenden[2], zugeschrieben wird und darauf aufbauend die These zu stützen, die Philosophie habe „[...]von ihrer ursprünglichen Relevanz nichts eingebüßt.“[3].
Dafür scheint es notwendig, zumindest Teilaspekte des biographischen Werdegangs Horkheimers explizit zu benennen, wie nachfolgend geschehen soll, um aus der spezifischen Situation heraus die Arbeit Horkheimers im Allgemeinen und ebenso diverse Aussagen innerhalb des Aufsatzes im Besonderen in den Kontext einzubinden.
Max Horkheimer emigrierte im Jahre 1933, nach der durch die NationalsozialistInnen[4]forcierten Schließung des Instituts für Sozialforschung, zunächst in die Schweiz und anschließend 1934 in die USA, wo er das Institut für Sozialforschung an der Columbia University in New York wieder aufbaute.[5]Als deutscher Jude und Sozialphilosoph hegelscher, marxscher und freudscher Prägung war er der nationalsozialistischen Ideologie ein besonderer Dorn im Auge, sah sich daher auch schon frühzeitig gezwungen, durch Emigration seiner drohenden Vernichtung zu entgehen. Nicht zuletzt eben jene Verhältnisse, als Entwicklung und stets als historischen Prozess begriffen - wie Krise und forcierter Niedergang der Weimarer Republik sowie der historisch gewachsene Nationalsozialismus - waren es auch, die ihn dazu bewogen, die Kritik des Bestehenden so vehement zu verteidigen, wie es unter anderem im betrachteten Aufsatz geschah. Horkheimer war selbstverständlich nicht der erste Philosoph, der den Gegenstand seiner Arbeit - die Philosophie - unmittelbar als Analyse und Kritik der bestehenden Verhältnisse verstand. Der Terminus der bestehenden Verhältnisse meint in seiner Gesamtheit die, nach Hegel (1770 - 1831) benannte, bürgerliche Gesellschaft. Kein Philosoph, außer Hegel selbst, der jedoch zugleich größter Diener der oppressiven preußischen Staatsidee sein wollte[6], hat jene bürgerliche Gesellschaft schärfer und radikaler - im Sinne der Emanzipation von diesen Verhältnissen - analysiert und kritisiert als Karl Marx (1818 - 1883). In dessen Tradition schließlich stehen auch Horkheimer und die Kritische Theorie. Bereits Marx hat die Philosophie als das theoretische Werkzeug angesehen, mit dem die bestehenden Verhältnisse durchdrungen, analysiert und kritisiert werden können. Für Marx jedoch stellte die Philosophie kein geschlossenes dogmatisches Gedankengebäude dar, wie es noch bei Hegel als Hauptvertreter des deutschen Idealismus der Fall zu sein schien, denn eine wahre Verwirklichung der Philosophie in ihrer (ideologie-)kritischen Funktion wäre so nicht möglich. Anders als bei Marx jedoch, der noch gar optimistisch im wachsenden Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit der Auflösung der Gesellschaft, „[...] [der] Revolution, die [Deutschland] nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird“[7], zu sehen glaubte, hatte man jedoch im 20. Jahrhundert mit dem Umschlagen der Zivilisation in die Barbarei zu kämpfen: die Erfahrungen des I. Weltkrieges, der forcierte Niedergang der Weimarer Demokratie, der immer stärker werdende Faschismus, gipfelnd im Nationalsozialismus und der II. Weltkrieg. Die Kehrseite der Aufklärung, deren ursprünglicher geistiger Anspruch es war, den Menschen als vernunftbegabtes und selbstbestimmtes Individuum zu begreifen und wissenschaftlichen, wie sonstigen Fortschritt und Nutzen im Sinne der Menschen als Maxime zu etablieren[8], trat mehr als offensichtlich zutage. In dem gemeinsam von Horkheimer und Adorno sieben Jahre später veröffentlichten Werk, mit dem nicht ganz unpassenden Titel Dialektik der Aufklärung, eröffnen sie daher wohl gerade mit den Worten: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“[9] [Hervorhebung durch den Autor].
Weiter nun im vorliegenden Aufsatz Horkheimers, der bereits einige wenige inhaltliche Elemente der Dialektik der Aufklärung antizipiert:
Nach einer einleitenden Abhandlung und Darstellung verschiedenster philosophischer Positionen und Sichtweisen auf den konkreten Gegenstand der Philosophie selbst, deren divergierende Vorstellungen er nach allgemeinem Charakter, Inhalt und Methode unterteilt, kommt Horkheimer recht schnell auf die, seiner Meinung nach deutlich bestehenden, Unterschiede zwischen Philosophie und Wissenschaft zu sprechen, anhand derer er fortlaufend im Text die besondere Rolle der Philosophie aufzeigt, die sich in Kontraststellung zur (Einzel-)Wissenschaft befinde.
Die Einzelwissenschaften versuchen Probleme zu lösen, die sich aus dem Lebensprozess der jeweiligen Gesellschaft ergeben und dienen damit vorrangig der Bedürfnisbefriedigung der jeweiligen Gesellschaft. Somit bestehe für die Wissenschaft die Möglichkeit der Bereicherung des Lebens in seiner aktuellen Form, was nicht ausschließt, dass wissenschaftliche Untersuchungen, Forschung und Mühen jenseits von Bedürfnisbefriedigung der Menschen ablaufen können.[10]Mit der Philosophie hingegen stehe es nun anders. Die gesellschaftliche Realität in ihrer Praxis gereiche ihr keinen Maßstab, an dem sie wohl ihren direkten Nutzen erweisen könne. Damit gerät die Philosophie quasi in einen Widerstreit mit der Realität. Unversöhnlich mit dem Bestehenden und hartnäckig gegen Urteile von Außen, was Horkheimer auch am Beispiel des Prozess gegen Sokrates deutlich zu machen sucht, der bekanntermaßen mit dem Schierlingsbecher endete, bewahre sich die Philosophie ihre Position als Kritikerin. Dieser Widerstand sei ihr immanent, was unmittelbar an der ihr eigenen Tendenz liege, „[...] den Gedanken nirgendwo abbrechen zu lassen und alle diejenigen Faktoren des Lebens einer besonderen Kontrolle zu unterwerfen, die gemeinhin als feste, unüberwindliche Kräfte oder ewige Gesetze gelten.“[11]. Demnach richte sich die Philosophie gegen „[...] bloße Tradition und Resignation[...]“[12]in den existenziellen Fragen des Lebens, wobei, und das ist ein entscheidender Faktor, sie darauf insistiere, dass die menschlichen Beziehungen, Handlungen und Reaktionsweisen im gesellschaftlichen Leben eben keiner tradierten, das heißt gewohnheitsmäßigen und alltäglichen, und ebenso resignierten blinden Notwendigkeit folgen müssen.[13]Klar erscheint, dass jene blinde Notwendigkeit, wie sie in der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft als bestimmend hervortritt, dem Individuum die Möglichkeit des Hinterfragens und der Kritik abschneidet.
[...]
[1] Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Band 4: Schriften 1936-1941, Herausgegeben von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1988. Text ursprünglich im amerikanischen Exil und in englischer Sprache erschienen im Jahre 1939 („The Social Function of Philosophy“).
[2] Vgl. Horkheimer: S. 344.
[3] Ebd.: S. 340.
[4] Diese Arbeit wird, soweit erforderlich, durchgehend mit dem Binnen-I gegendert. Da die Sprache erstes und wichtigstes Mittel der Kommunikation ist, soll dabei ein möglichst diskriminierungsfreier Raum geschaffen werden, der zunächst die binäre Geschlechterkonstruktion (männlich - weiblich) berücksichtigt und damit zur Sensibilisierung in dieser Hinsicht beizutragen versucht. Aus der Tatsache heraus, dass neben männlichem und weiblichem Geschlecht von jeweiligen Personen, Gruppen und ebenso der Wissenschaft noch andere Geschlechterkategorien für möglich gehalten werden, soll dies nicht außer Acht gelassen werden; hier jedoch wird aus Gründen der Lesbarkeit der Unterstrich (gendergap) vermieden.
[5] Zur allgemeinen Biographie Horkheimers sei in erster Linie verwiesen auf: Lebendiges virtuelles Museum Online, URL: http://www.hdg.de/lemo/html/biografien/HorkheimerMax/index.html [letzter Zugriff: 10. 09. 2011]. Zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung sei verwiesen auf den sehr prägnanten und kompetenten Text zu dessen Geschichte auf: Institut für Sozialforschung, URL: http://www.ifs.uni-frankfurt.de/institut/geschichte.htm [letzter Zugriff: 09. 09. 2011].
[6] Vgl. Améry, Jean: Widersprüche, Stuttgart 1971, S. 45 ff.
[7] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, S. 385.
[8] Vgl. Schwandt, Michael: Kritische Theorie. Eine Einführung. Stuttgart 2010, S. 18f.
[9] Adorno, Theodor W./ Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1988, S. 9.
[10] Vgl. Horkheimer: S. 334f.
[11] Ebd.: S. 340.
[12] Ebd.: S. 336.
[13] Vgl. Ebd.: S. 336f.
- Quote paper
- René Haase (Author), 2011, Zu: Max Horkheimer "Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198067
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