In dem Buch werden die Äußerungen der Päpste zur internationalen Politik in ihren Sozialenzykliken seit "Rerum novarum" untersucht. Dabei wird spezifisch auf die Themen Krieg und Frieden, Menschenrechte, wirtschaftliche Entwicklung und Globalisierung eingegangen. In der Einleitung werden kurz die Organisation und der voelkerrechtliche Charakter des heiligen Stuhls dargestellt.
Inhaltsverzeichnis
1. Die Divisionen des Papstes
1.1. Kleinstes Territorium
1.2. Über eine Milliarde Anhänger
1.3. Transnationale Organisation
1.4. Römische Kurie
1.5. Sozialer Akteur
2. Was die katholische Soziallehre ist und will
2.1. Begriff
2.2. Erkenntnisquellen
2.3. Ordnungsprinzipien
2.4. Sozialethik und Wissenschaft
3. Seit Jahrhunderten
3.1. Anfänge
3.2. Mittelalter
3.3. Nach der Entdeckung der Neuen Welt
3.4. Erneuerung seit Leo XIII.
4. Krieg und Frieden
4.1. Kann ein Christ Soldat sein? Von der Kriegsdienstverweigerung zum Heiligen Krieg
4.2. Rückkehr zum gerechten Krieg – bald für beide Seiten
4.3. Nie wieder Krieg –vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden
5. Menschenrechte
5.1. Christliche Wurzeln
5.2. Merkwürdiges Fehlurteil
5.3. Langsame Korrektur
5.4. Anerkennung und Einsatz
6. Wirtschaftlicher Fortschritt
6.1. Tradition der „caritas“
6.2. Neues seit „Rerum novarum“
6.3. Reiche und arme Nationen
7. Globalisierung
7.1. Vielschichtiges Phänomen
7.2. Äusserungen des Heiligen Stuhls
7.3. Benedikt XVI. und die Weltwirtschaftskrise
7.4. Interreligiöser Dialog
1. Die Divisionen des Papstes
1.1. Kleinstes Territorium
In geraffter Form möchte ich den Aussagen nachgehen, welche die katholische Soziallehre zur internationalen Politik macht. Das Thema kann von zwei Seiten angegangen werden:
- aus der Warte des Politologen, der Prinzipien und Aktivitäten internationaler Akteure untersucht;
- als Gläubiger, der weiss, dass die Soziallehre „integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen ist“ (Johannes XXIII., Mater et Magistra, 1961, 222).
Sowohl für den Gläubigen als auch für den Nichtgläubigen gibt es kaum Zweifel, dass der Heilige Stuhl ein internationaler Akteur ist und als solcher wahrgenommen wird:
- ueber 170 Staaten unterhalten mit ihm diplomatische Beziehungen;
- in mehr als einem Dutzend zwischenstaatlichen Organisationen ist er als Vollmitglied vertreten, bei vielen anderen ist er wie andere Staaten als Beobachter akkreditiert.
Dass der Heilige Stuhl als Völkerrechtssubjekt gilt, hat geschichtliche Gründe. Im christlichen Mittelalter war der politische Einfluss der Kirche gross. Ausserdem regierte der Papst von 754 bis 1870 als weltlicher Herrscher über den Kirchenstaat.
Kirchenstaat
Nach dem Mailänder Edikt von 313 kam es zu einer raschen Verbreitung des Christentums im römischen Reich. Eine der Folgen war, dass die Kirche immer mehr zu Grundbesitz gelangte, der vorwiegend aus Schenkungen und Vermächtnissen stammte.
Getreu dem Bibelwort: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, respektierten die Christen die Oberhoheit des römischen Kaisers. Als dieser seinen Sitz nach Konstantinopel verlegte und seine Macht im Westreich abzubröckeln begann, mussten die Bischöfe häufig für öffentliche Aufgaben einspringen. Sie verteilten Nahrungsmittel und kümmerten sich um die Sicherheit der Leute.
Mit der Völkerwanderung brach das byzantinische Kaisertum in Italien zusammen. In der chaotischen Situation wandte sich Papst Stephan II an das fränkische Reich und schloss mit ihm ein Bündnis ab. Den Karolingern kam die Anerkennung der Kirche gelegen, weshalb Pippin der Kleine dem Papst 754 verschiedene Länderein in Italien schenkte (Exarchat Ravenna, Pentapolis, Emilia, Teile von Tuszien und Sabina).
Das ist der Ursprung des Kirchenstaates. Allerdings glaubten die fränkischen Könige, dass die Oberhoheit über die päpstlichen Gebiete von den byzantinischen Kaisern auf sie übergegangen sei. Sie wollten dem Papst bloss eine funktionale Immunität gewähren, um ihm die Ausübung seines Amtes zu erleichtern. Die Päpste betrachteten sich aber immer mehr als Territorialherrscher, obwohl die genauen Rechtsverhältnisse lange ungeklärt blieben.
1213 sprach Kaiser Friedrich II. dem Kirchenstaat die Anerkennung aus. Nach dem Zerfall des Feudalsystems begannen sich die Renaissancepäpste wie weltliche Fürsten zu benehmen. Sie beschäftigten sich mit der Vergrösserung ihres Staatsgebietes und bedienten sich zu diesem Zweck auch militärischer Mittel. Ihre Verwaltung war nicht besser als die anderer Herrscher, so dass der Kirchenstaat ständig unter Finanznot und Misswirtschaft litt.
Das war mit ein Grund, dass der Kirchenstaat unter die Räder der französischen Revolution geriet. 1798 wurde er in die Römische Republik einverleibt. 1801 liess ihn Napoleon für kurze Zeit wieder entstehen, 1809 gehörte er erneut zu Frankreich. Nach dem Sieg der konservativen Kräfte über Napoleon stellte ihn der Wiener Kongress nochmals in den Grenzen von 1797 her, doch war er schon bald mit neuen Herausforderungen konfrontiert.
Weil die Päpste der Einigung Italiens skeptisch gegenüber standen, besetzte das Könighaus von Savoyen 1860 weite Gebiete des Kirchenstaates. 1870 wurde mit Rom das letzte päpstliche Territorium erobert. Darauf erliess der neue italienische Staat ein Garantiegesetz, das dem Papst Unverletzlichkeit sowie das aktive und passive Gesandtschaftsrecht sichern wollte. Die Päpste wiesen die einseitig erlassene Regelung zurück und betrachteten sich fortan als Gefangene im Vatikan.
1929 erfolgte in den Lateran-Verträgen die Versöhnung zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl. Mit diesen Verträgen anerkannte Italien:
- den völkerrechtlichen Charakter des Heiligen Stuhls,
- die territoriale Souveränität des Papstes über den Vatikan.
Das ist die Formel, die inzwischen von den meisten Staaten übernommen worden ist. Der Heilige Stuhl gilt nicht wegen seines Territorialbesitzes, sondern wegen seines geistigen Amtes als Völkerrechtssubjekt. Der Vatikanstaat mit seinen 40ha und 600 Einwohnern (die Staatsbürgerschaft wird mit bestimmten Funktionen im Vatikan erworben und ist auf deren Dauer beschränkt) soll dem Papst bloss die Ausübung seines Amtes erleichtern. Die päpstlichen Gesandten vertreten bei Staaten und internationalen Organisationen nicht den Vatikanstaat, sondern den Heiligen Stuhl. Ist es der Vatikanstaat, der gewissen Organisationen beitritt, hat das mit dem vorwiegend technischen Charakter ihrer Tätigkeiten zu tun, wie das etwa beim Weltpostverein und der internationalen Fernmeldeunion der Fall ist.
Dass der Heilige Stuhl weiterhin zu den Völkerrechtssubjekten gehört, überrascht insofern, als keiner anderen Religion eine solche Stellung zukommt. Sieht man von der historischen Entwicklung ab, ist diese Sonderbehandlung der katholischen Kirche weder mit der Zahl ihrer Anhänger noch mit anderen Gründen zu erklären.
1.2. Über eine Milliarde Anhänger
Es trifft aber zu, dass der Katholizismus zu den grossen Religionen der Welt gehört. Zwar sind Statistiken über Glaubensbekenntnisse mit Vorsicht zu geniessen, doch lässt sich aus den vorhandenen Zahlen zumindest deren relative Bedeutung ablesen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: David B. Barret & Todd M. Jonhson, International Bulletin of Missionary Research, 2005
Die katholische Religion ist im Vergleich zu anderen auch jene, die am stärksten über die verschiedenen Länder der Welt verteilt ist.
- In etwas mehr als 50 Ländern stellen die Katholiken die Mehrheit dar. Von diesen befinden sich 22 in Südamerika, 17 in Süd- und Zentraleuropa. In Afrika sind 7 Länder zu über 50% katholisch (Angola, Burundi, Demokratische Republik Kongo, Gabun, Kap Verde, Ruanda, Sao Tomé & Principe, Uganda). In Asien sind es die Philippinen sowie Osttimor und die kleinen Inselstaaten Mikronesien und Kiribati.
- In 45 Ländern machen die Katholiken eine Minderheit zwischen 10% und 50% der Bevölkerung aus. Von diesen sind 19 in Afrika, 10 in Europa, 8 in Amerika und 6 in Ozeanien.
- Dagegen sind die Katholiken im Mittleren Osten und im grössten Teil von Asien nur als kleine Minderheiten vertreten.
Das griechische Wort „katholisch“ bedeutet weltweit, ein Anspruch, der auch heute noch seine Berechtigung hat. Die Religion, die vor zwei Tausend Jahren als kleine Minderheit im Mittleren Osten entstanden war, breitete sich zunächst in Europa aus. Dort lebte über Jahrhunderte die grosse Mehrheit ihrer Anhänger. Als spanische und portugiesische Seefahrer die Neue Welt entdeckten, begann die katholische Religion auch in anderen Kontinenten Fuss zu fassen.
Heute hat das katholische Europa seine frühere Vormachtstellung verloren. In den reichen Ländern nimmt die kirchliche Religiosität ab, während die Zahl der Katholiken in den armen Ländern schon aus demographischen Gründen zunimmt. Dort gibt es seit der Jahrtausendwende mehr Katholiken als im Norden. Immer mehr wird die katholische Kirche zu einer Kirche des Südens. Während im 19. Jahrhundert noch Scharen europäischer Missionäre zur Bekehrung der „Heiden“ auszogen, ist inzwischen die Kirche des Nordens auf Priester aus dem Südens angewiesen.
Anteil der Katholiken in den verschiedenen Kontinenten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistisches Jahrbuch der Kirche 2005
1.3. Transnationale Organisation
Mehr als andere Religionsgemeinschaften ist die katholische Kirche hierarchisch und transnational organisiert. An der Spitze steht der Papst, dem in Fragen der Lehre und der Kirchenordnung höchste Autorität zukommt. Faktisch hat die Kirche dessen Unfehlbarkeit seit langem anerkannt, sie wurde aber 1871 vom I. Vatikanischen Konzil zum Dogma erhoben.
Der Papst übt ein dreifaches Amt aus: er ist Bischof von Rom, Oberhirte der Kirche und Herrscher über den Vatikanstaat. Als Bischof von Rom beansprucht er den Primat über alle anderen Bischöfe. Er sieht sich als Nachfolger des Apostels Petrus, dem Christus am See von Galiläa gesagt hatte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Mat 16, 18).
Anfänglich war die Vormachtstellung des römischen Bischofs nicht umstritten. Die Spannungen mit den alten Patriarchaten des Ostens führten aber 1054 zur Abspaltung der orthodoxen Kirche. Martin Luther, der 1517 den Protestantismus begründete, lehnte den Primat des Papstes ebenfalls ab. Wenig später (1534) sagte sich die Anglikanische Kirche von Rom los. Das katholische Verständnis vom Papsttum ist weiterhin ein Hindernis auf dem Weg zur Wiedervereinigung der Christen.
Das Amt des Bischofs von Rom, einer Diözese von 2,5 Mio. Katholiken, delegieren die Päpste mehrheitlich an einen Vikar, der meistens auch zum Kardinalskollegium gehört. Nach dem Holländer Hadrian VI. (1522-1523) waren alle Päpste italienischer Herkunft, bis 1978 der Pole Karol Wojtyla auf den Stuhl Petri kam. Gerade weil Johannes Paul II. nicht Italiener war, bemühte er sich besonders stark um sein römisches Bistum.
Als Staatsoberhaupt des Vatikanstaates nehmen die Päpste in dem knapp 600 Seelen umfassenden Staat sowohl die exekutive wie die legislative und richterliche Gewalt wahr. Die Tagesgeschäfte werden von einem siebenköpfigen Kardinalskollegium wahrgenommen, das sich um das Personal, den Unterhalt und die Sicherheit der vatikanischen Paläste kümmert. Einnahmen aus Museumseintritten, der vatikanischen Post und Bank sowie den steuerfreien Einkaufsläden werfen dem Heiligen Stuhl jährlich einen kleinen Gewinn ab.
Die Hauptaufgabe des Papstes besteht in der Leitung der Weltkirche. Johannes Paul II. hat es hervorragend verstanden, für dieses Amt die globalen Kommunikationsmittel zu nutzen. In Glaubensfragen blieb er konservativ, dagegen fanden seine Äusserungen zu Frieden, Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit weltweite Beachtung.
Die Kardinäle werden vom Papst ernannt, um ihm als beratendes Gremium zur Seite zu stehen. Ihre wichtigste Funktion ist, beim Tode oder beim Rücktritt eines Papstes den Nachfolger zu wählen. In den ersten Jahrhunderten wurde der Bischof von Rom - wie auch andere Bischöfe - von den Geistlichen vorgeschlagen und durch die Gläubigen bestätigt. Mit der steigenden Bedeutung des Papsttums ist 769 die Zustimmungspflicht des römischen Volkes abgeschafft worden. 1059 legte Niklaus II. fest, dass nur Kardinäle wahlberechtigt sind.
Papst Sixtus begrenzte 1587 das Kardinalskollegium auf 70 Mitglieder, doch hielten sich seine Nachfolger nicht immer an diese Zahl. Paul VI. beschloss 1975, dass nur Kardinäle, die weniger als 80 Jahre alt sind, an der Papstwahl teilnehmen können. Gleichzeitig erhöhte er die Zahl der wahlberechtigten Kardinäle auf 120. Über Jahrhunderte galt die Regel, dass die Wahl eines Papstes die Zweidrittelmehrheit erfordert. Johannes Paul II. lockerte diese Vorschrift 1996, indem er es den Kardinälen erlaubte, sich nach 33 Wahlgängen für eine absolute Mehrheit zu entscheiden. Sein Nachfolger Benedikt XVI. hat diese Regel wieder aufgehoben.
Da die Kardinäle vom Papst ernannt werden, kann die Zusammensetzung des Gremiums durch ein langes Pontifikat stark beeinflusst werden. Allerdings ist kein Kardinal bei der Wahl eines neuen Papstes an Versprechen gebunden, die er früher abgegeben hat.
Weil der Stuhl Petri zwischen 1523 und 1978 ausschliesslich von Italienern besetzt wurde, bestand das Kardinalskollegium noch 1939 zu 57% aus Italienern, während die übrigen Europäer 32% des Kollegiums ausmachten. Als 1978 der Pole Karol Wojtyla zum Nachfolger von Paul VI. gewählt wurde, war der Anteil der Italiener auf 24%, jener der anderen Europäer auf 26% zurückgegangen, was jedoch immer noch knapp die Mehrheit der Europäer bedeutete.
Nach dem Tode von Johannes Paul II. kam 2005 mit dem deutschen Benedikt XVI. erneut ein Europäer auf den Stuhl Petri. Die Europäer sind im Kardinalskollegium nach wie vor übervertreten. Wie immer reagiert die Kirche nur behutsam auf Veränderungen. Doch ist der Anteil der wahlberechtigten Kardinäle aus Lateinamerika zwischen 1939 und 2007 von 3,2% auf 17%, jener aus Afrika von 0% auf 7% und jener aus Asien von 0% auf 8% gestiegen. Damit mehren sich die Chancen, dass einer der nächsten Päpste aus der Dritten Welt kommen wird.
Für Fragen des Glaubens und der kirchlichen Organisation sind früher häufig Konzilien einberufen worden, zu denen alle Bischöfe eingeladen wurden. Die Initiative für das erste Konzil von Nicäa (325) ging von Kaiser Konstantin aus, um den Streit mit den Arianern beizulegen. Bald danach setzte sich die Regel durch, dass nur der Papst ein Konzil einberufen kann und auch seine Beschlüsse zu genehmigen hat.
Nach dem Konzil von Nicäa fanden bis zur Reformation 17 weitere Konzile statt. Als sich im Mittelalter mehrere Gegenpäpste bekämpften und häufig zwielichtige Figuren auf dem Stuhl Petri sassen, verstärkten sich die Stimmen jener, die das Konzil über den Papst stellen wollten. Der „Konziliarismus“ konnte sich jedoch nicht durchsetzen und ist vom Konzil der katholischen Gegenreformation (Trient 1545 - 1563) klar verworfen worden.
Seither haben nur noch zwei Konzile stattgefunden. Aus der Defensive heraus erhob das erste Vatikanische Konzil (1869-1870) die Unfehlbarkeit des Papstes zum Dogma. Das zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) zeigte sich viel offener und war in fast allen Belangen der Kirche - Bibelverständnis, Liturgie, Religionsfreiheit, Ökumene, Soziallehre - bemüht, auf die Zeichen der Zeit einzugehen.
Unter den 2´540 stimmberechtigten Teilnehmern forderten viele mehr Kollegialität innerhalb der Kirche, ohne den Primat des Papstes in Frage zu stellen. Paul VI. ging als damaliger Papst auf das Begehren ein, indem er 1965 das Instrument der Bischofssynode schuf. Zwischen 1967 und 2007 haben 11 ordentliche, 2 ausserordentliche und 8 regionale Synoden stattgefunden. Wie bei den Konzilien werden auch die Synoden vom Papst einberufen, der deren Tagesordnung festlegt und in letzter Instanz über ihre Empfehlungen entscheidet.
Ursprünglich war vorgesehen, alle zwei Jahre ordentliche Synoden einzuberufen. Die umfangreichen Vorbereitungsarbeiten führten dazu, dass sich der durchschnittliche Rhythmus auf vier Jahre erstreckt hat. Ausserordentliche Synoden sollten nur für dringliche Aufgaben einberufen werden, obwohl sich die Praxis nicht immer daran gehalten hat. Regionale Synoden sind einzelnen Regionen oder Ländern gewidmet.
Für ordentliche und ausserordentliche Synoden bestimmen die nationalen Bischofskonferenzen je nach ihrer Grösse ein bis vier Vertreter, die aufgrund ihrer Kenntnisse zu den jeweiligen Traktanden ausgewählt werden. Die Vorschläge müssen vom Papst genehmigt werden, der davon nur selten abweicht. Allerdings behält sich der Papst vor, 15% der Teilnehmer selber auszuwählen, um regionale oder theologische Ungleichgewichte nach seinem Empfinden auszugleichen.
Wegen der Zunahme nationaler Bischofskonferenzen hat sich die Zahl der Synoden-Mitglieder von 200 auf 250 erhöht, was in etwa 10% der Bischöfe entspricht, die zur Teilnahme an einem Konzil berechtigt wären. Bei regionalen und lokalen Synoden kommen prozentual viel mehr Bischöfe zum Zuge.
Auch wenn die Synoden nur über eine beratende Funktion verfügen, sind verschiedene Empfehlungen der Bischöfe von den Päpsten übernommen worden. Anderseits haben sich die Vertreter der Bischöfe an den Synoden bisher als sehr papsttreu erwiesen und mehr den Geist der Brüderlichkeit als der Konfrontation gepflegt.
Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass auch die Bischöfe vom Papst ernannt werden. In der Frühzeit wurden die Bischöfe von den Geistlichen und den Gläubigen gewählt. Im Mittelalter suchten die Fürsten, die Wahl der Bischöfe an sich zu reissen. Das Konzil von Trient legte 1563 fest, dass das jeweilige Domkapitel drei Kandidaten nach Rom übermittelt, worauf der Papst die letzte Entscheidung fällt.
Bis zum Sturz des alten Regimes verteidigten katholische Herrscher hartnäckig ihre Privilegien für die Wahl der Bischöfe. Es ist nicht ohne Ironie, dass die Päpste gerade nach dem Aufkommen des modernen, laizistischen Staates in ihrer Kirchenführung viel unabhängiger geworden sind. Nur noch wenige Staaten mit einem totalitären Hintergrund streiten dem Papst die freie Wahl der Bischöfe ab.
Überwiegend gilt heute die Regel, dass die drei Kandidaten nicht mehr von den Domkapiteln, sondern von den Nuntien dem Papst unterbreitet werden. Päpstliche Ernennungen haben in letzter Zeit weniger zu Spannungen mit den Staaten als mit den Gläubigen der betroffenen Bistümer geführt.
Als Paul VI. die Bischofssynode schuf, glaubten viele, die beratende Funktion der Kardinäle sei hinfällig geworden, weil die meisten von ihnen auch Bischöfe sind. Doch hielt Johannes Paul II. an den Konsistorien der Kardinäle fest und griff sogar häufiger als früher auf sie zurück. Die Gefahr von Doppelspurigkeiten suchte der Papst insofern zu begrenzen, als er die Bischofssynoden mehr für Fragen des Glaubens einberief, während er das kleinere Kardinalskollegium vor allem für Belange der Kirchenleitung konsultierte.
1.4. Römische Kurie
Das Oberhaupt der katholischen Kirche kann seine Ämter nicht ohne Unterstützung von Mitarbeitern ausüben. Schon die Apostel hatten Diakone und Katecheten, die beim Armendienst und dem Glaubensunterricht mithalfen. Als der Kirchenstaat entstand, mussten die Päpste die dafür notwendigen Verwaltungsstrukturen schaffen. Im Mittelalter gehörten sie zu den ersten, die bei anderen Herrschern ständige Botschaften einrichteten.
Heute hat der Papst für seine drei Ämter:
- ca.1´700 Mitarbeiter in der Kurie, die ihn bei der Führung der Weltkirche unterstützen;
- ca.1´300 Angestellte, die in der Verwaltung des Vatikanstaates arbeiten;
- ca. 150 Bedienstete, die an der Leitung seines römischen Bistums beteiligt sind.
Die Zahl der Mitarbeiter im römischen Bistum ist mit Diözesen ähnlicher Grösse vergleichbar. Der Vatikan hat aber doppelt so viele Angestellte als Staatsbürger. Der Vergleich hinkt, weil vatikanische Pässe nur spärlich abgegeben werden. Die meisten Beamten, die für die Infrastruktur des Papstes arbeiten und einen jährlichen Besucherstrom von mehreren Millionen zu bewältigen haben, sind nicht vatikanische Staatsbürger.
Von besonderem Interesse ist die Kurie, die dem Papst bei der Leitung der Weltkirche zur Seite steht. Aus ihrer Organisation ergibt sich, dass der Heilige Stuhl nur mehr eine religiöse Sendung beansprucht, aber nach wie vor als Völkerrechtssubjekt gilt.
An der Spitze der Kurie steht das Staatsekretariat, bei dem sich politische und religiöse Aufgaben vermischen. Der Staatssekretär ist sowohl der Stabschaf des Papstes als auch sein Aussenminister. Er verfügt über knapp 150 Mitarbeiter, die in zwei Sektionen unterteilt sind. Über die eine laufen alle Beziehungen des Heiligen Vaters zu den Staaten und zu den internationalen Organisationen, während die andere die Beziehungen zu den Ortskirchen koordiniert. Zudem überwacht das Staatssekretariat sämtliche Dokumente, die dem Papst zur Unterschrift vorgelegt werden.
Neben dem Staatssekretariat gibt es 9 päpstliche Kongregationen und 11 päpstliche Räte, die sich mehrheitlich religiösen Fragen widmen, was bereits in ihren Bezeichnungen zum Ausdruck kommt:
Kongregationen: Glaubenslehre, orientalische Kirchen, Gottesdienst und Sakramente, Selig- und Heiligsprechungsprozesse, Evangelisierung der Völker, Klerus, Institute des geweihten Lebens, katholisches Bildungswesen, Bischöfe.
Räte : Laien, Förderung der Einheit der Christen, Gerechtigkeit und Frieden, humanitäre Hilfe, Seelsorge für Wanderarbeiter und Reisende, Pastorale im Krankendienst, Interpretation von Gesetzestexten, interreligiöser Dialog, Kultur, soziale Kommunikationsmittel, Familie.
Kongregationen und Räte sind die Fachministerien des Heiligen Vaters, auch wenn sie nur wenig mit staatlichen Ministerien gemeinsam haben:
- Sie wirken als kollegiale Verwaltungs- und Beratungsorgane, die neben einem Vorsteher und einem Generalsekretär aus 20 bis 60 Personen bestehen. Ihre Mitglieder werden vom Papst für eine Amtsperiode von 5 Jahren ernannt, die erneuerbar ist.
- Die Kongregationen, deren Vorsteher als Präfekten bezeichnet werden, sind historisch älter als die Räte, die von einem Präsidenten geführt werden. Die Kongregationen gehen auf das berühmte „Sanctum Officium“ zurück, das 1542 als erstes ständiges Kardinalsgremium geschaffen wurde.
- Die meisten Räte sind dagegen erst nach dem II. Vatikanischen Konzil entstanden, um den Papst in neuen Fragen zu beraten. Sie gelten als „think tanks“ der Kurie, weshalb sie auch über weniger Entscheidungsbefugnisse verfügen.
- Bis zum II. Vatikanischen Konzil waren nur Kardinäle Mitglieder päpstlicher Kongregationen, seither werden auch einige Bischöfe ernannt. Die Räte bestehen mehrheitlich aus Bischöfen, daneben gibt es aber auch Priester, Ordensleute und einige Laien.
- Mitglieder einer Kongregation oder eines Rates können auch anderen Kongregationen und Räten angehören. Das ist vor allem für die Vorsitzenden und die Generalsekretäre der Fall. Mehrfachvertretungen beschränken sich in der Regel auf sachverwandte Organe und werden als Instrument der Koordination innerhalb der Kurie verstanden.
- Heute leben nur etwa ein Drittel der Mitglieder der Kongregationen und Räte in Rom. Die übrigen kommen von aussen und bleiben in ihren früheren Funktionen tätig. Der Prozentsatz der ständig in Rom residierenden Mitglieder ist je nach Kongregation und Rat sehr unterschiedlich.
- Grundsätzlich sollte sich jedes Gremium einmal pro Jahr zu einer Vollversammlung treffen, was nicht immer eingehalten wird. Dazwischen finden Sitzungen statt, an denen nur Mitglieder teilnehmen, die in Rom residieren oder sich zu diesem Zeitpunkt für andere Geschäfte dort aufhalten. Am häufigsten treffen sich die Kongregation für die Glaubenslehre und die Kongregation für die Bischöfe, die bis zu zwei Sitzungen pro Monat abhalten.
- Jede Kongregation und jeder Rat verfügt über ein Sekretariat, das aus 6 bis 30 ständigen Mitarbeitern besteht. Die meisten davon sind Priester oder Ordensleute, für logistische Aufgaben werden jedoch immer mehr Laien beschäftigt.
Manche Katholiken begegnen der Kurie mit Misstrauen und sehen in ihr ein konservatives Bollwerk, das den Papst von den Sorgen und Nöten der Basis fern hält. Das mag früher der Fall gewesen sein, hat sich aber stark verändert. Die Bischofsynoden haben die Kontakte zwischen der Kurie und den Ortskirchen verstärkt, gleichzeitig bemühen sich die Päpste, die Kurie internationaler zu gestalten.
Noch 1961 stammten 90% der Kongregationspräfekten und 80% der Mitarbeiter der Kurie aus Italien, heute ist der Anteil der Italiener in den Kongregationen und Räten auf einen Drittel zurückgegangen. Bei den Beamten liegt er immer noch bei 50%, weil viele untere Chargen lokal rekrutiert werden. Zwar haben die Italiener den Vorteil, die Umgangssprache des Vatikans zu sprechen, mit dem Rückgang des Lateins ist jedoch die Kurie immer mehr auf Mitarbeiter angewiesen, die mit den grossen Weltsprachen vertraut sind.
Wenig verändert hat sich die byzantinische Struktur der Kurie, die von langen Traditionen geprägt bleibt. Es gibt alte Zöpfe und neu hinzugekommene Doppelspurigkeiten, die bekannt sind. Bei jeder neuen Papstwahl wird über eine tief greifende Reform der Kurie diskutiert, doch hat sich auch Benedikt XVI. bisher damit begnügt, bloss einige Vorsitze von Räten zusammen zu legen.
Aussen stehende Experten betrachten die Kurie als effiziente Bürokratie, die den Vergleich mit anderen nicht zu scheuen braucht. Ihre Personalbestände werden als sehr bescheiden eingestuft. Wie immer man zum Zölibat stehen mag, ist nicht zu bestreiten, dass Leute, die ihre Arbeit als Sendung empfinden, weniger darauf bestehen, Überstunden und Ferienansprüche zu beanspruchen.
Zur Kurie gehören die päpstlichen Nuntien und Diplomaten, die zwar pünktlich an Empfängen erscheinen, meistens aber rasch wieder verschwinden. Obwohl sich Nuntien weniger als ihre weltlichen Kollegen mit Handel und Finanzen zu bemühen haben, intervenieren sie nicht weniger häufig bei den Regierungen ihres Gastlandes, um Fragen zu erörtern, die den Papst interessieren.
Ausserdem haben die päpstlichen Diplomaten den Kontakt mit der Lokalkirche zu pflegen, was mit zahlreichen Besuchen und Predigten über die Feiertage verbunden ist. Eine der heikelsten Aufgaben im Pflichtenheft der Nuntien ist die Vorbereitung der Dreiervorschläge, die bei einer Bischofsvakanz nach Rom zu übermitteln sind.
In vielen Ländern ist der Nuntius der Dekan des diplomatischen Korps, was ihm zusätzliche Gruss- und Dankesreden einbringt. In dieser Funktion hat er sich auch noch der leidigen Aufgabe zu widmen, die Privilegien und Immunitäten seiner Kollegen zu verteidigen.
Die Diplomaten des Heiligen Stuhls sind hervorragend geschult. Sie werden unter jungen Priestern ausgewählt, die von ihrem Bischof mehr oder minder freiwillig zur Verfügung gestellt werden. Nachdem sie sich bereits während ihrer Studien für das Priesteramt ausgezeichnet haben, müssen sie danach an der päpstlichen Diplomatenakademie in Rom für zwei weitere Jahre die Schulbank drücken.
Der Heilige Stuhl unterhält in mehr als 170 Ländern diplomatische Vertretungen. Auf diesen Aussenposten sind weniger Mitarbeiter tätig als in den meisten Botschaften kleiner Länder. Auch die Zentrale in Rom hat im Vergleich zu diesen nur einen geringen Mitarbeiterstab.
Die hervorragende Qualität der päpstlichen Diplomatie hat nicht zuletzt mit der transnationalen Struktur der katholischen Kirche zu tun. Ihre Gesandten können sich weltweit auf Informationsquellen stützen, die 4´700 Bischöfe und fast 500´000 Priester und Ordensleute umfassen. Diese sind flächenmässig über die letzten Ecken und Enden der Erde verteilt. Selbst grössere Staaten sind nicht in der Lage, ein derart umfangreiches Informationsnetz zu bewerkstelligen.
1.5. Sozialer Akteur
Die katholische Kirche ist mit 1,2 Mio. Angestellten transnational einer der grössten Arbeitgeber. Von Anfang an hat sie in der Hilfe für die Armen eine ihrer wichtigsten Aufgabe gesehen. Im Mittelalter gab es praktisch nur kirchliche Institutionen, die für Kranke und Obdachlose sorgten. Daneben spielte die Kirche eine herausragende Rolle für die Erziehung. Sie gründete die ersten Universitäten, an denen die antike Kultur wieder aufgearbeitet wurde.
Als der moderne Staat entstand, verlor die Kirche ihr früheres Monopol in der Erziehung und in der Sozialhilfe. Zu Recht begann sich die öffentliche Hand für diese Bereiche verantwortlich zu fühlen. Allerdings wurde dabei häufig kirchliches Eigentum enteignet, ohne dass dafür Entschädigungen geleistet worden sind.
Trotzdem bleibt die Kirche ein wichtiger Akteur sozialer Einrichtungen. So leitet sie im Schulwesen nach wie vor:
- 64´307 Kindergärten mit 6´394´295 Schülern
- 92´461 Grundschulen mit 28´511´698 Schülern
- 39´404 Mittelschulen mit 16´454´439 Schülern
- Berufsschulen mit 1´715´556 Schülern
- Universitäten mit 2´364´899 Studenten.
Als Pflege- und Wohlfahrtsinstitute unterhält sie:
- 5´236 Krankenhäuser
- 16´679 Krankenstationen
- 656 Leprastationen
- 14´794 Alters- und Behindertenheime
- 9´996 Waisenhäuser
- 12´804 Eheberatungsstellen
- 20´547 andere Institute
Wegen des Priestermangels werden in diesen Institutionen immer mehr Laienkräfte beschäftigt. Ihr Ruf ist aber nach wie vor sehr gut. Die Zahl der Kinder, die in katholischen Schulen untergebracht werden möchten, übertrifft konstant die Zahl der verfügbaren Plätze. Mehrere katholische Universitäten gehören zu den besten der Welt.
In der Dritten Welt sind die sozialen Werke der Kirche von besonderer Bedeutung. Auch wenn die Missionare meistens den Spuren machthungriger Kolonialisten gefolgt sind, wird kaum bestritten, dass sie für die Bildung und das Gesundheitswesen verdienstvoll gewirkt haben. Viele von ihnen haben dazu beigetragen, die Kulturen dieser Länder zu erforschen und zu erklären.
Mit selbstloser Hingabe widmen sich seit langem katholische Priester und Ordensleute Leprakranken, die vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Heute pflegen katholische Institutionen mehr als 20% der weltweit an SIDA erkrankten Personen. Zwar mag man die päpstliche Sexuallehre kritisieren, doch ist der Kirche nicht vorzuwerfen, dass sie dem Problem völlig aus dem Wege geht.
Auch wenn die Bischöfe des Südens ihren Kollegen im Norden immer mehr mit Priestern aushelfen müssen, fliessen weiterhin namhafte Spenden des katholischen Nordens in die unterentwickelten Länder. Katholische Hilfswerke gehören nach der staatlichen Entwicklungshilfe zu den bedeutendsten Entwicklungshelfern. Unter ihren Spendern befinden sich auch Nicht-Katholiken, weil sie Vertrauen haben, dass ihr Geld auf diesem Wege wirksam zum Einsatz kommt.
2. Was die katholische Soziallehre ist und will
2.1. Begriff
Wie andere Begriffe kann die katholische Soziallehre sowohl negativ als auch positiv definiert werden. Papst Johannes Paul II. hat dafür in der Enzyklika „Solicitudo rei socialis“ ausdrücklich beide Ansätze gebraucht:
„Die kirchliche Soziallehre ist kein „dritter Weg“ zwischen liberalistischem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus und auch keine mögliche Alternative zu anderen, weniger entgegen gesetzten Lösungen: Sie ist vielmehr etwas Eigenständiges. Sie ist auch keine Ideologie, sondern die genaue Formulierung der Ergebnisse einer sorgfältigen Reflexion über die komplexen Wirklichkeiten menschlicher Existenz in der Gesellschaft und auf internationaler Ebene, und dies im Lichte des Glaubens und der kirchlichen Überlieferung. Ihr Hauptziel ist es, solche Wirklichkeiten zu deuten, wobei sie prüft, ob sie mit den Grundlinien der Lehre des Evangeliums über den Menschen und seine irdische und zugleich transzendente Berufung übereinstimmen oder nicht, um daraufhin dem Verhalten des Christen eine Orientierung zu geben. Sie gehört daher nicht in den Bereich der Ideologie, sondern der Theologie und insbesondere der Moraltheologie.“ (41)
Die Definition des Papstes klärt zunächst, was die katholische Soziallehre nicht ist:
Sie ist kein dritter Weg zwischen politischen Programmen. Gerade engagierte Katholiken verspüren häufig eine Vorliebe für den mittleren Weg. Hervorragende Mitgestalter der katholischen Soziallehre haben diese Tendenz begünstigt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten H. Pesch, G. Gundlach und O. von Nell-Breuning in Deutschland das Konzept des Solidarismus, das dem Individualismus und dem Sozialismus eine kurze Parole entgegenstellen wollte. Der Jesuit O. von Nell-Breunig ist später von Pius XI. zum Hauptverfasser der Enzyklika „Quadragesimo Anno“ berufen worden. Sein Mitbruder und Mentor G. Gundlach war unter Papst Pius XII. ein wichtiger Berater der römischen Kurie. Die Absichten dieser Pioniere sind nicht immer richtig verstanden worden. Johannes Paul II. klärt jedoch, dass die arithmetische Mitte zwischen politischen Meinungen nicht genügt, um sich auf die katholische Soziallehre zu berufen.
Sie ist keine Ideologie, wobei der päpstliche Text nicht präzisiert, was unter Ideologie zu verstehen ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff eher negativ besetzt. Die Politikwissenschaft versteht darunter ein Gesamtgefüge von Ideen und Wertvorstellungen, das politische oder gesellschaftliche Ziele definiert und praktisches Handeln orientiert, um Gemeinsamkeit zu stiften. Johannes Paul II. nimmt ausdrücklich von jeglicher Ideologie Abstand. Wenn die katholische Soziallehre keine Ideologie ist, kann sie auch kein Handbuch sein, das den Gläubigen Abstimmungsempfehlungen erteilt und für jedes gesellschaftliche Problem eine Lösung anbietet.
Positiv definiert Papst Johannes Paul II. die katholische Soziallehre als Bereich der Theologie . Die Theologie beschäftigt sich mit der Existenz Gottes und dem Sinn der Schöpfung. Daraus werden Verhaltensregeln für das menschliche Leben auf dieser Welt abgeleitet. Vereinfacht lässt sich das Feld der Theologie wie folgt unterteilen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die katholische Soziallehre gehört zu dem, was als soziale Moraltheologie bezeichnet wird. Dafür ist innerhalb der Kirche nicht immer der gleiche Ausdruck gebraucht worden. Nach der Enzyklika „Rerum Novarum“ von Leo XIII. pflegte man zunächst von katholischer Sozialdoktrin zu sprechen. In den romanischen Ländern ist das lateinische Wort „doctrina“ schon bald mit Lehre („insegnamento“ - „enseignement“) übersetzt worden. Weil „Doktrin“ für heutige Empfindlichkeiten zu autoritär klingt, hat sich der Ausdruck "Soziallehre" durchgesetzt. Seit dem II. Vatikanischen Konzil ist immer mehr auch das Adjektiv „katholisch“ fallen gelassen worden, so dass man einfach von „christlicher Gesellschaftslehre“ oder „christlicher Sozialethik“ spricht. Damit tragen ökumenisch engagierte Autoren der Tatsache Rechnung, dass auch andere christliche Kirchen, vor allem die protestantische, eine Sozialethik mit grossen Ähnlichkeiten entwickelt haben. Da hier nur Texte katholischen Ursprungs berücksichtigt werden, wird weiterhin der Ausdruck „katholische Soziallehre“ verwendet.
Semantische Nuancen sind ohnehin weniger wichtig als das Verständnis über das, was gemeint ist. Wie Papst Johannes Paul II sagt, will die katholische Soziallehrlehre prüfen, inwiefern gesellschaftliche Wirklichkeiten dem Glaubensgut der Kirche entsprechen. Die Normen, die daraus abgeleitet werden, sollen den Gläubigen als Leitschnur für ihr Verhalten in der Gesellschaft dienen.
2.2. Erkenntnisquellen
Um zu diesen Normen zu kommen, stützt sich die Soziallehre der Kirche auf zwei Erkenntnisquellen:
- die Offenbarungswahrheiten, die in der Bibel stehen oder die sich aus der kirchlichen Überlieferung ergeben;
- die Vernunft und das Gewissen, mit denen der göttliche Schöpfer jeden Menschen ausgestattet hat.
Zwar finden sich in der Heiligen Schrift viele Aussagen über die Art und Weise, wie Menschen zusammenleben sollen. Diese beschränken sich aber auf Anweisungen für konkrete Situationen. Die Bibel enthält keine systematischen Vorschläge, wie eine Gesellschaft zu organisieren ist. Auch verwendet sie eine Sprache, die heute nur zu verstehen ist, wenn man das Umfeld ihrer Entstehung kennt. Das ist nicht möglich, ohne sich auf Einsichten und Erkenntnisse zu stützen, die nicht der Offenbarung zu entnehmen sind.
Deshalb hat sich die Kirche bei der Erarbeitung des Sittengesetztes stets auch auf die Vernunft gestützt, die der Mensch von Gott erhalten hat. Aus diesem Ansatz ist die kirchliche Lehre vom Naturrecht entstanden. Da das Naturrecht seit der Aufklärung häufig kritisiert wurde, operiert man heute eher mit Begriffen wie Sozialphilosophie oder Menschenrechte. Damit ist letztlich das Gleiche gemeint, so dass der Satz, den Pius XII in der Pfingstbotschaft von 1941 geprägt hat, seine Gültigkeit nicht verloren hat: „Die Grundsätze des Naturrechts und die Offenbahrungswahrheiten haben, wie zwei keineswegs entgegen gesetzte, sondern gleich gerichtete Wasserläufe, beide ihre gemeinsame Quelle in Gott“.
Naturrecht
Die Naturrechtslehre ist nicht von der katholischen Kirche erfunden worden. Sie geht auf die griechische Philosophie zurück. Plato sprach von der Gerechtigkeit als Richtmass des positiven Rechtes. Aristoteles unterschied zwischen staatlichem Recht und dem Recht, das überall die gleiche Geltung hat. Ähnliche Überlegungen haben römische Juristen und Philosophen angestelltt (Cicero, Gaius, Ulpian).
Was die Stoiker als Weltvernunft bezeichneten, führte Augustinus auf das ewige, von Gott gewollte Gesetz zurück. Thomas von Aquin baute den Gedanken weiter aus. Für ihn ist das Wesen des Naturrechtes im Willen Gottes begründet, den Menschen am ewigen Gesetz teilnehmen zu lassen. Das mit der Vernunft und dem Gewissen erkennbare Naturrecht spiegelt die menschliche Teilnahme am göttlichen Gesetz wieder. Das positive Recht ist deshalb in Übereinstimmung mit dem Naturrecht zu gestalten.
Nach der Entdeckung Amerikas kamen Vitoria und Suarez zu ersten Elementen eines modernen Völkerrechtes. Die beiden Spanier waren überzeugt, dass die Menschheit trotz dem Bestehen von Einzelstaaten eine Gemeinschaft bildet. Diese bedarf wie der Staat einer gerechten Ordnung. Auch die Heiden haben Rechte, weshalb man sie nicht mit Gewalt bekehren darf. Eroberungs- und Religionskriege sind unrechtmässig. Nur die Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit sowie das Interesse eines universal verstandenen Gemeinwohls können den Krieg rechtfertigen. Bevor man zu einem solchen Krieg schreitet, sind alle Mittel der Versöhnung auszuschöpfen.
Mit der Aufklärung geriet die Naturrechtslehre immer mehr unter Beschuss. Besonders heftig wurde sie Ende des 19. Jahrhunderts vom Rechtspositivismus kritisiert. Bedeutende Vertreter dieser Richtung verstiegen sich zur Behauptung, auch ein despotischer Staat könne einen Rechtszustand schaffen.
Nach den scheusslichen Vorkommnissen des 2. Weltkrieges liessen sich solche Positionen nicht mehr halten. Die Menschenrechtserklärungen, die in verschiedenen internationalen Gremien ausgearbeitet wurden, gehen von der Annahme aus, dass jedem Menschen unabhängig vom Staat gewisse Grundrechte zukommen. Der Gedanke des Naturrechtes ist damit erneut zum Vorschein gekommen. Allerdings behaupten Rechtssoziologen, es handle sich bloss um eine Rechtsauffassung, die auf einem breiten Konsens beruhe. Das ist schon etwas, aber doch nicht ein sehr solides Fundament, um diesen zivilisatorischen Fortschritt zu sichern.
Eine der wichtigsten Aussagen der katholischen Soziallehre ist, dass der Mensch „Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen“ ist ("Mater et Magistra", 219). Der Satz ist derart kurz, dass O. von Nell-Breuning meint, die ganze katholische Soziallehre könne auf einen Fingernagel geschrieben werden.
Dahinter verbirgt sich das Verständnis von der menschlichen Natur, das der kirchlichen Lehre zu Grunde liegt:
- Der Mensch ist als Ebenbild Gottes, als Person mit Leib und Geist geschaffen worden und soll am Lichte des göttlichen Geistes teilhaben.
- Er kann seine Persönlichkeit, seine Fähigkeiten und seine Berufung nur in der Gesellschaft verwirklichen. Das Leben in der Gesellschaft gehört zu seiner Natur. „Es ist nicht gut für ihn, dass er allein sei“ (Gen, 2,18) .
- Die Erbsünde hat die menschliche Natur verwundet, aber nicht zerstört. Den ursprünglichen Plan Gottes kann der Mensch dank der Erlösung Christi wieder aufnehmen.
- Christus hat nicht ein Volk, sondern alle Menschen und den ganzen Menschen, auch den auf die Gesellschaft bezogenen, erlöst. Deshalb ist der Heilsplan der Frohbotschaft ebenfalls in der gesellschaftlichen Ordnung voranzubringen.
- Der Mensch bleibt anfällig für Sünde und Schwächen, kann und soll aber mit der Verwirklichung des Reiches Gottes auf dieser Welt beginnen. Die irdische Ordnung wird jedoch nie den Zustand ewiger Vollendung erreichen
„Homo homini lupus“
Hier ist auf das Menschenbild zu verweisen, das von den Erfahrungswissenschaften beim Studium der internationalen Politik benützt wird. Die realistische Schule geht von der Annahme aus, dass das Streben nach Macht der Beweggrund menschlichen Handelns ist. Die institutionelle Schule glaubt dagegen, Menschen seien durchaus zu Formen der Zusammenarbeit fähig, die sich für alle als vorteilhaft erweisen. Die katholische Soziallehre , die sich nicht als Erfahrungswissenschaft versteht, ist mit ihrem Glauben, dass der Mensch nach dem Sündenfall für Schwächen anfällig ist, eher einem realistischen Menschenbild verhaftet. Doch ist sie entschieden der Auffassung, dass sich der von Christus erlöste Mensch verbessern kann. Trotzdem warnt sie vor utopischen Vorstellungen, weil für sie das Paradies auf dieser Erde vor dem Jüngsten Tage nicht zu verwirklichen ist.
2.3. Ordnungsprinzipien
Von ihrer Auffassung des Menschen als Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen leitet die katholische Soziallehre drei zentrale Ordnungsprinzipien für das Zusammenleben in der Gesellschaft ab:
Gemeinwohlprinzip
Da sich der Mensch nur in der Gesellschaft entfalten kann, hat die Gesellschaft jedem optimale Bedingungen für die Verwirklichung seiner Fähigkeiten zu schaffen. Die Gesellschaft existiert nicht als solche, sie steht nicht über ihren Mitgliedern. Sie ist Mittel, um Gerechtigkeit zu schaffen. Das Gemeinwohlprinzip hat nur solange Vorrang, als die persönliche Würde des einzelnen gewahrt bleibt. Weder Einzelne noch Gruppen dürfen gegenüber anderen systematisch bevorzugt werden. Die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" des II. Vatikanischen Konzils sagt zum Gemeinwohl, es begreife "die Summe aller jener Bedingungen gesellschaftlichen Lebens, die den einzelnen, den Familien und gesellschaftlichen Gruppen ihre eigene Vervollkommnung voller und ungehinderter zu erreichen gestatten“ (74). Dass dieses Prinzip nicht nur auf der Ebene des Staates, sondern für die gesamte Völkergemeinschaft gilt, ist von Johannes XXIII. in "Pacem in terris" hervorgehoben worden (137).
Solidaritätsprinzip
Solidarität ist die zweite Komponente, die sich aus dem Menschenbild der katholischen Soziallehre ergibt. Weil der Mensch Person ist, gleichzeitig aber dem Wesen nach auf die Gesellschaft ausgerichtet ist, hat er die Pflicht, gegenüber anderen solidarisch zu sein. Das Solidaritätsprinzip bedeutet, dass sich jeder für das Wohl aller einzusetzen hat. Wer liebevoll Almosen verteilt, ist noch nicht solidarisch. Vielmehr hat Solidarität dafür zu sorgen, dass jeder in der Gesellschaft einen würdigen Platz einnehmen kann. Somit ist ständig darüber zu wachen, dass Einzelne nicht der Machtgier verfallen. Die Stärkeren müssen auf die Bedürfnisse der Schwächeren Rücksicht nehmen. Schon immer hat die Kirche eine Präferenz zugunsten der Armen gefordert, dieses Prinzip ist von Johannes XXIII. ebenfalls als weltweit gültig erklärt worden.
Subsidiaritätsprinzip
Das dritte Prinzip ist mehr organisatorischer als inhaltlicher Natur. Es verlangt, dass sich die gesellschaftliche Organisation auf das beschränkt, was dem Menschen dient. Überall dort, wo der Einzelne sich selber genügt, wo kleinere Gruppen das Gemeinwohl für ihre Mitglieder in befriedigender Weise sicherzustellen vermögen, soll keine übergeordnete Instanz eingreifen. Die klassische Definition des Subsidiaritätsprinzips geht auf die Enzyklika „Quadragesimo anno“ von Pius XI. zurück:
„Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, dass unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von grossen bewältigt werden können, so muss doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstösst es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“ (79)
3.4. Sozialethik und Wissenschaft
Diese grundlegenden Ordnungsprinzipien der katholischen Soziallehre sind häufig als Leerformeln abgetan worden. Als sie von der Kirche benützt wurden, um sowohl den Sozialismus als auch den Kapitalismus zu kritisieren, gerieten selbst eigene Anhänger in Aufregung. Gerade aus ihren Kreisen kam die Forderung, der Klerus möge sich gefälligst auf seine Hausaufgaben - die Sonntagsmesse und den Trost des Beichtsakramentes - beschränken.
Solche Einschränkungen sind vom kirchlichen Lehramt immer zurückgewiesen worden. Schon die zwei ersten Sozialenzykliken haben das deutlich zum Ausdruck gebracht:
- „Wir gehen nunmehr zu der Darlegung über, worin die überall begehrte Abhilfe in der misslichen Lage des arbeitenden Standes zu suchen sei. Mit voller Zuversicht treten wir an diese Aufgabe heran und im Bewusstsein, dass uns das Wort gebührt. Denn ohne Zuhilfenahme von Religion und Kirche ist kein Ausweg aus dem Wirrsal zu finden“ (Rerum Novarum, 12-13).
- „Die von Gott uns anvertraute Hinterlage der Wahrheit und das von Gott uns aufgetragene heilige Amt, das Sittengesetz in seinem ganzen Umfang zu verkünden, zu erklären und - ob erwünscht, ob unerwünscht - auf seine Befolgung zu dringen, unterwerfen nach dieser Seite hin wie den gesellschaftlichen, so den wirtschaftlichen Bereich vorbehaltlos unserem höchstrichterlichen Urteil“ ( Quadragesimo anno, 41).
Die Kirche beansprucht für sich, „ in denjenigen Belangen des sozialen Lebens, die an das Gebiet der Sittlichkeit heranreichen oder es schon berühren, darüber zu befinden, ob die Grundlagen der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung mit der ewig gültigen Ordnung übereinstimmen, die Gott der Schöpfer und Erlöser durch Naturrecht und Offenbarung kundgetan hat“ ( Pfingstbotschaft, 1941). Ebenso klar ist sie sich aber bewusst, dass es nicht ihre Aufgabe ist, sich in Fragen technischer Art einzumischen, „wofür sie weder über die geeigneten Mittel verfügt, noch eine Sendung erhalten hat“ (Quadragesimo anno, 41).
Weil sich die kirchliche Soziallehre als Teil der Moraltheologie versteht, will sie nichts anderes als sittliche Normen erarbeiten. Ist aber alles, was in den kirchlichen Sozialdokumenten steht, als verbindliches Glaubensgut zu betrachten? Die Frage ist berechtigt, schlug doch Johannes XXIII. in „Mater et Magistra“ agrarpolitische Massnahmen vor, die sich kaum verwirklichen liessen. Auch äusserte Paul VI. in „Populorum Progressio“ grosse Sympathie für internationale Rohstoffabkommen, die das Problem der unterentwickelten Länder ebenfalls nicht zu lösen vermochten.
Haben sich dort die Päpste nicht zu weit vorgewagt und sich in Fragen eingemischt, für die sie weder über geeignete Mittel verfügten, noch eine Sendung erhalten haben? Solches ist vorgekommen und wird weiterhin vorkommen. Stets ist jedoch auf die genaue Formulierung der Texte zu achten. Meistens wird explizit gesagt, es handle sich um Vorschläge, die sich nach dem heutigen Stand der Kenntnisse empfehlen mögen. Damit geben die Päpste zu, dass sie sich auf einem Gebiet bewegen, für das sie weder eine Zuständigkeit noch eine sittliche Verbindlichkeit beanspruchen.
Nicht nur Päpste, sondern auch Wissenschaftler betrachten sich gerne als unfehlbar. Für die Kirche ist das Problem, dass sie nur Zustände ethisch beurteilen kann, die sie kennt. Empirische Fakten lassen sich jedoch nicht aus dem Glaubensgut entnehmen. Deswegen ist die Kirche auf die Hilfe jener angewiesen, die mit den Erfahrungswissenschaften Tatsachen zu begreifen suchen.
Das kirchliche Lehramt hat in dieser Hinsicht frühere Berührungsängste abgelegt. Schon seit einiger Zeit begann es in den eigenen Reihen die Beschäftigung mit den Humanwissenschaften zu fördern. Die Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre „Libertas conscientiae“ spricht von den Schätzen der Weisheit und der Humanwissenschaften (72). Johannes Paul II sagt in der Einleitung zu „Solicitutdo rei socialis“, die Kirche wolle „auch mit Hilfe rationaler Reflexion und wissenschaftlicher Kenntnis die Menschen dahin führen, dass sie ihrer Berufung als verantwortliche Gestalter des gesellschaftlichen Lebens auf dieser Erde entsprechen“ (1).
Die Selbstständigkeit der wissenschaftlichen Forschung wird heute von der Kirche anerkannt. Sie hat sogar eigene Geisteshaltungen bedauert, „die einst auch unter Christen wegen eines unzulängliches Verständnisse für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen“ (Gaudium et spes, 36). Die Kirche bemüht sich immer mehr, den Kontakt und den Dialog mit den Wissenschaften zu pflegen. Sie will nicht nur lehren, sondern auch lernen. Sie ist sich bewusst, dass die Soziallehre kein geschlossenes System ist, sondern neben fortwährend geltenden Prinzipien stets offen für neue Fragen und Antworten bleiben muss.
3. Seit Jahrhunderten
Von Anfang an hat die Kirche soziale Botschaften verkündet. Als die Industrialisierung aufkam, wurde das katholische Rom gezwungen, seine Haltung zu gesellschaftlichen Fragen zu überdenken. Schon die Aufklärung hatte eine spürbare Abkehr von der Religion mit sich gebracht, was sich im Zuge des Liberalismus und des Marxismus weiter verschärfte. Der Kirche begannen die Schäflein davon zu laufen, weil sie zu lange auf alles Neue negativ reagiert hatte. Da sie sich bedrängt sah, musste sie in die Offensive gehen. Keineswegs bedeutete das, auf traditionelles Glaubensgut zu verzichten, vielmehr ging es darum, die veränderten Umstände zu berücksichtigen. Damit hat Leo XIII. mit der Enzyklika „Rerum novarum“ begonnen, seine Nachfolger haben diesen Weg bis heute weiter verfolgt.
In den seither veröffentlichten Sozialenzykliken der Päpste wird häufig Bezug auf frühere Aussagen der Kirche genommen. Deren Entwicklung über die Jahrhunderte kann hier nicht im Detail wiedergegeben werden. Ich beschränke mich auf ein paar Hinweise, die mir für das Thema der internationalen Politik besonders erwähnenswert erscheinen.
3. 1. Anfänge
Die ersten Christen nahmen das Gebot der Nächstenliebe sehr ernst. Die Apostelgeschichte berichtet, dass sie „wie ein Herz und eine Seele“ lebten und alles miteinander teilten (Apg 32). Doch belegt der Tadel von Paulus im Korintherbrief, dass auch unter ihnen nicht immer christliche Brüderlichkeit herrschte (1 Korr 11). Als kleine Minderheit musste sich die junge Kirche um den Zusammenhalt in den eigenen Reihen kümmern. Trotz Verfolgungen begegnete sie dem römischen Kaiser mit grosser Loyalität. Doch waren ihre Anhänger stets zum Blutzeugnis bereit, wenn etwas von ihnen verlangt wurde, das gegen ihren Glauben ging. Aus dieser Zeit des Ringens um das Überleben sei folgendes hervorgehoben:
- Der Beschluss des Apostelkonzils von Jerusalem, der um das Jahr 50 festlegte, dass die vom Heidentum bekehrten Christen nicht mehr das jüdische Gesetz zu befolgen hatten. Er erfolgte nach harten Auseinandersetzungen, weil die Christen jüdischer Herkunft an ihrem Brauchtum festhalten wollten. Der von Paulus beeinflusste Entscheid setzte den universellen Heilsanspruch der christlichen Botschaft durch, was für die spätere Entwicklung der Kirche von entscheidender Bedeutung war.
- Die Regelung der Frühkirche, wonach ein Soldat getauft werden kann und seinen Beruf weiter ausüben darf, wenn er sich des Kaiserkultes und des Tötens enthält. Dagegen war es nicht erlaubt, nach der Taufe Soldat zu werden. Der zeitlich bedingte Kompromiss hat in der Lehre der Kirche zum Krieg lange nachgewirkt.
- Die Schilderung, wie die Apostel am Pfingstfest beim Erscheinen des Heiligen Geistes alle Sprachen zu verstehen begannen (Apg, 2, 4), während jene, die im Alten Testament den Turm von Babel errichten wollten, mit verschiedenen Sprachen verwirrt wurden (Gn, 11,7). Bildhaft kommt damit zum Ausdruck, dass die neue Botschaft allen verständlich gemacht werden kann und soll.
Als Kaiser Konstantin 313 die Kirche anerkannte, gelangten immer mehr Christen in die Vorzimmer weltlicher Macht. Nicht alle vermochten die kritische Distanz zu wahren, die Jesus empfohlen hatte. Trotzdem scheute sich die Kirche nicht, die Abschaffung der Gladiatorenspiele zu verlangen und mit eigenen Mitteln den Loskauf von Sklaven zu fördern. Johannes Chrysostomos, der es 403 wagte, den Luxus des Kaiserhauses zu kritisieren, musste seinen Mut mit dem Exil bezahlen.
- Arbeit zitieren
- Armin Ritz (Autor:in), 2012, Katholische Soziallehre und internationale Politik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192983
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