Bisher existieren nur wenige Forschungsbeiträge über die sexuellen Bedürfnisse und deren Umsetzungsmöglichkeiten in Altenheimen. Die Thematik der Sexualität im Alter wird entweder tabuisiert oder ignoriert.
Aus diesem Grund entstand das Interesse, eine Studie durchzuführen. Im Rahmen einer Diplomarbeit wurde mit 20 Fachkräften ein narratives Interview zu den sexuellen Bedürfnissen der Altenheimbewohner durchgeführt.
Das am häufigsten genannte Bedürfnis der Bewohner besteht im Austausch von Zärtlichkeiten. Dieses nonverbale Verhalten stellt besonders für Demenzkranke die höchste Priorität dar. Das Interesse am Geschlechtsverkehr bleibt unabhängig von Alter und Multimorbidität bestehen, rückt aber mehr und mehr in den Hintergrund. Als ein weiteres großes Bedürfnis hat sich der sexuelle Kontakt zu weiblichen Pflegekräften herausgestellt. Insbesondere Demenzkranke zeigen sich diesbezüglich enthemmt.
Die Ausgangsfrage, ob sexuelle Bedürfnisse im Alter bzw. im Altenheim existieren, kann aufgrund der zahlreichen Nennungen eindeutig mit Ja beantwortet werden. Das belegen nicht nur die Ausführungen der Probanden, sondern auch die Ergebnisse der Literaturrecherche.
Die Diplomarbeit besteht aktuell als Grundlage einer Dissertation.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Persönliche Erklärung
1. Einleitung
2. Literaturstudie
2.1 Die sexuelle Aktivität im Alter
2.2 Sexuelles Interesse im Alter
2.3 Sexualität und Gesundheit
2.4 Die psychosexuelle Biographie der Kriegsgeneration
2.4.1 Demographische Faktoren
2.4.2 strenge Sexualmoral und mangelnde Aufklärung
2.4.3 Vergewaltigungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit
2.5 Sexualität im Altenheim
2.5.1 Tabuisierung
2.5.2 Sexualität und Partnerschaft
2.5.3 Privat- und Intimsphäre
2.5.4 Sexuelle Belästigung im Altenheim
2.6 Die Krankheit Demenz
2.6.1 Definition
2.6.2 Prävalenz und Inzidenz
2.6.3 Demenztypen
2.7 Sexualität und Demenz
2.7.1 Veränderung der sexuellen Interessen
2.7.2 Sexuelle Enthemmung
2.7.3 Beeinträchtigungen der sexuellen Funktionen
2.7.4 Partnerschaft
3. Eigene Studie
3.1 Kontaktaufnahme zu den Altenheimen
3.2 Erhebungsinstrument: Narratives Interview
3.3 Probanden
4. Auswertungsverfahren
4.1 Methodik
4.2 Gütekriterien qualitativer Forschung
4.2.1 Validität
4.2.2 Reliabilität
4.2.3 Objektivität
4.2.4 Repräsentativität und Generalisierbarkeit
4.3 Auswertungsmethode
4.4. Protokollierungstechnik
5. Ergebnisse
5.1 Sexuelle Bedürfnisse der Bewohner
5.2 Oberkategorien
5.2.1 Sexuelle Interaktion mit Fachkräften
5.2.1.1 Berühren der Fachkräfte
5.2.1.2 Ansehen der Geschlechtsmerkmale der Fachkräfte
5.2.1.3 Schwärmereien
5.2.1.4 Auffordern der Fachkraft zur sexuellen Stimulation
Kommentar zu 5.2.1
5.2.2 Autoerotik
5.2.2.1 Erotik- und Pornofilmkonsum
5.2.2.2 Masturbation
5.2.2.3 Hilfsmittel zur sexuellen Stimulation
Kommentar zu 5.2.2
5.2.3 Sexualität in der Partnerschaft
5.2.3.1 Zärtlichkeiten
5.2.3.2 Geschlechtsverkehr
5.2.3.3 Partner kennenlernen
5.2.3.4 Promiskuität
5.2.3.5 Prostituierte
5.2.3.6 Exhibitionismus
Kommentar zu 5.2.3
5.2.4 Weitere Ergebnisse
6. Resümee und Fazit
7. Literaturverzeichnis
Vorwort
An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei den folgenden Personen bedanken. Sie haben mir das Verfassen dieser Arbeit ermöglicht.
An erster Stelle möchte ich meinen Eltern danken. Ich danke euch nicht nur für den Rückhalt während der Bearbeitungszeit für diese Abschlussarbeit, sondern auch für die starke Unterstützung während meines gesamten Studiums.
Ein großer Dank gilt auch den Heimleitungen, Pflegedienstleitungen und Interviewpartnern, denn erst der spannende Austausch mit ihnen hat mir die Studie ermöglicht. Vielen Dank für die Gesprächsbereitschaft, die große Offenheit und das Vertrauen, welches mir entgegengebracht wurde.
Besonders möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Kaiser bedanken. Sie haben mir beim Erstellen der Arbeit sehr geholfen und ich habe mich zu jedem Zeitpunkt bestens betreut gefühlt.
Das Erstellen dieser Arbeit und besonders die Durchführung der eigenen Studie haben mir einen großen Gewinn gebracht. Ich hoffe sehr, dass die Ergebnisse einen Teil dazu beitragen, um die Bewohner von Altenheimen in Zukunft noch ganzheitlicher wahrnehmen zu können und um eine noch bedürfnisgerechtere Betreuung entwickeln zu können.
Garbsen, den 03.03.2010
Persönliche Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und unter Benutzung keiner anderen Quellen als der genannten verfasst habe. Alle aus solchen Quellen wörtlich oder sinngemäß übernommenen Passagen habe ich im Einzelnen unter genauer Angabe der Quellen gekennzeichnet.
Unterschrift (Katharina Sieren)
1. Einleitung
Sexualität im Alter gilt nicht nur in unserer Gesellschaft als sittlich und moralisch anstößig, sondern wird auch in der Wissenschaft als Tabuthema behandelt (vgl. von Sydow (1992)). Es existiert das Vorurteil, dass die Sexualität in der Jugendzeit und in der Familienplanungsphase ausgelebt wird und im Alter erlischt. Diese Tatsache konnte in den letzten 50 Jahren, seit sich die Wissenschaft mit der Alterssexualität beschäftigt, widerlegt werden (vgl. von Scheidt / Eikelbeck (1995)).
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den sexuellen Bedürfnissen von älteren in Alten- und Pflegeheimen wohnenden Personen, weil für diese Seniorengruppe zu dieser Problemstellung bisher fast keine gesicherten Kenntnisse vorliegen. Der genauen Festlegung des Themas ging ein mehrwöchiger Entwicklungsprozess voraus. Zunächst befasste sich die Autorin mit dem allgemein gehaltenen Oberbegriff „Leben mit Demenz“. Im Laufe der Literaturrecherche stellte sich heraus, dass umfassende Informationen zu dieser Frage existieren, aber die sexuellen Bedürfnisse von Demenzkranken und von der Generation 65+ kaum Berücksichtigung finden. Insbesondere qualitative Untersuchungen wurden kaum durchgeführt, was u. a. Bucher (2001) bestätigt. Dadurch wurde das Interesse an der Thematik nochmals intensiviert. Da grundlegende Informationen in der Literatur nicht zu finden waren, vertiefte sich der Wunsch eine eigene Studie durchzuführen immer mehr. Um die Fragestellung weiter einzugrenzen und um Ansprechpartner zu finden, die ein Fachwissen über Demenzkranke besitzen, wurde die Thematik der sexuellen Bedürfnisse von Heimbewohnern aus Sicht von Fachkräften entwickelt.
Zunächst wird in der Literaturstudie der Grundstein für die Einführung in den Themenkomplex gelegt. Dazu werden Studien aufgeführt, die sich mit dem sexuellen Interesse und der sexuellen Aktivität im fortgeschrittenen Lebensalter beschäftigen und miteinander verglichen.
Die aktuelle Zielgruppe ist zu Zeiten der beiden Weltkriege aufgewachsen. Deshalb wird erläutert, auf welche Weise die damaligen Einflussfaktoren - wie beispielsweise die strenge Sexualmoral - das Denken und Verhalten der Generation nachhaltig beeinflusst haben.
Die letzten Teile der Literaturstudie beschäftigen sich mit dem themenbezogenen täglichen Leben der Zielgruppe. Beleuchtet wird, inwiefern das Ausleben der sexuellen Bedürfnisse in einem Altenheim trotz häufig mangelhafter Privatsphäre möglich ist.
Da laut Robert Koch Institut (2005) 60% der Heimbewohner an einer Demenz leiden - Tendenz stark ansteigend - wird kurz darauf eingegangen, wie diese Krankheit das Sexualverhalten beeinflussen kann. Im Vorfeld werden die Informationen über Demenzkrankheiten zusammengestellt, die für die Fragestellung der Arbeit von Bedeutung sind.
Der zweite Teil beinhaltet die Studie, die die Autorin durchgeführt hat. Es wurden 20 Fachkräfte befragt, welche sexuellen Bedürfnisse die Heimbewohner haben. Es wird erklärt, wie die Interviews durchgeführt wurden und welche Ergebnisse sie ergeben haben. Die herausgearbeiteten Kategorien werden kommentiert und ein Bezug zur Literatur hergestellt, soweit dies gegeben ist.
Es folgt ein abschließendes Resümee.
2. Literaturstudie
2.1 Die sexuelle Aktivität im Alter
Diverse wissenschaftliche Studien befassten sich mit der Frage, inwieweit sich die Häufigkeit der sexuellen Aktivitäten im Alter verändert. Beutel et al. (2009) führten im Jahr 2005 eine repräsentative Studie durch, in der insgesamt 2.426 Personen im Alter von 14 bis 93 Jahren zu ihrer sexuellen Aktivität befragt wurden. Unter den Befragten waren 329 Männer und 444 Frauen, die das 60. Lebensjahr überschritten haben. Ausschließlich diese Kohorte wird im Folgenden betrachtet: Laut eigenen Angaben sind knapp 40% sexuell aktiv. Anzumerken ist, dass sich die sexuelle Aktivität von Mann und Frau massiv unterscheidet: Während die Männer zu 58% sexuell aktiv sind, sind es die Frauen nur zu 25%. Diese stark differierenden Prozentangaben berücksichtigen auch die Betrachtung der Aktivitäten mit und ohne Partner. Insgesamt sind Frauen und Männer in einer festen Partnerschaft zu 64% sexuell aktiv, Frauen und Männer ohne Partner nur zu 7%. Daher kann die allgemeine Aussage getroffen werden, dass eine sexuelle Aktivität im Alter zu einem großen Teil von einer festen Bindung abhängt. Ein weiteres aussagekräftiges Ergebnis bekommt man, wenn man diesen Wert hinsichtlich der beiden Geschlechter interpretiert: Frauen ohne Partner sind zu 4% sexuell aktiv, Männer zu 17%. Es ist sehr deutlich zu sehen, dass allein stehende Männer sexuell aktiver sind als allein stehende Frauen. Die Kriegsgeneration, in der viele Frauen ihren Ehemann verloren haben, wird in obiger Studie nicht gesondert aufgeführt. In dieser Hinsicht stellt sich die Frage nach den genauen Gründen für die sexuelle Abstinenz von Frauen der Generation 60+. Beantwortet wird die Frage im Abschnitt über die demographischen Faktoren (s. u.).
Die Studie von Bucher (2009) kommt ebenfalls zu der Schlussfolgerung, dass eine sexuelle Aktivität im Alter stark von der Existenz eines Partners abhängt. Die sexuelle Aktivität von Frauen wird wesentlich stärker von einer vorhandenen Partnerschaft beeinflusst, als es bei Männern der Fall ist. Die Prozentangaben unterscheiden sich in den Studien von Beutel et al. und von Bucher kaum, daher wird an dieser Stelle auf eine Wiederholung der Werte verzichtet.
Zu ebenfalls vergleichbaren Ergebnissen sind Unger & Brähler (1998) gekommen. Von der Generation 60+ war jeder zweite Mann (49,3%), aber nur jede fünfte Frau (20,2%) sexuell aktiv. Kolland (2000) bestätigt den Zusammenhang zwischen einer vorhandenen Partnerschaft und einem aktiven Sexualleben: Die Kohorte der 50-60jährigen Frauen in einer festen Beziehung zeigt eine dreimal so hohe sexuelle Aktivität wie die der alleinstehenden Frauen. Bei den 60-70jährigen steigt der Unterschied auf das Achtfache an.
Alle genannten Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Untersuchungen, die den oben genannten widersprechen und andere Ergebnisse präsentieren, sind nicht gefunden worden. Alle aktuellen Forschungsergebnisse belegen somit, dass die sexuelle Aktivität mit steigendem Lebensalter zwar abnimmt, aber weiterhin einen großen Stellenwert besitzt. Bei der Differenzierung zwischen Frauen und Männern ist eine feste Partnerschaft ausschlaggebend. Gebundene Frauen sind generell stärker sexuell interessiert und aktiv. Je höher das Lebensalter der ungebundenen Frauen ist, desto geringer ist die sexuelle Aktivität. Die sexuelle Aktivität des Mannes ist hingegen wesentlich weniger stark von einer festen Partnerschaft abhängig. Die Aktivität nimmt mit höherem Lebensalter und Partnerlosigkeit nur geringfügig ab.
Durchschnittswerte und Prozentangaben müssen jedoch differenziert betrachtet werden. Generell bestehen sehr große Abweichungen zwischen sexuellem Interesse und sexueller Aktivität, gerade bei der Generation der älteren Frauen und Männer. Die unterschiedlichen Einstellungen zum Thema sind abhängig von den verschiedenen körperlichen, gesellschaftlichen und biologischen Einflussfaktoren. Ältere Frauen äußerten sich zu der Beendigung des Geschlechtsverkehrs sehr verschieden. Die Zitate reichten von „Ich war darüber ganz froh“ bis hin zu „Manchmal hab ich geweint“ (vgl. Studie von Sydow (1993)). Daher muss das sexuelle Interesse losgelöst von der sexuellen Aktivität untersucht werden:
2.2 Sexuelles Interesse im Alter
Die sexuelle Aktivität ist nicht gleichzusetzen mit dem sexuellen Interesse. Gerade bei älteren Frauen ist das sexuelle Interesse höher als die sexuelle Aktivität (vgl. von Sydow 1993). Die Gründe dafür werden in Kapitel 2.3 aufgeführt. Zu einem analogen Schluss kommt Bucher (2001). Der Wunsch nach Zärtlichkeiten ist am stärksten vorhanden und bleibt am längsten erhalten: Die Studie von Bucher et al. (2001) zeigt, dass sich 98,2% der 65-69jährigen Frauen Zärtlichkeiten wünschen. Lediglich 62% erleben diese auch. Der Grund für die beträchtliche Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit basiert häufig auf den demographischen Verhältnissen (siehe 2.4.1).
Bucher (2009) untersuchte in einer anderen Studie das sexuelle Interesse in den Altersstufen 45-64 und 65+ und verglich die Resultate, um herauszustellen, ob sich das Interesse verändert. Grundsätzlich bleibt das Interesse an Sexualität erhalten, aber es nimmt mit steigendem Alter ab. Besonders trifft dieses auf das Interesse am Geschlechtsverkehr zu. Auch in dieser Studie wurde nach Männern und Frauen mit und ohne festen Partner differenziert. Frauen ohne festen Partner zeigen ein deutlich vermindertes Interesse an Sexualität, während bei Männern der Partnerschaftsstatus nur einen sehr geringen Einfluss auf das sexuelle Interesse hat. Männer mit Partnerin zeigen in der Klasse der 45-64jährigen zu 100% sexuelles Interesse, während es bei den nicht gebundenen Männern 95% sind. Frauen in der gleichen Altersklasse und in fester Partnerschaft zeigen zu 98% sexuelles Interesse, Frauen ohne Partner zu 83%. Die Altersklasse 65+ zeigt ein generelles vermindertes Interesse: Männer mit Partnerin sind zu 85% sexuell interessiert, Männer ohne Partnerin zu 64%. Frauen mit Partner sind zu 82% interessiert und die Frauen ohne Partnerschaft zu 60% (vgl. Bucher (2009) ; Denninger (2008)).
Schultz-Zehden (2003) bestätigt aufgrund ihrer Studie, dass im Alter das Interesse am häufigen Geschlechtsverkehr abnimmt. Das Interesse an Zärtlichkeiten in der Sexualität nimmt stattdessen zu und gewinnt immer mehr an Bedeutung. Diese Aussage stützen zahlreiche Autoren, u. a. Rüsing (2008), Gatterer (2008), von Sydow (1992).
2.3 Sexualität und Gesundheit
Ein guter Gesundheitszustand trägt wesentlich zum sexuellen Interesse bei. Im Umkehrschluss mindern Krankheiten das sexuelle Interesse. Körperliche Veränderungen treten bei Frauen vermehrt im Klimakterium auf. Anzumerken ist, dass 30-40% der Frauen im Klimakterium geringe bis keine Beschwerden haben. Zu den psychischen Veränderungen gehören der gefühlte Verlust von Weiblichkeit und Attraktivität (Haut, Haar, Figur), Depressionen, Nervosität sowie negative Stereotypen (Verlust von Weiblichkeit, negative Emotionen und Launenhaftigkeit). Außerdem treten gelegentlich Harnwegsbeschwerden und Lubrikationsstörungen auf (vgl. von Sydow (2009). Laut der Studie von Kirsten von Sydow leidet etwa ein Drittel der postmenopausalen Frauen darunter. Die anderen zwei Drittel empfinden sich gleich bleibend attraktiv. Für eine zufrieden stellende partnerschaftliche Sexualität ist ein positives Körpergefühl für Frauen von größerer Bedeutung als die gesundheitliche Verfassung (vgl. Jürgensen (2001)). Diese Behauptung wird u. a. von Fooken (1990) unterstützt. Die psychischen Gründe für ein verändertes Sexualleben sind nur indirekt im Alter begründet. Von Wichtigkeit sind vielmehr negative Erfahrungen, die eine sexuelle Aktivität hemmen können. Dazu gehören unangenehme emotionale und sexuelle Erlebnisse im jungen Alter, Wissensdefizite über Sexualität und Erwartungsängste wie z. B. Schmerzen beim Koitus (vgl. von Sydow (2009)). Weitere Studien, die sich mit den psychischen Veränderungen der Frau bezogen auf ihre Sexualität beschäftigen, konnten in der Literatur nicht gefunden werden. Von Sydow bestätigt den unzureichenden Kenntnisstand.
Die Veränderungen des Mannes sind nur selten durch ein genau definiertes Vorkommnis wie bei der Frau gekennzeichnet. Sie verlaufen graduell. Ab dem 40. Lebensjahr sinkt der Testosteronspiegel im Blut um etwa 1%. Das Sexualhormone bindende Globulin nimmt zu. Nur wenige Männer nehmen diese Veränderungen ihres Körpers wahr. Circa ein Fünftel weist eine PADAM (Partielles Androgendefizit des alternden Mannes)-Symptomatik auf, die sich durch Depressionen, Kraftlosigkeit, Stimmungsschwankungen, Müdigkeit und Abgeschlagenheit bemerkbar macht. Ab dem 40. Lebensjahr verändern sich die sexuellen Reaktionen des Mannes (Erektion, Ejakulation) zum Negativen. Die veränderten sexuellen Reaktionen des Mannes werden sowohl positiv als auch negativ wahrgenommen: Zum einen bedeuten sie eine größere Kontrolle über das eigene Sexualverhalten, was positiv gewertet wird, weil sie so der Partnerin entgegenkommen. Im negativen Sinne bedeutet das veränderte Sexualverhalten eine Kränkung in der Männlichkeit (vgl. Bucher (2009)). Ein Verlust der sexuellen Reaktionen entfacht die Angst, den Wünschen der Partnerin nicht gerecht werden zu können. Berberich (2009) beschreibt, dass die biologisch begründete erektile Dysfunktion bei Männern psychische Krisen hervorrufen kann. Sie empfinden diese Störungen als ein bedrohliches Zeichen von einer nachlassenden Leistungsfähigkeit. Desweiteren beschreibt Berberich, dass Männer häufig versuchen, ihr „sexuelles Versagen“ durch eine Leistungssteigerung zu kompensieren. Sie ziehen sich emotional aus der Partnerschaft zurück und meiden den Körperkontakt. Eine andere Form der Kompensation ist die Aggression gegen sich selbst.
Ein weiterer Aspekt, der die Sexualität älterer Menschen beeinflussen kann, sind gesundheitliche Beschwerden und der häufig damit verbundene Medikamentenkonsum. Die Auswirkung auf eine schwindende Sexualität ist bei Männern wesentlich ausgeprägter als bei Frauen (vgl. Bucher (2009)). Bei Frauen sind es zumeist altersbedingte Gebrechen, chronische Erkrankungen, allgemeine Schwäche und Folgen von Operationen, die die sexuelle Aktivität hemmen. Die Psyche steht im Vordergrund. Bei Männern hingegen sind Krankheiten und Medikamente für ihr abnehmendes Sexualverhalten verantwortlich, weil diese einen Libidoverlust und Erektionsstörungen verursachen können. Insgesamt lässt sich ableiten, dass die Sexualität eines älteren Paares zu einem großen Teil von der Gesundheit des Mannes abhängt. Auch Cyran und Hallhuber (1992) bekräftigten, dass Erkrankungen des Mannes und Nebenwirkungen der Medikamente sich nachweislich negativ auf die Potenz und auf das sexuelle Verlangen im Allgemeinen auswirken. Dieser Befund wird von Bucher (2009), von von Schumann (1996) und von Sydow (1992) bestätigt , um nur einige zu nennen. Bei Frauen besteht kein signifikanter Zusammenhang zwischen ihrer Gesundheit und ihrer Sexualität (vgl. von Sydow (2009). Von höherer Relevanz ist die Zufriedenheit mit ihrem Körper ( vgl . Denninger (2008)). Gunzelmann et al. (2004) bestätigen, dass eine geringer werdende sexuelle Aktivität in einem engen Zusammenhang mit körperlichen Einschränkungen steht. Denninger (2008) ergänzt, dass nicht nur der körperliche Abbau des Mannes zu einer verminderten Sexualität beiträgt, sondern der in Studien oft vernachlässigte Aspekt der langjährigen Beziehungen. Die sexuelle Aktivität lässt mit zunehmender Dauer der Beziehung immer mehr nach. Deshalb muss ein Rückgang der sexuellen Aktivität nicht unbedingt mit Krankheiten und Medikamentennebenwirkungen zusammenhängen, sondern kann auch einer wenig attraktiven Routine im Sexualleben geschuldet sein. Unerfüllte Bedürfnisse können zu einer Frustration auf beiden Seiten führen, die auch Partnerschaftskonflikte in anderen Lebensbereichen nach sich ziehen können. Von großer Bedeutung ist eine offene Kommunikation in der Veränderungen in der Sexualität angesprochen werden. Dadurch können sich beide Partner auf die neue Situation einstellen. Rosenmayr (1995) kommt zu einer ähnlichen Ergänzung: Die sexuelle Aktivität hängt nicht nur von biologischen Faktoren und der Verfügbarkeit eines Partners ab. Der Grad der früheren Sexualität, der soziale Status und die Qualität der Partnerbeziehung fließen ebenfalls mit ein.
Die positiven Auswirkungen eines ausgeglichenen Sexuallebens im Alter werden nicht immer ausreichend berücksichtigt. Dabei steigert es das Wohlbefinden, die Lebensqualität und die allgemeine Vitalität. Positive gesundheitliche Auswirkungen sind beispielsweise eine geförderte Durchblutung, eine Stärkung der Beckenbodenmuskulatur und ein verbesserter Stoffwechsel (vgl. Schmiedeknecht (2008)).
2.4 Die psychosexuelle Biographie der Kriegsgeneration
2.4.1 Demographische Faktoren
Einer der Hauptgründe für die verminderte sexuelle Aktivität im Alter stellt für Frauen die Partnerlosigkeit dar. In den höheren Altersklassen existieren relativ zu den Frauen immer weniger Männer: Bei den 60- bis 69jährigen stehen zwei Männer drei Frauen gegenüber, in der Kohorte der 70- bis 89jährigen handelt es sich um das Verhältnis 1:2 und im Alter 90+ 1:3. Diese Verhältnisse entstehen durch die generell höhere Lebenserwartung der Frauen und kriegsbedingte Schicksalsschläge (von Sydow (1992)).
Aus Sicht der Frauen kann von einem „Männermangel“ gesprochen werden, welcher sich merklich auf die Partnerschaftsstrukturen auswirkt. Mit steigendem Lebensalter verschärft sich dieses ungleichmäßige Verhältnis. Denninger (2008) zitiert dazu eine Studie des Deutschen Zentrums für Altersforschung: Im Jahr 2006 waren in Deutschland knapp 65% der 65-69jährigen Frauen und knapp 79% der Männer verheiratet. Bei den 70-74jährigen waren nur noch 54% der Frauen verheiratet, der Prozentsatz der verheirateten Männer blieb konstant. Die genannten Studien von Beutel et al., Bucher, Unger und Brähler sowie Kolland zeigen, dass allein stehende Frauen relativ selten sexuell aktiv sind.
2.4.2 Strenge Sexualmoral und mangelnde Aufklärung
Ein weiterer bedeutsamer Aspekt für den Rückgang von sexueller Aktivität bei älteren Frauen ergibt sich aus der psychosexuellen Biographie. Der Umgang mit Sexualität wird unter anderem durch die Kultur und die Gesellschaft geprägt. Die Kriegsgeneration ist mit unzureichender Aufklärung aufgewachsen: Von Sydow (1992) befragte eine unbekannte Anzahl Frauen der Jahrgänge 1895 bis 1936 über die Qualität ihrer Aufklärung. 1% der Frauen stuften diese als „gut“, 15% als „ausreichend“ und 54% als „unzulänglich“ ein. 30% der Frauen erhielten keinerlei Informationen über Schwangerschaft, Geburt, Menstruation oder Sexualität. 11% der Befragten nahm an, dass Schwangerschaften durch Küsse oder durch eine generelle körperliche Nähe entstehen können (von Sydow (1992)). Die Anwendung von zuverlässigen Verhütungsmethoden war während der Geschlechtsreife dieser Generation noch nicht erforscht – die erste Antibabypille wurde am 11.05.1960 von der „Food and Drug Administration in den USA zugelassen und hielt ein Jahr später auch in Deutschland Einzug (vgl. Pro Familia (2000)).
Die meisten Frauen dieser Generation wurden dahingehend sozialisiert, sich Kinder aber keine Sexualität zu wünschen. Sie sind Ehen aufgrund der gesicherten Versorgung durch den Mann und der Familiengründung eingegangen. Zärtlichkeiten standen im Hintergrund (vgl. Bucher (2009)). Desweiteren hatte die Frau ihren ehelichten Pflichten nachzukommen, sich dem Mann unterzuordnen und die Bedürfnisse des Ehemannes in den Vordergrund zu stellen. Die Folge war eine geringe sexuelle Aktivität der Frau (vgl. Denninger (2008)).
Außerdem herrschte in der Gesellschaft das Bild einer sehr strengen Sexualmoral, welches die Sexualität nicht nur als unanständig, sondern auch als schädlich für Körper und Seele charakterisierte. Der Koitus war ausschließlich zum Zweck der Fortpflanzung erlaubt. Grond (2001) zitiert die Vorurteile von älteren Frauen, die Tümmers (1976) aufgrund ihrer Studie benannte: „ Sexualität im Alter ist unnatürlich, unschicklich, schädlich, sündhaft, ja krankhaft. Sexuelles Begehren älterer Menschen ist ein Zeichen wehmütiger Erinnerungen und harmloser Wunschträume“ (S. 10). Desweiteren hält jede dritte Frau ihre sexuellen Wünsche für behandlungsbedürftig. Außerdem wurde das Trugbild verbreitet, dass alte Menschen geschlechtslos seien (ebd.).
2.4.3 Vergewaltigungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit
Ein weiterer Grund für ein vermindertes sexuelles Interesse der Kriegsgeneration sind die Vergewaltigungen während und nach dem zweiten Weltkrieges nicht nur durch die Russen, sondern auch durch Amerikaner, Engländer und Franzosen (vgl. Böhmer ( 2001)). Böhmer (2001) zitiert die Recherchen von Sander, die ergaben, dass allein in Berlin zwischen Frühsommer und Herbst 1945 mehr als 110.000 Frauen vergewaltigt wurden. Radebold (2008) spricht von 1,9 Millionen Vergewaltigungen deutscher Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Genaue Zahlen können aufgrund der hohen Dunkelziffer und Mehrfachvergewaltigungen nicht genannt werden. Zahlreiche Frauen wurden nicht nur traumatisiert, sondern mit Geschlechtskrankheiten angesteckt oder so stark verletzt, dass eine Operation notwendig war. Als Beispiel wird ein Dammriss angeführt, der sich bis zum Anus fortführte (vgl. Böhmer (2001)). Erfuhren die Männer von den Vergewaltigungen, Schwangerschaften oder der Zwangsprostitutionen ihrer Ehefrauen oder zukünftigen Ehefrauen, so fühlten sie sich in ihrer Ehre beschmutzt und trennten sich. Noch schlimmere Folgen waren der Freitod eines oder beider Partner. Schwiegen die Frauen über das Erlebte und verdrängten somit ihre Gefühle, so konnten sie die Traumatisierung zeitlebens nicht verarbeiten. Die hier nur kurz angerissenen Folgen der Kriegsvergewaltigungen beeinflussten das Sexualleben der Betroffenen nachhaltig. Schlafstörungen, Angstzustände, Unruhe, Depression und andere psychische Spuren der Traumata wurden nicht therapiert, sondern durch Medikamente gemildert. Die Frauen nahmen ihre Rolle als bedürfnislose und umsorgende Ehefrau und Mutter ein, um zu vergessen und zu verdrängen (ebd.).
2.5 Sexualität im Altenheim
2.5.1 Tabuisierung
Die Sexualität im Alter und im Altenheim wird nicht nur gesellschaftlich als Tabuthema angesehen und stigmatisiert (vgl. von Sydow (1992)). Die Generation selbst stützt dieses Tabu, weil sie aufgrund ihrer psychosexuellen Biographie ihre Sexualität nicht thematisieren will (vgl. Denninger (2008)). Kommt das Thema dennoch zur Sprache, so steht die Sexualität im Alter häufig in Verbindung mit einer Verhaltensstörung und wird hauptsächlich auf den Bereich der Genitalität reduziert (vgl. Gatterer (2008)). Aufgrund der kontinuierlichen Verschlechterung körperlicher und intellektueller Funktionen – gemessen am Maßstab des jungen, gesunden Organismus - können älter werdende Menschen diesen Vorstellungen zufolge nur ein inaktives Sexualverhalten aufweisen (vgl. Mehrbach et al. (2004)). Diese Tatsache konnte in den letzten 50 Jahren, seit sich die Wissenschaft sporadisch mit der Alterssexualität beschäftigt, widerlegt werden (vgl. von Scheidt/ Eikelbeck (1995)). Das Thema Sexualität behält bis ins hohe Lebensalter einen bedeutenden Stellenwert.
Auch der Untertitel der Literatur von Kleinevers „Sexualität und Pflege – Bewusstmachung einer verdeckten Realität“ (2004) oder von Grond „Sexualität im Alter- „(K)ein Tabu in der Pflege“ zeigen, dass es sich bei der Sexualität im Pflegeheim um ein Tabuthema handelt. Hofmann (1999) formuliert dazu treffend die folgende Aussage:
„ Sexualität ist immer noch ein tabuisiertes Thema,
Sexualität im Alter ist gesteigert tabuisiert,
Sexualität im Altenheim ist extrem tabuisiert“ (S. 164).
Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen ist der Umgang mit der Sexualität abhängig von den gesellschaftlichen Normen und der Sozialisation. Gerade von der Generation der Altenheimbewohner erwartet man christlich-moralische Wertvorstellungen. Zu den Grundaussagen gehört es, den sexuellen Interessen zu entsagen, um das wahre Lebensziel der Entsagung der unreinen Fleischeslust zu erreichen. Sexuelles Interesse wird als Sünde bestraft und erzeugt deshalb Schuldgefühle. Anderseits dominiert in der Gesellschaft der Irrtum, dass mit der Rückbildung aller biologischen Funktionen auch eine Rückbildung der sexuellen Bedürfnisse einhergehen muss. Noch Extremer wird die Sichtweise, wenn es um pflegebedürftige Menschen geht (vgl. Hofmann (1999)).
Grond (2001) stellt heraus, dass die Strukturen in Altenheimen dazu beitragen, die Tabuisierung aufrecht zu erhalten. In einigen Heimverträgen - nicht nur kirchlich geführter Einrichtungen - werden sexuelle Beziehungen als unerwünscht bezeichnet. Einige Heime verbieten den Bewohnern den Besuch von gegengeschlechtlichen Partnern innerhalb des Hauses und das Streicheln in der hausinternen Öffentlichkeit. Ein Erklärungsansatz dafür kann die Angst vor einem Imageverlust sein, insbesondere bei konservativen kirchlichen Einrichtungen.
2.5.2 Sexualität und Partnerschaft
Das Ausleben der sexuellen Bedürfnisse benötigt eine Intimität, die im Altenheim weder gegeben ist, noch Berücksichtigung findet. Das tägliche Leben im Heim ist gekennzeichnet durch feste Pflege-, Versorgungs- und Organisationsstrukturen, die eine individuelle Lebensführung erschweren. Partnerschaft und Sexualität wird in den Pflegealltag nicht miteinbezogen. Die räumlichen Gegebenheiten in einem Altenheim lassen eine Privatsphäre eines Paares meist nicht zu.
Die Möglichkeit, im Heim einen neuen Lebenspartner zu finden, wird nicht nur durch die räumlichen und organisatorischen Umstände stark eingeschränkt. Aus den oben genannten demographischen Gründen herrscht in Altersheimen ein extremer Frauenüberschuss. Findet sich dennoch ein Paar zusammen, so wird diesem von Mitbewohnern ihr Glück häufig geneidet. Hier spielt das gesellschaftliche Altersbild eine große Rolle, in dem alten Menschen enge Beziehungen ausschließlich zum langjährigen Ehepartner zugestanden werden. Neue Verbindungen werden als moralisch verwerflich angesehen. Rückzugsmöglichkeiten für Paare, die sich innerhalb des Heimes gefunden haben, sind nicht vorhanden. Sie sind daher in ihrer Privatsphäre schlechter gestellt, als verheiratete Paare, die eventuell über ein Doppelzimmer verfügen. In den 1980ern kam zwar die Idee der „Liebeszimmer“ in Altenheimen auf, allerdings wurde diese als reine Provokation betrachtet, die auf Missstände hinweisen sollte. Die Idee konnte sich nicht etablieren (vgl. Jasper (2002)).
[...]
- Citation du texte
- Katharina Sieren (Auteur), 2010, Sexuelle Bedürfnisse von Altenheimbewohnern: Empirische Studie zu einem Tabuthema, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197995
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