Allgemeine anerkannte Gültigkeit scheint die These zu besitzen, dass Menschen interessiert daran sind, historische Ereignisse an bzw. ab einem bestimmten Zeitpunkt verorten zu können. Dieses, so wird angenommen, hilft in der Gegenwart sich mit den historischen Ereignissen, so negativ oder positiv sie auch waren, auseinanderzusetzen und dient dazu problematische Sachverhalte zu klären. Es entsteht somit ein Bedürfnis seitens der Bevölkerung nach diesen ‘bestimmten‘ Zeitpunkten. Historiker und Historikerinnen versuchen diese Bedürfnisse durch ihre Forschungen und die damit verbundenen Veröffentlichungen zu stillen. Unterschiedliche Ergebnisse von verschiedenen Forschern zu einer Forschungsfrage deuten auf ungleiche Herangehensweisen und Lesarten zu dem untersuchten Themenkomplex hin und können mitunter zu öffentlich ausgetragenen Kontroversen führen.
Die Frage nach einer politischen Grundsatzentscheidung alle europäischen Juden zu ermorden stellt mit eine der zentralen Herausforderungen der NS-Forschung dar. Da bis dato kein schriftlicher Befehl der NS-Obrigkeit, speziell von Adolf Hitler, gefunden wurde an dem sich der Zeitpunkt der politischen Grundsatzentscheidung ausmachen lassen könnte, versucht die Forschung anhand verschiedener Indizien diesen Punkt zu bestimmen. Des Weiteren findet sich neben den Verbrechen des NS-Regimes nichts Vergleichbares innerhalb der Globalgeschichte. Ihnen kann, zu Recht, der Status der Einzigartigkeit zugesprochen werden. Dieser Umstand erfordert es aufgeklärt zu werden, um von den Ergebnissen für die Gegenwart und Zukunft zu lernen, damit sich so etwas wie der Holocaust niemals wiederholt.
Ein weiteres Argument, warum die Frage nach einer Grundsatzentscheidung eine der zentralen Herausforderungen der NS-Forschung darstellt, ist die Art der Methodik, mithilfe derer versucht wird eine Antwort auf diese Frage zu geben. Durch diese unterschiedlichen Herangehensweisen unterliegt das gegenwärtige Bild auf die nationalsozialistische Diktatur ständigen Veränderungen.
Der Aufsatz von Christian Gerlach ist der Versuch einer Antwort auf die Frage, wann und ob Adolf Hitler eine politische Grundsatzentscheidung zum Völkermord bekannt gab. Aufgrund „neuer“ Quellen, die er verwendet, und der Verknüpfung der möglichen politischen Grundsatzentscheidung Hitlers mit belegbaren Daten aus dem Umfeld seiner Führungsgenossen gelingt ihm eine in sich logische Indizienkette, mit der er seine These zu belegen vermag.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Entwicklung des Forschungsstandes und Annahmen zur Entschlussbildung zum Völkermord vor dem Aufsatz von Gerlach
2.1 Exkurs: Zur Begrifflichkeit der „Endlösung der Judenfrage“ - eine Bezeichnung mit mehreren Synonymen?
3. Christian Gerlachs Thesen im Aufsatz „Die Wannsee- Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden“
3.1 Hitlers Grundsatzentscheidung zur Ermordung der europäischen Juden
4. Ablehnung vs. Akzeptanz - Die Thesendiskussion in den freien Medien und fachspezifischer Literatur
4.1 Die Jahre 1997-2004
4.2 Die Jahre 2005-2011
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
7. Anhang
1. Einleitung
„ Wir sind beisammen, um uns die Ungeheuerlichkeit zu vergegenwärtigen, die sich unter deutschem Namen in diesem Haus zugetragen hat. Vor 40 Jahren wurde hier vorbereitet und beschlossen , was die Nationalsozialisten die „ Endl6sung [sic] der Judenfrage “ nannten [ … ]. Dazu sollte auf der Konferenz die Mitwirkung der Parteiämter und der Reichsbehörden sichergestellt werden [ … ]. “ 1
An diesem Textausschnitt des späteren Bundespräsidenten Richard v. W eizsäcker ist erkennbar, dass die Wannsee-Konferenz, einerseits, die verschiedenen nationalsozialistischen Institutionen, die sich mit jüdischen Angelegenheiten betraut sahen, in der Beantwortung der „Endlösung der Judenfrage“ parallel ausrichten sollte. Andererseits zeigt die Verwendung des Wortes „ beschlossen “ , welche noch weitverbreitete Annahme in der Öffentlichkeit über das Ziel der Konferenz vorherrschte. Überwiegend war bzw. ist teilweise heutzutage noch, die Meinung, dass auf der Konferenz die Ermordung der jüdischen Bevölkerung als das Hauptanliegen der Konferenz besprochen und beschlossen wurde.
Dreißig Jahre später, auf den Tag genau, zum siebzigsten Gedenktag der W annsee-Konferenz heißt es in der Rede des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff:
„ [ … ] Am 20. Januar zur Mittagszeit trafen sich hier vor siebzig Jahren fünfzehn Spitzenbeamte des NS-Regimes und formulierten in Eiseskälte ohne Skrupel, ohne Hauch von Menschlichkeit das mörderische Vorgehen der sogenannten „ Endlösung “ . [ … ] Hier, in dieser Gedenkstätte, ist es nachlesbar, anschaubar: Hier wurde die Koordinierung aller staatlichen Stellen zu dieser Vernichtung beschlossen . Hier wurde das unerhörte und unfassbare Menschheitsverbrechen in Verwaltungsakte deutscher Bürokratie umgesetzt. [ … ]. ” 2
Dieser Textausschnitt zeigt einen feinen Unterschied zu dem ersten Zitat auf. Es wurde, nach Wulff, zwar über weiteres Vorgehen und die Koordinierung auf der Konferenz gesprochen. Er spricht dabei jedoch nicht von einem Beschluss zum Völkermord. Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine politische Grundsatzentscheidung3 zum Völkermord zu einem anderen Zeitpunkt und wahrscheinlich von anderen, im speziellen Adolf Hitler, getroffen worden zu sein scheint. Allgemeine anerkannte Gültigkeit scheint die These zu besitzen, dass Menschen interessiert daran sind, historische Ereignisse an bzw. ab einem bestimmten Zeitpunkt verorten zu können. Dieses, so wird angenommen, hilft in der Gegenwart sich mit den historischen Ereignissen, so negativ oder positiv sie auch waren, auseinanderzusetzen und dient dazu problematische Sachverhalte zu klären.4 Es entsteht somit ein Bedürfnis seitens der Bevölkerung nach diesen ‘bestimmten‘ Zeitpunkten. Historiker und Historikerinnen versuchen diese Bedürfnisse durch ihre Forschungen und die damit verbundenen Veröffentlichungen zu stillen. Unterschiedliche Ergebnisse von verschiedenen Forschern zu einer Forschungsfrage deuten auf ungleiche Herangehensweisen und Lesarten zu dem untersuchten Themenkomplex hin und können mitunter zu öffentlich ausgetragenen Kontroversen führen.5
Die Frage nach einer politischen Grundsatzentscheidung alle europäischen Juden zu ermorden stellt mit eine der zentralen Herausforderungen der NS-Forschung dar. Da bis dato kein schriftlicher Befehl der NS-Obrigkeit, speziell von Adolf Hitler, gefunden wurde an dem sich der Zeitpunkt der politischen Grundsatzentscheidung ausmachen lassen könnte, versucht die Forschung anhand verschiedener Indizien diesen Punkt zu bestimmen. Des Weiteren findet sich neben den Verbrechen des NS-Regimes nichts Vergleichbares innerhalb der Globalgeschichte. Ihnen kann, zu Recht, der Status der Einzigartigkeit zugesprochen werden. Dieser Umstand erfordert es aufgeklärt zu werden, um von den Ergebnissen für die Gegenwart und Zukunft zu lernen, damit sich so etwas wie der Holocaust niemals wiederholt.
Ein weiteres Argument, warum die Frage nach einer Grundsatzentscheidung eine der zentralen Herausforderungen der NS- Forschung darstellt, ist die Art der Methodik, mithilfe derer versucht wird eine Antwort auf diese Frage zu geben. Durch diese unterschiedlichen Herangehensweisen unterliegt das gegenwärtige Bild auf die nationalsozialistische Diktatur ständigen Veränderungen. Herausgebildet haben sich in der NS-Forschung, mit Bezug zu der Entscheidungsfindung zum Holocaust, zwei unterschiedliche grundlegende Ansätze. Der ‚intentionale‘, auch als ‚hitleristischer‘ Ansatz bekannt, stellt Adolf Hitler als den entscheidenden Hauptprotagonisten in den Fokus. Dem gegenüber versucht der ‚strukturalistische‘ Ansatz darzustellen, dass Adolf Hitler eine eher geringere Bedeutung beizumessen ist, da insgesamt der Gesamtaufbau des NS-Regimes für die unkonventionelle Politik verantwortlich ist.6
Der Aufsatz von Christian Gerlach ist der Versuch einer Antwort auf die Frage, wann und ob Adolf Hitler eine politische Grundsatzentscheidung zum Völkermord bekannt gab.7 Aufgrund „neuer“ Quellen, die er verwendet, und der Verknüpfung der möglichen politischen Grundsatzentscheidung Hitlers mit belegbaren Daten aus dem Umfeld seiner Führungsgenossen gelingt ihm eine in sich logische Indizienkette, mit der er seine These zu belegen vermag.
Historiografisch verordnet, verfolgt diese Arbeit das Ziel darzustellen, wie Christian Gerlach in seinem Aufsatz die politische Grundsatzentscheidung8 Hitlers zum Völkermord als möglichen Zeitpunkt für die Ermordung der europäischen Juden ausmacht. Hierbei wird die Argumentation, mithilfe derer Gerlach versucht seine Thesen zu belegen, analysiert. Da seine These über den Zeitpunkt der Grundsatzentscheidung für Aufruhr in den freien Medien und der historischen Fachliteratur sorgte, wird sie vor dem Hintergrund verschiedener Reaktionen und der weiteren Entwicklung des Forschungsstandes diskutiert.
2. Entwicklung des Forschungsstandes und Annahmen
zur Entschlussbildung zum Völkermord vor dem Aufsatz von Gerlach Die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Nationalsozialismus sind aus heutiger Sicht unüberschaubar. Bereits die im Jahr 2000 veröffentlichte „Bibliographie zum Nationalsozialismus“ von Michael Ruck verzeichnete bereits 37077 Titel.9 Diese Anzahl wird sich in den letzten zwölf Jahren deutlich um einige Hundert Publikationen erhöht haben und auch weiterhin beständig anwachsen.
Anhand exemplarischer Fachliteratur wird in diesem Kapitel dargestellt, wie sich der Forschungsstand zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik vor Gerlachs Aufsatz entwickelte. Weiterhin werden die beiden grundlegend verschiedenen Ansätze der historischen Forschung zur Entschlussbildung zum Völkermord aufgezeigt. Hierbei liegt der Fokus besonders auf westdeutschen Publikationen.10 Neben der Darstellung der Unterschiede zwischen dem ‘intentionalen‘ und dem ‘strukturalistischen‘ Ansatz, soll einleitend kurz auf zwei bedeutende Probleme der historischen Forschung bei der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit eingegangen werden.
Einerseits ist, so Kershaw, die westdeutsche Forschung bemüht die nationalsozialistische Vergangenheit zu bewältigen, während andererseits die ausländische Forschung ohne diese Bürde frei und unabhängig ihren empirischen Forschungen nachgehen kann. Gerade diese Unbeschwertheit in der nichtdeutschen Forschung sorgte für „ frische Impulse “ und „ neue Methoden “ , so Kershaw.11 Neben der systematischen Vernichtung von Quellenmaterial durch die Nationalsozialisten und dem Umstand, dass viele Dokumente durch die Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten vernichtet wurden, schließen die noch vorhandenen Quellen nicht alle Lücken. Besonders die „ [ … ] [zentrale Entscheidungsfindung] [ … ] [im] Dritten Reich [ … ] “ und „ [ … ] Hitlers [Rolle] selbst “ stellen Historiker und Historikerinnen vor Erklärungsnöte, da die Dokumente hierzu schweigen.12
Dabei begann die historische Aufarbeitung der NS-Zeit aus zeitlicher Perspektive mit der Kapitulation des nationalsozialistischen Regimes. Waren es doch unter anderem die Vorbereitungen der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher und der Verlauf ebendieser zwischen November 1945 und Oktober 1946, die ein großes Ausmaß der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft zutage förderten. Dagegen setzte, Ulrich Herbert zufolge, die methodische Aufarbeitung über die Ermordung der europäischen Juden erst spät ein.13 Er unterteilt diesen Entwicklungsprozess in drei Phasen. Nach Herbert, wurden in der ersten Phase von Kriegsende bis ungefähr 1957 vereinzelt Quellenbände, Aufsätze oder Essays westdeutscher Historiker über die Judenvernichtung publiziert.14 Die zweite Phase begann circa 1958 mit zwei wissenschaftlichen Entwicklungen. Herbert zufolge,
„ gewann [zum einen] die Frage nach den nationalsozialistischen Massenverbrechen und dem Verhältnis der westdeutschen Gesellschaft [ … ] durch die sogenannten Kölner Synagogenschändungen, den Ulmer Einsatzgruppenproze ß , den Jerusalemer Proze ß und den Frankfurter Auschwitz Proze ß in kurzer Zeit eine erhebliche Brisanz. “ 15
Kennzeichnend für das große Interesse in der Öffentlichkeit waren die ausführliche Pressebericherstattung über Prozesse, begehrte Monografien, sowie die zu der Zeit bekanntgewordenen NS- Vergangenheiten vereinzelter hochrangiger westdeutscher Politiker.16 Zum anderen beschreibt Herbert, dass die nachgewachsene Historikergeneration sich deutlich mehr für die Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Staates interessierte und zeitgleich die Historiker, welche Gutachten für Gerichtsprozesse erstellt hatten, diese jetzt einer breiten Öffentlichkeit in literarischer Form zugänglich machten.17 Kershaw schließt sich der Ausführung Herberts an, dass „ [ … ] eine ernsthafte historische Auseinandersetzung mit dem Holocaust [ … ] [e]rst im Gefolge des Eichmann-Prozesses [ … ] und der Enthüllungen bei den KZ- Prozessen [ … ] [in Gang kam]. “ 18 Wurde in dieser Phase noch in der ersten westdeutschen, wissenschaftlichen Gesamtdarstellung19 über das NS-Regime „ [d]ie Massenvernichtung der Kriegsjahre [ … ] eher konstatiert als untersucht “ 20 , endet diese Phase für Herbert mit der Veröffentlichung des Werkes „ Judenpolitik “ von Uwe Dietrich Adam im Jahr 1972.21 Trotz ausgemachter Forschungsdefizite am Ende der zweiten Phase, kennzeichnet die dritte Phase zwischen den frühen Siebzigern und den frühen Achtzigern ein Rückgang des Interesses an der empirischen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermords, so Herbert.22 Er führt diesen Perspektivwechsel auf die Studentenbewegung der 1968er Jahre zurück. Ein persönlicher Konflikt zwischen „alter“ und „junger“ Generation begann, als die jüngeren Jahrgänge sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern auseinandersetzten. Der Konflikt weitete sich aus zu einer „ [ … ] Debatteüber die Belastungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft durch die Kontinuität der Eliten [ … ]. “23 Wegen der fehlenden öffentlichen Wahrnehmung bezeichnet Herbert diese Zeit „ [ … ] als eine Phase der zweiten Verdrängung [ … ], [in der] Täter und Tatorte, Helfershelfer und Nutznie ß er, vor allem die Opfer selbst [ … ] anonymisiert [wurden] “ .24 Demgegenüber verzeichnet Kershaw eine Steigerung innerhalb des öffentlichen Bewusstseins, sich mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik auseinanderzusetzen, aufgrund der westdeutschen Ausstrahlung der amerikanischen Verfilmung des Holocaust im Jahr 1979.25 Nach Herbert beginnt ab den frühen Achtzigern des zwanzigsten Jahrhunderts eine weitere Verlagerung der wissenschaftlichen Debatten, weg von „ Faschismus oder Totalitarismus “ 26 und „ Hitlerismus oder Polykratie “ 27 , hin zu der Diskussion über den Prozess der Entscheidung bezüglich der Ingangsetzung der Endlösung.28 Kennzeichnend für diese Debatte waren zwei verschiedene Positionen innerhalb der Historikerzunft, die den Weg der Entscheidungsfindung zur Endlösung unterschiedlich interpretierten.29 Das eine Lager verfolgte auf Basis der traditionellen Meinung, dass Adolf Hitler die Rolle des alleinigen Entscheidungsgebers im Prozess der Entschlussbildung zur Endlösung der Judenfrage zugesprochen werden kann. Diese Vertreter sollten von nun an ‘Intentionalisten‘ genannt werden.30 Kershaws Interpretation des ‘intentionalistischen‘ Ansatz zufolge, soll dabei Hitler, bereits vor seiner politischen Laufbahn, die physische Vernichtung der Juden ins Auge gefasst haben. Die Verschärfungen der nationalsozialistischen Judenpolitik während der NS-Diktatur entsprächen demnach einem vorprogrammierten Hauptziel Hitlers.31 Den Anhängern des ‘intentionalen‘ Ansatzes gegenüber vertraten die ‘Strukturalisten‘, nach Herbert, den Standpunkt,
„ [ … ] da ß mit der Politik der Judenvernichtung zahlreiche Ressorts und au ß erstaatliche Interessengruppen befa ß t gewesen seien und die einseitige Heraushebung Hitlers nicht nur falsch sei, sondern auch zur Entlastung derübrigen daran direkt oder indirekt beteiligten Personenkreise beitrage. “ 32
Sie bezweifelten, dass der Völkermord weder durch einen Befehl Adolf Hitlers, noch durch „ [ … ] einen einmaligen, einheitlichen Ansto ß [ … ] “ ausgelöst worden war, sondern vertraten den Standpunkt einer „ kumulativen Radikalisierung “ , die als ein beweglicher Prozess zwischen 1941 und 1942 erst heranreifen musste.33 In diesem Sinne schließt Kershaw sich der Ausführung Herberts an, wenn er sagt, dass
„ [d]ie Strukturalisten [ … ] von der Prämisse [ausgehen], [dass] die verschiedenen Prozesse, die im Dritten Reich zu einer zunehmenden und fortschreitenden Radikalisierung führten, [ … ]über Hitlers Persönlichkeit und Ideologie hinausgehen [ … ]. “ 34
Nach Kershaw erhält dabei die Rolle Hitlers im ‘strukturalistischen‘ Ansatz dennoch einen nicht zu vernachlässigen Platz.35 Das Argument der ‘Intentionalisten‘ Adolf Hitler hätte die Judenvernichtung als einen programmatischen Prozess verfolgt, weisen die ‘Strukturalisten‘ zurück. Vielmehr entwickelte sich die „Endlösung der Judenfrage“ aus den Verwaltungsproblemen, in die sich die NS-Führung selbst hineinmanövriert hatte, so Kershaw.36 Ulrich Herbert zufolge zählen Uwe Dietrich Adam37, Martin Broszat38 und Hans Mommsen39 mit ihren Publikationen aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, zu den ersten strukturalistischen Vertretern.40 Positiv an diesem Ansatz ist, laut Herbert, „ ein[ ] andere[r], schärfere[r] und zugleich weitere[r] Blick auf die nationalsozialistische Massenvernichtungspolitik, ihre Ursachen und ihre Auswirkungen. “ 41 Negativ unterstellt er diesem Ansatz, dass die rassistische und judenfeindliche Weltanschauung, insbesondere der Führung des NS-Regimes eine zu geringe Aufmerksamkeit geschenkt wird. Er kritisiert dabei die Art der Interpretation des Entscheidungsprozesses zum Völkermord als „ [ … ] ein Automatismus ohne beteiligte Menschen, ohne Täter vor allem. “ 42 Mit anderen Worten, der ‘strukturalistische‘ Ansatz betrachtet in seiner Interpretationsweise die Entschlussbildung zum Holocaust in einer großräumigen Art und Weise und klammert dabei insbesondere die Möglichkeit aus, die jedes einzelne Individuum in seiner personenbezogenen Entscheidungsfreiheit hätte treffen können. Diese Forcierungen, wie beim ‘intentionalen‘ Ansatz auf Adolf Hitler und beim ‘strukturalistischen‘ Ansatz auf die Zuständigkeiten der verschiedenen Instanzen bei der Entschlussbildung zum Völkermord führten, laut Herbert, jedoch zu keiner nennenswerten Intensivierung in der Forschung, sondern gipfelten erneut in einer weiteren Debatte über die Frage, wie der nationalsozialistische Völkermord „ auf der gleichen, dünnen empirischen Grundlage “ zu interpretieren sei.43 In diesem Zusammenhang führt er dieses nicht auf eine mangelnde Quellenlage zurück, denn die zugänglichen Archive in Westeuropa und die massiven Aktenbestände aus NS-Gerichtsverfahren hätten, Herbert zufolge, eine nachdrückliche empirische Forschung erlaubt.44 Mitte der achtziger Jahre macht der Autor neue Forschungsfragen und Ansätze aus, da sich in der Debatte zwischen den ‘Intentionalisten‘ und ‘Strukturalisten‘ die Fronten verhärtet hatten. Im Rahmen dieser „ [ … ] Hinwendung zum Konkreten [und dynamischen kumulativen Radikalisierungsproze ß [geführt haben] [ … ]. “ Siehe a.a.O., S., 156 f. der] Empiri[e] [ … ] “ 45 sieht Ulrich Herbert, neben der Entwicklung der Alltags- und Mentalitätsgeschichte, innerhalb der Erforschung der NS- Judenpolitik eine „ Rekonkretisierung der Geschichte des NS-Regimes “ .46 Das Ergebnis war den Fokus nicht nur auf die jüdischen Opfer des NS- Regimes zu richten, sondern sämtliche nationalsozialistische Opfer in die empirische Forschung miteinzubeziehen. Erkannt wurde dass zwischen der rassenhygienischen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und den osteuropäischen Volksgruppen ein Zusammenhang besteht.47 Neben dem Ansatz die Ingangsetzung des Völkermords unter wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Aspekten zu interpretieren und der daraus resultierenden These der „Ö konomie der Endlösung “ 48 , welche jedoch kurze Zeit später stark abgeändert wurde49, macht Herbert eine weitere Fokussierung innerhalb der Forschung auf den Beginn des Völkermords in den einzelnen Besatzungsgebieten aus.50 Als Fazit stellt der Autor dar, dass diese Studien die Wechselwirkungen zwischen den in den besetzten Gebieten eingesetzten Machthabern und der Reichshauptstadt Berlin aufzeigten. Diese Publikationen zeigen „ [ … ] die konkrete Entwicklung in den einzelnen Regionen mit den Entscheidungen und Reaktionen in Berlin [ … ] “ 51 auf.52 Des Weiteren offenbaren die Studien, so Herbert, dass die nationalsozialistische Judenpolitik in den verschiedenen deutschbesetzten Gebieten keineswegs sich einheitlich entwickelte.53 Die Forschungsentwicklung zu immer mehr konkreteren Details mit Bezug zum Völkermord rückte die Täter als einen weiteren Schwerpunkt in den Blickwinkel der empirischen Forschung. Neben der Erforschung der direkt beteiligten Personen an den Mordaktionen, gerieten zunehmend die wenig beachteten indirekten Verantwortlichen mit in den Fokus der empirischen Forschung, so Herbert.54
„ Auch mehr als fünf Jahrzehnte nach der Zerstörung des Dritten Reiches haben führende Historiker bei einigen der grundlegendsten Erklärungs- und Interpretationsprobleme keine Einigung erzielen können. “ 55 Dieser erste Satz in dem Werk von Kershaw deutet auf eine weiterhin prekäre Angelegenheit innerhalb der historischen Forschung an. Es geht, wie in der Einleitung dieser Arbeit kurz ausgeführt, um die Methodik, mit deren Hilfe versucht wird, den Nationalsozialismus zu interpretieren.56 Die daraus resultierenden Debatten ermutigen Historiker und Historikerinnen nach anderen Interpretationsmustern zu suchen und anzuwenden. Wie in diesem Kapitel dargestellt, bestimmten bei der Interpretation zu dem Entschluss über den nationalsozialistischen Holocaust über viele Jahre das ‘intentionalistische‘ und ‘strukturalistische‘ Lager die Debatte. Dass eine Kombination aus beiden Ansätzen denkbar scheint, wird im übernächsten Kapitel zu klären sein.
2.1 Exkurs: Zur Begrifflichkeit der „Endlösung der Judenfrage“ - eine Bezeichnung mit mehreren Synonymen?
Die „Endlösung der Judenfrage“ ist ein Terminus, ähnlich wie „Sonderbehandlung“, welcher in der Sprache des NS-Regimes vielfache Verwendungen fand. Heutzutage wird im Allgemeinen mit der Bezeichnung die Ermordung der europäischen Juden verbunden. Demgegenüber konnte die historische Forschung aufzeigen, dass der Benennung weit mehr Bedeutungen zugeordnet werden müssen. Die verschiedenen Interpretationen lassen, wie einleitend gezeigt, auf unterschiedliche Lesarten des NS-Regimes schließen.
Ziel des Kapitels ist, anhand ausgewählter Exemplare einen Überblick zu vermitteln über verschiedene Synonyme hinter der Bezeichnung „Endlösung“ beziehungsweise „Endlösung der Judenfrage57 “. In einem jüngeren Geschichtsschulbuch für Oberstufen in Nordrhein- W estfalen wird der Holocaust gleichgesetzt mit dem nationalsozialistischen Terminus „Endlösung der Judenfrage“ und „ [ … ] kennzeichnet den singulären Charakter der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes [ … ] “ .58 Diese Darstellung bezeichnet nur oberflächlich, welche weiteren Bedeutungen sich hinter dem Begriff der endgültigen Lösung der Judenfrage verbergen.
Als wissenschaftlich fragwürdig ist die Bezeichnung in dem 2007 erstmalig erschienenen Bildband von Angela Gluck Wood zu benennen. Sie spricht zwar von ‚ Beseitigung ‘ und ‚ Vernichtung ‘ aller Juden. Kombiniert dieses jedoch mit der Wannseekonferenz, auf der „ [die] „ Endlösung “ beschloss[en] [wurde] [ … ], alle Juden nach Osten zu deportieren und durch die SS töten zu lassen. “ 59 Dieser Ausführung muss deutlich widersprochen werden, denn im sogenannten Wannsee-Protokoll werden Tötungen durch die SS mit keinem Wort erwähnt.60 Gerade solche Ausführungen halten die Sichtweise aufrecht, dass auf der W annseekonferenz die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde. Auf welche Quellen sich die Autorin beruft, ist nicht nachzuvollziehen.
Nach dem britischen Historiker Gerald Reitlinger steht der Terminus allein als Pseudonym für Hitlers Zielsetzung die europäischen Juden zu vernichten. Verwendet wurde dieser Scheinname im Spätsommer 1941, um indirekt vom Mord sprechen zu können, so Reitlinger. Nebenbei erwähnt er, dass „ [ … ] der Ausdruck [ … ] vorher schon ziemlich lose in verschiedenen Zusammenhängen verwendet worden [war], wobei man offenkundig immer Auswanderung im Sinne hatte. “61 Laut Reitlinger, ist es wahrscheinlich, jedoch nicht nachweisbar, dass Adolf Hitler der Initiator der Verwendung des Terminus ist.62
Ein Lexikon aus den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, welches sich speziell an Jugendliche wendet und „[…] als Orientierungshilfe [ … ] in den Bereichen desöffentlichen Lebens und der persönlichen Entwicklung dienen soll [ ] “ 63 , verbucht hinter der „Endlösung“ sowohl die Vertreibung, als auch die Ermordung der Juden innerhalb Deutschlands und den besetzten europäischen Gebieten.64 Mittlerweile zeichnet sich eine Tendenz ab, die hinter dem Passus der „Endlösung“ verschiedene Bedeutungen ausmacht.
Eine differenzierte Darstellung der Synonyme bietet Wolfgang Benz in seinem Aufsatz „ Endlösung “ aus dem Jahr 1997. Nach Benz ist ab Frühsommer 1941 bei Verwendung des Terminus die körperliche Vernichtung der Juden gemeint. Ab 1933 verbargen sich hinter dem Ausdruck „Lösung der Judenfrage“ „ Ma ß nahmen der Entrechtung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Vertreibung (am deutlichsten durch die Nürnberger Gesetze 1935 und deren Folgebestimmungen), [ … ] [die sich] schlie ß lich in der Form >>Endlösung der Judenfrage<< [zum Synonym des Massenmordes an allen Juden im deutschen Herrschaftsbereich] [verdichtete[n]]. “ 65
Benz unterscheidet demnach zwischen einer „Lösung“ und der „Endlösung“, inklusive der jeweiligen Bedeutungen für die sie stehen. Der Novemberpogrom 1938 markiert dabei für ihn den Punkt, ab dem die Verwendung des Begriffs „Endlösung“ im offiziellen Sprachgebrauch zunehmend in den Vordergrund tritt. Die sich radikalisierenden Bedeutungen hinter dem Ausdruck verknüpft er angrenzend mit der Zuspitzung der Judenpolitik des NS-Regimes während der zwölfjährigen Herrschaft.66
Gemeinsame Auffälligkeit bei vielen Lexika und Enzyklopädien ist, dass ebenso nur der Begriff „Endlösung“ ohne den Zusatz „der Judenfrage“, stets mit der Diskriminierung, Vertreibung und Vernichtung der Juden assoziiert wird.67
Dass der Terminus „Endlösung“ eine andere Nationalität meinen kann, umschreibt kurz Hans Safrian in seiner Monografie.68 Er verweist dabei auf eine Rede von Reinhard Heydrich am 02. Oktober 1941 im Prager Czernin-Palais, in der Heydrich eine „ an ihn ergangene >>Weisung des Führers<< in eine >>Nahaufgabe<< und in eine >>Endlösung<< [unterteilte]. “ Weiterhin zitiert er: „ Und nun, meine Herren, ein paar Gedanken zur Endlösung, die ich auch bitte, ja für sich zu behalten, die ich Ihnen aber sagen möchte, weil Sie wissen müssen, um bei der Nahaufgabe keine Fehler zu machen. “ 69 Safrian zufolge bezog sich die Verwendung des Begriffs „Endlösung“ nicht auf die Judenfrage, sondern auf die Vertreibung der tschechischen Bevölkerung im Protektorat Böhmen und Mähren. Heydrich, der kurz vorher zum stellvertretenden Reichsprotektor ernannt worden war, meinte, „ da ß dieser Raum einmal deutsch werden mu ß und das der Tscheche in diesem Raum nichts mehr verloren hat. “ 70 Diese „Endlösung“ sollte jedoch bis nach dem Krieg aufgeschoben werden.71 Das Vertagen von Lösungen auf die Zeit nach dem Krieg, so kann angenommen werden, scheint im NS-Regime eine der Möglichkeiten gewesen zu sein, Probleme vorerst aus der Welt zu schaffen.72
Schwierigkeiten gibt es die „Endlösung der Judenfrage“ zu erläutern im „ Wörterbuch zur Geschichte “ von Bayer und Wende. Erstens ist der Begriff „Endlösung“ nicht unter der alphabetischen Reihenfolge zu finden. Zweitens verketten die Autoren die sehr oberflächliche Definition der „Judenfrage“ mit einer „ [ … ] [bekannten] zynischen Formulierung in Hitlers Geheimbefehl zur Endlösung der Judenfrage vom 31.07.1941, der die Ma ß nahmen zur physischen Vernichtung des europ. Judentums einleitete [ … ] “ .73 Es stellt sich die Frage, woher wissen die Autoren von einer „ zynischen Formulierung des Führers “ , wenn doch, bis dato, keine schriftlichen Befehle Hitlers zur „Endlösung der Judenfrage“ gefunden worden sind. Eine mögliche Erklärung wäre, dass sie die schriftliche Bestätigung Heydrichs zur Planung einer „Endlösung der Judenfrage“, die auf den 31.07.1941 datiert ist und Hermann Görings Unterschrift trägt, als einen vorher gegebenen Geheimbefehl Hitlers deuten.74 Selbst in den Aufzeichnungen von Hitlers treuen Vasallen deutet nichts auf einen Geheimbefehl Hitlers am 31.07.1941 hin.75 Ebenso gut könnte ein Druckfehler eine mögliche Erklärung darstellen. Gemeint wäre demnach nicht der 31.07.1941, sondern der 31.07.1940. An diesem Tag gab Hitler seine Entscheidung bekannt, die Sowjetunion aus weltanschaulichen Prämissen anzugreifen.76
In dieselbe Richtung deutet der Versuch die „Endlösung der Judenfrage“ in einem jüngeren Lexikon zu erklären. Dieser Artikel bezieht sich auf einen Befehl Hitlers und der bereits erwähnten Anweisung von Göring an Heydrich. Vorauf hin die Wannseekonferenz am 20.01.1942 einberufen wurde, um mit den dort beschlossenen Maßnahmen die Ermordung der europäischen Juden voranzutreiben.77
Longerich bringt es schließlich auf den Punkt, wenn er sagt, dass „ [d]iese sprachliche Verschleierung des Mordes an den europäischen Juden [ … ] die Interpretation der einschlägigen Dokumente zu einer besonderen Herausforderung [macht] [und] [d]ie Arbeit [ … ] erheblich dadurch erschwert [wird], das die Schlüsselbegriffe, mit denen die Nationalsozialisten die Ziele ihrer antijüdischen Politik beschrieben, im Laufe der Jahre mit der Radikalisierung der Judenverfolgung ihre Bedeutung veränderten.[ … ] Auf andere Bevölkerungsgruppen angewandt, können die gleichen Begriffe wiederum eine höchst unterschiedliche Bedeutung haben. “ 78
Wird demzufolge im weiteren Verlauf dieser Arbeit von der „Endlösung der Judenfrage“ gesprochen, bezieht sich der Terminus auf das Vorhaben alle europäischen Juden der Endlösung zuzuführen.
Festzuhalten bleibt, dass die Verwendung des Begriffs „Endlösung“, mit oder ohne dem Zusatz „der Judenfrage“, im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft stets eine angedachte weitere Verschlechterung der bisherigen Bedingungen, für die hinter dem Begriff gemeinten Ethnien mit sich bringen sollte. Ein weiterer Punkt, der bei der Verwendung dieses „Tarnnamens“ berücksichtigt werden muss, ist von moralisch-psychologischer Art. Nach Longerich wurde in dieser „Tarnsprache“ gesprochen, um sich mit der Realität des Mordens nicht auseinandersetzen zu müssen. Mit der Verwendung der Pseudonyme konnte demnach das eigene Gewissen der Täter beruhigt werden.79
[...]
1 Auszug aus der Rede des damaligen regierenden Bürgermeisters von Berlin Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestages der Wannsee-Konferenz. Veröffentlicht auf: http://www.ghwk.de/deut/texte/weizsaecker.htm, zuletzt eingesehen am 31.01.12 um 13:37 Uhr. Herv d. Verf.
2 Auszug aus der Rede des, kürzlich aus dem Amt geschiedenen, Bundespräsidenten Christian Wulff am 20.01.2012 in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Veröffentlicht auf: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian- Wulff/Reden/2012/01/120120-Gedenkstunde-Wannsee-Konferenz.html, letzter Zugriff am 03.02.2012 um 13:52 Uhr. Herv. d. Verf.
3 Zu unterscheiden ist zwischen einer introvertierten und einer politischen Grundsatzentscheidung Adolf Hitlers. Eine nach „innen“ gewandte Entscheidung Hitlers, die jüdische Bevölkerung Europas zu ermorden, wird wahrscheinlich niemals rational geklärt werden können (und ist nicht das Ziel dieser Arbeit, Anm.d.Verf.), da niemand den „inneren“ Weg der Entschlussbildung in Hitlers Wesen nachvollziehen kann. Unter einer politischen Grundsatzentscheidung wird ein Bekanntgeben einer Direktive verstanden. An dieser Art der Kommunikation sind demnach mindestens eine oder mehrere Personen beteiligt, um die Anweisungen zu empfangen und dementsprechend umzusetzen. Sie kann daher, wenn es die Quellen erlauben, leichter nachvollzogen werden.
4 Siehe hierzu: Bayer, Erich/Wende, Frank: Wörterbuch zur Geschichte, 1995, Definition Zeitgeschichte, S. 587. Dort heißt es: „ [ … ] Neben der Untersuchung und Aufklärung einzelner Faktoren bemüht sich die Z. um Reflexion und Deutung allgem. Zusammenhänge und Grundformen der gegenwärtigen Situation, sie setzt sich das >Wesentliche und Strukturelle< zum Ziel, wobei es ihr dabei, [ … ], um die Erforschung der histor. Dimension bis in die die Gegenwart reichender Prozesse geht. [ … ] -Die Z. will keine offenen Räume lassen, wo sich Legenden einnisten können, sondern das >Betroffensein< deutlich machen und Entscheidungen nicht ausweichen, sie will in der gro ß en ideolog. und gesellschaftl. Krise der mod. Nationalidee zur Orientierung beitragen. In vollem Bewusstsein der Gefahren der Bruchstückhaftigkeit, der Ü berfülle des Materials und des mangelnden zeitl. Abstandes will die Z., [ … ], aus eigenem Miterleben und Kenntnis der Zeitatmosphäre zur wissenschaftl. Erhellung durchdringen. “
5 Exemplarisch hierfür können genannt werden der sogenannte „Historikerstreit“, der mit Ernst Noltes Artikel „Vergangenheit die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte“, veröffentlicht am 06.06.1986 in der FAZ, seinen Anfang nahm und die sogenannte Walser-Bubis-Debatte aus dem Jahr 1998. Vgl. hierzu: Rathgeb, Eberhard: Deutschland kontrovers, 2005, S. 331 ff. (Historikerstreit), sowie S. 403 ff. (Walser-Bubis-Debatte).
6 Eine detaillierte Darstellung der beiden Ansätze erfolgt in Kapitel Zwei.
7 Der Aufsatz erschien erstmals 1997, vgl. Gerlach, Christian: Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: WerkstattGeschichte 18, Ergebnisse Verlag, Hamburg, 1997, S. 7 - 44. Eine weitere Auflage erschien 1998. 2001 erschien eine überarbeitete Lizenzausgabe. Vgl. Gerlach, Christian: Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: Ders: Krieg, Ernährung, Völkermord/Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Pendo Verlag, überarbeitete Auflage, Zürich, 2001, S. 79 - 152. Für die weitere Darstellung der Reaktionen innerhalb der freien Medien und der Fachliteratur ist es daher unabdingbar sich auf beide Werke zu beziehen, da gerade die Fachliteratur sich zunehmend ab 2004 auf das neuere Werk bezog.
8
9 Vgl. Ruck, Michael: Bibliographie zum Nationalsozialismus, 2000.
10 Vgl. Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 12. Er beschreibt zu recht: „ [das] die Historiker in Ost- und Westdeutschland grundverschieden an die Nazivergangenheit herangegangen sind [und] [ … ] ihre schriftlichen Ä u ß erungenüber den Nationalsozialismus in bestimmter Weise gefärbt [sind].In der Bundesrepublik ist man mit dem Problem [den Nationalsozialismus zu interpretieren, Anm.d.Verf.] [ … ] auf eine weniger eingleisige Weise umgegangen als in der Deutschen Demokratischen Republik [ … ]. “ Die ostdeutsche historische Forschung, davon ist auszugehen, ist auf Grund der sozialistischen Diktatur und deren ideologischen Vorgaben nicht frei von Vorurteilen, da ebendiese Forschung missbraucht wurde, um das Bestehen des Staatsregimes zu rechtfertigen und dessen Weltanschauung zu fundamentieren. Vgl. hierzu a.a.O., S. 150 f.. Kershaw hebt dennoch besonders die Publikationen des ostdeutschen Historikers Kurt Pätzold hervor. Literaturangaben siehe a.a.O., S. 151, Fußnote 6, sowie was die Vernichtung der Juden betrifft ebd., S. 158 f.
11 Vgl. Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 12.
12 Vgl. a.a.O., S. 17.
13 Vgl. Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 12.
14 Exemplarisch hierfür: Reitlinger, Gerald: Die Endlösung, 1956.
15 Vgl. Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S.13.
16 Vgl. ebd., S. 14.
17 Vgl. Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 14. Nach Herbert markieren die Gutachten von Krausnick, Broszat, Buchheim und Jacobsen zum Auschwitz-Prozess im Sammelband Anatomie des NS-Staates/Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Erstausgabe 1965, einen ersten Höhepunkt in der historischen Erforschung der nationalsozialistischen Massenvernichtungspolitik.
18 Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 150.
19 Herbert bezieht sich hier auf: Bracher, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur/Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, 1969. Im Jahr 1976 als 5. verbesserte Auflage veröffentlicht. Vgl. Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 14, Fußnote 11.
20 Vgl. a.a.O., S. 15.
21 Vgl. ebd., S. 15. Nach Herbert ist das Werk von Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf, 1972, „ ein gewichtiges und innovatives Werk [ … ] in dem der politische Entscheidungsproze ß zum Mord an den Juden [ … ] detailliert untersucht [wurde] und die bis dahin allgemein geteilte Auffassung, der Judenmord sei langfristigem Kalkül und klarer Befehlsgebung Hitlers gefolgt, in Frage gestellt wurde. 2003 als unveränderter Nachdruck nochmals im selben Verlag der Originalausgabe erschienen.
22 Vgl. a.a.O., S. 17.
23 Vgl. ebd.
24 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 19.
25 Vgl. Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 150.
26 Soll hier nicht weiter vertieft werden. Eine Darstellung findet sich bei Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, zu Totalitarismus S. 43 - 49 und zu Faschismus S. 49 -60. Weiterführend ob der Nationalsozialismus von beiden Modellen erfasst werden kann, ebd., S. 60 - 79.
27 Forschungen, in denen davon ausgegangen wird, dass Adolf Hitlers physische, als auch psychische Person und seine Ideen im Mittelpunkt stehen und anhand derer versucht wird, den Nationalsozialismus zu interpretieren, werden als „Hitlerismus“ bezeichnet. Im Grunde gründet der „intentionalistische Ansatz“ auf dem „Hitlerismus“, da beide den Nationalsozialismus anhand der Fokussierung auf und um Hitler interpretieren, vgl. hierzu Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 114. Der Begriff „Hitlerismus“ wird gleichgesetzt mit der Herrschaftsform der „Monokratie“. Selbst diese verschiedenen Interpretationsansichten, ob das Dritte Reich eine Monokratie oder Polykratie darstellte, wurden in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert, vgl. dazu a.a.O.: S. 119. Weiterführend im speziellen: Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 114 - 127.
28 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 19 f.
29 Vgl. ebd., S. 20.
30 Vgl. ebd.
31 Vgl. Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 152.
32 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 20.
33 Vgl. a.a.O., S. 20.
34 Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 127.
35 Vgl. a.a.O., S.127.
36 Vgl. Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 152.
37 Im Gegensatz zu Martin Broszat geht Adam in seinem Werk von einem Führerbefehl zur physischen Vernichtung der Juden zwischen September und November 1941 aus. Vgl. Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich, 2003, S. 219. Adam bezweifelt jedoch, dass Hitler ein vorher durch ihn beschlossenes politisches Programm zur Judenvernichtung in die Tat umsetzte. Vgl. hierzu a.a.O., S. 215, sowie Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 161.
38 Broszat, so Kershaw, bezweifelt in seiner Publikation über die Genesis der Endlösung einen allgemeinen Vernichtungsbefehl des Führers. Der Völkermord rührt, nach Kershaws Verweis auf Broszat, auf Einzelaktionen innerhalb der besetzten Gebiete. Vgl. ebd., S. 157 f.. Literaturangabe siehe Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 151, Fußnote 8.
39 Kershaw zufolge beargwöhnt Mommsen die Annahme eines Führerbefehls zur Endlösung. Vielmehr, so Kershaw, sucht Mommsen „ [ … ] die Erklärung im eigentümlich aufgesplitterten Entscheidungsproze ß [verschiedener Institutionen] [ … ] [die zu dem]
40 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 20, Literaturangaben vgl. dort Fußnote 18.
41 Vgl. a.a.O., S. 20 f.
42 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 21.
43 Vgl. a.a.O., S. 21.
44 Vgl. ebd. Demgegenüber bemängelt gerade Kershaw die mangelhafte Quellenlage, siehe hierzu S. 8 dieser Arbeit.
45 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 22.
46 Vgl. ebd.
47 Vgl. a.a.O., S.22. Herbert verweist darauf, dass zu diesem Zeitpunkt eine wachsende Anzahl an Studien über exemplarisch: „Homosexuelle, Behinderte, Zigeuner, u.a. erschienen sind.“ Vgl. Literaturangaben ebd., Fußnote 24. Die Impulse zu diesem neuen Ansatz macht Herbert außerhalb der unterschiedlichen Lager, die bis dato um die Interpretation des Völkermords debattiert hatten, aus. Siehe hierzu weiterführend: Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 23 ff.
48 Herbert bezieht sich auf die Monographie von Aly, Götz/Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung/Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hoffmann u. Campe Verlag, 1. Auflage, Hamburg, 1991. Vgl. auch Wildt, Michael: Geschichte des Nationalsozialismus, 2008, S. 170.
49 Nach Herbert modifiziert Götz Aly in der Monographie „Endlösung“/ Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1995 seine These der „Ökonomie der Endlösung“ aus seiner Publikation „Vordenker der Vernichtung“ von 1991. Vgl. hierzu Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 24 ff.
50 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 28 f.. Literaturangaben vgl. ebd. S. 29, Fußnote 35.
51 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 29. Literaturangaben siehe dort: Fußnote 35.
52 Vgl. ebd.
53 Vgl. a.a.O., S. 29.
54 Herbert verweist auf die Studien von Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1. Aufl., 1993 und Goldhagen, Daniel: Hitlers willige Vollstrecker, Siedler Verlag, Berlin, 2. Aufl., 1996 die jeweils die Angehörigen des Polizeibataillons 101 untersuchten und hierbei jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Weiterführend siehe hierzu: Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik, 1998, S. 29 f.
55 Kershaw, Ian: Der NS-Staat, 2009, S. 11.
56 Vgl. S. 5 dieser Arbeit.
57 Eine Definition der “Judenfrage” und die Darstellung ihres Weges in die Gesellschaft findet sich bei Benz, Wolfgang: Was ist Antisemitismus?, 2008, S. 83 - 93.
58 Vgl. Zeiten und Menschen 2/Geschichte/Oberstufe, 2010, S. 128.
59 Gluck Wood, Angela: Holocaust, 2008, S. 90.
60 In diesem Zusammenhang wird auf die Textzeilen im Protokoll verwiesen, die als Tötungsabsicht gedeutet werden können. Vgl. hierzu Anhang: Das Protokoll der Wannsee-Konferenz, 20.01.1942, S. 7 f., und S. 15.
61 Reitlinger, Gerald: Die Endlösung, 1961, S. 3.
62 Vgl. a.a.O.
63 Bartsch, Elisabet/Eppenstein-Baukhage, Manon/Kammer, Hilde: Jugendlexikon Nationalsozialismus,1986, Definition: Endlösung, S. 57 f.
64 Vgl. ebenda.
65 Benz, Wolfgang: >>Endlösung<<, 1997, S. 11-23, hier S. 12.
66 Vgl. a.a.O.
67 Vgl. exemplarisch: Enzyklopädie des Holocaust, 1998, Bd. 1, S. 406 ff., sowie, Bedürftig, Friedemann: Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg, 2002, S. 140.
68 Safrian, Hans: Eichmann und seine Gehilfen, 1997, S. 105.
69 Vgl. Nestler, Ludwig/Schumann, Wolfgang (HRSG): Europa unterm Hakenkreuz, 1988, S. 177 f.; zit. nach: Safrian, Hans: Eichmann und seine Gehilfen, 1997, S. 105 f..
70 Vgl. ebenda, S. 106.
71 Vgl. ebd.
72 Vgl. dazu exemplarisch, Rademacher: Aufzeichnung vom 07. März 1942, in: Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden/Katalog der ständigen Ausstellung, 2008, S. 113 unter Punkt 9.6.2. Dort heißt es: „ [ … ] die Frage der Sterilisierung [der Mischlinge] bis nach Kriegsende aufzuschieben. “ Online als PDF einsehbar auf: http://www.ghwk.de/deut/startneu0.htm, unter „Besprechungsniederschrift“, letzter Zugriff 17.02.2012 um 18:36 Uhr.
73 Vgl. Bayer/Wende: Wörterbuch zur Geschichte, 1995, S. 271.
74 Vgl. Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden/Katalog der ständigen Ausstellung, 2008, S. 78 unter Punkt 7.4.4. Online einsehbar auf: http://www.ghwk.de/deut/goering.htm, zuletzt eingesehen am 18.02.2012 um 09:25 Uhr.
75 Vgl. Joseph Goebbels Tagebücher, Band 4, 1992, Eintragungen zum 01. und 3. August 1941, sowie: Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, 1999, Eintragung zum 31.07.1941. Himmler war zu diesem Zeitpunkt in Riga und flog von dort nach Baranowicze. Siehe auch: Longerich, Heinrich Himmler, 2008, S. 549.
76 Vgl. Jersak, Tobias: Entscheidungen zu Mord und Lüge/Die deutsche Kriegsgesellschaft und der Holocaust, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg/Die deutsche Kriegsgesellschaft, Band 9/1, München, 2004, S. 273 - 355, hier: S. 283.
77 Vgl. Bode, Dieter: Lexikon Geschichte, 2005, S. 87 f.
78 Longerich: Der ungeschriebene Befehl, 2001, S. 25.
79 Vgl. ebd. S. 24.
- Citar trabajo
- Thomas Kreuder (Autor), 2012, Gab es eine politische Grundsatzentscheidung Hitlers, alle Juden Europas zu ermorden?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197897
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