Bevor die Farben Rot und Weiß in der Blutstropfenepisode an den Stoffen erscheinen, die gewöhnlich als ihr Inbegriff symbolisiert werden – Blut und Schnee – tauchen sie auf dem Weg Parzivals immer wieder in verschiedenen, oft scheinbar bloß vordergründigen Zusammenhängen auf, die sich erst vom Ende her in ihrer Verweisfunktion erkennen lassen. Das aus diesen Verweisen erschließbare Ganze gerinnt zum Bild der Blutstropen im Schnee, dessen Bedeutung seinerseits erst aus der Aufklärung über Schnee und Blut durch Trevrizent erhellt.
Es soll daher zunächst Parzivals Weg am Leitfaden der Farben Rot und Weiß verfolgt und dabei versucht werden, die im Bild von den Blutstropfen im Schnee enthaltenen Elemente aus der Kenntnis der sich mit ihnen verbindenden und sich entwickelnden Bedeutungszusammenhänge herauszuarbeiten. (Teil A)
Diese Analyse, die ursprünglich nur bis zur sog. Blutstropfenepisode unter Einbeziehung der Karfreitagsgespräche geplant war, hat ein doppeltes Ergebnis gebracht: Einerseits beschränkt sich die Entwicklung des Motivs der Farben Rot und Weiß auf das Geschehen in den Büchern III bis VI und konzentriert sich zunehmend auf die Beziehung zwischen Parzival und Condwîrâmûrs, andererseits verbinden sich mit dem Farbmotiv komplexe Konnotationen, durch die sich der damit verbundene Bedeutungshorizont erweitert, was vor allem die Ereignisse im IX. Buch, Parzivals Wiederaufnahme in die Heilszeit am Karfreitag, betrifft. (Teil B). Die Aufspaltung der Geschichte in einen zweiten Handlungsstrang mit einem zweiten Handlungsträger (Gawan) sowie der Wiedereintritt Parzivals in das Handlungsgeschehen im XIV. Buch mit zwei „Bruderkämpfen“, die jeweils im Sinne einer Selbstüberwindung gedeutet werden, werfen die Frage nach dem jeweils bedeutsamen Aspekt des darin überwundenen Selbst auf. Daher weitet sich die Untersuchung in einem dritten Teil (Teil C) aus auf die Frage nach der Bedeutung dieser beiden „Brüder“ (Gawan und Feirefiz) bzw. signifikanter Aspekte ihrer Geschichte für die Entwicklungsgeschichte und Identitätsfindung Parzivals. Sofern mit dem Auftritt von Feirefiz die Vorgeschichte in die Parzivalhandlung eingreift, und zwar mit einem markanten Farbmerkmal, werden unter dem Aspekt der Farbgebung zuletzt auch Vorgeschichte und Schluss betrachtet und zusammenfassend Schlussfolgerungen auf das Strukturprinzip des Werkes gezogen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Neuauflage ... 4
Einführung und Herangehensweise: Die Symbolik der Farben Rot und Weiß im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach ... 12
A) Parzivals Weg am Leitfaden der Farben Rot und Weiß (Buch III-VI) ... 14
1. Die Entwicklung seiner Identität als „der wâren minne blic“ ... 14
a) Vom Wald von Soltane bis zum roten Ither ... 14
b) Zeit ohne Weg: Gurnemanz – Pelrapeire – Gralsburg ... 18
c) „Spurensuche“ auf dem Weg von der Gralsburg zum Plimizöl ... 26
2. Die figurative Konstellation der Farben Rot und Weiß in der
Blutstropfen-Episode ... 29
a) Die Einbettung des Geschehens in den situativen Kontext ... 29
b) Die figurative Konstellation und ihre Sinnverweise ... 31
c) Blut und Schnee als Träger der Farben Rot und Weiß ... 39
B) Die Ausweitung der Konnotationen und des Bedeutungshorizontes ... 43
3. Parzival auf dem Weg zur Versöhnung mit sich selbst ... 43
a) Die dritte Begegnung mit Sigune und ihre wegweisende Funktion ... 43
b) Wiedergewinn der Heilszeit durch die Ereignisse am Karfreitag ... 46
c) Die „rechte“ Minne als Bedingung für die Teilhabe am Gralswunder und
als dessen Wesenskern ... 52
C) Parzivals Selbstüberwindung und Selbstfindung in den beiden Bruderkämpfen (Buch XIV und XV) ... 56
4. Die Bedeutung Gawans für die Entwicklungsgeschichte Parzivals ... 57
a) Parzivals Reintegration in die höfische Welt nach dem „Bruderkampf“
mit Gawan ... 57
b) Gawan als der besonnene höfische Ritter ... 59
c) Gawan unter der ihm von Parzival übertragenen Obhut der Frauenminne ... 62
d) Strukturelle und motivische Analogien zwischen Gawan- und
Parzivalhandlung ... 64
e) Warum kann Parzival den Kampf mit Gramoflanz nicht Gawan überlassen? ... 68
f) „Ich hân mich selben überstriten“ ... 70
5. Die Bedeutung von Feirefiz für die Selbstfindung Parzivals ... 74
a) Das Zusammenspiel von Gott und Condwîrâmûrs ... 74
b) Feirefiz als Verkörperung des Elsterngleichnisses ... 76
6. Vorgeschichte und Schluss ... 83
a) Die Farben der Vorgeschichte ... 83
b) Die „Farblosigkeit“ des Schlusses ... 87
c) Der Ersatz der Farbmotive durch trinitarische Strukturen ... 91
7. Schlussfolgerungen zum Strukturprinzip ... 97
Literaturverzeichnis ... 106
Anhang: Der Inhalt des Werkes ... 110
Register der im Text auftretenden Figuren ... 158
Vorwort zur Neuauflage
Eine Neuauflage meiner Arbeit erwies sich als sinnvoll aus formalen Gründen:
1. Das Schriftbild ist im Ausdruck der Erstauflage so klein, dass der Text nur angestrengt lesbar und die Anmerkungen, die im letzten Teil oft recht umfangreiche parallele Sinnzusammenhänge entwickeln, unüberschaubar werden.
2. Die Arbeit sollte auch verständlich sein für Leser, die mit dem Inhalt des Gesamtwerkes nicht vertraut sind; daher eine auf die Analyse bezogene Inhaltswiedergabe aller 16 Bücher des „Parzival“.
3. Ein alphabetisch geordnetes Figurenverzeichnis soll die Orientierung in dem vielschichtigen Gesamtwerk von Wolframs Epos ohne Zuhilfenahme eines Lexikons erleichtern.
Inhaltlich zeigte sich keine Notwendigkeit zu einer grundlegenden Erneuerung oder Erweiterung des Deutungsansatzes, obwohl im zeitlichen Umkreis der Veröffentlichung meiner Arbeit das Thema „Farbe im Mittelalter“ verbreitete Aktualität erfuhr.
Schon der Untertitel meiner Arbeit zeigt, dass es mir um eine spezifische, den mehrschichtigen werkimmanenten Strukturzusammenhang betreffende Funktion bestimmter Farben und ihrer Konnotationen geht und nicht um ihre allgemeine symbolische, kulturelle oder gesellschaftliche Bedeutung im Mittelalter bzw. in mittelalterlicher Literatur. Außerdem ist, ausgehend von der „Blutstropfenepisode“ die Konstellation von Rot und Weiß von Anfang an im Blick.
Gleichwohl soll im Vorwort der Neuauflage auf drei Arbeiten Bezug genommen werden, die sich explizit auf die Farben im „Parzival“ und dabei primär auf die Farbe „Rot“ beziehen und daher von Beobachtungen am Text ausgehen, die auch in meiner Arbeit von Bedeutung sind.
Am deutlichsten wird dieser Ansatz in der Arbeit vonAndrea Schindler mit dem Titel: „ein ritter allenthalben rôt“. [1] Die Autorin untersucht am primären Beispiel der Farbe „Rot“ die „Bedeutung von Farben im Parzival“ und leitet aus dem jeweiligen Kontext der Farbbezeichnung mögliche Bedeutungsvarianten ab (z.B. Rot als Symbol für Liebe, Wut, Sünde, usw.). Sie bezieht sich dabei auf eine Aussage Peter Wapnewskis, der die „beträchtliche“ „Variationsbreite der Deutungsmöglichkeiten für die Farbe Rot“ konstatiert. [2] Weitgehend unberücksichtigt bleibt der mit der leitmotivischen Verknüpfung des Farbattributs verbundene innere Entwicklungsprozess des Protagonisten. So trifft z.B. die Deutung der roten Rüstung „als eine Verkleidung, eine täuschende Maske“, die als „Gewand der Sünde“ „zu diesem Zeitpunkt“ „seine Erwähltheit“ verdeckt, [3] nur einen Teil des Sinnes, genauso wie die Deutung der damit verdeckten Narrenkleidung als Hinweis auf „Parzivals mangelnde Erziehung“. [4] Denn es geht immer auch um die Aneignung und Verinnerlichung eines Äußeren, Fremden in einem Prozess der Loslösung von den Vorgaben der Mutter einerseits und der Entwicklung einer noch nicht wirklichen, aber vorherbestimmten Identität andererseits. Parzival ist innerlich der Narr, als welcher gekleidet er in die Welt zieht, seine „Erwähltheit“ ist auch ihm selbst noch verborgen. Und indem er die rote Rüstung über sein Narrengewand zieht, weil er nicht von dem lassen will, was seine Mutter ihm gab, weiß er noch nicht einmal um seine eigene Maske, er kann noch nicht mit ihr umgehen und sie „berührt“ ihn im Doppelsinn des Wortes nicht.
Auch bei der sog. „Blutstropfenepisode“ kommt die Autorin m.E zu einer zu reduktionistischen Deutung, wenn sie die Blutstropfen als „Abbild höchster Schönheit“ und „Zeichen der Gewalt“ [5] interpretiert. Dem widersprechen sowohl der Inhalt als auch die Struktur und der Aufbau von Parzivals Gedankenrede. [6] Es geht auch nicht um die „unheilvolle Beziehung zwischen Minne und Kampf“. [7] Sondern die Vision der mit Gott (chiastisch) verbundenen Geliebten öffnet den Zugang zu einer höheren und damit der Welt des ritterlichen Kampfes enthobenen göttlichen Welt in der Erfahrung der von Gott gespendeten „saelde“, wie Parzival es nennt.
Interessant dagegen ist, dass mit der Zuordnung der Farbe „Grün“ zu Gahmuret , dem „grünen Ritter“, der damit als „das farbliche Pendant“ zum „roten Ritter“ erscheine, der Ansatz eines Strukturprinzips erkennbar wird, dessen textliche Grundlagen auch mir aufgefallen sind, die ich aber nicht systematisch verfolgt habe.
Die Verknüpfung der „drei männlichen Protagonisten“ mit den Farben Rot und Grün (gemeint sind Gahmuret, Gawan und Parzival) wird fest gemacht an den Objekten, mit denen sie in Berührung kommen. So gesehen müsste dies auch für Feirefiz gelten. Die Gralszeremonie, bei der Repanse de Schoye den Gral auf einem grünen Seidenkissen trägt und begleitet wird von 24 Jungfrauen, von denen acht einen grünen Rock tragen, verbindet nicht nur Parzival mit den Farbzeichen seines Vaters, [8] sondern mehr noch Feirefiz, der die Gralskönigin später heiraten wird, zumal der Erzähler explizit darauf hinweist, dass der grüne Seidenstoff aus Arabien stamme. Über seinen Taufakt an einem Taufbecken aus Rubin mit einem Sockel aus Jaspis wird auch Feirefiz wie sein Halbbruder mit dem Grabmal ihres gemeinsamen Vaters verbunden und erscheint dadurch zuletzt auch den „rot-grünen“ Protagonisten zugehörig, wenn man davon ausgeht, dass im Mittelalter die aus dem Orient stammende Bezeichnung „Jaspis“ mit dem Smaragd gleichgesetzt wurde und daher einen grünen Stein meinte, während heute der „Jaspis“ ein Farbgemisch aus Braun- und Rottönen darstellt. [9]
Ausgehend von einer komplexen Einführung in kultur- und literaturgeschichtliche Aspekte der Bedeutung, Symbolik und körperbezogenen Zuordnung von Farben in mittelalterlicher Literatur, Ästhetik und Philosophie geht Monika Schausten in den Kapiteln 5 und 6 ihrer Arbeit „Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolfram von Eschenbachs Parzival“ [10] konkret auf die Verwendung von Farben im Parzival ein und dabei insbesondere auf die Funktion der Farbe Rot im Falle der Figur des roten Ither.
Zentrales, strukturierendes Kriterium ihrer Argumentation ist die Unterscheidung von Vielfarbigkeit als Kennzeichen der höfischen Welt und Monochromie als mehrdeutiges und ambivalentes Zeichen für Aufstieg und (moralischen) „Fall“ in dieser Welt.
Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung wird die schillernde Ambivalenz der Itherfigur herausgearbeitet und zugleich die Doppeldeutigkeit der Aneignung der roten Rüstung durch Parzival aufgezeigt und in Beziehung gesetzt zu seiner „Erwähltheit“ (die rote Rüstung verdecke den Glanz seiner Körperlichkeit) sowie zu seiner gesellschaftlichen Stellung (Aufstieg einerseits; moralische Verfehlung, Brudermord andererseits).
Insgesamt dominieren bei Wolfram entsprechend den Schönheitstopoi der Poetik seit der Antike die Farben Schwarz, Weiß und Rot, deren organisierende Funktion zu analysieren die Autorin als ein noch zu leistendes Desiderat bezeichnet. [11]
Die Arbeit von M. Schausten hat insofern nur wenige Berührungspunkte mit meiner Analyse der Entfaltung von Bedeutungsaspekten der Farben Rot und Weiß zu einem vielfältigen Kosmos der Sinnebenen.
Eine entscheidende Abweichung im Deutungsansatz erscheint mir aber doch erwähnenswert: Die Geschichte Parzivals wird offenbar primär sozusagen als eine „Spielart“ des Artusromans aufgefasst, [12] wobei die Mutter Parzivals aus persönlichen Gründen die Kulturation des Sohnes verhindert und dadurch die Besonderheit seines Weges und sein anfängliches Scheitern mit verursacht; so kommt es zu den vielfachen „Friktionen“ zwischen Individuum und höfischer Gesellschaft, die grundsätzlich statisch einander gegenüber stehen.
Ich betrachte dagegen den „Parzival“ primär als Entwicklungsroman, in dem der Held, der noch gar kein wirklicher Ritter ist, als er in die Welt zieht, erst auf dem Weg über Scheitern, Lernen und Verinnerlichen zu sich selbst finden muss. Die Mutter initiiert diese innere Entwicklung gegen ihren bewussten Willen und lenkt sie unwissentlich genau in die Bahnen, die seiner inneren Bestimmung entsprechen. Die Faszination des Knaben vom Glanz der Ritterrüstungen ersetzt dabei nicht das sonst übliche Motiv des Artusritters, sondern löst, bedingt durch die folgenschwere Verwechslung in Bezug auf die Träger des Glanzes, einen Entwicklungs- und Erkenntnisprozess aus, der am Ende über die Teilhabe Parzivals an der höfischen Gesellschaft hinaus führt. Das Verhältnis von Sein und Schein, von Innen und Außen [13] ist kein statisches Gegenüber, sondern unterliegt einem dialektischen Entwicklungsprozess.
Die Begegnung mit dem roten Ither erhält dadurch eine jeweils andere Funktion: Ither ist nicht nur Opfer seiner Eitelkeit und Fixierung auf die Farbe Rot, sondern sein Tod stellt eine von vielen notwendigen Stufen auf dem über Schuld, Erkennen, Reue und Buße führenden Weg Parzivals zu sich selbst dar, dessen Ziel letztlich die über die höfische Gesellschaft hinausweisende göttliche Minne ist. [14] Indem Ithers Funktion in mehrfacher Hinsicht auf Parzival als die prospektive Vollendungsgestalt seiner selbst übergeht (nicht nur als der „rote Ritter“, sondern auch als der „wahre“ Anblick der Minne), tritt Ither ein in die Rolle des Märtyrers, genauer des Minnemärtyrers, was auf der Handlungsebene durch das eigenartige „Bestattungsritual“ des Knappen Iwanet [15] angedeutet wird, bei dem explizit von „marter“ die Rede ist.
Die „lichten“ Blumen, die Iwanet dabei auf den Leichnam streut, werden bezüglich ihrer Farbigkeit nicht benannt. Es ist daher m.E. fraglich, ob dadurch die dem Toten anhaftende Monochromie durch die Farbigkeit der höfischen Welt „post mortem restituiert werden“ soll.
Ziel der inneren Geschichte ist eben nicht die Zugehörigkeit zur bunten höfischen Welt, sondern das über diese hinaus weisende Licht des göttlichen „minnaere“, [16] das der Getötete selbst gerade nicht repräsentierte. [17]
Von einem ganz anderen Ansatz geht Haiko Wandhoff aus in seinem Beitrag „Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß. Heraldische Tinkturen und die Farben der Schrift im Parzival Wolframs von Eschenbach: [18]
Da er die „Sprache“ von Wappen untersucht, geht es ihm um Farbe als Untergrund für Bild oder Schrift bzw. um die Farbe von Figur oder Bild selbst als Erkennungszeichen. [19] Interessant ist hier seine Analyse und Deutung der Blutstropfen-Episode: Die weiße Farbe des Schnees wird gesehen als notwendiger Untergrund für die Lesbarkeit der aus drei Blutstropfen bestehenden roten „Schrift“. Den Bann, in den dieser „Text“ Parzival zieht, löst der in Minnefragen erfahrene Gawan durch eine „List der Verhüllung“, indem er, wie bekannt, einen Mantel über die „Schriftzeichen“ wirft. Bei seiner Analyse konzentriert der Autor sich auf den in der Heraldik wichtigen Aspekt von Innen und Außen, von Verdeckung und Verdecktem, wodurch, sofern es „kein Wappen ohne Farbe“ geben kann, die Farbe von Gawans Mantel in den Mittelpunkt des Interesses rückt: der gelbe Mantel bedeckt und verdeckt die roten Schriftzeichen auf weißem Grund.
Während diese in Parzival ein „Erinnerungsbild“ wecken, das ihn in einen tranceartigen Zustand versetzt und dadurch in der Außenwelt handlungsunfähig macht, schafft Gawan durch seine „Verhüllungslist“ eine für das wirkliche Leben, für die „konventionelle Rittergeschichte“ brauchbare Ummantelung des inneren Kerns der Geschichte. Diese Konstellation – Einfassung eines roten Kerns in eine gelbe Hülle – bringt der Autor in Verbindung mit Wolframs Beschreibung der Frauenschönheit (in Parz. 3,11-22), deren innere und äußere Lebensgeschichte, d.h. deren âventiure im Idealfall einem in Gold gefassten edlen Rubin gleiche. In der Rückübertragung dieser Struktur auf die Blutstropfenepisode lasse sich daraus das Beziehungsverhältnis zwischen Parzival- und Gawanhandlung ableiten: „In Rot auf Weiß … erfährt Parzival das Programm seiner âventiure, die er jedoch fortan nur mit Hilfe Gawans zu einem guten Ende bringen kann. Durch den Einsatz seines gelben Mantels … sorgt Gawan dafür, dass Parzival wieder zur Außenwelt zurückkehrt und zum Helden eines Ritterromans werden kann.“ [20]
Insgesamt leitet der Autor daraus die „erhebliche Bedeutung“ von Farben „für literarische Texte des Mittelalters“ und unter Einbeziehung des Wappenwesens insbesondere der Farbkontraste ab und kommt zu dem methodischen Grundsatz: „So liegt es nahe, die Schrift des Wappens mit der Schrift der Literatur in ein produktives Wechselspiel treten zu lassen“. [21]
Ich möchte hinzufügen, dass es dieses „Wechselspiels“ dringend bedarf, um keine Leerstellen bzw. Sprünge im Interpretationszusammenhang entstehen zu lassen: Aus den vorgegebenen Farbverhältnissen lassen sich die oben aufgezeigten Deutungen zum Verhältnis zwischen Gawan- und Parzivalhandlung herauslesen, aber keine Inhalte von Parzivals Vision erschließen, wenn sie im Text nicht vorkommen. Parzival dankt Gott dafür, dass er ihn das Bild der Geliebten schauen lässt, aber die „Erkenntnis, dass er der Minne und dem Gral gleichermaßen folgen müsse“ und dass das „Ziel und Programm seiner âventiure“ „die Versöhnung von Minne und Gral“ [22] sei, wird vom Inhalt seiner Gedankenrede und von den Farbverhältnissen als solchen nicht belegt und vom Autor auch nicht anhand anderer Kriterien nachgewiesen.
Der interessante Deutungsansatz nach Gesichtspunkten des Wappenwesens trägt nur, solange die Deutung in seinem Rahmen bleibt.
Weitere Aspekte, wie z.B. die figurative Anordnung der roten Tropfen auf dem Schnee, der inhaltliche Aufbau sowie die formale sprachliche Struktur der Gedankenrede, der situative Kontext und die mit Schnee und Blut in der Geschichte verbundenen Konnotationen öffnen Analyseansätze, die im Sinne des geforderten „produktiven Wechselspiels“ eine differenziertere Deutung des Ziels der Geschichte und des dialektischen Weges dahin zulassen. (Vgl. Kap. A2 und Teil B meiner Arbeit)
Einführung und Herangehensweise: Die Symbolik der Farben Rot und Weiß im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach
Bevor die Farben Rot und Weiß in der Blutstropfenepisode an den Stoffen erscheinen, die gewöhnlich als ihr Inbegriff symbolisiert werden – Blut und Schnee – tauchen sie auf dem Weg Parzivals immer wieder in verschiedenen, oft scheinbar bloß vordergründigen Zusammenhängen auf, die sich erst vom Ende her in ihrer Verweisfunktion erkennen lassen. Das aus diesen Verweisen erschließbare Ganze gerinnt zum Bild der Blutstropfen im Schnee, dessen Bedeutung seinerseits erst aus der Aufklärung über Schnee und Blut durch Trevrizent erhellt.
Es soll daher zunächst Parzivals Weg am Leitfaden der Farben Rot und Weiß verfolgt und dabei versucht werden, die im Bild von den Blutstropfen im Schnee enthaltenen Elemente aus der Kenntnis der sich mit ihnen verbindenden und sich entwickelnden Bedeutungszusammenhänge herauszuarbeiten. [23] (Teil A)
Diese Analyse, die ursprünglich nur bis zur sog. Blutstropfenepisode unter Einbeziehung der Karfreitagsgespräche geplant war, hat ein doppeltes Ergebnis gebracht: Einerseits beschränkt sich die Entwicklung des Motivs der Farben Rot und Weiß auf das Geschehen in den Büchern III bis VI und konzentriert sich zunehmend auf die Beziehung zwischen Parzival und Condwîrâmûrs, andererseits verbinden sich mit dem Farbmotiv komplexe Konnotationen, durch die sich der damit verbundene Bedeutungshorizont erweitert, was vor allem die Ereignisse im IX. Buch, Parzivals Wiederaufnahme in die Heilszeit am Karfreitag, betrifft. (Teil B).
Die Aufspaltung der Geschichte in einen zweiten Handlungsstrang mit einem zweiten Handlungsträger (Gawan) sowie der Wiedereintritt Parzivals in das Handlungsgeschehen im XIV. Buch mit zwei „Bruderkämpfen“, die jeweils im Sinne einer Selbstüberwindung gedeutet werden, werfen die Frage nach dem jeweils bedeutsamen Aspekt des darin überwundenen Selbst auf. Daher weitet sich die Untersuchung in einem dritten Teil (Teil C) aus auf die Frage nach der Bedeutung dieser beiden „Brüder“ (Gawan und Feirefiz) bzw. signifikanter Aspekte ihrer Geschichte für die Entwicklungsgeschichte und Identitätsfindung Parzivals.
Sofern mit dem Auftritt von Feirefiz die Vorgeschichte in die Parzivalhandlung eingreift, und zwar mit einem markanten Farbmerkmal, werden unter dem Aspekt der Farbgebung zuletzt auch Vorgeschichte und Schluss betrachtet und zusammenfassend Schlussfolgerungen auf das Strukturprinzip des Werkes gezogen.
A) Parzivals Weg am Leitfaden der Farben Rot und Weiß (Buch III-VI)
1. Die Entwicklung seiner Identität als „der wâren minne blic“
a) Vom Wald von Soltane bis zum roten Ither
Die weiße Farbe, gesteigert zum „liehten schîn“ (122,24), ist das Movens, das Parzival auf seinen Weg zum Gral bringt: eingedenk der Worte seiner Mutter, Gott sei „noch liehter denne der tac“ (119,19) hält er die in glänzender Rüstung ihm bei seinen Knabenspielen im Wald von Soltane begegnenden Ritter für Gott und möchte, nachdem diese ihn über ihren Stand aufgeklärt haben, auch ein Ritter werden. Diese scheinbar ganz in der kindlichen Psyche motivierte Szene weist voraus auf Trevrizents Erklärung des göttlichen Wesens: „von dem wâren minnaere / sagent disiu süezen maere. / der ist ein durchliuhtec lieht / und wenket sîner minne niht“ (466,01-04). Die tumbheit des Knaben ist das Instrument, durch welches sich das Göttliche, die „wâre minne“, in der Verkleidung des Scheins zu verwirklichen beginnt. Träger dieses Scheins sind die Ritter, die Exponenten der höfischen Gesellschaft, deren Ideal sich Parzival nun, auf der Basis des Scheins, zum Ziel seines Weges setzt. Dessen Anfang aber impliziert bereits die Überschreitung des in der nur scheinbar aufgeklärten Verblendung selbst gesetzten Ziels: nicht dem Rittertum gilt eigentlich sein Streben, sondern dem „liehten schîn“, welcher nach den Worten der Mutter Gott selber ist und in welchem sich nach der Lehre Trevrizents die Wirkkraft des Göttlichen manifestiert. Die höfische Gesellschaft ist dabei von Anfang an Medium der Verwirklichung dessen, was prinzipiell über sie hinausweist.
Jeschute ist die erste Station auf Parzivals Weg. Die schlafende Frau verkörpert das Objekt des Minnebegehrens: „si truoc der minne wâfen“ (130,04), welches sich konzentriert auf ihren halbgeöffneten Mund: „der truoc der minne hitze viur“ (130,09). Das Aufreizende daran ist die Kombination der Farben Rot und Weiß – ein „munt durchliuhtec rôt“ (130,05) und „die liehten zene“ „von snêwîzem beine“ (130,11 ff.), mit denen sich durch das unbewusste Minnevergehen des Knaben (er küsst ihren Mund und raubt ihren Ring und ihre Kleiderspange) der Gedanke eines wechselseitigen schuldlosen Schuldigwerdens verbindet.
Die zeichenhafte Bedeutung der Farben bei diesem Geschehen wird jedoch erst aus der zweiten Begegnung mit Jeschute rückblickend deutlich: wieder leuchtet der Mund der Frau feuerrot, diesmal in Verbindung mit ihrer schwanenweißen Haut, die durch ihr zerschlissenes Büßergewand hindurch scheint. Der unter dem Büßergewand auf wunderbare Weise erhaltene schöne Körper der Frau steht im Kontrast zu dem ihres Pferdes, gleichsam dem Zerrbild ihrer selbst: einem hermelinfarbenen, also weißen, zum Skelett abgemagerten Klepper. An Jeschute erscheint Weiß als Farbe der Buße, in der sich zugleich die Unschuld offenbart.
Auch die Farbenangabe in der folgenden Sigunenbegegnung gewinnt ihre Bedeutung erst aus dem Bezug zur entsprechenden zweiten Begegnung mit Sigune auf der Linde. Aus dem roten Mund der Sigune erfährt Parzival zum ersten Mal seinen Namen: „ir rôter munt sprach sunder twâl: ‚deiswâr dû heizes Parzivâl’“ (140,15 f.) Sie erklärt ihm dabei zugleich dessen Wortbedeutung: „der nam ist rehte enmitten durch“ (140,17). Nachdem Parzival aus der Gralsburg verwiesen worden ist, spricht ihr bleicher Mund (vgl. 252,27) den Fluch über ihn aus. Die rote Farbe wird also bei der ersten Begegnung mit Sigune – noch abstrakt - auf die Identität Parzivals und auf seine Lebensaufgabe und Bestimmung bezogen, während das Bleiche als ihr privativer Modus, ihm später bei der zweiten Begegnung deren Realisierung qua Selbstgewinn durch die rechte Tat aberkennt. [24]
In der durch Jeschute und Sigune vorbereiteten Bedeutung als ambivalentes Symbol für Schuld und Unschuld, für Parzivals Bestimmung und deren Verfehlung entfaltet sich das Motiv der roten Farbe beim Kampf mit dem roten Ither. Sie ist zunächst das Signum des idealen Minneritters: Ither von Gahaviez, dessen Ross, Rüstung und Haare feuerrot leuchten, wird immer wieder die Freude der Frauen genannt; und wenn Trevrizent später seine Vollkommenheit lobt, so ist es die seines Frauendienstes (vgl. 476,05 ff.) Parzival tötet ihn um seines roten Harnischs willen (vgl.161,04), den er dann über sein Narrenkleid zieht und den er so im wörtlichen Sinn zu seinem Deckmantel macht, der nach außen seine Identität vertritt, denn von nun an „heißt“ Parzival selbst der rote Ritter [25] (vgl. 202,21.). Das Überziehen des fremden Gewandes bedeutet hier jedoch nicht bloße Usurpation einer fremden Existenz, sondern Aneignung des Eigenen, sofern Ither in Parzival die Vollendungsgestalt dessen, was er selber verkörpert, geschaut und anerkannt hat (vgl. 146,09: „dû bist der wâren minne blic“). Indem Parzival die rote Rüstung über sein Narrengewand zieht (zu deren Handhabung er die Hilfe des Knappen Îwânet benötigt [26] ), antizipiert er eine Identität, zu deren Verwirklichung er innerlich noch nicht reif ist, weil er sich noch nicht von den Vorgaben durch seine Mutter gelöst hat. („swaz mir gap mîn muoter, / des sol vil wênic von mir komen, / ez gê ze schaden oder ze vromen“, 156,30-157,01) Andererseits impliziert Ithers Anerkennung Parzivals als „der wâren minne blic“ den Auftrag zur Verwirklichung des Anerkannten. Ither überträgt Parzival seine eigene Existenz mit dem Auftrag zu ihrer Vollendung in einem höheren („wahren“) Sinn, was die Vernichtung seiner realen Existenz, d.h. seinen Tod bedeutet. Auf der Ebene der Symbolik wird Ither, der selbst das Ideal des Minneritters verkörpert (vgl. dazu Trevrizent 476,05 ff.), durch seinen Tod im Dienste einer höheren Minne zum Märtyrer der Minne. Gleichsam beiläufig realisiert der Knappe Îwânet diesen hintergründigen Sinn auf der vordergründigen Handlungsebene, indem er das Gabilot, mit dem Parzival Ither getötet hat, „nâch der marter zil“ durch seinen Körper stößt und ihm die Form des Kreuzes gibt (vgl. 159,13-19) – eine Ehrung des Toten, die in seltsamem Widerspruch zu der Selbstverständlichkeit zu stehen scheint, mit der dieser „kiusche und stolze“ Knappe bereit ist, Parzival dabei zu helfen, dem soeben Getöteten die Rüstung auszuziehen und sich selbst anzulegen (aus heutiger Sicht Beraubung und Schändung eines Toten).
Aus der lebensgeschichtlichen Perspektive Parzivals erweist sich dieser Akt der Selbstaneigung des künftig Eigenen als Schuld, und zwar als notwendige Verschuldung an sich selbst, am eigenen Fleisch und Blut, welche sich bildlich darstellt als Brudermord, als den Trevrizent die Tat später erklärt: „dû hâs dîn eigen verh er’slagen. .., sît daz ir beide wârt ein bluot“ (475,21 ff.) Wie sich später zeigen wird, wiederholt sich in diesem Brudermord die Urtat des Sündenfalls, nämlich der Mord Kains an seinem Bruder Abel, welcher der Mutter Erde die Unschuld raubt und nur gesühnt werden kann durch das „durchliuhtec licht“ der „gôtlichen minne“.
Für Parzival bleibt das – im Schein – Angeeignete ein bloß Äußeres, bloßes Gewand, solange es nicht durch Selbstversöhnung realisiert wird, nämlich durch Verwirklichung der „wâren minne“, deren Erfüllung in Parzivals Gestalt antizipiert erscheint und in welcher sich nach dem Muster der Versöhnung der menschlichen Ursünde durch den „wâren minnaere“ die göttliche Minne ereignet.
Die rote Rüstung wird von nun an zum Signum von Parzivals ritterlicher Existenz, zu einer Art Maske, die nur eine Seite seiner selbst darstellt und hinter der sich seine wahre und volle Bestimmung vor der Welt und vor ihm selbst verbirgt.
b) Zeit ohne Weg: Gurnemanz – Pelrapeire – Gralsburg
Seit dem Augenblick, da Parzival das Gewand des roten Ritters übergezogen hat, zählt seine Zeit: den Weg zu Gurnemanz, nach Pelrapeire und zur Gralsburg bewältigt er jeweils in der Hälfte der gewöhnlich dafür benötigten Zeit, nämlich an einem Tag [27] , so dass er am dritten gezählten Tag (gezählt werden die Tage seines jeweiligen Reiseweges, nicht die Gesamtdauer seiner Reise) die Gralsburg erreicht. Im umgekehrten Verhältnis zur Zeithaftigkeit seines Weges steht dessen Ziellosigkeit: Parzival überlässt seinem Pferd [28] die Zügel und reitet richtungs- und fährtelos, „ungevertes“, quer durch Wald und Feld.
ba) Bei Gurnemanz legt Parzival zum ersten Mal seinen roten Harnisch ab und offenbart sich der Gesellschaft in seinem Narrenkleid. Dennoch erkennt einer der Ritter „durch sîne zuht“ (164,11) an ihm „der minnen blic“; und sein Gastgeber stellt fest: „sîn varwe der minne zaeme“ (165,02).
Um diese „varwe“ zum Vorschein zu bringen, bedarf es der Reinigung im Rosenbad, dessen präfigurierende Bedeutung erst erkennbar wird aus dem späteren Vergleich von Condwîrâmûrs mit der tauigen Rose, die in sich die Farben Rot und Weiß vereint: „als von dem süezen touwe / diu rôse ûz ir belgelîn / blecket niuwen werden schîn, / der beide wîz ist unde rôt.“ (188,10 ff.)
Mit einer Rose verglichen wird Condwîrâmûrs hinsichtlich der in der Begegnung mit ihr sich entzündenden und aus der Perspektive des höfischen Ritters als Bedrängnis erfahrenen Minne. (vgl. 188,14: „daz vuocte ir gaste grôze nôt“), deren wahre Funktion, nämlich die Reinigung und Heilung, über den Rosenvergleich bereits vorweggenommen sind.
Das im Rosensymbol als Ganzes Gefasste wird in der Badeszene in einzelnen Zügen entfaltet: die weißen Hände der Badejungfrauen reinigen ihn vom Blut der Wunde aus dem Kampf mit dem roten Ither (und damit – gemäß der späteren Auslegung durch Trevrizent – vom sichtbaren Zeichen seiner Blutschuld) und bringen dadurch seine zur Minne bestimmte „varwe“ ans Licht: einen strahlend weißen Körper (vgl. 168,19 ff) mit einem vor Röte brennenden Mund (vgl. 168,20), deren Farben sich spiegeln in dem Parzival dargereichten weißen Gewand mit scharlachroten Hosen (vgl. 168,02 ff.).
Ort und Umstände des Geschehens weisen voraus auf die erste Begegnung mit Condwîrâmûrs:
bb) Erneut wird Parzival von seinem Ross zügellos („swar sîn ors nû kêre“, 179,30) durch die Fremde („tal und berc wâren im unkunt“, 180,08) an einem Tag eine Zweitagesstrecke (vgl. 189,24 ff) nach Pelrapeire geführt. Nachdem er Einlass gefunden und sich den Rost der Rüstung vom Gesicht gewaschen hat, begegnen der Gast und die Königin einander auf der Treppe zum Palast. Beide verbindet vom ersten Auftritt an der „liehte glast“ ihrer Erscheinung (vgl.186,05 und 186,20) sowie der rote Mund („diu munde wâren beide rôt“, 187,03). Auf stilistischer Ebene wird die zeichenhafte Zuordnung der beiden durch die wiederholte Verwendung von Chiasmen und Parallelismen sowie durch die Zusammenführung in Kollektivformeln (beidiu, diu zwei, uns) deutlich (vgl. 186,31ff, 187,24 ff., 188,29 ff.).
Die signifikante Funktion der Farben Rot und Weiß bei der Begegnung mit Condwîrâmûrs wird bestätigt im rückblickenden Vergleich mit der Liâze-Episode: die schöne Tochter des Gurnemanz, als deren Gemahl der Vater gern Parzival gesehen hätte, bedient den Gast mit „ir blanken hende linde“, 176,18); aber das Komplement der roten Farbe erscheint nur als das über seine Rüstung ihm äußerlich aufgesetzte Merkmal: „den man dâ hiez den ritter rôt“ (176,20). Kein wirklicher Liebeskummer beschwert ihn, als er nach vierzehn Tagen Gurnemanz und Liâze verlässt, um sich ritterliche Ehre zu erwerben, bevor er glaubt sich dem Frauendienst hingeben zu dürfen. Er verfällt nur in ein quasi formelles und der Sitte wie auch der Sippe geschuldetes Minnegedenken („dô enwolde in Gahmuretes art / denkens niht erlâzen / nâch der schoenen Lîâzen“, 179,24 ff.). Die mit der „Minnekrankheit“ topisch einhergehende Verwirrung, insbesondere der Wechsel der roten und weißen Gesichtsfarbe, veräußerlicht sich sozusagen an seine Rüstung: „sîn rôt harnasch in dûhte blanc“ (179,22). Das Bild von Lîâze verblasst beim Anblick von Condwîrâmûrs: „Lîâzen schoene was ein wint / gein der megede diu hie saz“ (188,06 f.), und zwar im Kontext des schon genannten Rosenvergleichs, den aber der Erzähler ausspricht, d.h. die Wahrnehmung der Farben und der mit dem Rosenvergleich verbundene Bedeutungszusammenhang sind Parzival selbst nicht explizit bewusst. Dies geschieht erst in der sog. Blutstropfenepisode, als er im Bild der roten Blutstropfen auf weißem Schnee den „schîn“ von Condwîrâmûrs zu erkennen meint. Diese Erkenntnis formuliert Parzival formelhaft unter dreifacher Nennung des Namens der Geliebten: „Condwîramûrs, sich mac vür war / disiu varwe dir gelîchen / ... Condwîrâmûrs, hie liget dîn schîn / ... Condwîrâmûrs, / dem gelîchet sich dîn bêâ curs“ (282, 28 ff.). Auffallend ist, dass Elemente dieser Formulierung schon bei der ersten Begegnung vorweggenommen werden („Condwîrâmûrs ir schîn“, 187,12 und „Condwîrâmûrs, / diu truoc den rehten bêâ curs“, 187,21 f.), aber hier vom Erzähler formuliert. Es ereignet sich also auf dem Weg zum Plimizöl, dem Ort der Blutstropfenepisode, ein Prozess der Verinnerlichung und damit der bewussten Aneignung seiner Bestimmung zum wahren „minnaere“, der, wie noch zu zeigen ist, vermittelt über die Minne zu Condwîrâmûrs zur Gottesminne führt.
Unter dem Decknamen des roten Ritters erkämpft Parzival sich alle ritterlichen Ehren und, indem er alle das Land bedrängenden Feinde besiegt, nach allgemeiner Ansicht das Anrecht auf die Königin, die diesem Recht mit ihrem freien Willen entgegenkommt und es mit ihrer Liebe erfüllt. (vgl. z.B. 199,26 ff). Sowohl in der Bewahrung der „mâze“ , die beide in der Liebe üben (die Ehe wird erst in der dritten Nacht vollzogen: „den man den rôten ritter hiez, / diu künegîn er maget liez“, 202,21 f.) als auch in der Fürsorge für sein Volk als Landesherr erweist sich Parzival als die Vollendungsgestalt des höfischen Ritters, er und die Königin haben den „wunsch ûf der erde“, (223,02).
Die knappen Formulierungen ihrer Liebesbeziehung am Ende des vierten Buches ordnen beide mehrfach in der Stilfigur des Chiasmus einander zu, so dass deutlich wird, dass hier ein Abschluss, die Erfüllung einer Bestimmung erreicht ist.
bc) Wenn die „âventiure“ Parzival dennoch weiterdrängt (vorgeblich um nach seiner Mutter zu sehen, d.h. um den Anfang und Ausgangspunkt seines bisherigen Weges einzuholen), so muss ihr „zil“ (223,23) auf eine neue Ebene des Lebensweges und der Entwicklung Parzivals führen. Wieder wird Parzival vom Pferd Ithers zügellos geführt und wieder erreicht er die nächste Station seines Weges an einem Tag, und zwar eine Strecke, die kaum ein Vogel im Flug hätte bewältigen können.
Während die Zeit des Weges erneut zählt, wird der zurückgelegte Raum irreal, nicht messbar, märchenhaft, wird quasi zum Innenraum [29] . Dem entspricht auch die Begegnung mit dem Fischer am See, der ihm eine seltsam verrätselte Auskunft über sich selbst und die „Abgründigkeit“ des Weges gibt: „komt ir rehte dar / (ich nim iuwer hînte selbe war) / sô danket als man iuwer phlege. / hüetet iuch: dâ gênt unkunde wege. / ir muget an der lîten / vil wol misserîten“ (226,03-08). [30] Die Berufung auf den „Fischer“ ist für Parzival Schlüssel zum Einlass in die Burg; dreimal ist bedeutungsschwer vom „vischaere“ die Rede (226,26 ff.; 227,02f.; 229,19 f.), mit dem der Burgherr Anfortas gemeint ist, ohne dass dies ausgesprochen wird, so dass die Bezeichnung seinen Namen vertritt und damit auf einen symbolischen Sinn verweist, als welcher sich das biblische Gleichnis von Jesus als dem Menschenfischer nahe legt. [31] Die christologische Bedeutung wird auch assoziiert durch die Formulierung „der wirt jâmers rîch“ (230,30) sowie durch die allgemeine Freudlosigkeit in der Burg, die eine Welt des Leidens zeigt und offenbar außerhalb oder jenseits des höfisch weltlichen Rittertums anzusiedeln ist, wie bereits der Burghof verrät, auf dessen gepflegtem Rasen keine Spuren von ritterlichen Kampfspielen zu erkennen sind.
Bereits diese aus der personalen Perspektive Parzivals dargestellte Beobachtung zeigt aber, dass er die Gralsburg mit dem Bewusstsein des weltlich höfischen Ritters betritt – und auch wieder verlassen wird.
In der Gralsburg legt Parzival seinen roten Harnisch ab, der von ihm getragen wird, was Parzival nicht recht ist: „sîn harnas was von im getragen: / daz begunde er sider sêre klagen“ (229,01f.), weil er die „Spielregeln“ seiner Gastgeber nicht versteht. Er glaubt sich gegen einen Spaßmacher verteidigen zu müssen, der nur die Ankunft des Fischers ankündigt. Statt seiner Rüstung bietet man ihm den Mantel der Gralskönigin dar mit der seltsamen Begründung: „wan iust niht kleider noch gesniten“ (228,17), seltsam deshalb, weil an allen anderen Stationen seines bisherigen Weges dieses Problem offenbar nicht bestand. Parzival kommt also in gewisser Weise zu früh, er folgt zwar einer Bestimmung, es ist etwas für ihn vorgesehen, aber die Zeit dafür ist noch nicht reif.
Bei der rituellen Zeremonie des Gastmahls mit dem Speisewunder des Grals wird immer wieder die weiße Farbe der Tische, Laken und Decken hervorgehoben, das Elfenbein ist „wîz als ein snê“. Auf die Entfaltung zahlensymbolischer Zusammenhänge kann hier nicht eingegangen werden. Auffallend ist aber, dass alle Zahlen, die die weißen Gegenstände betreffen, sich zuletzt summieren zur Hundert. Hundert gilt seit der Antike als die Zahl des „summum bonum“. [32] „Als ganze signifiziert sie das Ziel und die Erfüllung der Weisheit, die ‚vita aeterna’“ [33] , so wie entsprechend Weiß die Farbe des göttlichen Lichtes, der Weisheit, der Verklärung, der Reinheit, Unschuld usw. darstellt. [34]
Parzival wundert sich durchaus über die geheimnisvollen Vorgänge und reflektiert die Möglichkeit des Fragens, weist diese aber willentlich zurück in expliziter Erinnerung an die ritterlichen Lehren des Gurnemanz (vgl. 239,08 – 17), wodurch sich auf einer neuen Ebene ein Strukturschema seines bisherigen Entwicklungsganges wiederholt: So wie er einst unter dem geraubten und noch nicht angeeigneten Gewand der roten Rüstung nicht von dem lassen will, was ihm seine Mutter gab, so hält er sich jetzt, ersatzweise bekleidet mit dem Mantel der Gralskönigin, weil der ihm zugedachte noch nicht zugeschnitten ist, an die Regeln des höfischen Rittertums und folgt nicht seinem wahren Gefühl und seiner wahren Bestimmung, d.h. es fehlt erneut die Aneignung seiner bloß antizipierten Bestimmung. [35]
Als ob er die Gedanken Parzivals hätte lesen können, trägt in diesem Augenblick ein Knappe ein Schwert herbei, dessen Griff aus einem Rubin besteht.
In dem Augenblick, wo Parzival in Gedanken festhält an den Regeln des höfischen Rittertums und noch nicht fähig ist, die ihm bestimmte nächste Stufe seines Entwicklungsganges zu ersteigen, erscheint die rote Farbe in Verbindung mit dem zentralen Requisit des kämpfenden höfischen-weltlichen Ritters, allerdings mit Verweis auf eine neue spirituelle Ebene, sofern seine Klinge „grôzer wunder urhap“ ist. (239,23).
Bevor das zauberartige Ritual in aller Eile beendet und Parzival zuletzt der Burg verwiesen wird, wird ihm noch ein Blick zurück gewährt auf ein Geheimnis, das mit der weißen Farbe verbunden ist und dessen Aufklärung der Erzähler für die Zukunft verspricht: er sieht den allerschönsten alten Mann, von dem man je Kunde bekam: „er was noch wîzer dan der tuft“ (240,30). [36]
Das Blut an der Lanze wird in dieser Episode noch nicht explizit mit der roten Farbe verbunden, es verweist aber auf Leiden, und dieses Leiden ist, ebenfalls nur implizit, verbunden mit Kälte und Frost, einem seltsamen Frieren des Gralskönigs, der in Pelze gehüllt wird und für den große Feuer geschürt werden müssen. [37]
Die „Vertreibung“ aus der Gralsburg ist verbunden mit symbolisch signifikanten Ent- und Bekleidungsvorgängen. Zunächst wird ihm das – geliehene – Gewand abgezogen (vgl. 243,17f.), so dass er sich am nächsten Morgen gewandlos vorfindet: “wer sol mir bieten mîn gewant?“ (245,23), findet dann aber auf dem Teppich seinen Harnisch und seine Waffen – vermehrt um das geheimnisvolle Gralsschwert, d.h. er wird sozusagen zurückgeworfen auf seine ritterliche Existenz – allerdings versehen mit einem „Pfand“ für eine mögliche Zukunft in einer andersartigen Dimension seiner Existenz.
Angestoßen durch einen Albtraum mit wilden Kämpfen, die seine innere Orientierung auf das Rittertum verraten, wird Parzival über den Mantel der Gralskönigin (sie ist für ihn nur die gütige Spenderin dieses Mantels) an seine ritterlichen Pflichten ihr gegenüber erinnert, von denen er aber den Minnedienst explizit ausschließt, weil dieser seine unüberbietbare Erfüllung in Condwîrâmûrs gefunden hat.
Die Beschimpfung durch den Knappen, der Parzival als „Gans“ bezeichnet, ihm durch Schließen der Zugbrücke den Rückweg versperrt und sich seinen Fragen gegenüber taub stellt, versteht Parzival nicht. Stattdessen verfolgt er, ganz im Bewusstein und gemäß dem Ethos des höfischen Ritters, die Hufspuren der Gralsritter, um denen im Kampf beizustehen, die vielleicht seine Hilfe brauchen.
Aber die Grundlagen dieses Bewusstseins tragen hier nicht, die Spuren werden schmaler und verlieren sich auf eine irreale Weise. [38] Parzival bleibt allein, ohne Antwort auf seine Fragen und ohne Zielorientierung zurück, ohne dass ihm selbst dies bewusst wird. Von seiner nun anbrechenden inneren Not weiß nur der Erzähler. In seiner Situation der ihm selbst noch nicht bekannten inneren und äußeren Leere (er weiß nicht einmal, dass er nicht weiß, wo er ist), lässt er sich affizieren von Reizen aus der Umwelt, die seinem bisherigen Erfahrungshorizont entsprechen. [39]
c) „Spurensuche“ auf dem Weg von der Gralsburg zum Plimizöl
In chiastischer Umkehr der Stationen seines Hinweges zur Gralsburg begegnet Parzival jetzt erneut den beiden Frauengestalten, zuerst Sigune und dann Jeschute, deren jeweilige Bedeutung hinsichtlich der Farben Rot und Weiß schon aufgezeigt wurde.
Während er bis zur Gralsburg vom Pferd des roten Ither geführt wurde, folgt er nun selbst Spuren, zuerst einem akustischen Signal, einer klagenden Frauenstimme.
Sigune auf der Linde mit dem balsamierten Leichnam des Geliebten im Arm stellt jetzt aus der Sicht einer realistischen Handlungsebene ein gespenstisches, irreales Bild dar mit ikonografisch symbolischem Charakter: Die Linde [40] ist in den Wallfahrtsorten der Ort der Pieta, so dass über den Bezug Sigune – Maria der Schmerz um den Bräutigam bzw. Sohn auf den christologischen Sinnzusammenhang Maria – Kirche – Braut Christi verweist. Indem das Bild über die reale Handlung hinweg einen spirituellen Horizont eröffnet, wird in diesen auch die durch ihren „bleichen“ Mund ausgesprochene Teilaufklärung über die Gralsburg und Parzivals Rolle darin einbezogen. Dazu gehört vor allem auch die Paradoxie des Zugangsweges zum Gral (dass man ihn nur unwissend finden kann), ein altes Märchenmotiv, wodurch erneut der weitere Weg Parzivals als „Innenweg“ deutbar wird, aber nicht im Sinne reflektierender Subjektivierung, sondern im Gegenteil als gleichsam traumhaft sich fügende Einheit von äußerer Handlung und innerem Entwicklungsgesetz.
Die über den Tod hinausgehende vorbildliche Treue und Liebe der Sigune wird im Sinnzusammenhang mit der Marienverehrung auch mit dem Minnebegriff des Minnesangs verbunden, sofern traditionell die Frouwe des Minnesangs mit den Attributen der Maria versehen ist.
Die Stationen der Begegnung mit Sigune laden Parzivals Weg, einen inneren Weg der Sinnsuche, mit einem spirituellen Gehalt auf, der den weiteren zeichenhaften Ereignissen Bedeutung gibt.
Nachdem Sigune ihm wegen seines Versagens in Munsalwäsche ritterliche Ehre und ritterlichen Preis abgesprochen hat, wird Parzival von einer frischen Hufspur zu Jeschute geführt, wo er im Kampf mit ihrem Gemahl, dem Herzog Orilus, seine erste Schuld, deren er sich nun bewusst geworden ist, wieder gutmachen kann. Der Kampf Parzivals gegen Orilus wird auf einer bildlichen und fast humoristischen Ebene zum Drachenkampf stilisiert: Parzival kämpft gegen hundert Drachen und einen Mann, weil Drachen als das Wappentier des Orilus vielfältig auf dessen Rüstung und seinen Schild aufgemalt sind [41] . So kann Parzival zwar als Drachentöter und damit als Sieger über das Böse gefeiert werden, gleichwohl aber bleibt der Besiegte am Leben und die in ihrer Unschuld bestätigte Dame kann dem vom roten Ritter bezwungenen Gemahl ihre weiße Hand zur Versöhnung reichen.
Die Szene scheint das Geschehen ganz auf die vordergründige Handlungsebene des ritterlichen Kampfes zurückzuführen, enthält aber unterschwellige Verweise zu anderen Ebenen der Handlung. Orilus, der den Drachen zu seinem Wappentier erwählt hat, wird von diesem in gewisser Weise auch vertreten, seine Symbolik färbt auf ihn ab, ist er es doch gewesen, der in einer Tjoste Schionatulander getötet hat, um den Sigune in unstillbarem Leiden trauert.
Nachdem Parzival den besiegten Orilus dazu gezwungen hat, sich mit seiner Gattin zu versöhnen, reiten alle drei zu einer Klause in einer Felswand, wo der Einsiedler Trevrizent haust. Dort bestätigt Parzival mit einem freiwilligen Eid die Unschuld der Jeschute und stellt damit ihre Ehre wieder her. Dieser Eid führt seine Geschichte zum ersten Mal auf der Stufe der Selbstreflexion in ihren Anfang zurück: „ich was ein tôr und niht ein man, gewahsen niht bî witzen“ (269,24f.). Er gibt Jeschute den geraubten Ring zurück und gesteht, dass er den Verlust der ebenfalls geraubten Spange seiner „tôrheit“ (270,02) verdanke. Das „heilectuom“ (269,01), auf das er dabei schwört, wird er im neunten Buch beim Karfreitagsgespräch mit Trevrizent als Reliquienkapsel wiedererkennen und dabei die Verbindung herstellen zwischen seinem ersten Akt der Selbsterkenntnis und seiner Erlösung und Neugeburt bei Frost und Schnee in der Berghöhle des Einsiedlers in der Wildnis.
Auf die Bedeutung von Jeschutes schwanenweißer Haut und ihren im Kontrast zu Sigune rot gebliebenen Mund wurde im ersten Teil dieser Arbeit bereits hingewiesen. Die an ihrem Körper spurlos vorübergegangene Zeit beweist sozusagen die Unberührbarkeit ihrer Tugend und Unschuld. Deren Manifestation durch Parzivals freiwilligen Eid beendet dieses Kapitel seiner Lebensgeschichte und bringt insofern auch das damit verbundene Bedeutungsspektrum der Farben Rot und Weiß zu einem gewissen Abschluss. In der folgenden Blutstropfenepisode wird dieses durch die Verbindung mit Schnee und Blut auf eine neue Ebene gehoben und in einer Weise erweitert, dass sich auch rückblickend, besonders auf das Gralsgeschehen, neue Assoziationsfelder eröffnen.
2. Die figurative Konstellation der Farben Rot und Weiß in der Blutstropfen-Episode
Die Blutstropfenepisode im Parzival gehört inzwischen [42] sicher zu einer der am meisten untersuchten literarischen Stellen mittelalterlicher Literatur. Ich verweise hierzu auf die umfangreiche Literaturangabe u.a. bei J. Bumke [43] und möchte mich beschränken auf die mit dem Leitmotiv der Farben Rot und Weiß verbundenen Zusammenhänge.
a) Die Einbettung des Geschehens in den situativen Kontext
Während die Artusgesellschaft den achten Tag auf der Suche nach dem roten Ritter ist (die Bewegungsrichtungen und entsprechend die Beziehungen haben sich also umgekehrt) ereignet sich ein bedeutsames – inneres – Geschehen, das Parzival in einem in der Literatur vielfach beobachteten seltsamen Gegensatz zur Artuswelt erscheinen lässt. Der Kontrast zwischen dem lauten Gehabe und der „grotesken Körperlichkeit“ [44] der Artusritter auf der einen und der wortlosen stillen Versunkenheit Parzivals auf der anderen Seite wird bei Bumke und Ackermann herausgestellt und im jeweiligen Deutungsrahmen als Kommunikationsproblem betrachtet. [45]
Der Erzähler betont explizit die „Unzeitigkeit“ des Geschehens, das nicht zur Jahreszeit (Schnee im Sommer) und nicht zu Artus als dem „meienbaere(n) man“ (281,16) passt. [46] Der Hinweis impliziert den weiteren auf das Thema „Minne“, denn die Sommeraue mit der Topik des locus amoenus ist in den Artusromanen der traditionelle Ort der Minneanbahnung. Soweit es auch hier bei Parzival um Minne geht, hat es also etwas Besonderes mit dieser Minne auf sich, das nicht aufgeht in der Welt der höfischen Gesellschaft.
Auslöser des Geschehens ist ein ebenfalls vielfach gedeuteter „Gewaltakt“: Ein Falke vom Artushof, dessen Gleichsetzung mit Parzival sowohl bezüglich ihrer beider Weg als auch bezüglich ihrer Wertschätzung bei Hofe („ir besten valken si verlurn“, 281,26) erkannt worden ist [47] , verletzt eine Gans derart, dass drei Blutstropfen im Schnee liegen bleiben, in denen Parzival das Antlitz der Geliebten zu erkennen meint. Den ritterlich kämpfenden (mit hurte vloug er under sie, 282,15) wie auch den männlich erotischen Aspekt des Vorgangs hat Bumke [48] aufgezeigt und das Opfer, die Gans, als Brudervogel des Falken gedeutet, so dass der Vorgang sich mit der Tötung des roten Ither verbinden lasse. Für diese Deutung (der Gans als Brudervogel) gibt er aber keine Begründung an. Festzuhalten ist m.E. das Gewalttätige des Vorgangs und der damit verbundene Aspekt der Verletzung und der Schuld. Dies kann auch im Sinne einer Selbstverletzung des Protagonisten zu verstehen sein, der sich an sich selbst, an seiner eigenen Bestimmung schuldig gemacht hat und den Weg der Selbstversöhnung suchen muss, zumal die einzige Stelle im Roman, an der schon einmal von einer Gans die Rede war, die Beschimpfung Parzivals durch den Knappen der Gralsburg ist. Der „Brudermord“ würde dadurch universeller deutbar als Verschuldung am alter ego. [49]
b) Die figurative Konstellation und ihre Sinnverweise
Nicht nur das, was Parzival auf dem Untergrund der weißen Schneedecke sieht, hat eine figurative Struktur: die drei Blutstropfen formen ein Dreieck im Zahlenverhältnis 2+1 (283,12f), sondern auch seine Gedankenrede selbst formiert sich in figurativen Strukturen. Auf die dreifache formelhafte und anaphorisch akzentuierte Nennung des Namens der Geliebten sowie auf deren Rückverweis auf die erste Begegnung mit Condwîrâmûrs wurde im zweiten Teil der Arbeit schon hingewiesen. Zwischen den beiden ersten Nennungen bzw. Anrufungen verbindet ein Chiasmus der Pronomen die beiden Geliebten: dir – mich / ich – dir (282,29 f). Über diesen Chiasmus hinweg und ihn sozusagen einrahmend formiert sich ein zweiter Chiasmus, der Condîrâmûrs mit Gott verbindet: Condwîrâmûrs – got / diu gotes hant – Condwîrâmûrs (282,28 – 283,04).
Condwîrâmûrs
, sich mac vür wâr,
disiu varwe dir gelîchen.
mich
will got saelden rîchen,
sît ich dir hie gelîches vant.
gêret sî diu gotes hant
und al diu krêâtiure sîn.
Condwîrâmûrs
, hie liget dîn schîn.
Beide Chiasmen sind so ineinander verflochten, dass die figurative Zuordnung von Condwîrâmûrs undGott sozusagen das Binnenverhältnisdir – mich und ich – dir umfasst.
Der Chiasmus als Stilfigur verbindet seine Elemente in der Figur des Kreuzes miteinander und dient in mittelalterlicher Dichtung, sofern die weltliche Liebe in Analogie zur Gottesliebe gesehen wurde und umgekehrt, immer wieder zur figurativen Darstellung von Liebesbeziehungen. [50] Zugleich ist darin angespielt auf und ist darin präsent die Figur des Christuskreuzes und die damit verbundene heilsgeschichtliche Wirkkraft, wie sie dem mittelalterlichen Verständnis von Form und Figur [51] entspricht.
Diese in der formalen Zuordnung präsente Wirkkraft geht über die inhaltlich ausgesprochene Selbst- und Gotteserkenntnis Parzivals hinaus. Inhaltlich erkennt Parzival, dass Gott ihn mit dem Bild der Geliebten, und das heißt auch, mit seiner Liebe zu seiner Frau, glücklich machen will. Der Gedanke von Gott als dem Urheber seines Liebesglücks überschreitet nicht den Denkhorizont höfischer Minnevorstellungen. Die Verbindung der Geliebten mit Gott in der figura crucis hingegen macht die Geliebte zu einem Element des Heilsgeschehens selbst, dessen christologischen Sinn die Blutstropfen auch assoziieren, was sich z.B. auch darin zeigt, dass die Blutstropfen an anderer Stelle als Blutmale bezeichnet werden. (vgl.: „daz vuocten im diu bluotes mâl / und ouch die strenge minne“, 287,10f.)
Zu beachten ist auch, dass die Figur des Dreiecks, im Altertum ein Lichtsymbol, in christlicher Deutung zum Symbol der Trinität gewandelt [52] , erst in der Zuordnung der Blutstropfen auf drei Punkte im Gesicht der Geliebten in seiner Form erkennbar wird.
Parzivals „Vision“ geht vermöge ihrer formalen Struktur weit über ein traditionelles Minnegedenken bzw. eine „Imagination“ der abwesenden Geliebten [53] hinaus und enthält in einer dem handelnden Subjekt nicht verfügbaren Weise die Vorwegnahme des Lebensziels, zu dem Parzival exemplarisch für den Menschen auf dem Weg ist: die Verwirklichung der göttlichen Minne durch Selbstversöhnung in der rechten Ehe.
Der „äußere“ Chiasmus, die Verbindung von Gott und Condwîrâmûrs, wird erst im neunten Buch beim Vormittagsgespräch mit Trevrizent in einer Höhle in der Wildnis und ebenfalls in der Kälte der Schneelandschaft durch entsprechende chiastische Verbindung von Condwîrâmûrs mit dem Gral wieder aufgegriffen, sofern die Rede von Parzival die Worte „grâl“ – „wîp“ in Reimstellung enthält und Trevrizent die Reihenfolge umkehrend zwei Verse mit „wîbe“- „grâl“ enden lässt. (467, 26 – 468, 11), so dass formal die Struktur des Chiasmus entsteht. [54]
Inhaltlich bemerkenswert ist dabei die Rangfolge. Indem Parzival bekennt: „mîn hoestiu nôt ist um den grâl, / dâ nâch um mîn selbes wîp“ (467,26f.), ordnet er beide Ziele nicht gleichwertig nebeneinander in der Art eines „Doppelziels“ [55] , sondern priorisiert den Gral. [56] Entsprechend spricht auch Trevrizent in seiner Antwort zuerst von der „rehten ê“ als Voraussetzung für die Befreiung von Höllenqualen, dann vom Gral als dem höchsten, willentlich nicht erjagbaren Ziel, so dass die rechte Ehe als Stufe auf dem Weg zum Gral erscheint.
Der Weg zum Gral bzw. zur Gotteserkenntnis scheint also vermittelt zu werden über die rechte Minne, so wie umgekehrt ein Minnevergehen (eine maßlose Minne) das Leiden des Gralskönigs Anfortas verursacht hat. [57]
Zurück zur Struktur von Parzivals Gedankenrede in der Blutstropfenszene: Dreimal ruft Parzival den Namen der Geliebten auf und konkretisiert dabei schrittweise die Vergleichshinsicht: zuerst beobachtet er nur die Vergleichbarkeit der Farbe mit der Geliebten überhaupt („... sich mac vür wâr disiu varwe dir gelîchen“ , 282,28f.), dann bezieht er sie auf ihr Erscheinungsbild („hie liget dîn schîn“, 283,04) und zuletzt auf ihren schönen Körper („dem gelîchet sich dîn bêâ curs“, 283, 08). Von da aus wandert der innere Blick Parzivals konkret zum Gesicht der Geliebten und er überträgt die im Schnee vorgefundene Dreiecksfigur auf drei Punkte in ihrem Gesicht: „des helden ougen mâzen, / als ez dort was ergangen, / zwêne zeher an ir wangen / den dritten an ir kinne“ (283,10-13).
Die Gedankenrede führt also über ihre formale Struktur wie auch über ihren Inhalt von der figurativen Präsenz des Heilsgeschehens, das in seiner vorherbestimmten Ganzheit immer schon da ist, zurück in die konkrete Wirklichkeit des Lebens, über die es eingeholt und realisiert werden muss.
Dementsprechend kommt an dieser Stelle auch der Erzähler in diese Wirklichkeit zurück, indem er sich in seinem Resümee des Ereignisses in dem Denkhorizont höfischer Minnevorstellung bewegt: „er phlac der wâren minne / gein ir gar âne wenken“ (283,14f.) und interpretiert das Geschehen als das in der höfischen Minnetradition bekannte „sich verdenken“ (283,16).
[...]
[1] Erschienen in: „Farbe im Mittelalter, Bd. II, hg. von Ingrid Bennewitz und Andrea Schindler, Akademie Verlag Augsburg 2011, S. 461-479.
[2] A.a.O., S. 465
[3] A.a.O., S. 467
[4] A.a.O., S. 466
[5] Ibd.
[6] Vgl. dazu Kap. 2 meiner Arbeit.
[7] Schindler, a.a.O., S. 466
[8] A.a.O., S.471
[9] Lexikon des Mittelalters, Artemis Verlag München. Zürich 1986, S. 1563
[10] In: „Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 2008, Heft 3, S. 459-482
[11] A.a.O. S. 480
[12] „Die besondere Faszination, die von Glanz und Farben ausgeht, ersetzt bei Wolfram also die sonst übliche Motivation des Helden in den Artusromanen. Während ihre Aventiurefahrt bekanntlich mit einer konkreten ritterlichen Aufgabe begründet wird, sind es im ‚Parzival‘ Glanz und Farben, die seinen Weg initiieren und weiterhin bestimmen.“ (A.a.O., S.474)
[13] Vgl. Schausten, a.a.O., S. 479
[14] Vgl. dazu Kapitel 1a meiner Analyse.
[15] Vgl. dazu meine Analyse in Kap. 1a
[16] Vgl. dagegen Schausten, a.a.O., S. 477
[17] Vgl. dazu ausführlich Kap. Ia meiner Arbeit.
[18] In: Monika Schausten (Hg,): Die Farben imaginierter Welten. Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 147 – 167. Herausgegeben vom Akademie Verlag Berlin 2012 aus: Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Bd. 1, hg. von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten
[19] Ein Ansatz, den vor ihm schon Nicole Müller verfolgte in ihrer Dissertation: „Feirefiz-Das Schriftstück Gottes“, Verlag Peter Lang, Bern 2008
[20] Wandhoff, a.a.O., S. 166
[21] Ibd.
[22] A.a.O., S. 161
[23] Das Leitmotiv der Farben Rot und Weiß wird hinsichtlich seiner sich werkimmanent entwickelnden Bedeutungsspektren untersucht. Außertextliche Bedeutungsvorgaben, z.B. als bekanntes Märchenmotiv (vgl. etwa „Schneeweißchen und Rosenrot“) oder als Liebesmotiv in christologischer Deutung (z.B. bezogen auf den Freund des Hohen Liedes: „Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden“, HL V,10) sollen nicht vorab der Analyse aufgesetzt werden.
[24] Sigune selbst reflektiert und weiß offenbar nicht, dass gerade die vermeintliche Verfehlung seiner Bestimmung durch die nicht gestellte Frage zur Erfüllung eben dieser Bestimmung führt, weil sie das in seinem Namen bedeutete „Mitten-Hindurch“ auslöst: den „Umweg“ durch die Entfremdung hindurch, der konstitutiv für diese Bestimmung ist.
[25] Den Namen erhält er zugewiesen von Gurnemanz: „der wirt erkande den ritter rôt ... den rôten ritter er in hiez“, 170,00 – 05
Es müsste auffallen, dass für Parzival der rote Harnisch so wichtig ist, obwohl er doch ursprünglich Ritter werden wollte wegen der lichten Erscheinung der Ritter im Wald von Soltane, die er für Gott hielt.
Den „Deckmantel“ wird er tragen, bis Cundrie öffentlich seinen Decknamen entlarvt und seinen eigentlichen Namen nennt. Danach bricht Parzival auf mit einem „lieht wîz îserharnas“. (333,04)
[26] Die Handhabung der Rüstung muss Parzival erst durch den Knappen erlernen, d.h. er verfügt noch nicht darüber, sie ist ihm fremd. Indem der Knappe ihm die Rückgabe seines unritterlichen Gabilots verweigert, führt er ihn auf den Weg zu seiner ritterlichen Bestimmung. Aber das Erlernen des rechten Gebrauchs der ritterlichen Waffen: Schwert, Speer und Schild bleibt einer späteren Station auf seinem Weg, der Episode bei Gurnemanz, vorbehalten.
[27] Die Halbierung der Zeit lässt sich darstellen im Zahlenverhältnis 2:1 bzw. 1:2, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt des Zeitgewinns betrachtet. Nach mittelalterlichem Zahlenverständnis verweist dies auf den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Typos und Antitypos. (Das himmlische Jerusalem z.B. ist repräsentiert in der Zahl Acht, im Oktogon, welche sich aus der Verdopplung der Vier, der irdischen Stadt, der Roma Quadrata ergibt.) Im Sinne des oben Gesagten kann dies verstanden werden als Antizipation der Erfüllungsgestalt seiner Lebensbestimmung in der Dimension des Noch-Nicht-Wirklichen.
[28] Das Pferd des roten Ither führt ihn den Weg zu Gurnemanz und gleicht durch seine Kraft die Dummheit des Knaben aus, der es den ganzen Tag in vollem Harnisch und im Galopp reitet, d.h. das Pferd hat wesentlichen Anteil an der heilsgeschichtlich bedeutsamen Halbierung der Zeit.
[29] Joachim Bumke stellt ebenfalls fest, „dass das Drama der Gralsuche sich nicht in der äußeren Handlung abspielt, sondern im Innern des Helden“ und fügt hinzu: „Die Wendung nach innen vollzieht sich in der Blutstropfenszene“ (in: ders. Die Blutstropfen im Schnee, Tübingen 2001, S. 5). M.E. beginnt der Prozess der Verinnerlichung im Sinne einer Entwirklichung bereits hier und betrifft dadurch auch schon das Geschehen bei Parzivals erstem Aufenthalt in der Gralsburg.
[30] In der Übersetzung von Dieter Kühn: „Der Fischer rief: „Wenn ihr das findet, sorg ich heute abend selbst für Euch. Vergesst nicht Euren Dank dafür. Seht Euch vor: dort führen Wege in die Irre; an diesem Hang verliert man leicht die Richtung“. (Parzival I, hg. von E. Nellmann, Fft. Main 2006, S. 377)
[31] Auffallend ist, dass Parzival vorher schon auch den Weg zum Artushof von einem Fischer gewiesen bekam, allerdings von einem Mann, der „aller güete laere“ (142,18) war und dem Parzival die der Jeschute geraubte Spange sozusagen als Wegzoll überlassen muss. Dieser egoistische und habgierige Fischer, den Parzival für Unterkunft und Verköstigung weit überbezahlt, erscheint wie eine vorwegnehmende Negativspiegelung zum „Fischer“ Anfortas, dem Parzival für die überreiche Bewirtung den entsprechenden Dank („sô danket als man iwer pflege“, 226,05), nämlich die Erlösungsfrage, schuldig bleibt. Auch dies ein Hinweis auf die antithetische Struktur der Parzivals Entwicklungsweg erzählenden âventiure und auf ihren im Folgenden noch weiter herauszuarbeitenden dialektischen Prozesscharakter.
[32] Dorothea Forstner, „Die Welt der Symbole, Innsbruck 1967, S. 63
[33] Johannes Rathofer, „Der Heliand. Theologischer Sinn als tektonische Form“, Köln, Graz 1962, S. 299. „Die Quadratzahl des Dekalogs .. ist gewonnen ... aus der doppelten ‚Erfüllung’ der zehn Gebote“.
[34] Dazu u.a., D. Forstner, a.a.O. S. 131.
Vgl. dazu auch die Phänomenologie der Mystik: Weiß bezeichnet die dritte Aura der Person, vertritt ihre geistige Seite. Ihr Erscheinen stellt sich in der Farbe des Schnees dar. Rot dagegen bezeichnet die zweite Aura der Person, das Psychische. (Quelle nicht mehr auffindbar)
[35] Walter Haug („Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht?“) sieht den Grund für das Ausbleiben der Erlösungsfrage „im Widerspruch zwischen objektiver Struktur und subjektivem Bewusstsein“ (S.61 f.), Parzival müsse verstehen lernen, dass die „Paradoxie der schuldlosen Schuld“ nicht zu verstehen ist. Während der Held Subjektivität erwerbe, indem er „sich seiner eigenen Geschichte bewusst wird“ (S.52), gerate er in eine unlösbare Spannung zu dem vom Dichter geleiteten Strukturschema der Geschichte. Dieser „Erkenntnisprozess“ ist aber m.E. eingebettet in das heilgeschichtliche Verhältnis von Präfiguration und Erfüllung: Parzival muss – in einem geradezu hegelischen Sinn – erst der werden, der er ist. Darauf verweist u.a. das in den verschiedenen Stationen seines Entwicklungsweges auftretende Bekleidungsmotiv. Subjektivität ist dabei mehr als Bewusstwerdung, nämlich Aneignung des ihm bestimmten Eigenen, Selbstwerdung, aber nicht im Sinne einer beliebigen Individualgeschichte, sondern als präfiguriertes Exemplum. Dies hat zwar mit Reflexion zu tun, aber nicht im Sinne einer individuellen subjektiven „Erinnerung“, sondern als Manifestation, als Offenbarung der Wahrheit dessen, was bisher nur verborgen, sozusagen in der Latenz vorhanden war. Sinnenfällig werden solche Strukturen in der ikonografischen Darstellung z.B. des Verhältnisses von altem und neuem Bund durch Synagoge und Ecclesia am Straßburger oder Freiburger Münster, wo die von der Augenbinde befreite Ecclesia zurückblickt (re-flektiert) auf die noch blinde Synagoge.
[36] Zitiert nach der Ausgabe von Albert Leitzmann. Bei Nellmann heißt es: „er was noch grâwer dan der tuft.“
Trevrizent wird das Geheimnis später auflösen: es handelt sich um den alten Frimutel, dessen Vorbildlichkeit als Gralskönig in seiner treuen Liebe zu seiner eigenen Ehefrau besteht: „der minnet sîn selbes wîp, / daz nie von manne mêre / wîp geminnet wart sô sêre; / ich mein von rehten triuwen. / sîne site sult ir niuwen, / und minnet von herzen iuwer konen.“ (474,14-19) Parzivals Blick auf den schneeweißen alten Mann zeigt ihm einen für sein eigenes Leben bedeutsamen Aspekt an.
[37] Die kostbare Pelzmütze des Gralskönigs ziert ein Rubin, also derselbe Edelstein wie auch der des Griffes des Gralsschwerts. Aber statt der weißen Farbe erscheinen an den Zobelfellen die Abschattungen ihres Gegenteils: Schwarz und Grau. Zu einem möglichen motivischen Zusammenhang mit dem Elsterngleichnis im Prolog sowie die der Belakane zugeordnete Farbkombination vergleiche die Hinweise im dritten Teil der Arbeit.
[38] Der explizite Hinweis auf die „schmale“ Spur, die zuvor „breit“ gewesen ist, deutet möglicherweise auf das Gleichnis von den zwei Wegen aus der Bergpredigt hin: Parzival wird auf den „schmalen“, den mühevollen Weg verwiesen.
[39] Der Widerspruch zwischen willentlicher Handlungsorientierung und tatsächlicher innerer Situation gehört zu jenen „Umbrüchen“, die Parzivals Entwicklungsgeschichte vorantreiben nach dem Gesetz der âventiure, dem Parzival ausgeliefert ist, weil er es nicht begreift .
[40] Bei Chrétien ist es die Eiche; Wolfram wählt gezielt den symbolischen Ort des Geschehens.
[41] Die Augen der goldenen Drachen bestehen aus Rubinen, verweisen also auf den Griff des Gralsschwertes und auf die Pelzmütze des Gralskönigs.
[42] Der Ansatz dieser Arbeit geht auf eine Beobachtung und Erkenntnis im Jahr 1970 zurück.
[43] A.a.O.; S. 1f. Anmerkung 1.
[44] J. Bumke 2001, a.a.O., S. 4
[45] J. Bumke2001, a.a.0., S. 3ff
Vgl. dazu auch: Christiane Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, Böhlau 2009. Ackermann sieht in Parzivals Schweigen ein Indiz für seine „Unreife“, die seine „Initiation in das Symbolische“, welche „wesentlich mit Sprache verbunden ist“, behindere. (S. 175) Dem ist entgegenzuhalten, dass Parzivals Schweigen im Kontrast zur vorlauten Geschwätzigkeit der derben Haudegen vom Artushof durchaus nicht als Defizit erscheint.
Im Gegenteil, der Erzähler lobt z.B. im weiteren Verlauf der Blutstropfenepisode Gawans Schweigen gegenüber Keie als das Verhalten des „wol gezogene(n) man(nes)“, dem „schame versliuzet sînen munt, / daz dem verschamten ist unkunt“ (299,16 ff.) (des wol erzogenen Mannes, dem die Scham den Mund verschließt, was dem Unverschämten fremd ist)
[46] Vgl. auch dazu Bumke und Ackermann
Dass Trevrizent später den Schnee im Sommer quasi naturwissenschaftlich, nämlich durch eine ungewöhnliche Gestirnkonstellation erklärt, ändert nichts an der Sinnstruktur der vorgegebenen Situation, sondern gibt ihr im Gegenteil eine auf Parzival hin zentrierte kosmische Bedeutung.
[47] Ch. Ackkermann, a.a.O., S. 181, Anm. 483; J. Bumle, a.a.O. S. 59f.
[48] J. Bumke 2001, a.a.O., S. 59f. „Mit hurte („wie ein anstürmender Ritter“ 282,15) hat sich der Falke auf die Gans gestürzt ...“.
[49] Eine andere Zuordnung der Gans könnte aus der Episode mit Keye herausgelesen werden: Keye stürzt über den Baumstamm, „dâ diu gans entran“ (295,19) und „von dirre hurte gar zerbrast“ (295,27) dem blindwütigen Angreifer Arm und Bein, also Selbstverletzung des „tumben“, der jetzt an der Stelle der Gans stürzt.
[50] Vielfältige Beispiele bietet Gottfrieds „Tristan“; ein anderes Beispiel ist das mit dem Vers „Du mist mîn, ich bin dîn“ beginnende namenlose Minnelied, das ursprünglich als Brautformel diente, usw.
[51] vgl. z.B. J. Rathofer, a.a.O., S. 295: “Damit wird … der Form die Funktion zugesprochen, die im Gehalt potentiell anwesende religiös-ethische Wirkkraft in Richtung auf den Leser und Hörer zu akzentuieren. Die Form entbindet die im Wort schlummernden Potenzen ...“
[52] vgl. Dorothea Forstner, a.a.O., S. 67-68
[53] vgl. dagegen Christiane Ackermann, a.a.O., S. 179 f.: „Es zeigt sich also in der Blutstropfenepisode zum einen, dass sich das männliche Subjekt über die Abwesenheit der Frau bildet, und zum andern, dass es gestärkt aus seiner Imagination ihrer Anwesenheit (die auf ihrer Abwesenheit beruht) hervorgeht ...“ und Anm. 481: „Grundsätzlich fungiert die Frau im Parzival als Medium der Konstruktion von Männlichkeit.“
[54] ’ mîn hoestiu nôt ist um den grâl,
dâ nâch um mîn selbes wîp:
ûf erde nie schoener lîp
gesouc an deheiner muoter brust.
Nâch den beiden sent sich mîn gelust.’
Der wirt sprach: ‚herre, ir sprechet wol.
Ir sît in rehter kummers dol,
sît ir nâch iuwer selbes wîbe
sorgen gebet dem lîbe.
...
ie jeht, ir sent iuch um den grâl:
ir tummer man, daz muoz ich klagn. (467,26 – 468,11)
[55] Vgl. dagegen J. Bumke, 2001, a.a.O., S. 49
[56] Noch deutlicher wird diese Rangfolge schon zuvor bei der dritten Begegnung mit Sigune: „ich sene mich nâch ir kiuschen zuht, / nâch ir minne ich trûre vil / und mêr nâch dem hôhen zil, / wiech Munsalwaesche mege gesehen / und den grâl : daz ist noch ungeschehen.“ (441,10 ff.)
vgl. dazu auch Norbert R. Wolf: „Die Minne als Strukturelement im Parzival Wolframs von Eschenbach“, in Euph. 64, 1970, S. 183
[57] J. Bumke (2001, a.a.O., S. 45-50) deutet den „Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis“ in der Blutstropfenszene ganz entsprechend und stellt fest: „Worin der Zusammenhang zwischen dem Gral und Condwiramurs besteht, wird in der Blutstropfenszene nicht gesagt“ (S.49). Bumke sieht ihn, ebenfalls unter Verweis auf das Gespräch mit Trevrizent, im „gemeinsame(n) Ursprung des Doppelzieles“.(S. 49) M.E. liegt hier aber eine Stufenfolge vor: die rechte Minne führt zum Gral, weil Gott selber das klare Licht der reinen Minne ist. Der Weg dahin führt „mitten hindurch“ durch das Leiden der irdischen Minne. Wenn Bumke unter Bezug auf Augustin sagt, „dass die Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Gotteserkenntnis ist“ (a.a.O., S. 47), so ist dieses Selbst im Sinne der Wesensbestimmung von Parzival zu verstehen, wie es bereits der rote Ither formuliert hatte, wenn er in Parzivals Erscheinung „der wâren minne blic“ schaute und damit deren präfigurierenden Charakter anzeigte.
- Citation du texte
- Gertraud Pippow (Auteur), 2012, Die Parzival-Âventiure im Spannungsfeld der Farben Rot und Weiß, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/195273
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