Es werden Struktur und Relevanz des marx'schen Interessebegriffs analysiert, sowie deren Einbettung in das marx'sche Theoriegebäude. Dazu wird zuerst dem Interessebegriff allgemein nachgegangen, um dann durch den Vergleich mit Adam Smiths Interessebegriff den marx'schen zu konturieren. Resultat ist, dass das Interesse als Motor der Geschichte zentral für Marx' Theorie ist, seine Konzeption jedoch Inkonsistenzen und blinde Flecken im Verhältnis von Einzelinteressen und Gruppeninteressen aufweist. Außerdem ist die Implikation der Auflösung aller Einzelinteressen im Kommunismus problematisch.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Der Begriff des Interesses
2.1 Worterklärung
2.2 Aspekte des Begriffs
2.3 Bedeutung des Interessebegriffs
3 Die klassische politische Ökonomie
3.1 Relevanz für Marx' Denken
3.2 Adam Smith und der „Wohlstand der Nationen“
4 Marx' Kritik der klassischen, politischen Ökonomie
4.1 Historischer Materialismus
4.2 Kapitalismuskritik
4.3 Eigeninteresse, Akteure und Strukturen
4.4 Rationalität und Interesse
4.5 Gesellschaftliche Bedingtheit der Interessen
4.6 Versöhnung der Interessen im „Reich der Freiheit“
5 Diskussion
6 Fazit
1 Einleitung
Der Begriff des Interesses ist zentral in der marx'schen Philosophie. Marx zufolge bestimmen antagonistische gesellschaftliche Interessen den Fortgang der Geschichte. Im Kapitalismus sind es die Interessen der Kapitalisten und die der Arbeiter, die sich grundsätzlich widersprechen. Dieser Konflikt solle, nach Marx, im Idealzustand einer klassenlosen Gesellschaft münden. Auf der anderen Seite bezieht sich auch eine sehr populäre Kritik1 an Marx auf dessen Interessebegriff: Die „Idee“ einer kommunistischen Gesellschaft sei zwar schön, aber sie benötige einen selbstlosen Menschen, der sich für die Gemeinschaft aufopfere. Der Kapitalismus sei darum so erfolgreich, weil er der - eigentlich egoistischen, also rein eigeninteressierten - 'menschlichen Natur' eher entspreche. Wie passt das aber zusammen mit Marx' Vorstellung des Eigeninteresses als Motor der Geschichte?
Ausgangsfrage ist hier also die nach der Struktur des Interessebegriffs bei Marx. Dazu wird der von Marx analysierte und kritisierte 'bürgerliche' Interessebegriff im Sinne von Marx betrachtet werden. Als Musterbeispiel soll dazu Adam Smiths Interessebegriff dienen.
Resultat wird sein, dass Marx' Kritik des bürgerlichen Interessebegriffs und dessen Kontextlosigkeit grundsätzlich richtig ist. Die populäre Annahme, dass Marx' Theorie einen 'selbstlosen' Akteur braucht, kann dabei aber weder klar bejaht oder verneint werden, sondern sie benötigt einige Differenzierungen. In diesem Zusammenhang werden auch bestimmte blinde Flecken und Unzulänglichkeiten an Marx' Interessebegriff kritisiert werden.
2 Der Begriff des Interesses
Für die folgende Analyse des marxschen und des 'bürgerlichen' Interessebegriffs ist es hilfreich, einen Blick aus heutiger Position auf den Interessebegriff zu werfen.
2.1 Worterklärung
Von der lateinischen Wortherkunft her heißt Interesse: Inter-esse = inter „zwischen, inmitten“ und esse „sein“.2 Interesse wird von Grotlüschen definiert als „gerichtete Beziehung zwischen Person und Sachverhalt, bzw. den Anteil auf Seiten der Person an dieser Beziehung.“3 Darin wird eine Triebkraft für das Handeln dieser Person gesehen. Hoffmeister spricht etwas genauer von einer „aus ursprünglichen und vitalen Antrieben oder Bedürfnissen stammende Anteilnahme“, die ein Mensch an einer Sache, an einem anderen Menschen, oder an einem Geschehen habe. In diesem Sinne seien Interessen „transitive Strebungen oder Triebfedern.“4 Hier wird also eine enge Beziehung Auch wird, um den Lesefluss zu sichern, die konservative, männliche Geschlechtsform verwandt.
„zwischen anteilnehmenden Ich und dem affektiv besetzten Gegenstand ausgedrückt“5.
2.2 Aspekte des Interessebegriffs
Sobald tiefer geblickt wird, treten verschiedene Aspekte und wesentliche Grundbedingungen für das Interesse hervor. Für die analytische Präzision ist hier die webersche Unterscheidung zwischen „zweckrational“ und „wertrational“6 hilfreich. Bezieht sich „Interesse“ nur auf mich selbst, auf meinen Nutzen, auf meine unmittelbaren Zwecke? Oder kann ich auch Interesse an Dingen außerhalb von mir haben, weil ich sie für normativ richtig halte, auch wenn für mich kein persönlicher, direkter Nutzen damit verbunden ist? Diese Unterscheidung wird hier auch in den Begriffen 'Eigeninteresse“ und 'selbstloses Interesse' weitergeführt werden. Wesentlich ist auch die Frage nach der Genese von Interessen. Entstehen sie im Zusammenspiel zwischen Selbst und Welt, oder werden sie schlicht „vorgefunden“? „Wird Interesse“, oder 'ist „Interesse“7 ? Die Frage danach, wer interessiert ist, scheint auf den ersten Blick absurd, macht aber Sinn, nimmt man kollektive Akteure an, wie Marx es tut. Auch die Frage nach der Rationalität spielt mit in den Interessebegriff hinein. Ob mein Verhalten als rational oder nicht rational beurteilt wird, hängt auch von der Struktur meiner Interessen ab. Auch ob es ein 'wahres Interesse' gibt, und ob ich dies überhaupt erkenne, sind wesentliche, damit zusammenhängende Fragen, auf die es bei Marx viele explizite und implizite Antworten gibt.
2.3 Bedeutung des Interessebegriffs
Laut Neuendorff hatte der Begriff des Interesses vor allem in der Soziologie des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert eine zentrale Stellung. Lorenz von Stein wird zitiert, der meinte, das Interesse gebe den „Mittelpunkt der Lebenstätigkeiten jedes Einzelnen in Beziehung auf jeden anderen“ ab. Es sei daher „ das Prinzip der Gesellschaft“8. Für Max Weber sei soziales Handeln an fremden und eigenen Interessenlagen orientiert9. Man könnte die Bedeutung des Interessebegriffs auch sehr zugespitzt formulieren: Ohne Interesse keine Handlung. Das gilt zumindest in dem grundsätzlichen Sinn, dass ich - in vielleicht letzter Instanz - von meinem Überlebensinteresse dazu gebracht werde zu essen, zu trinken oder zu atmen, oder mich, aus dem Eigeninteresse der körperlichen Unversehrtheit heraus, einem fremden Interesse beuge.
3 Die klassische, politische Ökonomie
3.1 Relevanz für Marx' Denken
Marx wurde in der „Zeit“ als „fanatischer Vielleser“ bezeichnet10. Er hat sich mit vielen Theorien seiner Zeit auseinander gesetzt. Besondere Bedeutung haben aber die „bürgerlichen Ökonomen“. Seine wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Einsichten wurden wesentlich in Auseinandersetzung mit Denkern wie Adam Smith und David Ricardo entwickelt. Teile, wie die Arbeitswerttheorie werden übernommen oder weiterentwickelt, andere Teile werden kritisiert und gehen dialektisch in seine Kritik über. Marx' Gedankengebäude wird verständlicher, vergleicht man es mit der klassischen, politischen Ökonomie - der „bürgerlichen Ökonomie“. Sein Blick bleibt aber nicht auf oberflächliche ökonomische Probleme begrenzt, sondern er geht tiefer. Ein Blick auf die Ökonomie ist ein Blick auf die Strukturen der Gesellschaft11.
Da der Raum für diese Arbeit sehr begrenzt ist, beschränke ich mich hier paradigmatisch auf eine grobe Beschreibung von Adam Smiths ökonomischer Theorie und dessen Interessebegriff.
3.2 Adam Smith und der „Wohlstand der Nationen“
Adam Smith war ein schottischer Moralphilosoph, Aufklärer und gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie. 1751 wurde er Professor für Logik an der Universität Glasgow und 1752 Professor für Moralphilosophie12. Seine beiden Werke „The Theory of Moral Sentiments“ und „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ („Wohlstand der Nationen“) waren schon zu Smiths Lebzeiten ein Erfolg und machten ihn weithin bekannt. Letzteres gilt als Standardwerk der Wirtschaftswissenschaft und wurde als die „Bibel der Liberalen“13 bezeichnet. Darin befasst er sich mit Arbeitsteilung, dem Prinzip des freien Marktes, der Verteilungstheorie, der Außenhandelstheorie und der Rolle des Staates.
Quelle allen Wertes ist die Arbeitskraft. Sie ist auch das reale, objektive Maß des Tauschwerts aller Waren14. Das wird als Arbeitswertheorie bezeichnet15. Der „natürliche Hang zum Tausch“ bei den Menschen gibt den Anstoß zur Arbeitsteilung. Dieser nützt die Vielfalt der menschlichen Talente effizient aus, was wiederum Quelle erhöhter Produktivkraft ist. Allgemein lässt sich sagen, dass Smith einen schlanken Staat fordert, der sich so gut wie möglich aus der Wirtschaft heraushalten soll. Grund dafür sei, dass die „unsichtbare Hand“ des Marktes die wirtschaftlichen Kräfte in der Regel ideal von selbst regelt.
„Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.“16
Der Preismechanismus des Marktes, verbunden mit dem Eigeninteresse der einzelnen Marktteilnehmer, motiviert diese dazu, gute Würste, Kartoffeln und Brötchen herzustellen. Anders als beispielsweise Hobbes geht Smith weitgehend von einer natürlichen harmonischen Ordnung der Interessen aus17. Er betont die positive Kraft des Eigeninteresses18, unterscheidet dabei aber deutlich zwischen Habgier und Eigeninteresse19. Das Verfolgen des Eigeninteresses fördere „häufig das der Gesellschaft nachhaltiger“, als wenn man wirklich beabsichtige das zu tun. „Meines Wissens ist niemals viel Gutes von denen geleistet worden, die vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem öffentlichen Wohl.“20 Voraussetzung für die Verwirklichung meines Interesses ist das Interesse als Vorteil des anderen. Die isolierten Anbieter der Früchte ihrer Arbeit werden über den Tausch gesellschaftlich vermittelt.
Smith entwickelt also mit Hilfe des Interessebegriffs das „Prinzip der permanenten Vermittlung der egoistischen Handlungen zum geordneten System einer Marktgesellschaft“21. Der Vermittlungsmechanismus ist hierbei der Markt. Diesen begreift er als System natürlicher Freiheit. In der Tauschbeziehung richtet sich das Interesse des einen auf den Gegenstand des anderen. Um dann im Geflecht der Tauschbeziehungen ein interessanter Anbieter zu sein, richtet sich das Interesse jedes einzelnen darauf, möglichst begehrte Waren für den Tausch herzustellen.
„Und so spornt die Gewissheit, allen Produktionsüberschuss seiner Arbeit, der weit über seine eigene Konsumtion hinausgeht, für solche Produkte der Arbeit anderer, die er gerade braucht, austauschen zu können, einen jeden an, sich einer bestimmten Beschäftigung zu widmen und zur Vollkommenheit zu bringen.“22
Die unähnlichsten Anlagen und Neigungen werden hier über das Eigeninteresse als Gesamtsystem zum Nutzen aller ideal vermittelt. Dabei bestimmt jeder Mensch sich selbst in seiner Tätigkeit.
[...]
1 Mit „populär“ ist hier gemeint, dass es eine Sichtweise ist, die in der Bevölkerung sehr verbreitet ist.
2 Der kleine Stowasser: Lateinisch-deutsches Schulw ö rterbuch
3 Grotlüschen (2010): 39
4 Neuendorf (1973): 17, hier wird Hoffmeister zitiert. Zitate werden nach neuer, deutscher Rechtschreibung korrigiert.
5 Ebenda
6 Vgl.: http://www.textlog.de/7295.html
7 Grotlüschen (2010): 38
8 Neuendorf (1973): 17
9 Neuendorff (1973): 21
10 http://www.zeit.de/1999/09/Saekulares_Unternehmen
11 Heinrich (2001): 28
12 Ballestrem (2001): 36
13 http://www.zeit.de/1999/20/199920.biblioserie-smit.xml
14 Neuendorff (1973): 90
15 Die Arbeitswerttheorie wird modifiziert auch von Marx übernommen.
16 Smith (1949): 24
17 Laut Ballestrem (2001:148ff) wird man Smith nicht gerecht, unterstellt man ihm völlige Blauäugigkeit hinsichtlich der harmonisierenden Kraft der Märkte. Partikularinteressen und falsche Ideen, sowie starke Ungleichgewichte zwischen den Verhandlungspartnern können der Gesellschaft schaden. Dennoch lässt sich als Grundannahme feststellen, dass Smith eine natürliche Harmonie der Interessen impliziert.
18 Vgl. dazu auch Mandevilles „Bienenfabel“.
19 Neuendorff (1973): 86
20 Zitiert in:Ballestrem (2001): 148
21 Neuendorff (1973): 31
22 Smith (1949): 26
- Citar trabajo
- H. Hamade (Autor), 2011, Der Interessebegriff bei Marx, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193557
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