Diese Arbeit ist die erste literaturwissenschaftliche Studie, die das Erzählwerk des Schweizer Autors Peter Stamm literaturanalytisch erfasst.
Im Fokus der Untersuchung der Erzählbände Blitzeis, In fremden Gärten, Wir fliegen und Seerücken steht die Offenlegung stilistischer und inhaltlicher Alleinstellungsmerkmale und Charakteristika Stamms Kurzprosa innerhalb der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur.
Das in der Literaturkritik vielfach bemühte Thema des Scheiterns der Protagonisten angesichts ihrer Ansprüche an Liebe und Glück kann in der inhaltlichen Textanalyse nicht verifiziert werden. Vielmehr wird gezeigt, wie Stamm die Grundlagen und Bedingungen menschlicher Existenz in hohem Maße zu seinem Thema macht - ein Phänomen, das dem Leser verschiedenste Fragestellungen aufnötigt und in seiner Prägnanz in den Bänden durchaus wiederkehrend ist. Umfangreiche stilistische Untersuchungen zeigen, wie sehr Stamms scheinbar „schmucklose und nüchterne“ Texte doch von stilistischen Elementen durchzogen sind, die sehr genau mit den Inhalten der Texte korrespondieren und zusammenwirken.
Die Autorin richtet daneben einen Fokus auf die Zuordnung der Texte zum Genre der „Erzählung“, der offenbart, dass Stamms kurze Prosa strukturell und thematisch enger mit der literarischen Tradition der Kurzgeschichte verbunden ist.
INHALTSVERZEICHNIS
A. Einleitung
B. Stamm als Erzähler im Lichte verschiedener Erzähltraditionen
I. Stamm im Kontext der Gegenwartsliteratur der deutschsprachigen Schweiz
1. Nach der litt é rature engag é e - Literarische Tendenzen der Moderne
2. Erzähler und Kurzprosa in der Schweizer Literatur der Gegenwart
3. Zusammenfassung
II. Peter Stamm in der Erzähltradition Raymond Carvers
III. Judith Hermann und „erzählerische Analogien“ zu Peter Stamm
C. Narrative Strategie und Individualstil in Stamms Kurzprosa
I. Elemente der Mikrostilistik und ihre Wirkung
1. Satzlänge und Satzbau - Die Schaffung einer kontrollierten Dynamik
2. Wortwahl und Verbalstil - Die emotionale Involvierung des Lesers
3. Kennzeichnung der direkten Rede - Das Spiel mit dem Lesefluss
4. Schlussfolgerung
II. Makrostilistik - Analysen oberhalb der Satzebene
1. Erzählsituation und Erzählhaltung: Die Übertragung von Emotionen auf den Leser
2. Stilart: Die Provokation des Lesers
3. Die häufige Redewiedergabe als zwingende Bedingung von Form und Inhalt
4. Unvermittelter Anfang und offener Schluss
5. Spannungserzeugung im inneren Textaufbau
6. Die Komposition der Erzählungen und der Bände
III. Zusammenfassung
D. Stamms literarisches Konzept des Existenziellen
I. Suchen Stamms Protagonisten Liebe und Glück? Die These des Scheiterns
1. Das Scheitern in der Liebe
a) Blitzeis: Desinteresse an Liebe und Nähe
b) In fremden G ä rten: Liebe und Sex in ihren gesellschaftlichen Funktionen
c) Wir fliegen: Liebe als positiver Wert im Leben
II
d) Seer ü cken: Die Bewältigung der Ehe
e) Resumée
2. Die Suche nach Glück
a) Liebe und menschliche Beziehungen
b) Selbstverwirklichung und Selbstfindung
c) Resumée
II. Das Krisenkonzept: Unterbrechungen des Alltags
1. Die existenzielle Lebenskrise - bedeutende Unterbrechungen im Alltag
2. Unterbrechungen des Alltags für kurze Zeit - mittelschwere Krisenmomente
3. Leichte Unterbrechungen des Alltags - Verstörung und Bewusstsein
4. Schlussfolgerung: Der Fokus auf die Protagonisten
5. Der Umgang der Protagonisten mit Krisen
a) Die Flucht vor anderen Menschen als Rückzug zu sich selbst
b) Resignation
c) Sprachlosigkeit und Tatenlosigkeit
d) Scheitern die Protagonisten im Umgang mit Krisensituationen?
III. Trennung von Ratio und Emotio als Annäherung des Menschen an die Natur
IV. Zusammenfassung
E. Gattungstheoretische Überlegungen zur Kurzprosa Peter Stamms
I. Elemente der Novelle in Stamms Prosa
1. Klassische Zuweisungsmerkmale und ihre Präsenz bei Stamm
2. Die Novelle in der literarischen Moderne - das Existenzielle bei Musil
3. Ergebnis
II. Stamms Geschichten als Kurzgeschichten
1. Formale Merkmale: Kürze, Titel, Anfang und Schluss der Kurzgeschichte
2. Komposition der Kurzgeschichte - Erzähler und Erzählstruktur
3. Darstellung der Figuren und Inhalte - Menschliche Krisen und „Zwischenland“
III. Ergebnis und Abgrenzung zur Erzählung
F. Schluss
LITERATURVERZEICHNIS
Primärliteratur:
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- Blitzeis, 2. Auflage, Zürich Hamburg 1999.
- In fremden Gärten, Zürich Hamburg 2003.
- Seerücken, Frankfurt am Main 2011.
- Wir fliegen, Frankfurt am Main 2008.
Sekundärliteratur:
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A. Einleitung
Als im März 2011 Peter Stamms Erzählband Seer ü cken erschien, war über den Band zu lesen:
„Eine Sammlung von Texten, für die sich so recht keine thematische Klammer finden will. Es sind typische Stamm-Texte in typischem Stamm-Deutsch.“[1]
An anderer Stelle hieß es:
„Die Ein-Buch-These ist nicht selten die schlimmste, die einen Autor treffen kann. (...) Denn ja, auch in den zehn Erzählungen des neuen Bandes ‚Seerücken’ (...) erkennt man den Tonfall sofort.“[2]
Während sich Rezensenten früherer Werke Stamms oft in Vergleiche zu anderen Autoren flüchteten - hierbei fielen Namen wie Raymond Carver und Ernest Hemingway, aber auch Anton Tschechow und Judith Hermann -[3], wird Stamm heute mit sich selbst verglichen. Peter Stamm schreibt also wie Peter Stamm - dies spricht sowohl für den großen Wiedererken- nungswert seiner Erzählungen als auch für deren große literarische Originalität. Beide Aspek- te treten nun, nach Erscheinen Stamms vierten Erzählbandes, in immer größerer Klarheit zu Tage und machen ihn zu einer Größe im gegenwärtigen internationalen Literaturbetrieb.
Peter Stamm wurde 1963 in Weinfelden in der Schweiz geboren und als Schriftsteller erst- mals durch seinen ersten Roman Agnes (1998) öffentlich wahrgenommen.[4] Sein bisheriges Prosawerk umfasst im Wesentlichen vier Romane und vier Bände mit Erzählungen,[5] für sei- nen zuletzt veröffentlichten Band Seer ü cken wurde er für den Preis der Leipziger Buchmesse 2011 nominiert. Seine Erzählbände, die Gegenstand dieser Arbeit sein sollen, stammen aus einem Zeitraum von 13 Jahren, sie tragen die Titel Blitzeis (1999), In fremden G ä rten (2003), Wir fliegen (2008) sowie Seer ü cken (2011) und enthalten jeweils zwischen neun und zwölf, insgesamt 42 Texte. Stamm hat es geschafft, sich vorbei an Bestsellerlisten und großen Litera- turpreisen in den Vordergrund der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu schreiben und ist seit nunmehr über zehn Jahren in dieser präsent. Sein Werk wurde bislang in 24 Sprachen übersetzt[6]. Sein Roman Agnes ist ab 2014 bereits Abiturpflichtstoff in Baden-Württemberg[7]. Es scheint deswegen mehr als begründet, dass sich endlich nicht nur mehr hauptsächlich Feuilletonisten mit Stamms Prosa auseinandersetzen, sondern auch die Literaturwissenschaft.[8]
Dies gilt umso mehr, als Peter Stamm nicht nur die Schweizer, sondern auch die deutschsprachige Literatur der Gegenwart insgesamt stark prägt.
Obgleich die Rezensenten Stamm einen hohen Wiedererkennungswert einräumen, fällt es ihnen doch schwer, präzise Aussagen über Stamms Texte zu machen. Als seine Themen werden oft „Liebe und Sex“ und „Versagen und Scheitern“ genannt[9] - Begriffe, die in der Literatur so oft vorzufinden sind, dass sie dem Leser keine genauere Vorstellung vom Stamms Werk vermitteln können. Ebenso hilflos wirken Versuche, Stamms Stil zu beschreiben:
„Peter Stamm versteht sich auf erzählerische Ökonomie. (...) Es ist die [Meisterschaft], nach allen Regeln der Kunst kunstlos zu sein - jene zweite, höhere Schlichtheit also, die keine Verständnisprobleme aufzugeben scheint und dann doch so verstörend weiterwirkt wie die unlösbaren Rätsel und Widersprüche des Lebens selbst.“[10]
Aussagen zu Stamms Stil und Sprache bleiben mit Floskeln wie diesen oft sehr unkonkret und ansonsten auf die wiederkehrenden Ausdrücke der „Lakonie und Ökonomie“, der „Trocken- heit und Distanz“ reduziert.[11] So bleiben die Rezensionen genaue Antworten zu Stamms Al- leinstellungsmerkmalen meist schuldig. Diese Arbeit will deshalb ausgehend von der These, dass der Autor Stamm in der Gegenwartsliteratur gleichsam unverwechselbar wie unverzicht- bar ist, der Frage nachgehen, welche Merkmale die Charakteristik Stamms Prosa ausmachen.
Dafür muss zunächst untersucht werden, wie Stamm sich als eigenständiger Erzähler zwi- schen verschiedenen Erzähltraditionen verorten lässt (B.). Hier soll ein Kontext zur Schweizer Gegenwartsliteratur, insbesondere zu Autoren kurzer Prosaformen, hergestellt werden. Da- nach erfolgt eine Auseinandersetzung mit Ähnlichkeiten der Erzählweisen Peter Stamms und Raymond Carvers als Vertreter der amerikanischen Tradition der Kurzgeschichte sowie Ju- dith Hermanns als Autorin gegenwärtiger deutscher Kurzprosa. Weiter ist zu analysieren, welcher narrativen Strategie sich Stamm bedient. Hierzu ist auf die sprachlich-stilistischen und formalen Eigenheiten seiner Kurzprosa einzugehen (C.). Anschließend ist bei einer in- haltlichen Betrachtung der Bände besonderes Augenmerk auf Stamms Konzept des Existen- ziellen zu richten, in dessen Rahmen Stamm die Grundlagen menschlicher Existenz in beson- derer Weise thematisiert (D.). Zuletzt soll erörtert werden, in welchem Genre sich Stamms Geschichten eigentlich bewegen (E.).
B. Stamm als Erzähler im Lichte verschiedener Erzähltraditionen
Die Einordnung eines neuen, noch unbekannten Autors in eine bestimmte Erzähltradition kann dessen Karriere bremsen oder fördern, sie kann ihn als Autor beleidigen, aber auch eh- ren, sie kann Verständnis für sein Werk schaffen, aber schließlich auch Missverständnisse erzeugen - denn der Begriff impliziert, dass es gewisse, nicht ganz unerhebliche literarische Gemeinsamkeiten mit anderen Autoren gibt. Die Zuordnung zu einer Erzähltradition kann daher im Grunde auch die Unterstellung an einen Autor implizieren, die Gesetzmäßigkeiten, die ihn mit anderen, meist älteren, bedeutenderen Autoren verbinden, zu kennen und bewusst weiterzuführen.[12] Die Einordnung in eine solche Tradition soll deshalb hier nicht als dieses bewusste Weiterentwickeln einer literarischen Strömung oder Wirkweise verstanden, sondern lediglich als deskriptive Methode eingesetzt werden, um sich einem Autor oder dessen Werk, hier den Erzählungen Stamms, schematisch anzunähern.
In diesem Kapitel soll Stamm zunächst innerhalb der Gegenwartsliteratur der deutschsprachigen Schweiz verortet werden. Anschließend soll auf Einflüsse der amerikanischen Erzähltradition Raymond Carvers in der Kurzprosa Stamms und auf deren Ähnlichkeiten mit dem Werk der deutschen Gegenwartsautorin Judith Hermann eingegangen werden - beide Autoren werden oft in einem Atemzug mit Stamm genannt.[13]
I. Stamm im Kontext der Gegenwartsliteratur der deutschsprachigen Schweiz
Um Stamms literarische Originalität umfassend beleuchten zu können, ist es unabdingbar, ihn zunächst im Kontext seiner Schweizer Zeitgenossen zu betrachten. Im Folgenden soll ein Ü- berblick über generelle Tendenzen der Schweizer Gegenwartsliteratur gegeben werden,[14] ehe auf die gegenwärtigen Vertreter kurzer Prosaformen in der Schweiz einzugehen ist.
1. Nach der litt é rature engag é e - Literarische Tendenzen der Moderne
Bis Ende der 80er Jahre hatte sich in der Schweiz mit Autoren wie Peter Bichsel, J ö rg Stei- ner, Adolf Muschg, Franz Hohler, Paul Nizon, Kurt Marti und Hugo Loetscher (u.a.) eine
starke Ausprägung der sog. litt é rature engag é e[15] etabliert, die sich eine enge Verflechtung von Politik, Gesellschaftsengagement und Literatur auf die Fahne geschrieben hatte - auch Diskurse über die Schweiz als Heimatland waren eines ihrer Hauptthemen. Diese Bewegung wertete Literatur als Ästhetik und künstlerischen Selbstausdruck zugunsten eines rationalen Literaturbegriffes ab, der im Zeichen einer zunehmenden Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Themen stand.[16] Infolgedessen fassen die Schweizer Autoren dieser Generation Literatur als „gesellschaftsbedingt“ und „gesellschaftsbezogen“ auf.[17] Typische Beispiele der Literatur dieser Zeit sind Romane von Otto Marchi [18], Gertrud Leutenegger [19], J ö rg Steiner [20] sowie Otto Walter [21]. Mit Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre[22] etablierte sich eine neue Generation Schweizer Schriftsteller, die den politischen Diskurs mied[23] und den inhaltlichen Fokus ihrer Werke weg von der Gesellschaft hin auf das Private richtete.[24] Dies bedeutete zuweilen eine Thematisierung der eigenen Biographie, wie etwa bei Kurt Aebli oder Christina Viragh.[25] Noch zwischen diesen beiden Generationen kann eine kurze Strömung der Postmoderne in der Schweiz ausgemacht werden, die etwa in Werken von Ge- rold Sp ä th (mit dem Roman Commedia, 1980) oder Urs Widmer und Gertrud Leutenegger ausgeprägt ist - Motive der Identität, der Selbstauslöschung und Selbstvervielfältigung sind nun in Romanen häufig anzutreffen. [26] Auf diese Tendenzen folgt Mitte und Ende der 90er Jahre eine neue Generation Schriftstel- ler,[27] zu der beispielsweise auch Zoe Jenny und Peter Stamm gezählt werden. Als einer der Ausgangspunkte dieser neuen Gegenwartsliteratur kann die Gründung der Gruppe NETZ um Peter Weber gesehen werden.[28] Moderne Prosa ist nun grundsätzlich davon geprägt, dass die Auseinandersetzung mit Individualität und Identität, mit persönlichem Leiden und Versagen gegenüber gesellschaftlichen Themen in den Vordergrund gerückt ist.[29] Die Beleuchtung des eigenen Ich, die Konzentration auf Privatheit und Lebensprobleme, „die individuelle kleine Welt“[30] und das Seelenleben, Fragen nach der Kindheit und Einflüssen auf das eigene Leben, beinahe psychologische Studien und die Akzeptanz, „eigene Ratlosigkeit auszudrücken an- statt mit schablonenhafter Ideologie zu hantieren“,[31] werden zu den neuen, vorherrschenden Aspekten der Gegenwartsliteratur. In dieser neuen Tradition stehen auch Namen wie Zsuz- sanna Gahse[32], Klaus Merz[33] oder Matthias Zschokke[34].
Formal werden Grenzziehungen jedweder Art immer stärker aufgeweicht, beispielsweise zwi- schen Gattungen und Genres und zwischen Autor und Erzähler.[35] Unter dem Begriff der Kurzprosa[36] entstehen in der Schweiz in den vergangenen Jahren vielfältige Unterarten, die sich oft kaum mehr einem Genre zuordnen lassen und auch inhaltlich die Bandbreite aller möglichen Themen abdecken.[37] Dieses vielfältige Nebeneinander unterschiedlicher Schreib- stile und Erzählkonzepte kann als signifikantes Merkmal der Schweizer Gegenwartsliteratur betrachtet werden.[38] Zudem werden wieder Wert auf eine Ästhetik der Literatur sowie hohes Sprachbewusstsein an den Tag gelegt.[39]
Das Thema der Schweiz als Heimatland wird in der Gegenwartsliteratur wenn überhaupt, dann nur noch am Rande behandelt: Während die meisten Vertreter der neueren Schriftstel- lergeneration in der Schweiz auf längere Auslandsaufenthalte zurückblicken können oder so-
gar emigriert sind,[40] verbindet sie meist nicht mehr und nicht weniger mit der Schweiz, als dass sie dort geboren sind und vielleicht noch heute dort leben.[41] So kann auch der Aspekt der Europäisierung oder sogar Globalisierung der Schweizer Literatur, die Öffnung und Einbe- ziehung anderer Lebenswelten und Geographien, als typisch für die neue Schweizer Literatur gesehen werden.[42]
Für die Auseinandersetzung mit der Schweiz in Stamms Erzählungen lässt sich feststellen, dass die Schweiz als Heimatland in allen Geschichten Teil der Identität des Erzählers ist, in denen sich Aussagen zu dessen Herkunft finden. Dies bleibt jedoch auch ihre einzige wirkli- che Rolle. Stamms ausgeprägtes Motiv der Reise und des Auslandsaufenthaltes, das sich nicht nur durch seine Erzählbände zieht, ist ebenso in diesem Zusammenhang zu sehen: Die Mobi- lität der Gegenwart erlaubt ein Verständnis der Welt, das nicht mehr so stark an Landesgren- zen und politischen Auffassungen orientiert ist, es ermöglicht ein Leben überall in der Welt, und es verdeutlicht, dass die Welt enger aneinandergerückt ist. Dementsprechend sind auch die vorherrschenden Themen in der Gegenwartsliteratur der Schweiz universell geworden. In dieser Universalität und Austauschbarkeit liegt etwa für Reinacher auch der internationale Erfolg Peter Stamms begründet.[43] Wenn sie ihm zuschreibt, er bediene sich ausschließlich oder im Wesentlichen der Themen „Liebe“ und „Tod“, solcher also, die zum „ewigen Stoff der Literatur“ gehörten und austauschbar seien[44], so reduziert sie Stamm natürlich auf etwas, das seine Literatur gerade nicht ist.
Doch die Themen, die auch Reinacher als übereinstimmend neu und dominierend in der Ge- genwartsliteratur der Schweiz wahrnimmt - der Rückzug ins private Universum anstelle der Auseinandersetzung mit politischen oder gesellschaftlichen Themen und die Beschränkung auf das, was man kennt, liefern auch für Stamm die Themen, denen er sich in seinen Erzäh- lungen widmet. Reinacher erklärt den Fokus auf diese Themen, der im Gegensatz dazu steht, dass die neuen Schweizer Autoren hohe Auslandsbezüge haben und sich zum Beispiel örtlich gesehen gerade nicht auf ihr privates Universum, ihr abgezirkeltes Territorium, wie Reinacher es ausdrückt, zurückziehen, damit, dass in dieser Miniaturwelt schließlich alles benennbar und erklärbar sei, Beurteilungskriterien einigermaßen verlässlich seien.[45] Doch gerade das wird zumindest bei Stamm immer wieder in Frage gestellt: Dass das eigene Leben so einfach und verlässlich ist.
[...]
[1] Freuler: Jugend ohne Neugier, in: NZZ am Sonntag, 06.03.2011.
[2] C. Schr ö der: Die Lehre des Waldes, in: SZ, 14.03.2011. Er relativiert diese These für Stamm jedoch in seiner Rezension.
[3] Vgl. hierzu die Belege in Fn. 86.
[4] Zuvor schrieb er Hörspiele und war nach bzw. neben zahlreichen Gelegenheitsjobs journalistisch tätig. Stamm lebt heute in Winterthur in der Schweiz.
[5] Neben weiteren einzeln publizierten belletristischen Beiträgen in Zeitschriften, Theaterstücken, Hörspielen und Kinder- bzw. Jugendbüchern, vgl. Katalog der Deutschen Nationalbibliothek online:
http://d-nb.info/gnd/120821044 (letzter Abruf: 01.08.2011).
[6] Vgl. Roshani, Abgründe des Normalen, in: F.A.S., 09.08.2009, S. 22.
[7] Vgl. http://www.lehrerfreund.de/in/schule/1s/deutsch-abiturthemen-baden-wuerttemberg-2014.
[8] Dies geschieht bisher hauptsächlich zu dem Roman Agnes, hingegen nicht zu den Erzählbänden bzw. zu diesen nur sehr ausschnitthaft. Auch aus diesem Grund sollen gerade seine Erzählungen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sein.
[9] Vgl. die Ausführungen samt Belegen zu Beginn von Kapitel D. I. (S. 45).
[10] Nentwich, Beziehungsgeschädigte Zerebralexistenzen, in: NZZ, 07.10.1999.
[11] Vgl. bspw. Pfohlmann, Expeditionen ins Seelenreich, in: Der Tagesspiegel, 22.05.2008, S. 30, und C. Schr ö der: Die Lehre des Waldes, in: SZ, 14.03.2011.
[12] Dass viele Autoren eine frühe Affinität zum Lesen haben und so durch bestimmte Werke, die sie entweder früh, systematisch oder intensiv gelesen haben, geprägt werden, zum Teil auch so, dass sie unbewusst gewisse Elemente daraus übernehmen, steht außer Frage.
[13] Vgl. bspw. Spiegel, Erdmännchenblicke, in: F.A.Z., 19.02.2000, Bilder und Zeiten, S. V; Vollmer, Die sprachlose Nähe und das ferne Glück, in: Literatur für Leser 1/06, S. 59; K ü bler, Macht Alleinsein klüger?, in: NZZ am Sonntag, 17.08.2003, S. 49.
[14] Die Gegenwartsliteratur der Schweiz ist, schon gar nicht unter dem Aspekt der kurzen Prosaformen, bisher praktisch nicht wissenschaftlich dargestellt. Das in diesem Kontext allein stehende Werk Reinachers musste deshalb im Folgenden als wesentliche Grundlage herangezogen werden.
[15] Der Begriff geht auf Jean-Paul Sartre zurück, der 1947 eine solche Literatur gefordert hatte, wie sie dann Ende der 60er Jahre in Frankreich ihren programmatischen Eingang in die Gesellschaft fand und ein neues Verständnis von Literatur prägte, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 14, 15.
[16] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 14 f. Beispielhaft dafür sind die öffentliche Befassung mit dem Vietnamkrieg durch die Autoren Frisch, Loetscher und Bichsel und die Unterstützung der Studentenbewegung durch Muschg, Frisch, Marti und D ü rrenmatt (u.a.), vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 16.
[17] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 16.
[18] In seinem Roman Geschichte f ü r Ketzer schreibt er über die Schweiz der 90er Jahre, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 24.
[19] Sie schreibt über die Jugendbewegung der 60er und 70er Jahre exemplarisch in ihrem Roman Vorabend, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 24.
[20] Er thematisiert in seinem Roman Fremdes Land die Asylpolitik, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 24.
[21] Er bringt die Studentenrevolte der 68er in drei seiner Romane, u.a. mit Die ersten Unruhen, zur Sprache, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 24.
[22] Die Denkweise hält sich in der Schweiz zeitlich ungefähr bis zum Tode D ü rrenmatts 1990 - andere sehen eine Grenzwende in dem öffentlichkeitswirksamen Austritt Bichsels aus der Sozialdemokratischen Partei 1995, vgl. Aeschbacher, Postmoderne Schweizer Literatur oder Vom Gegenstand der Theoriedebatte zum prägenden Ele- ment des Alltags, in: Harbers (Hrsg.) Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Wider- stands?, S. 289.
[23] Vgl. Aeschbacher, Postmoderne Schweizer Literatur oder Vom Gegenstand der Theoriedebatte zum prägenden Element des Alltags, in: Harbers (Hrsg.) Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Widerstands?, S. 290.
[24] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 25.
[25] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 26.
[26] Vgl. Aeschbacher, Postmoderne Schweizer Literatur oder Vom Gegenstand der Theoriedebatte zum prägenden Element des Alltags, in: Harbers (Hrsg.) Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Widerstands?, S. 294.
[27] Vgl. Aeschbacher, Postmoderne Schweizer Literatur oder Vom Gegenstand der Theoriedebatte zum prägenden Element des Alltags, in: Harbers (Hrsg.) Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Widerstands?, S. 309, 310.
[28] Dieser gehörten auch Autoren wie Urs Richle, Ruth Schweikert oder Tim Krohn an, die allesamt nach 1965 geboren wurden. Sie sollte als Forum und Sprachrohr junger Schweizer Schriftsteller dienen, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 45 f.
[29] Vgl. Sch ä nzlin, Kurzprosa seit 1970, S. 4, 5.
[30] Reinacher, Je Suisse, S. 42.
[31] Reinacher, Je Suisse, S. 31.
[32] Beispielsweise mit ihrem Roman Nichts ist wie, 1999, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 31.
[33] Etwa mit Am Fu ß des Kamels, 1994 oder Adams Kost ü m, 2001, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 32.
[34] Beispielsweise mit seinem ersten Roman Piraten, 1991, vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 32 f.
[35] Vgl. Sch ä nzlin, Kurzprosa seit 1970, S. 6.
[36] Auf den Begriff wird einleitend zu Kapitel E. noch eingegangen (S. 79).
[37] Vgl. Sch ä nzlin, Kurzprosa seit 1970, S. 7.
[38] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 34.
[39] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 31.
[40] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 9, 33, 34.
[41] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 9, 21.
[42] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 64.
[43] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 19, 20.
[44] Reinacher, Je Suisse, S. 20.
[45] Vgl. Reinacher, Je Suisse, S. 43.
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- M.A. Christina Rossi (Author), 2011, Peter Stamms Erzählungen: Narrative Strategie und existenzielle Inhalte, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/195528
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