Bäume brauchen Wurzeln, das weiß jedes Kind.
Und ein kleiner Baum kann um so besser wachsen
und gedeihen, je kräftiger seine Wurzeln sind,
mit denen er sich im Erdreich verankert
und seine Nährstoffe aufnimmt.
Nur wenn es einem kleinen Baum gelingt,
tiefreichende und weitverzweigte Wurzeln auszubilden,
wird er später auch Wind und Wetter,
ja sogar Stürme aushalten können.
Gebauer & Hüther
Dieses Zitat von Gebauer und Hüther (2011) bezieht sich auf die kindliche Entwicklung, denn auch Kinder brauchen Wurzeln, die sie versorgen, stützen und tragen. In der Regel sind die Wurzeln die Eltern. Durch ihre Wärme und Geborgenheit verhelfen sie dem Kind, zu einem lebensbejahenden Individuum heranzureifen. Doch nicht alle Kinder haben das Glück in behüteten Familien aufzuwachsen. Täglich begegnen uns Kinder, die Opfer traumatischer Erfahrungen innerhalb ihres eigentlich sicher geltenden Nahbereichs wurden.
Die vorliegende Magisterarbeit setzt sich mit dem Thema „Bindungstrauma im Kontext sozialpädagogischer Arbeit“ auseinander und erörtert die Fragestellung, wie man mit bindungstraumatisierten Kindern und Jugendlichen im sozialpädagogischen Praxisfeld arbeiten kann.
Die Besonderheit von Bindungstraumata ist das Faktum, dass die Traumatisierung von der primären Bezugsperson ausgeht. Besonders für Kinder und Jugendliche stellt diese Tatsache eine Überforderung dar, da sie durch den Vertrauensverlust, welchen Traumata mit sich ziehen, auch zu sich selbst kein Vertrauen aufbauen können. Die Auswirkungen betreffen alle Lebensbereiche der Mädchen und Jungen, da sie bestimmte soziale, emotionale sowie kognitive Kompetenzen nicht erlernen, die für das sichere Bestehen in der Gesellschaft von Nöten wären. Aufgrund dessen müssen Möglichkeiten gefunden werden, wie die Defizite auszugleichen sind. Häufig werden dazu Therapieangebote, wie z.B. Psychotherapien oder Verhaltenstherapien, herangezogen. Dem ist soweit nichts entgegenzusetzen, außer, dass sich die Beeinträchtigungen der traumatischen Erfahrung auch in andere Lebensbereiche, beispielsweise Kindergärten, Schulen oder Jugendeinrichtungen, niederschlagen. Dementsprechend müssen für Pädagogen Handlungsstrategien vorliegen, die sich als nützlich erweisen, die Bearbeitung traumatischer Erfahrungen zu unterstützen und den Kindern bzw. Jugendlichen helfen, ihre Geschichte aufzuarbeiten und aktiver Konstrukteur ihrer Zukunft zu werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundzüge der Bindungstheorie und -forschung
2.1. Theoretischer Hintergrund der Bindungstheorie
2.1.1. Biografisches
2.1.2. Historische Wurzeln
2.2. Die Eckpfeiler der Bindungstheorie
2.2.1. Vier Phasen der Bindungsentwicklung
2.2.2. Die Entwicklung des Bindungssystems
2.2.3. Interne Arbeitsmodelle
2.2.4. Bowlbys Studien über Verlust und Trauer
2.3. Die Eckpfeiler der Bindungsforschung
2.3.1. Die empirische Überprüfung - Mary Ainsworth
2.3.2. Der Fremde-Situations-Test - „Strange Situation“
2.4. Weitere Grundannahmen der Bindungstheorie und Bindungsforschung
2.4.1. Die Rolle des Vaters
2.4.2. Die Hierarchie der Bezugspersonen
2.4.3. Transgenerationale Zusammenhänge
2.4.4. Zur Neurobiologie einer sicheren Bindung
2.5. Zusammenfassung
3. Traumata bei Kindern
3.1. Begriffsbestimmung „Bindungstrauma“
3.2. Verlaufsmodell psychischer Traumatisierungen
3.3. Die Beziehung als Trauma
3.3.1. Traumatisierende Beziehungsmuster seitens der Bezugspersonen
3.3.2. Psychische Grundbedürfnisse in der Kindheit
3.3.3. Traumatische Affekte seitens des Kindes
3.4. Erklärungsansätze zur Entstehung von Misshandlungssituationen
3.4.1. „Cycle of Violence“
3.4.2. Psychopathologisches Modell
3.4.3. Soziologisches Modell
3.4.4. Sozial-situationales Modell
3.4.5. Eigenschaften seitens des Kindes
3.5. Auswirkungen von Bindungstraumata auf den kindlichen Organismus
3.5.1. Störungen der Ich-strukturellen Fähigkeiten
3.5.2. Bindungsstörungen
3.6. Zusammenfassung
4. Bindungstrauma im Kontext sozialpädagogischer Arbeit
4.1. Anforderungen an die Pädagogen
4.2. Bindungstrauma erkennen
4.3. Elternarbeit
4.4. Grundinterventionen
4.4.1. Aufbau einer Bindung und Schaffung eines sicheren Ortes
4.4.2. Selbstfindung
4.4.3. Aufbau von Selbstbemächtigung
4.4.4. Ressourcenaktivierung
4.5. Interdisziplinäre Vorgehensweise
4.6. Zusammenfassung
5. Fazit und Resümee
6. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Bindungssystem
Abb. 2: Explorationssystem
Abb. 3: Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung
Abb. 4: Der ,,sichere Ort"
Abb. 5: Zeitfenster des Lebensbuches
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Die Fremde Situation
Tabelle 2: Verfahren zur Klassifikation von Bindungsmustern
Tabelle 3: Ergebnisse des AAI
Tabelle 4: Auswahl einiger Abwehrmechanismen
Tabelle 5: Mögliche Kooperationspartner
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Bäume brauchen Wurzeln, das wei ß jedes Kind. Und ein kleiner Baum kann um so besser wachsen und gedeihen, je kräftiger seine Wurzeln sind, mit denen er sich im Erdreich verankert und seine Nährstoffe aufnimmt. Nur wenn es einem kleinen Baum gelingt, tiefreichende und weitverzweigte Wurzeln auszubilden, wird er später auch Wind und Wetter, ja sogar Stürme aushalten können. Gebauer & Hüther
Dieses Zitat von Gebauer und Hüther (2011) bezieht sich auf die kindliche Entwicklung, denn auch Kinder brauchen Wurzeln, die sie versorgen, stützen und tragen. In der Regel sind die Wurzeln die Eltern. Durch ihre Wärme und Geborgenheit verhelfen sie dem Kind, zu einem lebensbejahenden Individuum heranzureifen. Doch nicht alle Kinder haben das Glück in behüteten Familien aufzuwachsen. Täglich begegnen uns Kinder, die Opfer traumatischer Erfahrungen innerhalb ihres eigentlich sicher geltenden Nahbereichs wurden.
Die vorliegende Magisterarbeit setzt sich mit dem Thema „Bindungstrauma im Kontext sozialpädagogischer Arbeit“ auseinander und erörtert die Fragestellung, wie man mit bindungstraumatisierten Kindern und Jugendlichen im sozialpädagogischen Praxisfeld arbeiten kann.
Die Besonderheit von Bindungstraumata ist das Faktum, dass die Traumatisierung von der primären Bezugsperson ausgeht. Besonders für Kinder und Jugendliche stellt diese Tatsache eine Überforderung dar, da sie durch den Vertrauensverlust, welchen Traumata mit sich ziehen, auch zu sich selbst kein Vertrauen aufbauen können. Die Auswirkungen betreffen alle Lebensbereiche der Mädchen und Jungen, da sie bestimmte soziale, emotionale sowie kognitive Kompetenzen nicht erlernen, die für das sichere Bestehen in der Gesellschaft von Nöten wären. Aufgrund dessen müssen Möglichkeiten gefunden werden, wie die Defizite auszugleichen sind. Häu- fig werden dazu Therapieangebote, wie z.B. Psychotherapien oder Verhaltensthe- rapien, herangezogen. Dem ist soweit nichts entgegenzusetzen, außer, dass sich die Beeinträchtigungen der traumatischen Erfahrung auch in andere Lebensberei- che, beispielsweise Kindergärten, Schulen oder Jugendeinrichtungen, niederschla- gen. Dementsprechend müssen für Pädagogen Handlungsstrategien vorliegen, die sich als nützlich erweisen, die Bearbeitung traumatischer Erfahrungen zu unterstüt- zen und den Kindern bzw. Jugendlichen helfen, ihre Geschichte aufzuarbeiten und aktiver Konstrukteur ihrer Zukunft zu werden.
Die vorliegende Arbeit baut sich folgendermaßen auf:
Das zweite Kapitel setzt sich mit den Grundzügen der Bindungstheorie und - forschung auseinander. Denn Bindungen sind es, die diese Wurzeln entstehen las- sen und den Menschen von der Geburt bis ins hohe Erwachsenenalter begleiten. John Bowlby gilt als Pionier der Bindungstheorie. In den ersten zwei Gliederungs- punkten werden sein Leben sowie der historische Kontext und die Entwicklung der Bindung dargestellt. Abschließend wird skizziert, wie das Kleinkind auf den Verlust seiner primären Bezugsperson reagiert. Im dritten Teil des Kapitels steht Mary S. Ainsworth’s Arbeit im Mittelpunkt. Durch den von ihr entwickelten Fremde- Situations-Test, konnten die Annahmen der klassischen Bindungstheorie evaluiert werden. Das vierte Unterkapitel befasst sich mit einigen ausgewählten Grundan- nahmen der neueren Bindungstheorie und -forschung, welche unter anderem die Rolle des Vaters, den hierarchische Aufbau von Bindungspersonen sowie der Über- tragung von Bindungsmustern auf die nachfolgenden Generationen behandelt. In- zwischen gilt die Bindungstheorie als eines der am besten erforschten entwick- lungspsychologischen Lehren.
Im dritten Kapitel erfolgt eine Darstellung von Traumatisierungen in der Kindheit. Dazu wird anfangs eine allgemeine Definition zum Trauma erarbeitet, um sich lang- sam der Thematik des Bindungstraumata anzunähern. Bindungstraumata umfasst die Verhaltensweisen der primären Bezugspersonen, die das Kind schädigen und impliziert körperliche Misshandlung, sexuellen Missbrauch sowie körperliche und emotionale Vernachlässigung. Anschließend wird das Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung von FISCHER & RIEDESSER (2009) skizziert. Es beschreibt die Prozesse, die in einem Individuum ablaufen, wenn ein Trauma in das Leben eines Menschen eintrifft. Der dritte Gliederungspunkt diskutiert traumatische Beziehungs- muster. Erstens wird auf die Konzeption von BRASSARD & HARDY (2002) zurück- gegriffen, welche die Verhaltensweisen von emotional vernachlässigenden Eltern erörtert. Zweitens werden die vier von GRAWE (2004/2000) postulierten und empi- risch abgesicherten Grundbedürfnisse von Individuen skizziert, welche Kinder für eine erfolgreiche Entwicklung benötigen. Im letzten Punkt dieses Abschnittes wer- den die traumatischen Affekte auf Seiten der Kinder untersucht, welche sie aufgrund der Bindungstraumatisierung ausgebildet haben. Der daran anknüpfende Gliede- rungspunkt stellt fünf Modelle vor, die zu erklären versuchen, warum Eltern ihre Kin- der misshandeln. Da dieser Punkt bisher noch nicht konkret für Bindungstraumati- sierung untersucht wurde, wird auf allgemeine Modelle zur Kindeswohlgefährdung zurückgegriffen. Der fünfte Abschnitt erörtert die Auswirkungen von Bindungstraumata in Bezug auf Ich-strukturelle Defizite sowie den von BRISCH (2008) beschriebenen Bindungsstörungen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auf dem Gebiet der Bindungstraumatisierung noch einige Untersuchungen von Nöten sind, die den gesamten Umfang des Phänomens erfassen.
Wie bereits eingangs erwähnt, behandelt die vorliegende Magisterarbeit die Frage- stellung, wie man mit bindungstraumatisierten Kindern und Jugendlichen im sozial- pädagogischen Kontext arbeiten kann. Dies ist Aufgabe des vierten Kapitels. Nach einer kurzen Einführung in die Thematik der Sozialpädagogik sowie zur Traumapä- dagogik, werden einige Anforderungen an die Pädagogen dargestellt. Diese umfas- sen insbesondere Fachwissen zum Trauma, Selbstreflexion und Psychohygiene. Weitere Aspekte auf die Pädagogen im Umgang mit bindungstraumatisierten Kin- dern und Jugendlichen achten müssen, werden im Verlauf der einzelnen Glieder- punkte diskutiert. Dazu gehört u.a. wie man Bindungstraumata erkennen kann und wie mit den primären Bezugspersonen der Mädchen und Jungen in Kontakt getreten werden kann. Anschließend werden einige ausgewählte Interventionsmöglichkeiten skizziert. Diese beziehen sich auf den Aufbau einer Bindung sowie auf die Schaf- fung eines sicheren Ortes. Dieser Faktor stellt einen wichtigen Aspekt dar, denn nur in einer vertrauensvollen Beziehung und einem sicheren Ort können die Mädchen und Jungen wieder Zuversicht schöpfen und Geborgenheit erfahren. Darauf auf- bauend können Pädagogen mit den Kindern und Jugendlichen beginnen, die Le- bensgeschichte aufzuarbeiten. Dies bezieht sich besonders auf Mädchen und Jun- gen, die in stationären Institutionen aufwachsen. Des Weiteren wird durch die ver- trauensvolle Basis zwischen Pädagoge und Kind die Arbeit an der Selbstbemächti- gung möglich. Dies ist notwendig, damit die Kinder und Jugendlichen wieder aktiv an ihrem Leben beteiligt werden. Der letzte Abschnitt dieses Gliederungspunktes behandelt kurz die Ressourcenaktivierung. Abschließend wird die interdisziplinäre Vorgehensweise skizziert, welche schnellere Erfolgsaussicht verspricht.
Im abschließenden Kapitel erfolgen eine Zusammenfassung sowie eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik, in dem einige Lösungsansätze und Verbesserungsvorschläge gegeben werden.
2. Grundzüge der Bindungstheorie und -forschung
Die Bindungstheorie gründet auf den Beobachtungen und Untersuchungen des englischen Psychiaters und Psychoanalytikers Edward John Mostyn Bowlby (1907- 1990) und dessen Mitarbeiter/innen in den 50iger Jahren des 20. Jahrhunderts (Holmes 2006; Grossmann & Grossmann 2003).
Es ist ein umfangreiches Konzept, welches die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen von der Geburt an bis ins hohe Erwachsenenalter als Folge sozialer Er- eignisse beschreibt. Durch dieses Denkmodell wird es möglich, die Wechselwirkun- gen von seelischen Prozessen und äußeren Einflussfaktoren zu klären (Grossmann & Grossmann 2004).
Im Rahmen dieses Kapitels erfolgen die Bearbeitung des theoretischen Hintergrunds sowie die Eckpfeiler der Bindungstheorie. Darauf aufbauend wird die empirische Überprüfung durch Mary Ainsworth sowie die für die weitere Arbeit wichtigen Entwicklungen des Konzeptes erörtert, da ohne diese entwicklungspsychologische Theorie das Phänomen „Bindungstrauma“ nur schwer greifbar wird.
2.1. Theoretischer Hintergrund der Bindungstheorie
Im Folgenden wird zum einen die Biografie von John Bowlby dargestellt. Dort wird sichtbar, dass er sich sein Leben lang mit Kindern auseinandersetzte, die auffälliges Verhalten zeigten. Zum anderen wird die Bindungstheorie kurz in ihren historischen Kontext eingeordnet, um die damals vertretenen Theorien und Bowlbys Gedanken in einen Zusammenhang zu stellen.
2.1.1. Biografisches
John Bowlby, welcher die Bindungstheorie vor allem auf seine Erfahrungen mit el- ternlosen Heimkindern, dem von Spitz (1989) beschriebenen Hospitalismus- phänomen1 und den Reaktionen von Kinder auf längere Trennungen von ihren El- tern stützte, setzte sich sein Leben lang mit den Gründen, Auswirkungen und Inter- ventionsmöglichkeiten von frühen Beziehungsabbrüchen auseinander (Julius et al. 2009).
Bowlby begann 1925 an der Universität von Cambrigde sein Medizinstudium, wel- ches er mit einem erstklassigen Examen in den Grundlagenwissenschaften und in Psychologie abschloss. Daraufhin arbeitete Bowlby im Alter von 21 Jahren in einem psychoanalytisch orientierten Heim für verhaltensauffällige Kinder. Schon damals stellte Bowlby Hypothesen darüber auf, dass Störungen im Familienleben sowie frühe Trennungen von den Eltern Auswirkungen auf das Sozialverhalten von Kin- dern haben könnten. So entschloss er sich 1929 Kinderpsychoanalytiker zu werden, ein gerade erst aufkommender Beruf. Den Abschluss erlangte er 1933 (Julius 2009; Holmes 2006). 1936 erhielt Bowlby eine Anstellung in der Londoner Child Guidance Clinic. Dort erlangte er die Einsicht, dass die Psychoanalyse, von der sein damali- ges Denken stark geprägt war, tatsächliche Familienereignisse unberücksichtigt ließ, so dass er eigene Hypothesen entwickelte und veröffentlichte (Bretherton 2009).
Ende der vierziger Jahre erlangte Bowlby durch seine Forschungsarbeit2 (1951) „Maternal Care and Mental Health“3 (Dt. (1973): Mütterliche Zuwendung und geistige Gesundheit) für kurze Zeit Ruhm. In dem Werk beschäftigte er sich mit den Auswirkungen der frühen Mutterentbehrung und den Folgen von Heimunterbringung, ohne die Mechanismen zu erläutern, die zur Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung beitragen (Fonagy & Target 2006).
Eigene Studien, Goldfarbs4 (1945) Untersuchungen5 sowie Beobachtungen von Anna Freud und Dorothy Burlingham gaben Bowlby den Anlass zu vermuten, dass Kinder, die keine mütterliche Zuwendung bekommen, ernsthafte Defizite in der phy- sischen, psychischen und kognitiven Entwicklung aufweisen (Holmes 2006). Er stell- te die Hypothese auf, dass die Wahrscheinlichkeit für eine psychische Störung zu- nimmt, wenn Kinder negative Selbstbilder entwickeln oder wenn sie ihre Bindungs- beziehung idealisieren bzw. herabsetzen und so eine realistische Darstellung ver- wehrt bleibt (Scheidt 2007). Eine Haupttheorie ist der Deprivationszyklus6, welcher besagt, dass „[d]ie emotional deprivierten Kinder von heute […] die vernachlässi- genden Eltern von morgen [sein werden]“ (Holmes 2006, S.61), also dass psychi- sche Störungen von Müttern auf ihre Kinder übertragen werden. Eine Aussage, die durch neuere Studien belegt werden konnte (Kap.2.4.3.). Trotz des Ruhmes von „Maternal Care and Mental Health“ wurde der klinische Nutzen der Bindungstheorie vorerst nicht anerkannt, da er sich gegen die psychoanalytische Meinung stellte, dass der Säugling egoistisch sei und Bindung durch orale Triebbefriedigung erworben werde (Peichl 2008).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde John Bowlby Leiter der Kinderabteilung der Tavistock Clinic. Aufgrund der weiterhin bestehenden Diskurse mit der psychoanalytischen Theorie, gründete Bowlby eine eigene Forschergruppe, der u.a. Mary Ainsworth und James Robertson7 angehörten (Bretherton 2009).
Während Bowlbys weiterer praktischen Tätigkeit und durch die oben genannte Mo- nografie gelang es ihm, „ein für alle Mal die Wichtigkeit des umweltbedingten Trau- mas als Ursache von Neurosen und charakterlichen Störungen zu etablieren“ (Hol- mes 2006, S.19).
2.1.2. Historische Wurzeln
Im Rahmen seiner Bindungstheorie untersuchte Bowlby primär die Fragestellung wie der Charakter der Bindung beschaffen ist und wie sich die Bindung entwickelte. Als Grundlage dienten ihm die damals zwei vorherrschenden Theoriegerüste8: die Psychoanalyse und die Ethologie (Holmes 2006).
Die Psychoanalyse bietet zwei verschiedene Ansätze zur Darstellung der Mutter- Kind-Bindung an, die Triebtheorie und die Objektbeziehungstheorie. Erstere beruht auf Freuds klassischer triebtheoretischer Darstellung, dass das Neugeborene primär narzisstisch sei und sich dabei die Libido9 auf bestimmte eigene Körperregionen konzentriere10. Die orale Phase beruht auf der Annahme, dass der Mund als Nah- rungsaufnahmequelle als erstes zum Zentrum des Lustgewinns wird. Da die Brust der Mutter noch als zum eigenen Ich gehörend angesehen wird, gibt es erst einmal kein Objekt der Libido außerhalb des Ichs. So entsteht zwischen Mutter und Kind, durch das Geben von Nahrung, also der Entladung der kindlichen Libido, ein Band, also die Mutter-Kind-Bindung (Bischof-Köhler 2011). Wenn die Mutter bzw. ihre Brust nicht erreichbar ist, entsteht eine Spannung, d.h. die Nichtentladung der kind- lichen Libido, die vom Säugling als Angst empfunden wird. In späteren Werken wird die Theorie der Angst zur Theorie der Signalangst. Zwar bleibt die grundlegende Tatsache erhalten, dass Liebe durch die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse des Säuglings entsteht, dennoch versteht Freud Angst jetzt als ein Faktor, der entsteht, wenn ein Objektverlust der geliebten Person droht bzw. real ist. Kurz gesagt ist Bin- dung bei Freud etwas Erlerntes, durch die Erfahrungen des Säuglings, dass die Mutter seine primären Bedürfnisse befriedigen kann11 (Holmes 2006).
Der Wechsel von der Angst zur Signalangst war entscheidend zur Entstehung des zweiten Ansatzes, der Objektbeziehungstheorie. Vertreter dieser Theorie, insbeson- dere Winnicott, postulieren, dass sich das Neugeborene beim Vorgang der Fütte- rung und daraus ableitend, dem physischen Vorhandensein der Mutter, die engste Bezugsperson, als „gutes Objekt“ vorstellt. Analog dazu ist das Wegsein der Mutter oder eine „leere“ Brust ein „böses Objekt“. Dementsprechend liegt dieser Theorie die Annahme zugrunde, dass „das Kind von Geburt an psychisch wie physisch mit der Mutter und ihrer Brust verbunden“ (Ebd., S.83) ist. Bowlby kritisierte beide Theo- rien, da sie das Band zwischen Mutter und Kind als einen sekundären Trieb verste- hen, welcher nur auf die Erfüllung oraler Bedürfnisse bedacht ist. Den Theorien ge- lang es nicht, die Eigenständigkeit der Mutter-Kind-Beziehung zu betrachten (Ebd.).
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen der Bindungstheorie und der Objektbe- ziehungstheorie ist, dass das Ziel des Kindes nach Bowlby nicht das Objekt, z.B. die Mutter, ist, sondern am Anfang ein physischer Zustand, also die Nähe zur Mutter, welches sich nach und nach zu einem psychologischen Ziel entwickelt (Fonagy 2006; Holmes 2006). „Weil das Ziel kein Objekt, sondern ein Seins- oder Gefühlszu- stand ist, wird das Bindungsziel stark von dem Kontext beeinflußt, in dem das Kind lebt, das heißt, von der Reaktion der Bezugsperson, denn wenn das Kind sein Bin- dungsziel für erreicht hält, wird sich diese Wahrnehmung auf sein Verhaltenssystem auswirken“ (Fonagy 2006, S.15).
Hinzu kamen die Untersuchungen der Ethologie, die Bowlbys Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Hierbei setzte er sich insbesondere mit der Arbeit von Konrad Lorenz12 auseinander, der das Nachfolgeverhalten bestimmter Vogelarten beschrieb. Am Beispiel der von ihm untersuchten Graugans konnte Lorenz aufzeigen, dass die Gänse der ersten Person folgen, die sie erblicken (der Mutter oder auch einem Mutterersatz). Werden die kleinen Gänse von ihrer Mutter bzw. vom Mutterersatz getrennt, so stellt sich eine Angstreaktion (Piepsen, Suchen) ein. Kurz: Bindung und Fütterung stehen in keinem Zusammenhang (Holmes 2006).
Eine andere interessante Entdeckung beschreibt Harlow in seinen Experimenten mit Rhesusaffen, welche er bei der Geburt von ihrer leiblichen Mutter trennte. Harlow wollte damit seine These untermauern, dass Anklammern und entsprechender Kör- perkontakt wichtig seien. Die Rhesusäffchen wurden in einen Käfig gesperrt, der sowohl eine Plüschattrappe, welche Ähnlichkeit mit der Mutter hatte, als auch ein Drahtgestell, bei dem Nahrung befestigt war, enthielt. Es stellte sich heraus, dass sich die Äffchen die meiste Zeit bei der mit Frotteebezug bedeckten Mutterattrappe aufhielten und einzig und allein nur zur Fütterung zur Drahtmutter gingen (Bischof- Köhler 2011; Holmes 2006).
Aufgrund dieser Entdeckungen kam Bowlby zu dem Schluss, dass das Bindungsverhalten einem Verhaltenssystem13 angehört14, welches unabhängig vom Füttern besteht, aber aufgrund unserer evolutionären Vorgeschichte einen Sinn haben muss. So schlussfolgerte er, dass das Bindungssystem damals als Schutzschild gegenüber Raubtieren fungierte. Kinder sind aufgrund von Umweltgefahren auf den Schutz ihrer primären Bezugspersonen angewiesen. Diese Schutzbedürftigkeit ist im Laufe der evolutionären Entwicklung ebenso wie etwa das Bedürfnis nach Nähe erhalten geblieben. Dies wurde Bowlbys Meinung nach von der damaligen Psychoanalyse vernachlässigt (Fonagy 2006; Holmes 2006).
2.2. Die Eckpfeiler der Bindungstheorie
Es erfolgt die Bearbeitung der Eckpfeiler der Bindungstheorie. Dazu gehört, wie sich eine Mutter-Kind-Bindung entwickelt, welche Repräsentanzen ein Kind von seinen Bezugspersonen und sich entwickelt sowie Bowlbys Studien zu Verlusterfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Auch wenn sich Bowlby zwar direkt auf die Mutter bezog, legten neuere Untersuchungen nahe, dass auch andere Bezugspersonen eine Rolle spielen (Kap.2.4.).
2.2.1. Vier Phasen der Bindungsentwicklung
Bindung bezieht auf ein imaginäres Band, das zwischen Kindern und Eltern, aber auch anderen Personen, die das Kind ständig betreuen, herrscht. Bindung ist in den Gefühlen angelegt und verbindet das Kind über Raum und Zeit hinweg mit seinen wichtigsten Bezugspersonen (Grossmann & Grossmann 2008a).
Die Bindungsentwicklung lässt sich nach BOWLBY (1969) typischerweise in vier normative Phasen unterteilen, welche nachfolgend aufgeführt werden.
In der ersten Phase, die der unspezifischen sozialen Reaktion, kann der Säugling noch nicht zwischen Personen unterscheiden. Er ist zwar sehr empfänglich für menschlichen Kontakt, besonders für das Gesicht einer Person, aber seine ersten Reaktionen wie Schreien, Anschauen, an der Brust saugen sind eher reflexartig und an keine bestimmte Person gerichtet15. Die Phase umfasst etwa die ersten drei Monate (Grossmann & Grossmann 2008a; Holmes 2006).
In der unterschiedlichen sozialen Reaktionsbereitschaft zeigen sich die Anfänge der Bindungsbeziehung. Das Neugeborene kann nun zwischen fremden und vertrauten Personen unterscheiden. Es beginnt anders zu weinen, wenn eine vertraute Person weg geht, differenzierter zu schauen und auch die Arme auszustrecken, wenn es auf den Arm genommen werden möchte. Durch die feinfühligen Reaktionen der Hauptbezugsperson kommt es „zum Aufbau eines gegenseitigen Feedback- und Homöostasesystems“ (Holmes 2006, S.96). Diese zielorientierte Phase geht etwa bis zum sechsten Lebensmonat. Bei Vernachlässigung und/ oder plötzlichem Pflegewechsel kann ab dieser Phase mit Verstörungen und Deprivation gerechnet werden (Grossmann & Grossmann 2008a; Holmes 2006).
Durch körperliche und geistige Entwicklungsfortschritte leitet sich in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres die Phase des zielkorrigierten Bindungsverhaltens ein, die den Anfang der eigentlichen Bindung markiert (6 Monate bis 3 Jahre). Ge- kennzeichnet ist diese Phase durch den Beginn der selbstständigen Fortbewegung und einem komplexeren Kommunikationssystems. Das Baby ist nun selbst in der Lage zu entscheiden, wie weit es sich von der Mutter entfernen möchte. Bei unfrei- williger Trennung fängt es an zu protestieren oder ihr nach zu krabbeln. Die Kinder lernen ihre Umwelt mental kennen und gleichzeitig zu bewerten. Eine fundamentale Voraussetzung ist das von Piaget beschriebene Prinzip der Objektpermanenz. Säuglinge sind ca. ab dem neunten Monat in der Lage zu verstehen, dass Objekte, Gegenstände und Personen auch noch gegenwärtig sind, wenn diese gerade nicht im ihrem Blickfeld vorzufinden sind (Ebd.).
Erst ab vier Jahren mit dem Spracherwerb des Kleinkindes läutet sich die letzte Phase der Bindungsentwicklung, die der zielkorrigierten Partnerschaft, ein. Der Säugling konnte vorher nicht verstehen, warum die Bindungsperson manchmal seine Wünsche erfüllte und dann wieder nicht. Durch das Verständnis der Bedeutung von Wörtern kann es Interessenkonflikte zwischen eigenen Wünschen und Absichten der Mutter begreifen. So wird auch eine vorübergehende Nichtverfügung der Bezugspersonen nicht als Zurückweisung interpretiert (Ebd.).
2.2.2. Die Entwicklung des Bindungssystems
Anders als die Vertreter der Psychoanalyse ging Bowlby von vier evolutionär vorgegebenen Verhaltenssystemen aus. Die Systeme, die im Anschluss im Einzelnen dargestellt werden, bezeichnet man als Bindungs-, Explorations-, Furcht- und Affektsystem (Waller 2006).
Das Bindungssystem gilt als Ausgangspunkt der Verhaltenssysteme. Es bezeichnet den Umstand, zwischen Kind und Eltern größtmögliche Nähe herzustellen. Die Be- treuungsperson übernimmt dabei die Funktion einer sicheren Basis16 und bietet die Voraussetzung zur Selbstentfaltung und Welterkundung. Sichere Basis meint, dass die Mutter als fester Bezugspunkt existiert, in der sich das Kind in Gefahren- bzw. Angstsituationen flüchten kann. Bowlby verwies immer wieder auf das Bedürfnis von Kleinkindern, eine feste wie auch sichere Bindung zur Mutter, oder einer anderen gleichwertigen Bezugsperson, zu entwickeln. Die Bindung fasste er als Vorausset- zung für das Überleben des Säuglings auf, da sie Geborgenheit, Nahrung, Informa- tionen, soziale Interaktionen oder auch Schutz vor Gefahren bietet. Und nur in einer geschützten Atmosphäre ist eine emotionale und kognitive Entwicklung möglich (Strauß et al. 2010; Brisch 2008; Fonagy 2006; Bowlby 2001a).
Die zweite Komponente bildet das Explorationssystem (lat. explorare = erforschen), welches antithetisch zum Bindungsverhalten, und doch mit ihm verbunden ist. Die primäre Bezugsperson, die als sicherer Hafen fungiert, bildet die Basis von der aus das Kind die Umgebung erkunden kann. Wenn das Kind bemerkt, dass die Bin- dungsfigur abwesend ist, wird das Furcht- bzw. Angstsystem aktiviert. Das Explora- tionsverhalten wird eingestellt und das Bindungsverhalten wird aktiviert. Sobald die Fürsorgeperson wieder verfügbar ist, vermindert sich die Angst vor dem Reiz, der das Furchtsystem mobilisiert hat und das Kind geht seinem natürlichen Explorati- onsverhalten weiter nach. Solche Trennungen sind für ein Kleinkind besonders belastend, weil sie Gefühle der Hilflosigkeit und des Alleinseins entstehen lassen (Julius et al. 2009; Brisch 2008; Brisch 2007a). Das Bindungs-, Explorations- und Furchtsystem sind permanenter wechselseitiger Beeinflussung unterlegen und regulieren gemeinsam die Entwicklungsanpassung (Fonagy 2006).
Die letzte Komponente bildet das Sozial- bzw. Affektsystem. Es beschreibt „[d]ie Neigung des Kindes, Gesellschaft zu suchen, wenn das Furchtsystem nicht erregt ist“ (Fonagy 2006, S.15). Das Affektsystem gliedert sich noch einmal in das Zuneigungssystem, dieses ist für die Zuweisung positiver Affekte und Beziehungen verantwortlich, und das Sicherheitssystem, welches die Grundlage für die Entwicklung von Verhaltensstrategien zum Umgang mit Angst und der Minimierung negativer Emotionen bildet (Ahnert 2008, Fonagy 2006).
Anhand der folgenden Abbildungen (Abb.1 & Abb.2) soll das Zusammenspiel veranschaulicht werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Bindungssystem (in Anlehnung an Bolm (2009), S.34).
Die Abbildung (Abb.1) verdeutlicht, dass die Angst das Explorationssystem blockiert und das Bindungssystem, also die Nähe zur primären Bezugsperson, aktiviert wird. Ist die Gefahr vorüber und erlangt das Kind seine alte Sicherheit wieder (Abb.2), kann es explorieren (Bolm 2009).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Explorationssystem (in Anlehnung an Bolm (2009), S.35).
Diese evolutionär vorgegebenen Verhaltenssysteme des Kindes bestehen aus an- geborenen Signalverhaltensweisen, psychologischen Mechanismen, mit der Funkti- on, den Kontakt zwischen Mutter und Kind herzustellen (Fonagy 2006). Dies um- fasst erstens alles, was die Mutter dazu bewegt, sich dem Kind anzunähern, wie Weinen, Lächeln, Brabbeln oder Rufen (Signalverhalten). Und zweitens, all die Ver- haltensweisen, bei dem das Kind die aktive Rolle übernimmt, um die Verbindung zur Bezugsperson nicht zu verlieren, wie Anklammern, Saugen, Nachkrabbeln bzw. - laufen (Annäherungsverhalten). Diese Verhaltensweisen werden innerhalb des ers- ten Lebensjahres in das Bindungsverhaltenssystem transformiert (Julius 2009; Wal- ler 2006).
„Zum Aufbau der Bindungsbeziehung trägt der Erwachsene mit seinem ebenfalls biologisch determinierten ‚Pflegeverhalten‘ bei, indem er sich den Wünschen und Bedürfnissen des Kindes zur Verfügung stellt und die Signale des Kindes beantwor- tet“ (Hédervári-Heller 2011, S.59). Dieses sogenannte Fürsorgeverhaltenssystem des Erwachsenen soll dem Kind Schutz bieten und die Überlebenssicherung ge- währleisten. Eine optimale Entwicklung des Kindes ist dann gegeben, wenn die Sys- teme fein aufeinander abgestimmt sind und die Bindungsperson angemessen und konstant auf die Bedürfnisse des Säuglings reagiert (Grossmann & Grossmann 2004; Main 2001; Seiffge-Krenke 2009).
Doch nicht jedes Weinen oder jede Suche nach Nähe kann als Bindungsverhalten interpretiert werden. Dies muss immer in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext, also von der inneren, z.B. Krankheit oder Hunger, oder äußeren, wie beispielsweise die Abwesenheit der Bindungsfigur oder bedrohliche Situationen, „Gefahr“ betrachtet werden, in dem sich das Kind befindet. Kurz: Das Bindungsverhalten ist kontextab- hängig (Grossmann & Grossmann 2004; Seiffge-Krenke 2009). Es wird aktiviert, wenn eine angstauslösende Situation eintritt und das Kind die Hilfe der Bindungsfi- gur braucht (Hédervári-Heller 2011).
2.2.3. Interne Arbeitsmodelle
Eine weitere bedeutende Leistung Bowlbys Theorie ist die Annahme der sogenannten „Inneren Arbeitsmodelle“17 (inner working model; internal working model) eines Individuums (Holmes 2006).
Bowlby wurde zwar von der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie („Inneres Objekt“) inspiriert, allerdings hob er sich insofern davon ab, dass für ihn auch hier die Phantasien zu sehr im Vordergrund standen. Stattdessen äußerte er die Hypo- these, dass die Bindungsrepräsentationen auf realen Ereignissen mit den primären Bezugspersonen fußen (Bretherton 2001). In den Arbeiten von Craik und Young zur Künstlichen Intelligenz fand Bowlby schließlich, wonach er suchte. Diese Annahme besagt, dass Individuen innere Arbeitsmodelle von sich und ihrer Umwelt besitzen, welche dem Menschen ermöglichen bestimmte Situationen erst einmal mental ab- laufen zu lassen, um eine optimale Lösung für die bestehende Problematik zu fin- den (Bretherton 2001; Waller 2006).
Eine weitere Parallele gibt es auch zum kognitionspsychologischen Ansatz von Pia- get zum Aufbau mentaler Abläufe18. „Nach Piaget sind selbst Säuglinge aktive Ge- stalter ihrer eigenen Entwicklung, indem sie die Welt durch Aktionen mit Objekten und Interaktionen mit Personen in sich aufnehmen“ (Bretherton 2001, S.16). Von der Geburt an wird ein System von Schemen entwickelt, welche Säuglinge nach und nach verinnerlichen. In den frühen Kindheitsjahren stehen innere Arbeitsmodelle zur Verfügung, die sich nur für kurzfristige Vorhersagen eignen. Mit Zunahme des Erin- nerungsvermögens und der Sprachfähigkeit entwickeln sich komplexere innere Mo- delle, die z.B. längerfristiges Planen oder Ideenaustausch ermöglichen (Bretherton 2001).
Durch die wechselseitige Bindungsbeziehung konstruiert sich das Kind seine eigene Welt, inklusive der Sichtweise der Bindungsfigur, und entwickelt mentale Repräsen- tationen von sich selbst und anderen, die Vermutungen implizieren, wie nahe Be- ziehungen ablaufen, ob andere Menschen vertrauenswürdig sind und ob man selbst der Wertschätzung durch andere wert ist (Strauß et al. 2010). Die sich wiederholen- den Erfahrungen, positive wie negative, zwischen Bezugsperson und Kind werden im Gedächtnis verinnerlicht und generalisiert, wodurch die mentalen Repräsentatio- nen, besonders die, welche in den ersten Lebensjahren aufgebaut wurden, relativ stabil und selten durch später gemachte Erfahrungen verändert werden können. Es wird davon ausgegangen, dass die Möglichkeit mentaler Teilarbeitsmodelle besteht, also verschiedene Bezugspersonen bringen unterschiedliche Bindungsbeziehungen und somit andere Arbeitsmodelle zum Vorschein (Fremmer-Bombik 2009; Strasser 2007; Holmes 2006).
2.2.4. Bowlbys Studien über Verlust und Trauer
Die Theorie der Trauer ist prinzipiell eine Weiterentwicklung Bowlbys Theorie über Trennungsangst, welche immer dann auftritt, wenn die Nähe zur geliebten Person, egal ob in der Eltern-Kind-Beziehung oder in Partnerschaften, gefährdet ist. „Zur Trennungsangst gehören subjektive Gefühle der Sorge, der Anspannung und des Schmerzes […] [sowie] eine rastlose Suche nach der vermissten Person“ (Holmes 2006, S.113).
Die ersten Studien beruhten auf retrospektiven Untersuchungen19 von Kindern und Jugendlichen, die einen frühen Verlust ihrer Mutter erfahren mussten. In den syste- matischen Darstellungen beschrieb Bowlby die psychische Reaktion auf die Tren- nung. Er vermutete, dass die Angst eine normale Reaktion auf einen realen bzw. drohenden Verlust darstellt und dass bei einer tatsächlichen Trennung dem aktiven Protest eine besondere Bedeutung zukommt, denn „[e]ine heftige Reaktion ist nor- mal, und eine apathische Resignation ist ein Zeichen einer ungesunden Entwick- lung“ (Bowlby 1965 zitiert nach Holmes 2006, S.111). Darüber hinaus geht Bowlby davon aus, dass die Reaktion auf ein Trennungstrauma biologisch vorprogrammiert ist (Fonagy 2006; Holmes 2006).
Die Anatomie der Trauer
BOWLBY (2006)20 beschreibt die normale Trennungsreaktion, bestehend aus drei Phasen: Protest, Verzweiflung und Trennung bzw. Ablösung.
Als erstes nimmt das Kind die Trennung wahr. Durch Weinen, Wut, Suche nach der vermissten Person usw. wird der Protest, welcher etwa eine Woche dauert und sich meistens nachts verstärkt, ausgedrückt. Nach Bowlby steht die Suche im Mittelpunkt der Trauerreaktion. Des Weiteren wird die Trennung immer wieder psychisch durchgespielt. Holmes (2006) spricht von einer „zwanghaften Handlungswiederholung“ (S.114), mit dem Wunsch einen gemachten Fehler zu entdecken und diesen wieder rückgängig machen zu können, also die Vergangenheit abzuändern. Da nach Bowlby die verlorene Person im Mittelpunkt der Trauerreaktion steht, sah er in der mentalen Suche den Versuch diese wiederzufinden und mit ihr vereint zu werden (Bowlby 2006; Fonagy 2006; Holmes 2006).
Eine wichtige Rolle schrieb BOWLBY (2006) der Wut zu, welche bei einer vorüber- gehenden Trennung das Ziel hat „die Wiedervereinigung und die Verhinderung einer erneuten Trennung“ (S.236) durchzusetzen sowie bei einer dauerhaften Trennung, z.B. durch den Tod einer geliebten Person, hat wütendes Verhalten den Zweck zu akzeptieren, dass der Verlust wahr und die Person für immer weg ist, aber dass das Leben weitergehen muss.
In der zweiten Phase, die der Verzweiflung, nehmen die körperlichen Bewegungen stetig ab, das Schreien wird eintönig oder kommt nur zu bestimmten Zeiten. Das Kind ist traurig und zieht sich vor Kontakten zurück. Auch konnte man feststellen, dass es sich gegenüber anderen Kindern oder dem Lieblingsspielzeug aggressiv verhält. Kurz gesagt, trauert das Kind um den Verlust (Bowlby 2006; Fonagy 2006).
Die letzte Phase der Trennung führt zur Rückkehr in die Gesellschaft. Es lehnt Kör- perkontakte zu anderen nicht mehr zwangsläufig ab, sondern versucht sich andere sichere Bindungen aufzubauen. Dies ist abhängig von den Umweltgegebenheiten. Das Kind erkennt, dass man eine alte Beziehung aufgeben muss, um neue Bindun- gen zu wagen. Dies ist auch die Arbeit, die die Trauer verrichtet (Bowlby 2006; Hol- mes 2006).
2.3. Die Eckpfeiler der Bindungsforschung
Dieser Abschnitt setzt sich mit der klassischen Bindungsforschung auseinander. Eine wichtige Vertreterin war Mary Ainsworth, welche den sogenannten Fremde- Situations-Test evaluierte. In diesem Zusammenhang werden vier Bindungsmuster dargelegt, welche im Verlauf der weiteren Arbeit immer wieder thematisiert werden.
2.3.1. Die empirische Überprüfung - Mary Ainsworth
Mary Ainsworth (1913-1999) studierte an der Universität von Toronto Psychologie. Dort traf sie auf den Sicherheitstheoretiker William Blatz und machte sein Konzept zum Gegenstand ihrer Dissertation „Concept of Security“ (1940). Diese besagt, dass Kleinkinder Sicherheit und Vertrauen in ihr Gegenüber entwickeln müssen, um sich unbekannten Situationen stellen zu können. Von der sogenannten „secure base“ (sichere Basis; sicherer Hafen)21, der primären Bindungsfigur, ist es dem Kind mög- lich, zu explorieren. Dabei lernt es, dass man sich auf andere Menschen, aber auch auf sich selber, verlassen kann. Wenn der Ablösungsprozess zu den Eltern beginnt, treten an diese Stelle Freunde und Partnerschaften (Strauß et al. 2010; Bretherton 2009).
Ab 1948 beschäftigte sich Ainsworth mit der Trennung von Mutter und Kind, bis sie sich 1950 der Forschergruppe um John Bowlby anschloss. Sie hob in ihren Untersuchungen die Wichtigkeit der „maternal sensitivity“ (mütterliche Feinfühligkeit) hervor, worunter sie die Fähigkeit der primären Bezugsperson verstand, Signale des Kindes richtig zu interpretieren, um anschließend prompt und angemessen darauf zu reagieren (Bretherton 2009; Peichl 2008).
Ihre beiden bahnbrechenden Feldstudien22 zur Mutter-Kind-Beziehung zeigten, dass Kinder, die kein Explorationsverhalten zeigten, Probleme mit der Bindung hatten. Ainsworth kam zu der Annahme, dass die Mutter-Kind-Interaktionsqualität zu unterschiedlichen Bindungsmuster bei Säuglingen führt (Bischof-Köhler 2011).
In den achtziger Jahren gelang es Ainsworth und Mitarbeitern, die Balance zwi- schen Bindung und Exploration als zentrale Analyseeinheit zu operationalisieren und Bowlbys theoretisches Gerüst der Bindungstheorie zum Teil zu standardisieren (Strauß et al. 2010). Sie entwickelten den Fremde-Situations-Test (1978), der streng genommen keinem psychologischen Test bzw. Experiment entspricht, sondern ei- nem provozierten Mini-Drama gleicht (Grossmann & Grossmann 2008a). Er dient zur Erfassung des Bindungsverhaltens in der Mutter-Kind-Beziehung (Peichl 2008).
2.3.2. Der Fremde-Situations-Test - „Strange Situation“
Der Fremde-Situations-Test (FST) wird in einem Labor durchgeführt, welches einem Spielzimmer gleicht und dem Kind vollkommen unbekannt ist. Neben der Mutter und ihrem Kind, im Alter von 12 bis 18 Monaten, ist eine unbekannte, also fremde Person beteiligt (Brisch 2008).
Der Test besteht aus acht aufeinander folgenden Episoden, die, sofern das Verhal- ten des Kindes nicht vorher einen Abbruch erfordert, jeweils drei Minuten dauern. Die insgesamt ca. zwanzigminütige Sequenz wird auf Video aufgezeichnet, um eine bessere Auswertung der Trennungs- und insbesondere der Wiedervereinigungs- phasen zu gewährleisten. Erfasst wird das Zusammenwirken zwischen Explorati- ons- und Bindungsverhalten unter ansteigendem Stresspegel auf Seiten des Kindes (Bischof-Köhler 2011; Waller 2006).
Die Phasen setzen sich wie folgt zusammen:
Tabelle 1: Die Fremde Situation (in Anlehnung an Waller (2006), S. 67).
Episode Beschreibung der Episode
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Entsprechend Bowlbys Beschreibungen vom Zusammenspiel des Bindungs- und Erkundungsverhalten wird davon ausgegangen, dass die zwei Trennungsphasen das Bindungssystem des Kindes aktivieren, welches durch die Wiederkehr der Be- zugsperson deaktiviert wird und wodurch das Kleinkind sein exploratives Verhalten wieder aufnehmen kann. Dabei spielt die Hauptbezugsperson eher eine passive Rolle, da die unmittelbare Reaktion des Kindes auf die wiederkommende Bezie- hungsfigur als Quelle der Sicherheit und Fürsorge zu Rückschlüssen auf die Quali- tät der Bindung führt (Bischof-Köhler 2011; Grossmann & Grossmann 2008a).
Die Quantifizierung erfolgt auf zwei Ebenen. Erstens wird das Verhalten während der Wiederbegegnung mithilfe vier Ratingskalen beurteilt. Diese sind:
1. die Suche nach Nähe und Körperkontakt,
2. die Aufrechterhaltung von Nähe und Körperkontakt,
3. der Widerstand gegen Nähe und Körperkontakt und
4. die Vermeidung von Nähe und Körperkontakt zur Mutter (Grossmann & Grossmann 2008a).
„Nach Sroufe (1996) erfassen alle vier Skalen die Effektivität, mit welcher das Kind die Bindungsfigur zur Regulation seiner Emotionen heranziehen kann“ (Waller 2006, S.68). Zweitens werden die Verhaltensmuster der FST im vorgegebenen Schemata klassifiziert (Grossmann & Grossmann 2008a).
Die Bindungsmuster
Anhand dieser standardisierten Methode konnten Ainsworth et al. drei unterschiedli- che Muster der Emotionsregulierung von Kleinkindern differenzieren, die im Folgen- den dargestellt werden. Neben dem dargelegten Verhalten der Kinder folgt eine Beschreibung, wie sich die Mütter wahrscheinlich in ihrer gewohnten Umgebung verhalten.
Sichere Bindung (Typ-B Bindung)23
Bei beiden Trennungssequenzen zeigen diese Kinder deutliches Bindungsverhalten. Sie folgen ihrer Mutter, rufen, weinen und sind gestresst. Bei den Wiedervereinigungsphasen äußern sie zwar ihre Missstimmung über die Trennung, dennoch freuen sie sich und suchen nach Körperkontakt. Die Kinder lassen sich schnell beruhigen, können bei der Bezugsperson entspannen und beginnen nach kurzer Zeit wieder mit dem Spiel. Die Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten ist ausgewogen (Brisch 2008; Grossmann & Grossmann 2008a).
Die Mütter in sicheren Bindungen reagieren angemessen und prompt auf die Signale ihres Kindes, sie kommunizieren und nehmen ihr Kind auch bei negativen Gefühlsäußerungen wahr (Grossmann & Grossmann 2008a).
Allgemein gesprochen besitzt das Kleinkind das Vertrauen in eine feinfühlige und unterstützende Bindungsfigur, sodass es sich auf die Exploration konzentriert bzw. macht es sich in belastenden Situationen auf die Suche nach emotionaler Nähe und lässt sich auch von anderen Personen trösten, wenn die primäre Bezugsperson gerade nicht da ist. Bei Äußerungen negativer Emotionen kann das Kind Trost und Beruhigung erwarten (Gloger-Trippelt 2008).
Das bedeutet nicht, dass ein sicher gebundenes Kind nie besorgt oder misstrauisch ist, sondern es weiß, dass es auf die Hilfe, Unterstützung und das Mitgefühl der Bindungspersonen vertrauen kann (Bretherton 2001).
Unsicher-vermeidende Bindung (Typ-A Bindung)
Diese Kinder protestieren bei der Trennung nur gering. In den Wiedervereinigungs- phasen lenken sie ihre Aufmerksamkeit eher auf die Sachumwelt, als zu der mit negativen Gefühlen besetzten Bindungsfigur, welche häufig mit einem ablehnenden und distanzierten Verhalten empfangen wird. Es ist kein deutliches Bindungsverhal- ten sichtbar. Auch wenn jetzt der Eindruck entsteht, dass diese Kinder keine Belas- tung kennen, so konnte durch physiologische Parameter gezeigt werden, dass die Herzschlagfrequenz anstieg, sobald die Mutter den Raum verließ. Nach dem FST kam es zu einem erhöhten Kortisolspiegel24, welcher den Stresspegel wiedergibt. Bei Kindern in sicheren Bindungen kam es nicht zu dieser Erhöhung (Brisch 2008; Grossmann & Grossmann 2008a).
Mütter in vermeidenden Bindungen sind eher auf die Förderung des Explorationsverhaltens bedacht. Auf dieses Verhalten ihres Kindes sind sie stolz und belohnen es beispielsweise mit Aufmerksamkeit. Anderseits greifen die Mütter beim Spielen oft ein, wenn sie meinen, dass ihr Kind „nicht richtig“ spielt und wollen ihnen vorschreiben, womit sie sich gerade beschäftigen sollen. Bei Frustration des Kindes reagieren sie zögerlich, teilweise auch ärgerlich und weisen ihr Kind, außer bei der Versorgung, eher zurück. Das bedeutet nicht, dass diese Mütter ihre Kinder generell ablehnen, sondern sie möchten ihr Kind stark machen, durch Ignoranz von Leid oder Schwäche (Grossmann & Grossmann 2008a).
Durch Zurückweisung, wenn das Kind z.B. negative Gefühle zeigt, betrachtet es sich als nicht liebenswert und konzentriert sich somit eher auf die Sachumwelt, als auf zwischenmenschliche Interaktion. Dies impliziert, dass die Kinder auch bei großer Belastung nicht in der Lage sind, sich emotionale Unterstützung, vielleicht bei anderen Personen, zu suchen, geschweige denn diese zu akzeptieren (GlogerTrippelt 2008; Grossmann & Grossmann 2008a).
Unsicher-ambivalente Bindung (Typ-C Bindung)
Diese Kinder zeigen den größten Stress bei den Trennungsphasen und lassen sich auch bei der Rückkehr der Bindungsfigur kaum beruhigen. „In der Regel braucht es längere Zeit, bis diese Kinder wieder einen emotionalen stabilen Zustand erreicht haben“ (Brisch 2008, S.47). Während der Wiedervereinigung streben die Kleinkinder gleichzeitig nach Nähe und Distanz, das heißt, sie suchen Körperkontakt, wenden sich im selben Moment durch z.B. Strampeln, Schlagen etc. ab (Waller 2006).
Es scheint, als ob das Kind ständig nach einer anwesenden Beziehungsperson ver- langt und dabei laufend um ihren Verlust fürchtet. Da diese Kleinkinder eine sehr niedrige Schwelle haben, bei der ihr intensives und lautes Bindungsverhalten aus- gelöst wird, ist es auch von neuen Umgebungen und Personen sofort verängstigt. Auch wenn die Bindungsfigur bei der Wiedervereinigung vermehrt Zuwendung ge- währleistet, lassen sich die Kinder nur schwer beruhigen (Grossmann & Grossmann 2008a).
Die Mütter in unsicher-ambivalenten Bindungen sind einmal sehr einmischend, dann vernachlässigend; einmal zugewandet, dann ignorierend, kurz: sehr inkonsequent in ihrem Verhalten. Untersuchungen zeigten, dass die Mütter ihre eigenen Absichten und Wünsche in den Vordergrund stellten. Sie trösten das Kind oder schmusen mit ihm, wenn sie Lust dazu hatten. Anders als die vermeidenden Mutter-Kind- Beziehungen scheinen die Mütter hier ständig Zugriff auf ihr Kind haben zu wollen (reagieren aber nur, wenn sie es möchten) und somit die Exploration und die Unab- hängigkeit des Säuglings unterdrücken. So bleibt die Reaktion der Mutter für das Kind kaum vorhersehbar. Die sich daraus ergebene Folge ist eine verstärkte Ten- denz, eigene Äußerungen zu übertreiben, um sich Gehör zu verschaffen. In unbe- kannten Situationen verstärkt sich diese Absicht zunehmend (Ebd.).
Verallgemeinernd betrachtet, sieht sich dieses Kind aufgrund einer inkompetenten Fürsorgeperson entweder als hilflos und passiv, oder reagiert ärgerlich und aggressiv. „Sein Selbstkonzept in Bezug auf Beziehungen enthält Vorstellungen sehr geringer eigener Kompetenz“ (Gloger-Trippelt 2008, S.45).
Unsicher-desorganiserte Bindung (Typ-D Bindung)
Die Untersuchungen von Main und Solomon brachten eine weitere Dimension zum Vorschein, die sich nicht in die anderen drei organisierten Muster eingliedern ließ. Das sogenannte desorganisierte bzw. desorientierte Bindungsmuster25 lässt keine konsequente Bindungsstrategie erkennen (Peichl 2008).
[...]
1 Die Forschungsergebnisse finden sich zusammengefasst in seinem Werk „ Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr “ (1989).
2 Diese Untersuchung schrieb Bowlby im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation, um das Schicksal heimatloser Kinder der Nachkriegszeit festzuhalten (Strauß et al. 2010).
3 Die Monografie wurde 1953 unter dem Titel „Child Care and the Growth of Love“ ein Bestseller (Holmes 2006).
4 William Goldfarb (1915-1995), amerikanischer Psychologe, war für einen New Yorker Pflegekin- derdienst tätig. Er verglich Pflegekinder, die vor dem 3.Lebensjahr ins Heim kamen, mit Kindern, die in der Zeit noch bei der Mutter lebten. Die meisten Kinder, die früh ins Heim kamen waren unbeliebt, zeigten übertriebende Angst, hatten Konzentrationsstörungen, usw. (Kindler et al. 2010; Lausch 1973).
5 Allerdings muss man festhalten, dass Bowlby seine Ergebnisse auf sehr kleine Stichproben (seine Untersuchungen 14 Delinquente, Goldfarbs Vergleich 15 Jugendliche) ohne Kontrollgruppe stützte - in unserer heutigen wissenschaftlichen Vorgehensweise, ein Ding der Unmöglichkeit (Holmes 2006).
6 Deprivation (von lat. deprivare, „berauben“) ersetzte den Hospitalismusbegriff und bedeutet der vollständige oder teilweise Entzug emotionaler Zuwendung (Städtler 2003).
7 James Robertson arbeitete als Hausmeister in Anna Freuds Kinderheim und wurde später Analytiker und Filmemacher. Das Ergebnis der Zusammenarbeit von Robertson und Bowlby war der berühmte Film „A Two-year-old Goes to Hospital". Dieser zeigt die starke Trauer eines Kindes, dass von der Mutter getrennt wurde. Dieser Film bewirkte freiere Regelung der Besuchszeiten in Kinderkranken- häusern (Holmes 2006).
8 Weitere Ansätze, die in Bezug zu Bowlbys Bindungstheorie gesehen werden, finden an passender Erwähnung.
9 Unter Libido verstand Freud „eine sexuelle Form physischer Energie“ (Wettig 2009, S.96), die nicht real ist, sondern zur theoretischen Erklärung für psychische Anpassungsstörungen im Kopf des Analytikers vorherrscht (Wettig 2009).
10 Die sogenannte orale, anale und genitale Phase (Bischof-Köhler 2011).
11 Auch die Lerntheorie geht davon aus, dass das Band zwischen Mutter und Kind „ein sekundärer Trieb sei, der auf Erfüllung oraler Bedürfnisse beruhe“ (Fonagy 2006, S.12).
12 Mary Ainsworth (Kap.2.3.) glaubte, dass Bowlby die Idee der Bindung wie ein Blitz traf, als er
1952 Lorenz‘ und Tinbergens Arbeiten las. Bowlby ging fest davon aus, dass der ethologische Ansatz für die Psychoanalyse entscheidend sein könnte (Holmes 2006).
13 Ein Begriff, der durch die Ethologie entstand (Fonagy 2006).
14 Dies gilt als wichtiger Punkt, wenn man die Streitigkeiten zwischen Psychoanalyse und Bindungs- theorie verstehen möchte. Das Verhaltenssystem der Bindung entsteht durch eigene Motivation und ist nicht auf einen anderen Trieb zurückzuführen. Es beweist, dass Füttern nicht im Zusammenhang mit Bindung steht und erklärt, warum ein Kind auch zu misshandelnden Eltern eine Bindung aufbaut (Fonagy 2006).
15 Auch wenn die meisten Mütter das so interpretieren (Holmes 2006).
16 Ein Begriff der von Mary Ainsworth eingeführt wurde.
17 Horowitz bezeichnet innere Arbeitsmodelle als „Role Relationship Model“. Grawe spricht von einem Beziehungsschema (Grawe 2000).
18 Siehe dazu Assimilation und Akkomodation bei Piaget, z.B. IN: Schülter, C. (2007): Die wichtigsten Psychologen im Porträt. Marix: Wiesbaden. S.109-117.
19 Durch die Betonung der Beobachterperspektive wurde Bowlby von Vertretern der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft vorgeworfen, dass er die Innenwelt des Individuums nicht mit einbezieht (Strauß et al. 2010).
20 In Zusammenarbeit mit dem Ehepaar Robertson (Bowlby 2006).
21 Dies wurde bereits von Erikson als „Urvertrauen“ betitel (Grawe 2000).
22 Das Uganda-Projekt (1967) und das Baltimore-Projekt (1978) (Bischof-Köhler 2011).
23 Für jede Gruppe gibt es noch Subgruppen. Bei dem sicheren Bindungsmuster finden sich vier, bei der vermeidenden und ambivalenten jeweils zwei Untergruppen (Dornes 2000). Dornes (2000) verweist auf die ausführliche Darstellung von Hédervári (1995).
24 Cortisol ist ein Stresshormon, dass, wenn es in hohen Mengen ausgeschüttet wird, eine toxische Wirkung entfaltet, die Teile des Gehirns schädigt und zerstören kann. Bei wiederholten hohen Ausschüttungen von Cortisol passt sich der Organismus an und reduziert den Wert, so dass sich eine Widerstandskraft gegen Stress entwickelt (Fonagy 2006).
25 „Desorganisation ist kein eigenes, also viertes Bindungsmuster, auch wenn es aus statistischen Gründen oft vereinfacht als solches dargestellt wird, sondern erscheint in vielerlei Form als Störung innerhalb der drei organisierten Bindungsmuster. Funktional gesehen, ist Desorganisation/ Desorien- tierung ein mehr oder weniger langer Zusammenbruch von Aufmerksamkeits- und Verhaltensstrate- gien bei Kindern, die ihre Orientierung an der Bindungsperson zeitweilig verloren haben“ (Grossmann & Grossmann 2008a, S.228).
- Citar trabajo
- Marlene Hahn (Autor), 2012, Bindungstrauma im Kontext sozialpädagogischer Arbeit, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196684
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