Im Tahrir-Spirit der Revolution demonstrieren Christen und Muslime, Männer und Frauen gemeinsam gegen sozio-politische Missstände in Ägypten und für den Rücktritt des Präsidenten Mubarak. Wie verhalten sich die Identitäten im revolutionären und post-revolutionären Ägypten? Welche Chancen bietet die Identitätenvielfalt für einen nationalen Strukturwandel?
Revolution in Ägypten - Identitäten in Bewegung
Im Tahrir-Spirit der Revolution demonstrieren Christen und Muslime, Männer und Frauen gemeinsam gegen sozio-politische Missstände in Ägypten und für den Rücktritt des Präsidenten Mubarak. Wie verhalten sich die Identitäten im revolutionären und post-revolutionären Ägypten? Welche Chancen bietet die Identitätenvielfalt für einen nationalen Strukturwandel?
Der Wille zum Umbruch des gesellschaftlichen und politischen Systems, der Wille zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation und Perspektive brachte 2011 eine kollektive Bewegung hervor, die in den Medien als „Arabischer Frühling“ beschrieben wird. Der „Arabische Frühling“, dessen Blüten zunächst in Tunesien erschienen, erreichte neben weiteren arabischen, nordafrikanischen und subsaharischen Ländern alsbald Ägypten.
In Ägypten wuchs der innenpolitische Druck unter der autoritären Führung Husni Mohammad Mubaraks schon seit Jahren. Mehrere Demonstrationen wurden unterdrückt, Oppositionelle verschwanden oder wurden verhaftet.
Am 25. Januar 2011 gehen die Menschen in Ägypten erneut auf die Straße. Ziel ist es, der Regierung Mubaraks ein Ende zu setzen. Was zählt ist die Einheit, die nationale Energie. Die Farben der ägyptischen Flagge überziehen die Plätze und Straßen der Städte. Nachrichtensender übertragen v.a. Bilder vom Tahrir-Platz in Kairo, doch auch in Assuan, Alexandria, Ismailiyya oder Suez gehen Ägypter gemeinsam auf die Straßen. Die Menschenmenge ist beflügelt. Eine solche nationale Einheit ist in Ägypten keineswegs alltäglich: Etwa neunzig Prozent der Bevölkerung sind islamisch-sunnitischen Glaubens, circa zehn Prozent gehören der christlich-koptischen Religion an. Anschläge auf Kirchen, Diskriminierungen und Gewalttaten gegenüber koptischen Christen und Frauen sind Alltag. Wie ist der Wandel in den Tagen der Revolution zu verstehen? Der koptische Journalist Youssef Sidhom beschreibt die Wochen der Revolution als „Idealzustand für die Kopten […].
Tote, Kirchenbrände oder Belästigungen habe es nicht gegeben.“1. Wurde die Religion im Zuge des nationalen Konsenses tatsächlich zur Nebensache, wie es die Bilder der Medien vermuten ließen?
Zunächst kläre ich die Begriffe „Revolution“ und „Identität“ und gebe Einblicke in die Vielfalt der Identitäten samt der Entstehungen und Facetten. Anschließend erläutere ich die Chronik der Revolution unter dem Aspekt der Identitäten und deren Bewegungen und Wandel. Ich konzentriere mich auf ausgewählte Ereignisse vor, während und nach der Revolution, die Bewegungen innerhalb der Identitätenvielfalt veranschaulichen und die zwiespältige Situation zwischen religiöser und nationaler Identität erklären. Abschließend möchte ich die Identitätenvielfalt und die Identitäten in Bewegung als Chance sehen, die genutzt werden will, um das Volk friedvoll zu einen und das Land voranzubringen.
Zum Begriff „Revolution“ ziehe ich eine gängige Definition heran. Revolution ist die „radikale Umwälzung, [eine] grundlegende Änderung (z.B. bestehender Theorien oder Weltbilder)“2. Als „revolutionär“ bezeichne ich mit Blick auf Ägypten den Zeitraum vom 25. Januar 2011 bis März 2011. Nach dem Rücktritt Mubaraks am 11. Februar 2011 befindet sich das Volk in einer Art Schwebephase mit sicherlich revolutionären Zügen, doch spielen darin Unsicherheiten unter der militärischen Übergangsregierung und über noch ausstehende Wahlen eine große Rolle.
Aus psychologischer Sicht versteht das Nachschlagewerk Pschyrembel unter „Identität“ eine „einzigartige Persönlichkeitsstruktur und das Bild, das andere davon haben“3 (Selbst-/ Fremdzuschreibung). An selber Stelle gilt Identität weiter als eine „Kombination unverwechselbarer Daten des Individuums, die es eindeutig kennzeichnen“4. Beide Definitionen zeigen, dass sich der Begriff Identität auf ein Individuum bezieht (individuelle Identität). Die angesprochene Persönlichkeitsstruktur deutet auf die Komplexität möglicher Einflussfaktoren hin, die auf die Identitätsbildung wirken: Familie, Beruf, Religion, Kultur, die gesellschaftliche Stellung oder die Zugehörigkeit zu einer Nation dienen als Identitätsofferten. Sobald Identitätsofferten in die eigene Identität oder in die Identität einer Gruppe (kollektive Identität) integriert werden, wirken sie als Identitätsfacetten. Betrachtet man diese Facetten als eigenständig geprägte Identitäten, bezeichnet man sie als religiöse Identität, kulturelle Identität o.ä. Eine Umstrukturierung innerhalb der individuellen oder kollektiven Identitäten erfolgt durch Bewegung der Identitäten während einer sogenannten Identitätskrise. „I[dentitäts]-Krisen […] können durch traumat[ische] Erlebnisse […] entstehen“5 oder auch durch einfache Veränderungen der Lebenssituation. So verlieren oder gewinnen Identitätsfacetten an Einfluss auf die Identitätsbildung. Diese Fluidität der Identitäten ist Voraussetzung für Bewegungen der Identitäten.
G.W. Leibniz versteht unter Identität „da[ss] alles Wirkliche individuell, d.h. voneinander unterschieden ist, und ein Gegenstand nur mit sich selbst identisch sein kann“6. Identität ist bewusst, wenn sie sich von anderen Identitäten abgrenzen lässt. Der Kern der Aussage folgt der immer wiederkehrenden Frage: Wer bin ich? Wer bin ich nicht? (individuelle Identität) oder: Wer sind wir? Wer sind wir nicht? (kollektive Identität). Identitäten in Bewegung folgen demnach dem „principium identitatis indiscernibilium“7, einer Art Ausschlussverfahren, bei dem das Übriggebliebene die eigene Identität prägt und gegebenenfalls als eine Identitätsfacette in die individuelle oder kollektive Identität integriert werden kann. Im Folgenden erläutere ich „Identitäten in Bewegung“ anhand der Chronik der ägyptischen Revolution. Dabei beschreibe ich verschiedene Identitätsfacetten, die sich durch die Ereignisse der Revolution ergeben und durch diese genährt werden.
Vor der Revolution
Die autoritäre Führung unter Mubarak zeigt sich für die Bevölkerung in mangelnder Meinungsfreiheit, fehlender politischer Mutsprachemöglichkeiten und alltäglicher Korruption in Staat, Wirtschaft und Verwaltung. Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, da es keine verbindlichen Verpflichtungen hinsichtlich Arbeitnehmer- und Kündigungsschutz oder Vertragsunterzeichnungen gibt. Immer mehr Menschen sind arbeitslos und kämpfen um jeden Ägyptischen Pfund, der im Zuge der Inflation mehr und mehr an Wert verliert. Die Armut wächst. Der Internationale Währungsfonds (IWF) beschreibt einen Rückgang des Wirtschaftswachstums von sechs Prozent in den Jahren 1961 bis1980 auf dreieinhalb Prozent in den Jahren 2001 bis 20058. Von Wirtschaftsreformen profitiert lediglich die Elite des Landes, an deren Spitze Mubarak agiert.
Das politische und gesellschaftliche System in Ägypten lässt einer vielschichtigen individuellen Identitätsbildung wenig Spielraum. Im Alltag zählen lediglich das eigene (Über-) Leben und Bestehen in der Masse. Ägypten weist ein starkes Bevölkerungswachstum auf. Täglich füllt die Menschenmenge die staubigen Straßen der Städte mit hupenden Autos. Endlose Staus, die öde, gleichbleibende Hitze und der Wüstensand, der die Sicht vernebelt, scheinen den Stillstand und die politische Unterdrückung des ägyptischen Volkes wiederzuspiegeln. Die Unzufriedenheit über die Unterdrückung im eigenen Land wächst gerade in einer Generation, die mit zahlreichen globalen Identitätsofferten, der sogenannten Globalkultur, konfrontiert ist. Nach dem „principium identitatis indiscernibilium“9 ist das Wissen über Identitätsofferten für die eigene Identitätsbildung eine Herausforderung. Dementsprechend gibt es Sinn und Halt, sich auf die vertrauten Werte und Identitäten zu zurückzuziehen, die die individuelle Identität stärken und in Krisen stabilisieren.
Individuelle Identitäten
Da es in Ägypten kein sozialstaatliches Netz gibt, das das Individuum in Krisen auffängt und überleben lässt, ist die Familie und somit die Identitätsbildung über den Familienbund für das Individuum ausschlaggebend. Mit dem Anschluss an die Familie gehen kulturelle Werte und Bräuche (kulturelle Identität) und der Bezug zur religiösen Kommune und Institutionen (religiöse Identität) einher. Von einer individualisierten Gesellschaft, in der sich der Mensch aus vielfältigen Identitätsofferten seine eigenen Facetten wählen und die eigene, individuelle Identität bildet, ist Ägypten weit entfernt.
Neben einem allgemeinen religions- und geschlechterübergreifenden Verhaltenskodex prägen die religionsspezifischen Verhaltenskonventionen, Bräuche und Traditionen die Menschen. Zwischen Muslimen und Christen bestehen Gemeinsamkeiten, die eine gemeinsame nationale Kultur erzählen (s. kollektive Identität). Doch beruft sich die kollektive Identität der koptischen Minderheit auf die eigene Sinn gebende Tradition. Kreuze und andere christliche Symboliken hängen an Rückspiegeln in Autos und in den privaten Wohnhäusern. Viele koptische Christen haben das Kreuz als christliches Zeichen an ihr Handgelenk tätowiert und unterstreichen so auch für die Öffentlichkeit ihre Zugehörigkeit zur koptischen Gemeinde. Durch die Fremd- und Selbstzuschreibung der Identitäten gliedern sich die Menschen automatisch in ihre gesellschaftlichen Rollen: Diese Identifizierung scheint zudem als sicherster Weg. So behalten Frauen ihre Position bei, die ihnen in der patriarchalischen Gesellschaft zugeschrieben wird. Kopten halten sich im Alltag zurück und ziehen Zuversicht aus der kollektiven Identität der Minderheit. Das Individuum wird in einer solchen kollektiven Identität der Minderheit vor einer Unterdrückung des nationalen Kollektivs geschützt: Es entstehen Frauenbewegungen, die sich gegen das patriarchalische, teils Frauen verachtende Gesellschaftssystem auflehnen. Das koptische Kollektiv setzt sich für die Rechte der religiösen Minderheit und gegen Diskriminierungen im Alltag, gegen Anschläge auf Kirchen ein.
Kollektive Identität
Die nationale kollektive Identität stützt sich in erster Linie auf die gemeinsame Zugehörigkeit zur ägyptischen Nation. Die kulturelle Identität Ägyptens bezieht sich auf die gesamte Historie und auf das kulturelle Alltagsleben Ägyptens. Als im 18. Jahrhundert in Europa der Begriff der Nation entstand, folgte dort der Prozess der Aufklärung und Säkularisierung. Benedict Anderson geht davon aus, dass die Geburt der Nationen mit dem Untergang der Religionen einhergeht10.
Der Zwiespalt zwischen nationaler Identität und religiöser Identität für die koptische Minderheit lässt sich einerseits mit der Entstehung von Nationen und der „fehlenden“ Säkularisierung erklären, andererseits auf die Jahrhunderte lange Unterdrückung der Christen im mehrheitlich muslimischen Ägypten zurückführen. Die sunnitischen Muslime in Ägypten eint die gemeinsame religiöse Identität, die sich weit über ihre Landesgrenzen hinaus in der Umma wiederfindet.
Sobald von der gemeinsamen Identität Gefahr für die individuelle Identität droht, verliert diese Identitätsfacette der nationalen Identität für das Individuum an Wert und Prägnanz. Gesellschaftliche Minderheiten definieren sich, wie oben beschrieben, in ihrem eigenen Kollektiv der Minderheit. In vielen Fällen hat das Kollektiv der Minderheit höheren Wert als eine Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft.
Was das nationale Kollektiv unter der staatlichen Führung Mubaraks eint, ist die starke Unterdrückung und existentielle Beschneidung. Die Mehrheit der Ägypter findet sich unter Mubarak seit Jahrzehnten als Verlierer im eigenen Land.
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1 www.dw.de: „Verlierer der Revolution - Kopten in Ägypten“ von Magdalena Suerbaum (vom 22.Feb.2012)
2 www.langenscheidt.de: „Revolution“ (vom 22.Feb.2012)
3 Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, Berlin New York 2002, S. 769
4 Ebd.
5 dtv Brockhaus Lexikon. München 1988, Band 8 Hau-Irt
6 Ebd.
7 Ebd.
8 C. Naylor, P.: North Africa. A History from Antiquity to the Present, Texas 2009, S.199.
9 dtv Brockhaus Lexikon. München 1988, Band 8 Hau-Irt
10 Anderson, B.: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London 1983.
- Citation du texte
- Insa E. Schmidt (Auteur), 2012, Revolution in Ägypten - Identitäten in Bewegung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196869
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