"Es erzählt in einfachster Art und Weise eine einfache Begebenheit, an der keine Vorsteherin eines Töchterpensionats noch ein sonstiger Moralist der herkömmlichen Gattungen den geringsten Anstoss nehmen würde, und doch sollte es polizeilich verboten werden.“
So schrieb Wilhelm Jensen 1879, fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung, über Wilhelm Raabes Novelle „Zum wilden Mann“. Was hat ihn so an dieser Erzählung gestört?
„Denn es seziert und präpariert aus der Tiefe der Menschenseele mit Schonungslosigkeit die geheimsten Nervenverzweigungen empörendster Selbstsucht hervor, dass der Leser am Schluss, ohne jegliche ethische und poetische Erhebungsmöglichkeit platt zu Boden geworfen, sich von einem Widerwillen gegen das ganze Menschengeschlecht angepackt fühlt, das solche Beispiele aus seiner Mitte hervorbringt.“
Die Handlung der Geschichte hat also in der Zeit gewisse Leute schockiert. Die Geschichte eines Mannes, der in jungen Jahren von einem obskuren Freund Geld geschenkt bekommt, sich mit diesem eine Existenz aufbaut und jetzt, über 30 Jahre später, unverhofft wieder Besuch von seinem einstigen Freund bekommt und sich nun gezwungen sieht, das Geld wieder mit Zinsen zurückzubezahlen und dadurch ruiniert ist. In der Zeit der Gründerjahre war dies ein sehr aktuelles Thema, das Aufkommen eines kaltblütigen Kapitalismus, wo Geld mehr Wert als Freundschaft hat und man nichts geschenkt bekommt. Diese „einfache Begebenheit“ entfaltet seine Wirkung, weil sie nicht moralisiert, sondern „schonungslos“ darstellt, wie in dieser neuen Zeit ein wirtschaftlich denkender Mensch automatisch die noch in der alten Werteordnung Denkenden ausnützt. Dazu kommt, dass diese „einfache Begebenheit“ in „einfachster Art und Weise“ erzählt wird, wie Jensen gleich zu Beginn des Zitats hervorhebt. Dies muss also die Wirkung der Erzählung auf ihn noch verstärkt haben. Wie diese Geschichte erzählt wird, wird nun Thema dieser Arbeit sein. Dabei wird zuerst die Erzählerfigur untersucht, dann wird die Erzählung in ihrer Zeit verortet, indem das Erzählen im Bürgerlichen Realismus angeschaut wird, in einem dritten Teil werden die verschiedenen Erzählebenen behandelt und es wird eine Hierarchie unter ihnen herausgearbeitet. Im Schlussteil wird dann die Frage beantwortet, ob die Geschichte wirklich „in einfachster Art und Weise“ erzählt wird und wie der Erzählstil zur Wirkung des Inhalts beitragen kann.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Die Erzählerfigur
3. Die Erzählung im Kontext des Bürgerlichen Re-alismus
3.1. Der Erzähler im Bürgerlichen Realismus
4. Die Erzählebenen
4.1. Hierarchie zwischen den Erzählinstanzen
5. Schluss
Bibliographie
- Arbeit zitieren
- David Christen (Autor:in), 2011, Der Erzähler in Wilhelm Raabes "Zum wilden Mann", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192892
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