Als Leiter von verschiedenen Gruppen stößt man immer wieder an seine Grenzen von Leitung bzw. an Grenzen im Umgang mit Gruppen. Auch anhand von Gesprächen, Berichten und manchmal sogar durch „Hilfeschreie“ von Gruppenleitern kann diese Entwicklung festgestellt werden. „Ich komme mit dieser Gruppe nicht klar; diese Gruppe ist so unruhig und so laut, diese Gruppe ist destruktiv, ich komme an die Jugendlichen nicht heran“ sind nur wenige Sätze von einer schon fast resignierenden Haltung und anscheinendem Desinteresse an Gruppenarbeit. Auffällig ist, dass in koedukativer Gruppenarbeit Jungen anstrengender erscheinen als Mädchen; so ist es jedenfalls ersichtlich aus den Berichten von Leitern und Leiterinnen verschiedenster Gruppen. Es scheint dort Unterschiede zu geben. Aufgrund dieser Erfahrungen und Beobachtungen hat mich schon immer in meiner Studienzeit im Lutherstift Falkenburg sowie in meiner Tätigkeit als staatlich anerkannter Erzieher die Geschlechterfrage und die Unterschiedlichkeit der einzelnen Geschlechter interessiert. Daraus entwickelte sich die Frage: „Wie arbeite ich möglichst sinnvoll mit Jungen und Mädchen?“ Mittlerweile hat sich diese Frage auf Jungen spezialisiert. Es reizt mich, mich mit meinem eigenen Mannsein zu beschäftigen und mit Jungen in ihrer anscheinend destruktiven Haltung zu arbeiten und ein Konzept zu entwickeln, wie dies zu tun ist. Außerdem stellt sich mir die Frage von der Sinnhaftigkeit geschlechtsspezifischer Arbeit in der Kirchengemeinde. Spreche ich im Weiteren von Jungenarbeit, nehme ich Bezug auf die christliche - kirchliche Arbeit mit Jungen im Alter von 10-14 Jahren in Kirchengemeinden. Dabei ist es wichtig, mehr über die Sozialisation von Jungen und deren Bedingung herauszufinden und festzuhalten, damit das Verhalten von Jungen zu bestimmen und vor allem zu verstehen, um daraus wiederum Schlüsse für die Arbeit mit Jungen zu ziehen. Im weiteren Verlauf beziehe ich mich auf die historische Entwicklung von Jungenarbeit bis hin in die Gegenwart. Welche Voraussetzungen, Entwicklungen und Bedingungen sind in der Gesellschaft für Jungenarbeit vorhanden?
Inhaltsverzeichnis
Gutachten zur Diplomarbeit
1. Einleitung
2. Jungen in ihrer Sozialisation - So wird ein Junge zum Jungen
2.1 Geschlechtsspezifische Sozialisation
2.2 Das Geschlecht - Ein wichtiger Teil der Persönlichkeit des Menschen
2.3 Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle
2.3.1 Eltern und andere Erwachsene
2.3.2 Das Bilderbuch
2.3.3 Spiel und Spielzeug
2.3.4 Peergroups
3. Geschlechtsspezifische Arbeit- Die Geschichte
3.1 Jungenarbeit vor dem Hintergrund von Mädchenarbeit
3.2 Koedukation in der Krise?
4. Bestandsaufnahme: Jungenarbeit und ihre Notwendigkeit
4.1 Bestehende Konzeptionen und Ansätze von Jungenarbeit
4.2 Zielsetzungen und Methoden von Jungenarbeit
5. Theologische Betrachtungen
5.1 Die Bibel mit ihren Männern
5.2 Die Bibel als Grundlage für Jungenarbeit
6. Meine Konzeption von Jungenarbeit
6.1 Der Pädagoge in der Selbstreflexion
6.2 Mitarbeiter in der Jungenarbeit
6.3 Rahmenbedingungen und Voraussetzungen
6.4 Ziele in der Jungenarbeit
6.5 Methoden in der Jungenarbeit
7. Beispiele für Jungenarbeit in meiner Praxis
7.1 Jungenarbeit als Projekt
7.2 Jungenarbeit als ein Bestandteil für geschlechtsspezifische Konfirmandenarbeit
7.3 Jungen in der Gemeinde – biografische Arbeit
8. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Gutachten zur Diplomarbeit
Berufsbegleitender Studiengang Religionspädagogik und Diakonie
Ev. Fachhochschule Hannover
Verfasser: Rüdiger Sawatzki
Thema: Chancen und Risiken geschlechtsspezifischer Arbeit mit Jungen im Raum der Kirchen. Hintergründe und konzeptionelle Überlegungen
Der Verfasser stellt in der Einleitung dar, wie er vorgehen wird. Aufbau und Gliederung entsprechen der Vorgehensweise. Der Zusammenhang zwischen den Arbeitsschritten ist schlüssig. Die Kapitel bauen aufeinander auf und sind inhaltlich und argumentativ aufeinander bezogen und miteinander verbunden.
Man merkt es der Arbeit an, dass der Verfasser bei dem gewählten Thema sehr engagiert ist und dass es ihn schon das ganze Studium in immer neuen Zusammenhängen beschäftigt. Die Kehrseite dieses Engagements ist, dass der Verfasser oft verkürzt argumentiert, weil er beim Leser voraussetzt, dass dieser ebensolche Detailkenntnisse hat wie er. Aufgrund des Engagements fehlt auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Standpunkt.
Die theologischen Betrachtungen zum Thema (Kapitel 5) sind gut mit den Argumenten aus psychologischer bzw. pädagogischer Sicht verbunden und führen zusammen zu neuen Sichtweisen und Ergebnissen. Theologie wird so als eine selbständige Stimme im Konzert der Wissenschaften identifizierbar, die zum Thema einen eigenständigen Beitrag zu leisten vermag.
Die Arbeit nimmt Fragen und Probleme aus der Praxis auf und verbindet in ihren Ergebnissen Theorie und Praxis miteinander. Dadurch sind die Ergebnisse in hohem Maße praxisrelevant für die persönlichen Einsichten und für das berufliche Handeln des Verfassers.
Die formalen Kriterien einer Diplomarbeit werden i.d.R. erfüllt. Die Sprache ist manchmal etwas umständlich, was die Lesbarkeit erschwert.
Die Diplomarbeit wird mit
gut
bewertet.
Falkenburg, den 26.11.03
Reinhard Arndt, Pastor, 1. Prüfer
1. Einleitung
Als Leiter von verschiedenen Gruppen stößt man immer wieder an seine Grenzen von Leitung bzw. an Grenzen im Umgang mit Gruppen. Auch anhand von Gesprächen, Berichten und manchmal sogar durch „Hilfeschreie“ von Gruppenleitern kann diese Entwicklung festgestellt werden. „Ich komme mit dieser Gruppe nicht klar; diese Gruppe ist so unruhig und so laut, diese Gruppe ist destruktiv, ich komme an die Jugendlichen nicht heran“ sind nur wenige Sätze von einer schon fast resignierenden Haltung und anscheinendem Desinteresse an Gruppenarbeit.
Auffällig ist, dass in koedukativer Gruppenarbeit Jungen anstrengender erscheinen als Mädchen; so ist es jedenfalls ersichtlich aus den Berichten von Leitern und Leiterinnen verschiedenster Gruppen. Es scheint dort Unterschiede zu geben. Aufgrund dieser Erfahrungen und Beobachtungen hat mich schon immer in meiner Studienzeit im Lutherstift Falkenburg sowie in meiner Tätigkeit als staatlich anerkannter Erzieher die Geschlechterfrage und die Unterschiedlichkeit der einzelnen Geschlechter interessiert. Daraus entwickelte sich die Frage: „Wie arbeite ich möglichst sinnvoll mit Jungen und Mädchen?“ Mittlerweile hat sich diese Frage auf Jungen spezialisiert. Es reizt mich, mich mit meinem eigenen Mannsein zu beschäftigen und mit Jungen in ihrer anscheinend destruktiven Haltung zu arbeiten und ein Konzept zu entwickeln, wie dies zu tun ist. Außerdem stellt sich mir die Frage von der Sinnhaftigkeit geschlechtsspezifischer Arbeit in der Kirchengemeinde. Spreche ich im Weiteren von Jungenarbeit, nehme ich Bezug auf die christliche - kirchliche Arbeit mit Jungen im Alter von 10-14 Jahren in Kirchengemeinden. Dabei ist es wichtig, mehr über die Sozialisation von Jungen und deren Bedingung herauszufinden und festzuhalten, damit das Verhalten von Jungen zu bestimmen und vor allem zu verstehen, um daraus wiederum Schlüsse für die Arbeit mit Jungen zu ziehen. Im weiteren Verlauf beziehe ich mich auf die historische Entwicklung von Jungenarbeit bis hin in die Gegenwart. Welche Voraussetzungen, Entwicklungen und Bedingungen sind in der Gesellschaft für Jungenarbeit vorhanden? Eine Vorstellung von bestehenden Ansätzen geschlechtsspezifischer Arbeit rundet die vorliegenden Ausführungen, um so den aktuellen Stand der Dinge deutlich zu machen. Dabei werde ich nicht den in der Literatur bestehenden Ansatz der geschlechtsspezifischen Jungenarbeit verfolgen. Mit geschlechtsspezifisch meine ich einen Oberbegriff, der die gesamte Jungenarbeit vereint und keinen speziellen Ansatz verfolgt. Als Vorbilder werde ich die Männer der Bibel theologisch exemplarisch in Bezug zu dem Thema setzen. Außerdem wird die Thematik in ihrer Beziehung zu Gott hergestellt, um dann weiterführend meine Konzeption von Jungenarbeit zu vertiefen. Darauf folgen dann mögliche Praxisbezüge zu Jungenarbeit, die in einem Resümee in Bezug zu Chancen und Risiken von geschlechtsbewusster Jungenarbeit stehen. Ich halte Jungenarbeit für einen wichtigen Bestandteil in der Pädagogik und in der Kinder- und Jugendarbeit, weil Menschen und vor allem die Geschlechter sehr unterschiedlich sind und handeln. Das macht sich deutlich in Sprache, Verhalten, Denken und Fähigkeiten. So stellt sich das Verhalten bei Jungen anders dar als bei Mädchen. Aus eigener Erfahrungen heraus habe ich erlebt, dass es Vorteile hat, Jungen und Mädchen in bestimmten Bezügen zu trennen, um so spezifisch arbeiten und intensiv je auf die Belange von Mädchen und Jungen eingehen zu können. Ich bin also durch aktive Beschäftigung mit dem Thema vorab subjektiv beeinflusst, werde aber Objektivität anwenden. Diese subjektive Sicht der Dinge möchte ich überprüfen. Ist es sinnvoll, geschlechtsspezifisch zu arbeiten? Welchen Einflüssen sind Jungen unterworfen, und was bedeutet dies in Hinblick auf ihre Entwicklung zum Mann? Welche Schlüsse sind zu ziehen in Hinblick auf eine eigene Konzeption von Jungenarbeit? Im Laufe der vorliegenden Diplomarbeit werde ich oft verallgemeinern, um Muster deutlich machen zu können. Mir ist bewusst, dass Jungen Individuen sind. Es wird immer Jungen und Mädchen geben, auf die die Aussagen nicht zutreffen. Außerdem werde ich für das flüssigere Lesen grundsätzlich die männliche Form von Titel, Berufsbezeichnungen u.a. wählen. Damit ist gleichzeitig auch immer die weibliche Form gemeint.
2. Jungen in ihrer Sozialisation - So wird ein Junge zum Jungen
In diesem Kapitel wird es sich um die Sozialisation handeln. Was ist Sozialisation, was wirkt auf den Menschen ein, welche Kategorien nimmt die Sozialisation ein und wie verhält es sich mit der geschlechtsspezifischen Sozialisation?
Um vorweg den Begriff zu definieren, führe ich meine Sicht von Sozialisation an. Der Mensch sozialisiert sich sein Leben lang und wird immer wieder sozialisiert. In dem Sozialisationsprozess findet sich die Gesamtheit aller geplanten und ungeplanten Einflüsse der sozialen Umwelt wieder. Durch diese Einflüsse wird das Individuum zum Mitglied der Gesellschaft.[1] Neben Eickelpasch definieren Tillmann und Hurrelmann[2] noch konkreter. Sozialisation bezeichnet bei ihnen den Prozess eines Menschen, in dem sich der entstandene und kulturgenetisch vorausgesetzte menschliche Organismus zu einer Person heranbildet. Das Wesen dieser Person äußert sich in einer sozial handlungsfähigen und identischen Persönlichkeit. Aus soziologischer Betrachtungsweise heraus bedeutet Sozialisation vor allem die Integration des Individuums in die kulturellen vorgegebenen sozialen Rollensysteme.[3] Nach dieser Definition wird der Aspekt der Sozialisation auf die kulturellen Rollen festgelegt, was wiederum bedeutet, dass ein großer Zusammenhang zwischen der Kultur einer Gesellschaft und dem Individuum und umgekehrt besteht. Der Mensch ist durch seine Vergangenheit und Gegenwart und durch seine Kultur, wie z.B. bestehende Werte und Normen geprägt, so dass Kultur einen hohen Stellenwert in der Entwicklung eines Menschen einnimmt.
Somit ist Sozialisation ein lebenslanger Prozess, unterteilt in verschiedene Sozialisationsphasen. In den frühen Sozialisationsphasen werden die Grundstrukturen der Persönlichkeit in den Bereichen Sprache, Denken und Empfinden herausgebildet und die fundamentalen Muster für soziales Verhalten entwickelt. Dabei unterscheidet sich die Sozialisation noch mal in primäre und sekundäre Sozialisation. Während das Lernen als elementares Verhaltensmuster in der primären Sozialisation überwiegend in den Familien stattfindet, wird die darauf aufbauende Weiterentwicklung und Variation von Verhaltensmustern in Abgrenzung hiervon als sekundäre Sozialisation bezeichnet.[4]
2.1 Geschlechtsspezifische Sozialisation
Der Mensch sieht den Menschen nicht als eigenschaftsloses Objekt, sondern er differenziert immer nach Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Größe Erscheinungsbild und anderen Eigenschaften. Die eigentlichen inneren Werte eines Menschen sind sekundär, so dass die äußeren Merkmale primär wahrgenommen werden. In der Entwicklung macht der Mensch Erfahrungen, die auf ihn wirken. Daraus resultieren die Verinnerlichung von Erfahrungen und somit auch eine Weitergabe der gewonnenen Erkenntnisse an seine soziale Umwelt. Bezogen auf die Erfahrungen eines Mannes, erlebt dieser in seiner Entwicklung überwiegend ein soziokulturelles System des Patriarchats. Die Gesellschaft ist eher männlich definiert und von Männern in entscheidenden Positionen von Politik, Wissenschaft usw. besetzt. Dies prägt das Bild von einem dualistischen, patriarchalischen System.
Im Verhältnis zum anderen Geschlecht erlebt sich ein Kind als Junge oder als Mädchen; der Junge erlebt sich über die Abgrenzung zum Mädchen und entwickelt als Kleinkind ein klares Ich-Bewusstsein. In diesem Alter entdecken die Jungen auch, dass sie einen Penis haben und sich dadurch von der Frau unterscheiden, dass sie selbst Jungen bzw. Mädchen und alle Menschen entweder weiblich oder männlich sind, wissen nach einer Studie 90% aller Kinder schon mit 18 Monaten.[5] Nachdem die Kinder geschlechtslos gelebt haben, beginnt die Geschlechtsidentität, die den Jungen mit Beginn der Erkenntnis seines Geschlechtes dazu führt, seine eigentliche soziale Rolle und seine Erfahrungen in Frage zu stellen und darüber hinaus, eine veränderte Identität aufzubauen: Eine neue Geschlechtsidentität.
Das Geschlecht eines Menschen ist immer auch eine Rolle, die gelernt, umgesetzt und eingenommen wird, die damit auch Charakterzüge bestimmt, die gerade bei Jungen eher unreflektiert übernommen werden. Der Junge und das Mädchen leben, wie in der Definition[6] beschrieben, in Rollensystemen. Ein Mädchen hat oft durch die Mutter ein Identitätsgegenüber und kann die Eigenschaften und das Verhalten ihrer Mutter erproben und ü b e r p r ü f e n, wobei sich die meisten Jungen nur über das Gegenteil der eigene Mutter oder Frauen definiert. Oft dann auch noch negativ, weil der Vater als gleichgeschlechtliche Identitätsfigur oft weniger greifbar ist, weniger Präsenz zeigt. Ein Mädchen weint, also darf ich als Junge nicht weinen, eine Frau zeigt Gefühle, also darf ich als Junge keine Gefühle zeigen. Diese Findung der Identität und Rolle zeigt, dass sich der Junge keine echte authentische Definition seines Selbst geben kann.
Außerdem beschreitet der Junge in seiner vorpubertären Phase einen Lebensweg, der hauptsächlich durch Frauen bestimmt und gelenkt wird. Bis zum dritten Lebensjahr verbringen Jungen ihre Kindheit eher bei der Mutter in einer symbiotischen Beziehung. Die darauf folgende Zeit im Kindergarten und in der Grundschule wird ebenfalls überwiegend von Frauen gestaltet.[7] Die fünfte und sechste Klasse sind hauptsächlich durch weibliche Lehrer besetzt, und erst von den höheren Klassen ab werden in der Regel männliche Lehrer die Jungen begleiten. Der Mann fehlt dem Jungen in der Sozialisation also.[8]
So stellt auch Reinhard Winter fest, dass Jungen in ihrer Entwicklung zum Mannsein auf sich selbst gestellt sind und in ihrer Einsamkeit Ersatz für das suchen, was ihnen fehlt.[9] Würden Eltern vermehrt partnerschaftliche Erziehungsmodelle verwirklichen, hätten Jungen ein Vorbild für männliches Verhalten und wären nicht krampfhaft gezwungen, das Gegenteil dessen zu tun, was Frauen ihnen vorleben.[10] So ergeben sich folgende wesentliche Prinzipien von geschlechtsspezifischer Sozialisation: Ihre Freizeit im Freien zu verbringen, erleben Jungen als sehr wichtig. Das „Draußen“ zu erleben und gleichzeitig das „Drinnen“ zu diffamieren, also kein Stubenhocker zu sein, ist die Folge. Für die spätere berufliche Zukunft ist es notwendig, sich in dieser Außenwelt zu üben. Das Resultat ist, dass der Junge die Beziehung zu seinem Inneren Selbst verliert. Es hat fast den Anschein, dass eine Trennung des Außen- und Innenlebens besteht. Trauer oder Schmerz ist im Außen nicht zu zeigen. Probleme werden im Außen nicht akzeptiert bzw. offenbart. Also erfolgt eine Diffamierung des Inneren. In dem Prinzip Stummheit erleben die Jungen die Folge dieser Diffamierung. Über sich selbst zu reden, ist daher nicht möglich. Daraus entsteht das Allein-Sein. Der Junge ist sich selbst genug. Das Bild von einem einsamen Cowboy macht dies deutlich. “Ich schaffe es allein, ich bin nicht auf andere angewiesen.“ Diese Aussagen führen zu der zwanghaften Eigenständigkeit sowie zur Angst vor dem Verlassen werden, unterstützt durch das Prinzip des Allein-Seins. Ist man auf sich alleine gestellt, müssen Voraussetzungen zur Bewältigung des Lebens geschaffen werden. Das Prinzip Körperferne schafft diese Vorraussetzung. Der Körper muss funktionieren; denn dazu ist er da. Er kann vernachlässigt werden. Daraus resultiert, dass ein Beziehungsaufbau nicht möglich ist. Beziehungen zu Zärtlichkeiten und Liebkosungen u.ä. können nicht aufgebaut werden. Auch aus der Abgrenzung zu Frauen entwickelt sich die Rationalität. Aus Männersicht sind die Emotionen weiblich definiert, so dass das rationale Denken als einzige Quelle für das Auflösen von Problemen vorhanden ist. Ein Jungen zugeschriebenes Verhalten ist auch die Gewalt, die in vier Ebenen untergliedert wird. Gegenüber Frauen wird Macht demonstriert, auch in der eigenen Vorstellung, Frauen als Objekte zu sehen. Gegenüber anderen entsteht das Prinzip Gewalt, da Jungen andere Jungen als Konkurrenten und Rivalen ansehen. Eine weitere Form von Gewalt schließt die Gewalt gegen sich selbst ein. Durch übertriebene Leistungsdefinitionen erlebt sich der Junge in Beruf und Sexualität als jemand, der der Beste sein muss. Gewalt in Bezug zur Natur macht sich darin deutlich, dass sie ausbeuterisch genutzt wird. Über die Gewalt verkörpert sich das Prinzip Benutzung. Sie baut sich auf das hierarchische Denk- und Verhaltensmuster auf. Darin werden Mädchen und Frauen als Untergebene definiert, zu denen hausfrauliche Tätigkeiten oder sexuelle Anzüglichkeiten gegenüber Frauen gehören.[11] Aufgrund der beschriebenen Problemanzeigen erleben die Jungen psychische und physische Leiden. In vielerlei Hinsicht tragen Jungen und Männer letztendlich zu dieser Situation bei, doch erleben sie sich auch in einem geschlechtsstereotypischen Umfeld, so dass diese Zuschreibungen entstehen. Die im Anhang befindliche Statistik[12] zeugt davon, dass Jungen in ihrem Sozialverhalten wesentlich auffälliger sind als Mädchen.
2.2 Das Geschlecht - Ein wichtiger Teil der Persönlichkeit des Menschen
Ich erlebe, dass Psychologie, Soziologie und Biologie keine nennenswerte Gesamtdiskussion bezüglich der Geschlechterfrage führen. Die Autoren schreiben immer wieder nur von einzelnen Aspekten, ohne alle drei zusammenzuführen.[13] Ist Weiblichkeit und Männlichkeit konstruiert, und ist sie erworben und antrainiert? Der biologische Faktor bei der Entwicklung eines Menschen ist nicht zu verachten. In der Soziologie des Menschen werden die biologischen Vorausetzungen meiner Ansicht nach oft vernachlässigt, wie wiederum auch die Psychologie die soziologischen Faktoren außer Acht lässt. Eins ist aber unbestritten und in Versuchen verdeutlicht geworden: Jungen und Mädchen sind biologisch, psychologisch wie auch soziologisch unterschiedlich und haben bestimmte Fähigkeiten und bestimmte eben nicht. In der Soziologie sind verschiedene Faktoren der Beeinflussung Gegenstand der Untersuchung, die die Kinder in geschlechtsstereotype Menschen verwandelt. Psychologisch betrachtet, sind Aussagen über die Entwicklung des Menschen oft nur ohne den Kontext von soziokulturellen Beeinflussungen vollzogen worden. Biologisch betrachtet, werden einzig die körperlichen und genetischen Voraussetzungen erforscht. Jeder dieser Bereiche hat seine Berechtigung. Und doch hat man das Gefühl, dass die Autoren einzig und allein auf eine dieser drei vertrauen. Es ist bislang nicht gelungen, eine klare Verständigung zwischen diesen dreien herzustellen. Es ist aber von Nöten, dies zu tun, denn jeder hat wichtige Erkenntnisse, die zusammen und in Verbindung gestellt ein Ganzes ergeben würden. Dieses Ganze ist für Pädagogen ein wichtiger Baustein für den Umgang mit Jungen. Ich möchte das am Beispiel der biologischen Vorausetzung deutlich machen.
Wenn Götz Haindorff davon spricht, dass Jungen ihren eigenen Kopf haben, dann meint er dies wörtlich. In Bezug auf die Entwicklung des Gehirns bestehen starke Unterschiedlichkeiten bei Jungen und Mädchen. Z.B. ist die Verbindung von einer zur andern Hirnhälfte durch den Corpus collosum bei Mädchen 30% stärker ausgeprägt als bei Jungen. Damit ist deutlich, dass sich der Weg jedes Geschlechtes von Anfang an in verschiedenen Bahnen befindet. Das Gehirn entwickelt sich in der sechsten Schwangerschaftswoche zu einem männlichen oder weiblichen Gehirn. Grundsätzlich drückt sich jedes Gehirn bis zur sechsten Schwangerschaftswoche in einer weiblichen Struktur aus. Welches Geschlecht angenommen wird, entscheidet das männliche Y-Chromosom. Erst in der siebten Woche beginnt der „Umbau“ zum entsprechenden Geschlecht. Die Geschlechtsdrüsen entwickeln sich zum Hoden, indem die Testosteronproduktion und -ausschüttungen beginnen. Aufgrund der hohen Konzentration von Testosteron erlebt der Körper Veränderungen, die verschiedene Dinge zur Folge haben, z.B. die höhere Anzahl von roten Blutzellen, die für physiologische Überlegenheit zuständig ist. Das bedeutet aber auch, dass Testosteron durch die hormonelle Verarbeitung von Wahrnehmung andere Effekte zur Folge hat als zum Beispiel Östrogene. Es bewirkt, dass Mädchen und Frauen in der Regel erst nachdenken und dann handeln. Bei Jungen und Männern besteht ein anderer Sachverhalt. Sie handeln oft erst und denken dann nach. Sie sind in der Regel ergebnisorientiert. Zur Folge hat dies eine nicht bewältigte Stresssituation, die oft zu Eskalation führt. Diese hormonelle Steuerung wird erst in späteren Jahren aufgrund größerer Lebenserfahrungen besser verarbeitet.[14] Dies scheint die Soziologie außer Acht zu lassen, wenn sie davon ausgeht, dass Jungen, wenn sie dem geschlechtsstereotypen Verhaltensmuster entsprechen, z.B. aktiv sein oder werden müssen. Ansonsten werden sie in ihrem Milieu zu den Unterlegenen gehören. Wenn von Geschlechtsstereotypen gesprochen wird, dann sollte auch immer wieder der biologische Faktor betrachtet werden. Einige der geschlechtstereotypischen Zuschreibungen, wie z.B. „Jungen lieben Sport, Herausforderungen und Abenteuer“, sind auch biologisch bedingt und nicht nur eine Folge von Rollenerwartungen. Trotz dieser Erkenntnis greife ich vermehrt auf die soziologischen Voraussetzungen zurück, da sie auch in vielerlei Hinsicht eine starke Beeinflussung für das Jungesein darstellen. Vernachlässigen möchte ich die biologischen und psychologischen Vorausetzungen aber nicht. Während der Sichtung der Literatur zur vorliegenden Diplomarbeit bin ich sehr oft auf das Thema „Sexualität des Jungen und die relevante Bedeutung für seine psychische Entwicklung“ gestoßen. Es scheint, Sexualität ist für den Menschen eine der wichtigsten Identitätsquellen und wird dazu genutzt, dem Geschlecht verschiedene Rollenmuster zuzuordnen. Zumindest macht der Junge dies und hat im weiteren Verlauf seiner Sozialisation kaum die Möglichkeit, Reflektoren über das Vorbild Vater oder Mann zu erhalten und sein eingenommenes Rollenmuster zu überprüfen und ggf. zu verändern. Die Rollenansicht ist wie in einem Theaterstück gespielt und erlernt. Der Mensch muss nur anfangen, das Drehbuch genauer zu lesen und seine damit verbundenen Rollen neu zu erlernen und als Schauspieler umzusetzen. Im Normalfall ist die Geschlechtszugehörigkeit ein Leben lang festgelegt. Bei anderen Zugehörigkeiten oder Rollendefinitionen wie z.B. Beruf, Schicht, Nationalität besteht prinzipiell die Möglichkeit, sie im Laufe des Lebens zu wechseln. Das ist beim Geschlecht anders, außer bei der Travestie. Das Geschlecht als soziale Kategorie ergibt sich erst daraus, wie wir die Wirklichkeit konstruieren, denn "Wirklichkeit ist nicht, sondern sie wird gemacht, sie entsteht im (sozialen) Handeln."[15] Geschlechterverhältnisse, bzw. Männlichkeit und Weiblichkeit, sind somit das Produkt sozialer Konstruktionsprozesse und werden im gesellschaftlich-sozialen Leben unter den Individuen ausgehandelt.[16] Die fundamentale Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit ist ein Grund dafür, dass sich die Sozialisationsforschung seit langem mit der Frage beschäftigt, wie Geschlechterrollen erworben und wie geschlechtstypische Verhaltensweisen angeeignet werden.[17] Daraus ergibt sich, dass das Geschlecht sowohl eine biologische als auch eine soziale Kategorie ist.
Der Körper spielt in der sozialen und individuellen Konstruktion von Geschlechterzugehörigkeit eine zentrale Rolle. Mit der Unterscheidung der Kategorie „sex“ und „gender“ wurde eine Trennung des biologischen Geschlechts (engl.sex) und des kulturell bzw. sozial konstruierten Geschlechts (engl.gender) vollzogen. Gender bezeichnet naturgegebene Aspekte von Geschlechtlichkeit, die gesellschaftlich vermittelt werden.[18] Um die gesellschaftliche Bedingtheit und die historische Veränderbarkeit der Geschlechterverhältnisse zu erfassen, unterscheidet die soziologische Geschlechterforschung zwischen dem natürlichen und dem sozialen Geschlecht. Diese Unterscheidung soll den Blick dafür schärfen, dass die Begriffe Männlichkeit und Weiblichkeit eine Vielfalt von Bedeutungen aufweisen, die nicht biologisch vorgegeben, sondern kulturell vermittelt sind.[19] Differenzen entstehen bei der Verwendung des deutschen Begriffes Geschlecht. Schreibt man dem Jungen bestimmtes Verhalten zu, dann ist zu überprüfen, welche Kategorie angesprochen wird. Verhalten ist Sex oder Gender zuzuordnen, damit eine Einschätzung in Bezug auf den Jungen stattfinden kann!
2.3 Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle
Bei der Entwicklung von "männlichem" und "weiblichem" Verhalten sind zwei Aspekte voneinander zu unterscheiden; zum einen der Erwerb der Geschlechtsidentität, zum anderen die Aneignung der Geschlechtsrolle.
Die Bildung der Identität entwickelt sich aus unseren eigenen und fremden Erfahrungen sowie aus den Erwartungen anderer heraus. Dieser Prozess von Identitätsfindung entspricht einem Selbstkonzept integrierter Bilder und Vorstellungen, die wir über uns selbst und andere haben. Identität als Ergebnis und gleichzeitig als ein Motor für weitere Entwicklung. Aber nur in Beziehung entwickelt sich die Identität, denn die anderen sagen dir, wer du bist.[20] „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Dieses Zitat von Simone de Beauvior hat Ursula Scheu in ihrem Buchtitel:„Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht.“ Abgewandelt. Dies gilt für Jungen ebenso. Auch sie werden über die Geschlechtsrolle zu Jungen und Männern gemacht.
Das Konzept der Geschlechtsidentität umfasst nach Mertens bewusste Vorstellungen und unbewusste Phantasien einer individuellen Kombination von Männlichkeit und Weiblichkeit. Das individuelle Verständnis der Geschlechtszugehörigkeit wird bereits durch elterliche Phantasien auf das ungeborene Kind übertragen. Je nachdem, ob ein Junge oder ein Mädchen erwartet wird, bestimmen Erwartungshaltungen der Eltern das Verhalten gegenüber dem Kind. Das Kind wird mit den Reaktionen der Eltern konfrontiert und reagiert wieder entsprechend seinem Temperament und den jedem Menschen eigenen Vorlieben.[21] Nach Untersuchungen von Spitz[22] wurden männliche Säuglinge als stark, durchsetzungsfähig und kräftig wahrgenommen, während dieselben Säuglinge, wenn sie als Mädchen präsentiert wurden, als zart und hilflos erlebt wurden und dann auch so behandelt wurden.
Geschlechtsidentität ist das innere Bewusstsein, das Gefühl, ein Mann oder eine Frau zu sein. Die Geschlechtsrolle umfasst das Verhalten, das wir als "männlich" oder "weiblich" zu bezeichnen pflegen. Meulenbelt bezeichnet die Geschlechtsidentität als "die Privaterfahrung der Geschlechtsrolle und die Geschlechtsrolle als die äußere Manifestation, die öffentliche Äußerung der Geschlechtsidentität."[23] Eine weibliche Geschlechtsidentität zu haben, bedeutet dabei aber nicht automatisch, auch eine weibliche Geschlechtsrolle spielen zu müssen. Eine Frau mit weiblicher Geschlechtsidentität kann sich durchaus "typisch männlich" verhalten und umgekehrt. Der Mann hat weibliche, die Frau männliche Anteile. Die Geschlechtsidentität sitzt äußerst tief. Sie wird stark in die Psyche des Menschen „hineingebrannt“. Sie ist ein Teil unserer Identität. Stärker zu beeinflussen ist die Geschlechtsrolle. Geschlechtsrollen hängen eng mit der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zusammen.
Veränderung ökonomischer Verhältnisse und historisch verschiedener Phasen des Produktionsprozesses können auch Veränderungen und eine Verschiebung bei den Geschlechtsrollen ergeben. Dies zeigt sich deutlich an aktuellen Entwicklungen in unserer Gesellschaft.[24] Was die eine Generation noch als "typisch männliches" und "typisch weibliches"[25] Verhalten bezeichnete, zum Beispiel, dass der Mann berufstätig ist und die Frau den Haushalt führt, kann für die nachfolgende Generation schon eine Form der Arbeitsteilung sein, die "vom Aussterben bedroht" ist. Die Geschlechtsrolle umfasst das Verhalten, das wir als männlich oder weiblich zu bezeichnen pflegen. Im weiteren Verlauf seines Lebens wird sich der Mensch sozialisieren und versuchen, sich zu unterscheiden, seine Rolle zu finden, nämlich die des Mannes oder der Frau. Von äußeren Einflüssen gezeichnet verfestigt sich die Rolle des Geschlechtes. Wenn der Junge oder der Mann seine zugewiesene Geschlechtsrolle nicht einnimmt, ist er anders. Alles was den beschriebenen Rollenerwartungen nicht entspricht, ist anders für den Jungen, erst einmal fremdartig. Auf vielen Jugendfreizeiten fragten mich Jugendliche, unabhängig vom Geschlecht, ob ich schwul sei! Anscheinend stecke ich nicht in der üblichen Männerrolle, die einen Mann definieren. Ich setze andere Schwerpunkte, wie z.B. zuhören zu können oder weitestgehend emotional zu reagieren. Auch meine eher pädagogische Art zu sprechen, scheint nicht in die Rollenerwartung der Jungen und Mädchen zu passen. Ich werde der Kategorie „anders sein“ und nicht „Mann sein“ zugeordnet, was die Jugendlichen dazu führt, meine sexuellen Neigungen zum gleichen Geschlecht zu interpretieren. In einem weiteren Beispiel wird die Zuschreibung der Geschlechtsrolle deutlich: Vor kurzem wartete ich bei einem Allgemeinmediziner auf meine Behandlung, als eine Frau mit ihrem Jungen in den Warteraum eintrat. Sie setzte sich und der Junge bewegte sich zu den bereitgestellten Spielsachen, um dort zu spielen. Kurze Zeit später ging der Junge zu seiner Mutter und sagte, dass die Kinder ihn nicht mitspielen ließen. Die Mutter antwortete darauf, er solle sich durchsetzen, er sei doch ein Junge! Eine solche Reaktion ist sicherlich oft bewusst oder unbewusst in unserer Gesellschaft zu sehen. Hier wird einem Jungen männliches Verhalten, eine männliche Charaktereigenschaft zugewiesen, und zwar an dem Beispiel Durchsetzungsvermögen. Die Mutter des Mädchens, das den Jungen nicht hat mitspielen lassen, könnte vielleicht sagen, nun lass doch den Jungen mitspielen. Sei doch lieb! In dieser Situation versucht die Mutter, dem Mädchen eine weibliche Geschlechtsrolle zuzuordnen, nämlich die Reaktion in Form des integrativen Verhaltens dem Jungen gegenüber. Dies ist nur ein kleines Beispiel, aber es steht exemplarisch für den Aufbau und die Entwicklung der Geschlechtsrollen. Jungen und Mädchen werden in traditionellen erwarteten Rollen hineinsozialisiert. „Die Jungen befinden sich deshalb in dem Dilemma: entweder erfüllen sie ihre männliche Rolle, dann geben sie große Teile ihrer selbst auf, oder sie folgen ihren Bedürfnissen, doch dann sind sie keine Männer.“[26]
2.3.1 Eltern und andere Erwachsene
Helga Bilden stellt fest, dass eine Reihe von Geschlechtsunterschieden und die Folgerungen daraus heute oft widersprüchlich sind. Geschlechtsunterschiede, die vor 20 Jahren als sicher galten, sind heute allmählich verschwunden, z.B. die Differenzen in kognitiven und verbalen Fähigkeiten; auch die Fähigkeiten im räumlichen Denken unterscheiden sich nur noch wenig.[27] Angesichts dessen werde ich nicht auf einzelne Untersuchungen über Geschlechtsunterschiede und deren Ergebnisse eingehen, sondern mich auf die Darstellung von Faktoren beschränken, die auf die unterschiedliche Entwicklung von Jungen und Mädchen einwirken und somit eine geschlechtstypische Persönlichkeitsentwicklung unterstützen. Auch durch die gesellschaftliche Tendenz weg von der Groß- und hin zur Kleinfamilie haben die Großeltern als Sozialisationsinstanz „ausgedient“, da sie in den heutigen Familienverbänden oft nicht mehr erscheinen. Bei der Untersuchung des Einflusses von Familien in der primären Sozialisation des Jungen sollte der Zusammenhang von Schicht, Kultur und Umwelt betrachtet werden. Diese Verbindung werde ich weitestgehend unberücksichtigt lassen und mich auf Eltern als Sozialisationsinstanz konzentrieren. Sie bilden einen starken Einfluss auf die Identitätsentwicklungen bei Jungen und Mädchen. Es ist schon erstaunlich, wie sich Eltern unbewusst, automatisch voreingenommen auf die Geburt ihres Kindes vorbereiten. Ist das Geschlecht, z.B. durch Ultraschalluntersuchungen, festgestellt, entsteht die Geschlechtsdifferenzierung zwischen Jungen und Mädchen. Daraufhin beginnen Eltern, das Kinderzimmer und die Umgebung der Kinder zu gestalten. Vorstellungen und Erwartungen verbinden sich mit den bereits vollzogenen Anschaffungen, wie z.B. Kleidung, den Zuordnungen von bestimmten Farben[28] und dem gekauften Spielzeug. Eltern schreiben so den Kindern schon bestimmtes Verhalten und Erwartungen zu und übernehmen und geben durch ihre eigene Sozialisation die vermittelten stereotypen Zuschreibungen weiter. Ein Kreislauf entsteht und manifestiert sich in der Gesellschaft und Erziehung in der Weitergabe von Stereotypen. Kinder werden auf diese Einflüsse im Interaktionsprozess der Erziehung reagieren und sie übernehmen. Bei jeglichen Eigenschaften, jeglichem Verhalten oder Charakter des Kindes werden Eltern je gewünschtes Verhalten fördern und unerwünschtes missbilligen. So geschieht es auch im männlichen oder weiblichen Verhalten. Eine große Anzahl von Eltern, sei es bewusst oder unbewusst, fördern Methoden in der Interaktion von Kindern, von denen sie glauben, dass sie zu einem „richtigen“ Jungen oder Mädchen gehören. Ein Vorwurf kann den Eltern nicht immer gemacht werden. Sie geben weiter, was sie selbst als Kinder in ihrer Entwicklung kennen gelernt haben. Es hat sogar den Anschein, dass Eltern ihre Erziehung fremd bestimmen lassen und die Stereotypen unreflektiert weitergeben. Um die Sozialisation in der Familie zu beschreiben, ist es notwendig, die Rolle von Mutter und Vater sowie das Verhältnis zum Kind genau zu analysieren. Die Erziehungsaufgabe der Eltern liegt darin, den Kindern die gesellschaftlichen Normen zu vermitteln und gleichzeitig die Individualität des Kindes zu fördern. Diese Aufgabe wird von Vater bzw. Mutter unterschiedlich wahrgenommen. Ein wichtiger Punkt im Familienleben ist der körperliche Kontakt. Wird dieser in den ersten Lebensjahren genügend vermittelt, ist das Kind später in der Lage, durch bloßen Blickkontakt die Beziehung zur Erziehungsperson aufrechtzuerhalten. Bei Jungen und Mädchen vollzieht sich die Ablösung von der Mutter in je einem anderen Zeitraum.
Empirisch bewiesen ist, dass Väter ihren Söhnen doppelt soviel Zuwendung geben wie ihren Töchtern. Sie bestärken die Söhne, mit "männlichem" Spielzeug, z.B. mit Spielzeugautos. Dadurch, dass Väter im Familienverband weniger präsent sind als die Mütter, ist ihre Meinung für Kinder beiden Geschlechts sehr wichtig. Da Väter einen höheren Wert auf geschlechtskonformes Verhalten legen, schätzen sie bei Töchtern kokettes Auftreten und hübsches Aussehen, das bewirkt, dass das Mädchen den Vater leichter um den Finger wickeln kann.[29] Mädchen haben einen größeren Freiraum, sich jungenhaft zu verhalten als umgekehrt. Bei Jungen wird mädchenhaftes Verhalten meistens stark missbilligt. Die Ursache der starken Missbilligung von Mädchenverhalten bei Jungen liegt in der Angst der Eltern (vor allem der des Vaters), ihr Sohn könnte homosexuell werden.[30] Väter agieren mit ihren Kindern wesentlich deutlicher im Sinne von Geschlechtsstereotypen als Mütter. Helga Bilden betont, dass trotz oberflächlich egalitärer Einstellungen[31], die heute oft zu finden sind, ... weiterhin das Geschlecht einer Person in uns bewusst oder unbewusst bestimmte Erwartungen, Deutungsmuster, Reaktionstendenzen usw.[32] auslöst. Das Verhalten innerhalb der Familie unterscheidet sich deutlich vom Verhalten in der Gesellschaft. Während Jungen z. B. innerhalb der Familie Liebkosungen zulassen, wenden sie sich auf der Strasse ab, wenn die Mutter ihnen einen Kuss geben will. Durch die gesellschaftlichen Zwänge passen sich auch Kinder, die sonst geschlechtsspezifisches Verhalten ablehnen, an die Normen an.
Des Weiteren wirken Eltern auf ihre Kinder als Vorbilder, die diese imitieren und mit denen sie sich identifizieren. Die Entdeckung, dass die beiden Elternteile verschiedenen Geschlechtern angehören und dass sich dies in unterschiedlichem Verhalten zeigt, ist äußerst bedeutsam für die soziale und kognitive Entwicklung. Die Geschlechtsrollendifferenzierung ist die erste universalistische Orientierung, auf die das Kind stößt. Sie wird zur Basis und zum Ausgangspunkt jeder weiteren sozialen Differenzierung.[33] So bekommen Kinder durch die Verhältnisse, in denen sie aufwachsen, eine Vorstellung von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" und den damit verbundenen Verhaltensweisen bzw. Eigenschaften. Das mehr oder weniger geschlechtsspezifische Verhalten der Eltern ist einerseits von ihren aktuellen Lebensbedingungen und andererseits von den Erfahrungen, die sie selbst in ihrer eigenen Primärsozialisation gemacht haben, abhängig.[34] Kinder können allerdings auch andere Erwachsene als die eigenen Eltern als Vorbild auswählen; denn als Vorbild kommen alle Personen in Frage, die auf das Kind eine Beziehungs- und Anziehungskraft ausüben. Dies sind oft auch zugleich Autoritätspersonen wie zum Beispiel die Kindergärtnerin, Lehrer/innen, Verwandte etc..
[...]
[1] vgl. Eickelpasch, 1999, S.28
[2] vgl. Böhnisch/Winter, 1994, S. 13
[3] vgl. Böhnisch/Winter, 1994, S. 13
[4] vgl. Brockhaus, 1993, S. 493
[5] vgl. Bange/ Enders, 1997, S.35
[6] siehe Punkt 2, S. 3 f.
[7] Niedersachsens Bildungsminister Bernd Busemann (CDU) fordert eine Männerquote für den Schuldienst. Siehe dazu zwei Zeitungsartikel im Anhang.
[8] vgl. Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen, 1997, S. 7
[9] vgl. Winter, 1993, S.
[10] vgl. Zeltner, 1999 , S.28
[11] vgl. Willems/Winter, 1991, S. 422 ff.
[12] siehe Anlage 1
[13] vgl. Rohrmamm, 1994, S.46 f.
[14] vgl. Haindorff, 2003, S.25 ff.
[15] Bilden, 1991, S. 290
[16] vgl. Bilden, 1991, S. 290
[17] vgl. Tillmann, 1989, S. 41
[18] vgl. Eickelpasch, 1999, S. 85
[19] vgl. Eickelpasch, 1999, S. 85
[20] vgl. Zeltner, 1999, S.18-19
[21] vgl. Mertens, 1992, S. 35
[22] vgl. Mertens, 1992, S. 36 ff.
[23] vgl. Meulenbelt, 1985, S. 85
[24] vgl. Meulenbelt, 1985, S. 84 ff.
[25] siehe Anlage 2
[26] Bange/Enders, 1997, S.28
[27] vgl. Bilden, 1991, S.281
[28] Farbe blau = Jungen und Farbe rosa = Mädchen
[29] vgl. Hagemann-White, 1984, S. 49 f.
[30] vgl. Meulenbelt, 1985, S. 105
[31] „Ich behandle Jungen und Mädchen gleich."
[32] vgl. Bilden, 1991, S. 282
[33] vgl. Kürthy, 1978, S. 119
[34] vgl. Kürthy, 1978, S. 117f.
- Quote paper
- Rüdiger Sawatzki (Author), 2003, Chancen und Risiken geschlechtsspezifischer Arbeit mit Jungen im Raum der Kirchen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19683
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