Im letzten Paragraphen 2, die formale Struktur der Frage nach dem Sein, erarbeitet Heidegger drei allgemeine Strukturmomente (das Gefragte, das Erfragte, das Befragte) einer jeden Frage, um später einmal die Frage nach dem Sinn von Sein in jene Struktur einzubetten. Letztlich kommt er zu dem Schluss, dass nach dem „Sinn von Sein“ gefragt werden kann, da mit dem Dasein ein für die Befragung geeignetes Seiendes gefunden wurde. Im dritten Paragraphen stellt Heidegger sich die Frage, wozu überhaupt eine solche Seinsfrage, die nach dem „Sinn von Sein“ fragt, gestellt werden muss? Die Beantwortung dieser Frage, stellt die Leistung des Paragraphen 3 dar. Darüber hinaus soll auch gezeigt werden, was mit der Überschrift eines ontologischen Vorrangs der Seinsfrage gemeint ist.
§3 Der ontologische Vorrang der Seinsfrage
aus Martin Heideggers Sein und Zeit
Im letzten Paragraphen 2, die formale Struktur der Frage nach dem Sein, erarbeitet Heidegger drei allgemeine Strukturmomente (das Gefragte, das Erfragte, das Befragte) einer jeden Frage, um später einmal die Frage nach dem Sinn von Sein in jene Struktur einzubetten. Letztlich kommt er zu dem Schluss, dass nach dem „Sinn von Sein“ gefragt werden kann, da mit dem Dasein ein für die Befragung geeignetes Seiendes gefunden wurde. Im dritten Paragraphen stellt Heidegger sich die Frage, wozu überhaupt eine solche Seinsfrage, die nach dem „Sinn von Sein“ fragt, gestellt werden muss? Die Beantwortung dieser Frage, stellt die Leistung des Paragraphen 3 dar. Darüber hinaus soll auch gezeigt werden, was mit der Überschrift eines ontologischen Vorrangs der Seinsfrage gemeint ist.
Ein nötiges Indiz[1] für die Frage nach dem „Sinn von Sein“ sieht Heidegger in der Krisisproblematik, mit der sich auch Heideggers Lehrer Edmund Husserl beschäftigte.[2] Bei dieser Krisis handelt es sich um eine Krisis der europäischen Wissenschaften, die die Fachwissenschaften nicht in ihren praktischen und theoretischen Erfolgen angreift, sondern in ihrem Wahrheitssinn.[3] Somit ist die Krisis keine Sachkrise, denn die Erfolge der modernen Wissenschaften - und zwar im Korsett des neuzeitlichen Positivismus‘ - , die letztendlich in der Mondlandung gipfelte und noch weit darüber hinaus, sprechen ja offensichtlich für ein anderes Bild. Vielmehr gemeint ist, dass sich die wissenschaftliche Kultur, von ihrer ureigenen Stiftungsidee entfernt hat und in einer Gewißheits- und Sinnkrise mündet und mit dem Credo „ Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen “[4] zusammen gefasst werden kann. Ganz salopp formuliert: In einer Welt, in der einerseits die wissenschaftlichen Erfolge den Menschen immer mehr beeinflussen, geben jene Erfolge andererseits auch immer weniger Orientierungsmöglichkeiten in dieser Welt. Husserls Auffassung einer Überwindung dieser Krisis der europäischen Wissenschaften und somit auch der europäischen Kultur können in den folgenden vier Punkten zusammengefasst werden:[5]
- die verhängnisvolle Naturalisierung des Geistigen muss überwunden werden
- die Philosophie muss als strenge Wissenschaft auftreten
- die Besinnung (gemeint ist hier ein Wiedersichtbar machen) des ursprünglichen Sinnes auf die Lebenswelt, die einen vorprädikativen Charakter einnimmt
- die Rückbesinnung darauf, dass objektive Sinngebilde der modernen Wissenschaften den lebendigen Intentionen der Wissenschaftler entspringen
Gezeigt werden soll durch diese Aufzählung, dass der dritte Spiegelstrich, Rückbesinnung auf die Lebenswelt, mit Heideggers Begriff der Seinsvergessenheit korrespondiert. Damit gemeint ist in diesem Kontext, dass aus der Krisis der Wissenschaften, die Frage nach dem „Sinn von Sein“ heraus erwächst. Um zu diesem Punkt jedoch zu gelangen, bedarf es die Krisis als Chance zu ergreifen. Wenn Heidegger also davon spricht, dass wissenschaftliche Forschung „ die Hebung und erste Fixierung der Sachgebiete naiv und roh “[6] vollzieht, meint er damit das Folgende: Die modernen (positiven) Fachwissenschaften, die lediglich das Gegebene in den Fokus ihrer Untersuchungen ziehen, verfahren im Rückgriff auf ein ontologisches Fundament, dass der Lebenswelt (siehe Spiegelstrich drei: gekennzeichnet durch den vorprädikativen Charakter) entspringt und nicht der Fachwissenschaft selbst. Verkürzt dargestellt, ein Physiker forscht auf einer Begriffsgrundlage, die der alltäglichen, vorwissenschaftlichen Welt - bei Husserl die Lebenswelt - entspringt, um überhaupt Forschung im modernen Verständnis zu ermöglichen. Er, der Physiker, leistet keine Vorarbeit in Bezug auf allgemeine physikalische Begriffe, wie Raum und Zeit, oder die Frage weshalb die klassische Physik ein unbelebtes Naturbild inne hat, während die Biologie von einer belebten Natur ausgeht.[7] Somit werden diese Begriffe als Gegeben hingenommen, um überhaupt Forschung leisten zu können. Forschung beginnt also erst ab dieser (unbewussten) Festsetzung der Grundbegrifflichkeiten, da jene die Leitfäden der Forschung darstellen. Oder mit Heideggers Worten: „ Die Ausarbeitung des Gebietes in seinen Grundstrukturen ist in gewisser Weise schon geleistet durch die vorwissenschaftliche Erfahrung und Auslegung des Seinsbezirkes, in dem das Sachgebiet selbst begrenzt ist. “[8] Wenn also eine jede Wissenschaft in ihrem eigenen Wissenschaftsgebiet ihr Seiendes mit vorausgesetzten Grundbegriffen behandelt, verfährt sie in ihren Untersuchungen rein ontisch![9] Ontologisch verfahren positive Wissenschaften in jenem Moment nicht, d.h. die verwendeten Grundbegriffe erfahren keine echte Begründung in dem Sinne, dass beispielsweise nach dem Wesen des Raums als solcher gefragt wird. Folglich können jene Fachwissenschaften auch keine Antworten auf die Seinsfrage liefern. Auf der vorangegangenen Seite wurde erwähnt, dass aus der Krisissituation der Wissenschaften eine Chance erwächst und zwar die Möglichkeit eines ontologischen Denkens.[10]
[...]
[1] Vgl. Luckner 2001, S. 17
[2] Die Krisis-Idee stellte Husserl bereits im Mai 1935 auf einer Vortragsreihe des Wiener Kulturbundes unter dem Titel „Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit“ vor, bevor er 1936 jene unter dem Titel „ Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie - Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie “ veröffentlichte. (entnommen der Einleitung von Elisabeth Ströker zur Meiner Ausgabe 1996; 3. Auflage)
[3] Vgl. Husserl 1996, S. 12
[4] Husserl 1996, S. 4
[5] Vgl. Möckel 2005, S. 32 -35
[6] Heidegger 1967, S. 9
[7] Heidegger spricht selbst von einer „ Umgrenzung bestimmter Sachgebiete [...], z.B. Geschichte, Natur, Raum, Leben, Dasein, Sprache und dgl. [...]“ (Heidegger 1967, S. 9)
[8] ebd., S. 9
[9] Herrmann 1987, S. 95; sofern ontisch verfahren wird, folgt hieraus, dass Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen sich dabei bereits in einem bestimmten Seinsverständnis bewegen. (vgl. Heidegger 1967, S. 11)
[10] Vgl. Luckner 2001, S. 18; Thomas Kuhn arbeitete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert unter diesem Phänomen mit dem Begriff des „Paradigmenwechsels“. Hierbei geraten normale Wissenschaften - definiert als eine Wissenschaft, die bereits unter einem bestimmten Paradigma forscht - in eine Krise, sprich das wissenschaftliche Arbeiten im Sinne des Puzzle-solving verstrickt sich in Anomalien. (vgl. Kuhn 1996, S. 23f, 35f, 66f)
- Arbeit zitieren
- Sebastian Schneider (Autor:in), 2011, §3 Der ontologische Vorrang der Seinsfrage aus Martin Heideggers "Sein und Zeit", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191975