Nach den Untersuchungen der PISA-Studie ist das deutsche Schulsystem stark in die Kritik geraten und wird immer wieder in den Medien diskutiert. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern haben die deutschen Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen erstaunlich schlecht abgeschnitten. Die Gründe dafür werden vor allem im Bildungssystemen gesucht: fehlende Vorschulbildung, späte Einschulung, frühe Selektion und Undurchlässigkeit des Systems sowie fehlende Anschlussmöglichkeiten. Das deutsche Bildungssystem befindet sich in einer Krise, die Dreiteilung der Sekundarstufe erfüllt nicht mehr ihren Zweck, die deutschen Schüler scheinen zu spät und nicht genug zu lernen und sind Gleichaltrigen anderer Länder unterlegen.
Die Arbeit beruht auf der These, dass die Dreigliederung der Sekundarstufe I kein zukunftsträchtiges Modell mehr darstellt, weil es durch die frühe Selektion Bildungskarrieren blockiert. Der Vergleich mit anderen Schulmodellen soll darstellen, dass eine Reformierung des Schulsystems hin zu mehr Einheitlichkeit sich positiv auf das Bildungssystem auswirken könnte.
Zunächst wird die historische Entwicklung des deutschen Bildungswesens geschildert und aufgezeigt, wie die Unterscheidung zwischen Hauptschule, Realschule und Gymnasium entstanden ist. Anschließend wird das deutsche Bildungswesen in Theorie und Praxis dargestellt. Das gegenwärtige deutsche Schulwesen gefährdet Bildungschancen, weil die Mehrheit der Schüler nicht optimal gefördert wird.
Im zweiten Teil der Arbeit werden die Schulsysteme anderer europäischer Staaten analysiert: das niederländische Schulwesen mit einer der deutschen ähnlichen Teilung der Sekundarstufe I, das französische System, das alle Schüler auf das gemeinsame collège bündelt, Polen, das nach dem kommunistischen Regime eine erfolgreiche Bildungsreform unter Beibehaltung der Einheitsschule durchgeführt hat, und zuletzt Schweden, das mit seinen überdurchschnittlichen Ergebnissen bei den letzten internationalen Bildungsvergleichen das Vorzeigemodell für ein erfolgreiches einheitliches Gesamtschulsystem ist.
Im letzten Teil werden bildungspolitische Reformen der letzten Jahre benannt und aktuelle Tendenzen im Bildungsbereich skizziert. Schließlich werden Wege aus der Krise aufgezeigt und die Option einer Schulform ‚für alle’ diskutiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Historische Entwicklung des Schulsystems
2.1 Anfänge des Schulwesens
2.2 Institutionalisierung und Ausbau des Schulwesens
2.3 Verstaatlichung und Vereinheitlichung - das Weimarer System
2.4 Nationalsozialistische Schulpolitik
2.5 Wiederaufbau und Bildungsexpansion
2.6 Das Schulsystem der DDR
2.7 Deutschlands Wiedervereinigung
3. Das deutsche Schulwesen im21. Jahrhundert
3.1 Grundstruktur des Schulwesens
3.2 Grundschulempfehlung und Übergang
3.3 Die Sekundarstufe I und Durchlässigkeit des Systems
3.4 Probleme im Schulwesen
3.4.1 Stellenwert der Bildung
3.4.2 Die Leistung deutscher Schulbildung
3.4.3 Ungleichheit der Bildungschancen
3.4.4 Sozial- und milieubedingte Schulprobleme
3.4.5 Problemlösungsansätze und ihre Grenzen
4. Europäischer Vergleich
4.1 Niederlande
4.2 Frankreich
4.3 Polen
4.4 Schweden
5. Aktuelle Tendenzen
5.1 Strukturelle und inhaltliche Reformen
5.1.1 Achtjähriges Gymnasiumund Ganztagsunterricht
5.1.2 Bildungsstandards und Kompetenzen
5.2 Diskussion
5.2.1 Was wird aus der Hauptschule?
5.2.2 Die Gesamtschule: Braucht Deutschland eine Einheitsschule?
5.3 Ausblick: Die Zukunft des deutschen Schulwesens
6. Resümee
7. Bibliographie
7.1 Literatur
7.2 Internetquellen
1. Einleitung
Die Schulen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren und nie gewesen sind.
William P.A. Rogers, amerik. Humorist
„CDU will Realschule abschaffen", so der Titel eines Internetartikels vom 18.06.2007; der UN-Sonderberichterstatter Vernor Munoz stellt in seinem Bericht fest, dass Deutschland das Recht auf Bildung verletzt, und kritisiert die soziale Benachteiligung im Schulsystem; Kai Cortina schreibt über die Verlierer des Bildungssystems und bei Becker und Lauterbach sind Hauptschüler1 die Zurückgelassenen. Nach den Untersuchungen der PISA-Studie ist das deutsche Schulsystem stark in die Kritik geraten und wird immer wieder in den Medien diskutiert. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern haben die deutschen Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen erstaunlich schlecht abgeschnitten. Die Gründe dafür werden vor allem im Bildungssystemen gesucht: fehlende Vorschulbildung, späte Einschulung, frühe Selektion und Undurchlässigkeit des Systems sowie fehlende Anschlussmöglichkeiten. Das deutsche Bildungssystem befindet sich in einer Krise, die Dreiteilung der Sekundarstufe erfüllt nicht mehr ihren Zweck, die deutschen Schüler scheinen zu spät und nicht genug zu lernen und sind Gleichaltrigen anderer Länder unterlegen.
Die Arbeit beruht auf der These, dass die Dreigliederung der Sekundarstufe I kein zukunftsträchtiges Modell mehr darstellt, weil es durch die frühe Selektion Bildungskarrieren blockiert. Der Vergleich mit anderen Schulmodellen soll darstellen, dass eine Reformierung des Schulsystems hin zu mehr Einheitlichkeit sich positiv auf das Bildungssystem auswirken könnte.
Zunächst wird die historische Entwicklung des deutschen Bildungswesens geschildert und aufgezeigt, wie die Unterscheidung zwischen Hauptschule, Realschule und Gymnasium entstanden ist. Anschließend wird das deutsche Bildungswesen in Theorie und Praxis dargestellt. Zu Beginn wird der grundlegende Aufbau des Schulsystems erörtert und anschließend werden Probleme im Bildungsbereich beleuchtet. Ein besonderes Augenmerk wird auf den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I sowie die Durchlässigkeit der Schulformen gelegt.
Ein Kritikpunkt dabei ist, dass die Übergangsempfehlung der Grundschule nicht nur von Schülerleistungen abhängt, sondern die familiäre Herkunft einen nicht zu unterschätzenden Faktor darstellt. Das gegenwärtige deutsche Schulwesen gefährdet Bildungschancen, weil die Mehrheit der Schüler nicht optimal gefördert wird.
Im zweiten Teil der Arbeit werden die Schulsysteme anderer europäischer Staaten analysiert: das niederländische Schulwesen mit einer der deutschen ähnlichen Teilung der Sekundarstufe I, das französische System, das alle Schüler auf das gemeinsame college bündelt, Polen, das nach dem kommunistischen Regime eine erfolgreiche Bildungsreform unter Beibehaltung der Einheitsschule durchgeführt hat, und zuletzt Schweden, das mit seinen überdurchschnittlichen Ergebnissen bei den letzten internationalen Bildungsvergleichen das Vorzeigemodell für ein erfolgreiches einheitliches Gesamtschulsystem ist.
Im letzten Teil werden bildungspolitische Reformen der letzten Jahre benannt und aktuelle Tendenzen im Bildungsbereich skizziert. Schließlich werden Wege aus der Krise aufgezeigt und die Option einer Schulform ,für alle' diskutiert.
2. Historische Entwicklung des Schulsystems
Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut.
Laotse
Die Entwicklung des Schulsystems ist eng verbunden mit dem sich stetig verändernden Bildungsbegriff sowie den politischen Umwälzungen. Bis ins 18. Jahrhundert war Bildung geprägt von christlicher Erziehung zu Gottesfurcht und Gehorsam dem Staat gegenüber. Nach der Aufklärung war eine Allgemeinbildung gewünscht, bestehend aus einem institutionalisierten Fächerkanon, die aber auch eine säkularisierte cultura animi, eine Bildung des Geistes und des Herzens erlaubte. Die Schule verfolgte weiterhin eine strenge, nach gesellschaftlichen Schichten getrennte Erziehung, die vor allem Wissensvermittlung und standesgemäße Charakterbildung einschloss. Die Gesiteshaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war geprägt von Nationalstolz und Kriegsverherrlichung, die Schulbildung wurde als Mittel zum Zweck benutzt (Furck u.a. 1965). Nach dem zweiten Weltkrieg war Bildung ein Zeichen kultivierter Lebensführung. Demokratie, freies Denken und Selbstbildung waren ihre Ideale. Die Schulpolitik allerdings war reformscheu und griff auf die Methoden der Weimarer Zeit zurück. Die Forderung nach Veränderung und Verbesserung der Schule, nach Bildung als Bürgerrecht, erfolgte dann in den sechziger Jahren des vergangenen 20. Jahrhunderts. Im 21. Jahrhundert wird Bildung unter Leistungsgesichtspunkten als Ressource, als Besitz (Max Weber), als Humankapital (Pierre Bourdieu) wiederentdeckt und verstärkt ökonomisch behandelt.
Bildung hatte immer auch einen abgrenzenden Charakter, über ihre Institutionen und den Institutionen spezifische Fächerkanone wurden soziale Positionen verstärkt und die Differenz nach Außen manifestiert (vgl. Assmann 2004, Tenorth 2000). Die deutsche Dreigliedrigkeit ist das Ergebnis eines Schulsystems, dessen Legitimation mit ständischen Grenzen anfing und sich mittlerweile über Begabungstypen definiert, obwohl sich darin dennoch soziale Trennungslinien manifestieren. Die Diskrepanz zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung jedenfalls ist der deutschen Bildung immanent. Die Geschichte des deutschen Schulwesens ist wichtig, sowohl um die Selbstdefinition des Systems, als auch um die Schwierigkeiten einer Reformierung festgefahrener Strukturen zu verstehen.
2.1 Anfänge des Schulwesens
Bis ins 18. Jahrhundert war Bildung Sache der Kirche, es wurde vor allem an Klosterschulen und Gelehrtenschulen unterrichtet, daneben gab es Schulen für Schreiben und Rechnen. Anfang des 18. Jahrhundert war die Gesellschaft immernoch in Stände aufgeteilt und Bildung an Gymnasien in lateinischer und griechischer Sprache war nur den oberen Schichten vorbehalten. Erst im 18. Jahrhundert setzte sich auch die deutsche Sprache im Curriculum durch. Volksschulen waren für die unteren Stände, für das Volk vorgesehen2 , sie blieben zunächst in kirchlicher Hand (Fend 2006a, Jeismann/Lundgreen 1987). Der rechtliche Rahmen für die Entwicklung des staatlichen Unterrichtssystems wurde Ende des 18. Jahrhundert geschaffen. Erst mit der Industrialisierung und mit den aufkommenden Gedanken der Aufklärung3 wurde Bildung auch ein politisches Thema. Mit der Einführung der obligatorischen Schulpflicht und der Verstaatlichung der Bildung ab 1794 versuchte man das Schulwesen von der Kirche zu lösen und in staatliche Zentralgewalt zu bringen, es begann ein Kampf zwischen Staat und Kirche um die Vorherrschaft im Bildungswesen (Fend 2006a).
Die Bildungsexpansion erfolgte mit der Industrialisierung, den verbesserten Lebenschancen und dem technischenm Fortschritt, was auch eine Steigerung der Buch- und Zeitschriftenpublikationen als Effekt hervorbrachte. Neben Volksschulen und Handwerkerschulen4 , wurden ab 1830 Schulen speziell für die bürgerliche Lebenswelt, die „reale" Welt wichtig; das Bildungsbedürfnis des gewerbetreibenden Bürgertums führte zu einer Realschulprogrammatik. Real- und Mittelschulen mit Unterricht in Naturwissenschaften, Mathematik und modernen Fremdsprachen entstanden für die Kinder der Bürgerschichten. (Herrlitz u.a. 1998). Die Scheidelinie zwischen Gebildeten und Ungebildeten spiegelte sich im Schulsystem wieder: während der Adel auf Gymnasien unterrichtet wurde und das Privileg des Abiturs genoß, wurden das Bürgertum und niedriderigere Schichten nicht zum Hochschulstudium zugelassen. Das Schulsystem wurde durch die Natur des Menschen legitimiert. Ludolf von Beckedorff verfolgte eine standesgemäße Bildungsbeschränkung, die für die nötige Stabilität der Gesellschaft sorgen sollte. Nur ein höherer Stand berechtigte auch zu höherer Bildung.
Zu Beginn des 19. Jahrhundert hatte die Idee einer allgemeinen Menschenbildung, die, unabhängig von Stand und Ansehen, jedem zusteht, Hochkonjunktur. Wilhelm von Humboldt und Johann Wilhelm Süvern wollten diese Ideen auch institutionell umsetzen. Humboldt plädierte für ein Grundrecht auf Bildung, für eine Menschenbildung und Persönlichkeitsentfaltung jenseits von der strikten Trennung des hierarchischen Ständesystems. Er lehnte eine Trennung von allgemeinen und beruflichen Bildungsgängen ab.
Humboldts Königsberger und Litauischer Schulplan von 1809 war ein Einheitsschulplan. Er entwarf ein nach oben gegliedertes dreistufiges System eines einheitlichen Schulwesens, bestehend aus: Elementarschule, Gymnasium und Universität. Seine Pläne stießen auf Kritik und Ablehnung, vor allem von Seiten des alteingesessenen Adels. Unter den damaligen Umständen waren seine Ideen nicht realisierbar (Oppermann 1982, Jeismann/Lundgreen 1987, Fend2006a). Die Vorstellung, das Beschäftigungssystem im Bildungssystem abzubilden blieb erhalten und es entstanden zwei getrennte Sektoren des staatlichen
Unterrichtswesens: höhere Schulen auf der einen und Elementar- und Volksschulen auf der anderen Seite. Johann Wilhelm Süvern startete 1819 einen weiteren Versuch, das gesamte Unterrichtswesen nach einem gestuften System im Sinne Humboldts zu reformieren und gesetzlich zu verankern. Süvern wollte eine nationale Einheitsschule mit einer nach oben gestuften Schichtung einrichten: allgemeine Elementarschule, allgemeine Stadtschule und Gymnasium sollten aufeinander folgen (Oppermann 1982, Herrlitz u.a. 1993). Im Jahre 1837 wurde der Normalplan verbindlich. Das Gymnasium war nach diesem verwissenschaftlicht und damit Vorbereitungsschule für das Abitur. In der Realität jedoch wurde die ständische Trennung noch stärker vollzogen.
Aus dem Bedürfnis der höheren Schichten nach stärkerer Abgrenzung entstanden Vorschulen, die als Vorbereitungsklassen für das Gymnasium dienten. Damit sollten höhere Stellungen geschützt und Übertrittmöglichkeiten nach oben hin ausgeschlossen werden. (Jeismann/Lundgreen 1987, Herrlitz u.a. 2003). Zwischen 1788 und 1839 normierte der Staat das höhere Bildungswesen, dies betraf (Lehrpläne, Abschlüsse, Abitur und Lehrerbildung). Erst seit 1830 wurde das Abitur einheitlich und rechtlich die Zugangsberechtigung zum Studium, davor gab es - bis auf die 1717 eingeführte allgemeine Schulpflicht in Preußen - keine einheitlichen Regeln für das deutsche Schulsystem. Durch die Verstaatlichung des höheren
Schulwesens wurde Bildung für den Machtgewinn des Staates instrumentalisiert . Der Staat trug die Kosten für die Universitäten und höheren Schulen; Volkschulen waren daher eine Belastung für örtliche Schulträger5 , blieben also zunächst, genauso wie der Religionsunterricht, in kirchlicher Hand; darüber hinaus war die Kirche allerdings nur noch eine Aufsichtsinstanz im Bildungsbereich (Döbert u.a. 2002:92ff, Jeismann/Lundgreen 1987).
Mit den kirchlich organisierten Volksschulen6 und den staatlichen öffentlichen höheren Schulen - den lateinlosen Mittel- und Realschulen einerseits und den lateingeprägten humanistischen Gymnasien und Realgymnasien andererseits - entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts ein dreigliedriges Schulsystem, das die Interessen der drei Gesellschaftsklassen widerspiegelte und die Grundlage für die derzeitigen Dreigliedrigkeit des Schulwesens darstellt (Döbert u.a. 2002, Müller 1981, Herrlitz u.a. 1998).
2.2 Institutionalisierung und Ausbau des Schulwesens
Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die Gesellschaft durch den industriellen Fortschritt einen Alphabetisierungsschub auch in den unteren Schichten. Durch die allgemeine Erhöhung des Lebensstandards durch wirtschaftlichen Aufschwung wuchs das Interesse breiter Bevölkerungsschichten an Bildung. Bildung wurde durch Schulformen und Lehrplänen institutionalisiert und durch eine Regelung der Lehrerausbildung professionalisiert. Der Selbstbestimmungswille und das individuelles Glücksstreben stieg, dazu nährten liberale Ideologien die neuen Ansprüche des Bürgertums. Wohlstand ermöglichte einen gesellschaftlichen Aufstieg. Glück und Leistung als säkulare Werte standen zwar im Gegensatz zu den konfessionell geprägten Werten, setzten sich aber, weil sie individuell verfügbar waren, immer mehr durch (Jeismann/Lundgreen 1987).
Trotz der Schuldiskussionen zu Zeiten der Aufklärung kamen Bildungsprozesse und die Pädagogik nicht über die limitierenden Instanzen Gesellschaftsordnung und Religion hinweg. Die Beckedorffsche Struktur des Schulwesens war von der Ständestruktur abgeleitet. Die Erziehung musste die Natur des Menschen, seinen Stand und damit seine gesellschaftliche Bestimmung respektieren. Bildung war für die Massen nicht verfügbar. Untertanen wurden zu Zucht und Gehorsam erzogen. (Jeismann/Lundgreen 1987).
Im Wilhelminischen Kaiserreich erlebte das Schul- und Hochschulwesen einen rasanten Aufbau. Auch das Volksschulwesens wurde ausgebaut und das System der staatlichen Prüfungen perfektioniert. Bis 1871 war das Interesse des Staates am Bildungsbereich eher gering7 . Kolonialisierung und außenpolitische Friedenssicherung führten zu einer Militarisierung des öffentlichen Lebens und damit auch der höheren Schulbildung: Bildungsinhalte waren nationalistische und kriegsverherrlichende Themen sowie militärische Umgangsformen (Berg 1991). Die aristokratischen Machthaber wollten das Monopol des humanistischen Gymnasiums und die soziale Trennlinie zwischen Gebildeten und Ungebildeten nicht abschaffen, die vertikale Mobilität blieb weiterhin gebunden an soziale Herkunft und Einkommen, hinzu kam nun die Ausbildung als dritter Faktor, denn der Besitz von Bildung konnte fehlendes Vermögen ersetzten. Es entstand die Möglichkeit, nach sechsjähriger Gymnasialzeit mit dem einjährigen freiwilligen Militärdienst das Patent eines Reserveleutnants zu erwerben (Berg 1991:20f).
In Preußen wurde höhere Bildung an Gymnasien durch die engere Anbindung von Schulbildung und Karriere an den Staat ein soziales Privileg. Der kürzere Militärdienst war eine Aufstiegschance. Abweichend von den Gymnasien entstand Griechisch-freier Ersatzunterricht für Schüler, die die einzige Höhere Schule am Ort nur bis zu der Stufe besuchten, deren Abschluss zum einjährigen, freiwilligen Militärdienst berechtigte. Durch das Abitur als Zugangsvoraussetzung zur militärischen Laufbahn wurde die Volksschule noch mehr entwertet. Die Realschulen des Bürgertums sollten auch niedrigere Schichten auf die gymnasiale Laufbahn vorbereiten. Jedoch aufgrund der Unvereinbarkeit von technischer (naturwissenschaftlicher und mathematischer Programmatik an Realschulen) und gelehrter Bildung (klassische Sprachen) an Gymnasien entstanden ab den 1880er Jahren Oberrealschulen und Höhere Bürgerschulen mit Lateinunterricht - ab ca. 1882 als Realprogymnasium - als konkurrierendes zweites Glied zum Gymnasium und forderten Gleichberechtigung, also Gleichstellung als höhere Schulen. Es wurde argumentiert, dass allgemeine Bildung an Gymnasien nur dem gesellschaftlichen Verkehr und als Instrument der Selbststabilisierung der herrschenden Klasse diene, die Realschule hingegen habe einen wirklichen Bildungsauftrag, da sie mit Fremdsprachen und Gegenwartskultur die Bedürfnisse der Gegenwart bediene (Berg 1991:151ff).
Die Idee, dass Bildung von gesellschaftlichem Nutzen ist, beeinflusste das pädagogische Denken. Bildung wurde als Medium einer besseren Zukunft und Pädagogik als Wissenschaft etabliert, 1907 gab es schon fünf ordentliche Professuren für Pädagogik.
Ein weiterer Expansions- und Investitionsschub erfolgte auch im Volksschulwesen. Das Schulaufsichtsgesetz von 1872, da sie gegen das Prinzip der Konfessionsschulen projiziert war und den Einfluss der Kirche zurück drängen sollte, erfüllte nicht seinen Zweck. Die Schule war eine Halbtagsschule, weil Kinderarbeit noch weit verbreitet war. Reglementiert wurden Arbeitszeiten für Kinder nur in gewerblichen Betrieben, in häuslichen Betrieben und Landwirtschaft war das kaum möglich. Die Kinder halfen im Betrieb und auf dem Hof aus, vor allem in den Schulferien, die von -kirchlichen - Feiertagen geregelt wurden (Berg 1991).
Allgemeine Bestimmungen von 1872 ordneten das Mittelschulwesen und klassifizierten es zu den niederen Schulen mit vorbereitender Funktion für den Übertritt zum Gymnasium. Das Volksschulwesen blieb als Bildungsinstitution der Unterschicht defizitär, es gab oft nur eine oder zwei Klassen und in ca. einem Drittel der Schulen unterrichtete ein Lehrer 120 bis 200 Schüler. Der Übergang von der Volksschule auf eine höhere Schule war schwierig, zuweilen auch nicht möglich. Die Realschule hatte ein naturwissenschaftliches Profil mit modernen Fremdsprachen, ihr Abschluss berechtigte zur Aufnahme einer mittleren Verwaltungslaufbahn und konnte sich damit oft gegen die Mittelschule am gleichen Ort durchsetzen, weil Gemeinden selten beide Schularten finanzieren konnten. Das Mittelschulwesen erfuhr aber eine große Beliebtheit in bevölkerungsdichten Industriestädten wie Wiesbaden, Kiel, Halle oder Frankfurt am Main. Das Gymnasium blieb altsprachig und mit philosophischen Lehrinhalten auf Literatur und Kunst fixiert und grenzte sich von den niedrigeren Sozialschichten ab. Jedoch hatten ab 1870 auch Abgänger der Realgymnasien eine Studienberechtigung. Wilhelm II. forderte mehr zeitbezogenen Unterricht für Gymnasien und die Abschaffung der Realgymnasien (Berg 1991).
Das System der Schule entsprach in den Grundzügen der Organisation der Arbeitswelt. Die soziale Stellung des Mannes definierte sich über seinen Beruf und damit auch über Bildung, es bildete sich ein neuer ,Stand der Gebildeten'. Mädchenbildung hingegen wurde lange Zeit vernachlässigt, bzw. orientierte sich an häuslichen Aufgaben und lehrte sie die Pflichten einer zukünftigen Gattin. Sie wurde erst nach dem ersten Weltkrieg in das öffentliche Schulwesen vollständig integriert, was für die breite Masse der jungen Frauen einen sozialen Aufstieg bedeutete (Jeismann/Lundgreen 1987). Frauen waren theoretisch seit 1865 zum Abitur zugelassen, jedoch mussten sie hierzu de facto eine Knabenoberschule besuchen und zumindest in Preußen und Bayern waren sie an einer Knabenschulen nicht geduldet. Die Frage der Koedukation stellte sich insofern für die höheren Schulen, als die finanziellen Mitteln für den Aufbau eines höheren Mädchenschulwesens fehlten. Die geforderte Gleichheit der Bildungschancen führte dazu, dass die auf der Vermittlung von in Haushalt und Familie nützlichen Fertigkeiten basierende Mädchenbildung nach und nach an die Ausbildung der Knaben angeglichen wurde (Tews 1916). Am Ende des Kaiserreichs existierten drei höhere Schultypen: Gymnasien mit verbindlichem Lateinunterricht und den Vorschulen als Zubringerfunktion sowie die über mehrere Formen und Abzweigungen entstandenen Realgymnasien (mit Lateinunterricht) und die lateinlosen Oberrealschulen, weiterhin die 6jährigen Realprogymnasien und Realschulen, die beide hauptsächlich die Interessen des Bürgertums vertraten (Tews 1916, Müller 1981). Mit dem Erlass Wilhelm II. 1901 waren das Realgymnasium und die Oberrealschule dem humanistischen Gymnasium insofern gleichgestellt, als ihr Abschluss nun auch den Zugang zu einem Hochschulstudium ermöglichte (Fend 2006a, Herrlitz u.a. 1993).
2.3 Verstaatlichung und Vereinheitlichung - das Weimarer System
Erst mit der Weimarer Republik kam das Volksschulwesen, zuvor Kompetenzbereich der Kirche, in staatliche Hand. Erhöhter Wohlstand, wachsende Geburtenraten und moderne Lebensweisen regten Änderungen im Bildungsbereich an. Das Volksschulwesen erfuhr eine Expansion. Die Volksschule wurde statt der teuren Vorschule immer mehr für den Übergang auf eine höhere Schule genutzt. Im Gegensatz zu kirchlicher Bildung (vgl. 2.1) entstand auch für das niedere Schulwesen ein Fächerkanon an Allgemeinbildung. Die Volksschullehrerbildung wurde aufgewertet durch entsprechende Ausbildung. Trotz der Bestrebungen nach Einheit im Bildungsbereich wehrten sich Traditionalisten gegen Ideen, die das elitäre Selbstverständnis der höheren Schulen in Frage stellten. Das Schulwesen war nicht einheitlich geregelt. Die Bildungslaufbahn des Einzelnen war stark von seiner sozialen Herkunft abhängig. In dieser Zeit entstanden neue Schultypen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten, teure Vorschulen hatten für den Übergang auf Gymnasien eine privilegierte Stellung und mehrere private Schulen verschärften die Klassendifferenzen (Herrlitz u.a. 1993).
Versuche, das Schulsystem zu reformieren, wurden in der Weimarer Republik zu einem politischen Thema. Einerseits wurde von sozialistischen Kräften die strikte Klassentrennung und die soziale Benachteiligung durch Vorschulen kritisiert, andererseits wurde die Machtbasis der konservativen Eliten nicht gefährdet. Johannes Tews forderte umfassende Reformen, kritisierte die konfessionell bedingte Bildungsbenachteiligung und forderte die Abschaffung der Kinderarbeit, Unentgeltlichkeit der Bildung und vor allem eine Einheitsschule. Diese Reformversuche scheiterten jedoch und wurden 1924 den Ländern zur Regelung überlassen (Tenorth 1986, Langewiesche/Tenorth 1989, Tenorth u.a. 2006).
Auch die Abschaffung der sozial-selektiven Vorschulen und die Einführung einer gemeinsamen Grundschule wurden vor 1918, als die Sozialdemokraten eine Reform des Schulsystems verlangten, nicht ernsthaft in Angriff genommen. Zwei Jahre später, im April 1920, wurde von der Nationalversammlung das Grundschulgesetz unter Aufhebung der Vorschulen verabschiedet, das die allgemeine obligatorische Grundschule vom 6. bis zum 10. Lebensjahr einführte und als egalitäre Ausgangslage für weiterführende Schulen fungierte. Damit war dem System eine demokratische Legitimation gegeben. Als nicht-staatliche Reformversuche entstanden um 1919 die erste Waldorfschule der Zigarettenfabrik Waldorf Astoria nach pädagogischen Ideen Rudolf Steiners, die Odenwaldschule und die Jena-Plan Schule. In Preußen existieren weiterhin sechsjährige Mittelschulen, die auf den Grundschulen aufbauend auf einen berufliche Vorbildung abzielten (vgl. Führ 1972:161ff, Langewiesche/Tenorth 1989). In der Lehrplanreform von 1923/24 wurden schließlich die verschiedenen Typen der höheren Schulen definiert und curricular differenziert: während das Gymnasium als prestigeträchtigste Anstalt weiterhin der traditionellen Bildung der Antike und des Christentums verpflichtet blieb, rekurrierte das Realgymnasium mit der Ausbildung in den modernen Fremdsprachen Englisch und Französisch auf einen zeitgenössischen Europäismus. Die Oberrealschule beschränkte sich auf das naturwissenschaftlich-mathematische Gebiet. Weitere Reformen, die auf stärkere Integration der unteren Klassen abzielten, blieben aufgrund der Finanzknappheit des Staates und vor allem durch die restriktive Politik konservativer Kräfte eingeschränkt. Die seit 1923 steigende Arbeitslosigkeit mündete in traumatische Erfahrungen sozialer Not und legte die Grundlage für nationalsozialistische Ideologien (Langewiesche/Tenorth 1989, Führ 1972, Herrlitzu.a. 1993).
2.4 Nationalsozialistische Schulpolitik
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialsiten erfolgte eine Ideologisierung des Schulwesens und eine sich stufenweise verstärkende Auslese nach arischen Gesichtspunkten. Das Bildungswesen erfuhr während der nationalsozialistischen
Diktatur außer den ideologischen Inhalten und Homogenisierungsbestrebungen unter
dem Lehrpersonal nur wenige strukturelle Änderungen. Das preußische System blieb maßgebend für das deutsche und wurde bis auf die Ergänzung durch nationalsozialistische Anstalten und Landerziehungsheime kaum verändert (Langewiesche/Tenorth 1989). Nach 1933 wurde das Schulsystem durch die Jugendorgansationen HJ (Hitlerjugend) und BDM (Bund Deutscher Mädel) ergänzt; in den Folgejahren entstanden Elite-Gymnasien. Nationalpolitische Lehranstalten (Napolas) und Adolf-Hitler Schulen führten zum Abitur, die Ordensburgen der SS leiteten anschließend eine militärische Karriere beim Staat ein. Auch die Nationalsozialisten wollten ursprünglich den Einfluss der Kirche zurückdrängen, aber durch das Konkordat mit dem Vatikan, der für mehr Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen sollte, wurde gleichzeitig die Abschaffung der Konfessionsschulen verhindert. Die Differenzierung von Volksschule, Real- und Mittelschule sowie Gymnasium und Oberschule verfestigte die Dreigliedrigkeit und wurde bis auf wenige Änderungen beibehalten. Die Militarisierung und Uniformierung der Gesellschaft war zum Teil auch eine Nivellierung und bedeutete einerseits das Ende der früheren preußischen Elite - die Nationalsozialistische Diktatur zerstörte damit die soziale Sonderstellung des Adels, schuf andererseits ihre
eigene Eliten nach einem arischen und meritokratischen Prinzip , so z.B. durch die Adolf-Hitler-Schulen oder die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten. Die Arbeiterklasse wurde zum neuen Mittelstand (Langewiesche/Tenorth 1989). Die Pädagogik wurde zur Neuorientierung und Vermittlung neuer Leitbilder missbraucht. Eine autoritäre Erziehung zum Krieg gegen den Feind, geprägt von Rassenlehre und Germanenkult vermittelte Werte wie Kameradentum, Gefolgschaft und Gemeinschaftssinn. Politische Vereine und Versammlungen wurden zu einem wichtigen Erziehungsfaktor, die Lehrpläne waren durchtränkt von kriegsverherrlichenden Motiven und nationalsozialistischer Ideologie (Langewiesche/ Tenorth 1989:10ff).
Spätestens 1937 waren alle Vorschulen ab- oder umgebaut und die Grundschule war konkurrenzlos als einheitliche Pflichtschule für diese Altergruppe. Ende der 1930er erforderte die Arbeitsmarktlage einen Umbau des Mädchenschulwesens: die Lyzeen der Mädchen wurden mit Einführung des gymnasialen Lehrplans und des Lateinunterrichts zu den höheren Schulen gerechnet und damit den Knabenschulen gleichgestellt. Trotz der in der nationalsozialistischen Propaganda bejubelten deutschen Vorzeigemutter ging die Zahl der Geburten in Ehen eher zurück (Langewiesche/Tenorth 1989).
Die Schule war für die Dauer des zweiten Weltkrieges größtenteils in einem Ausnahmezustand, da die Anforderungen des Militärs und der Rüstungsindustrie wichtiger waren. Jüdische Kinder wurden schon früh nicht mehr unterrichtet. Offiziell wurde erst 1942 der Unterricht auch an jüdischen Schulen untersagt,jedoch waren zu diesem Zeitpunkt Schulen, Lehrpersonal oder Schüler faktisch nicht mehr vorhanden. Die Sonderschulen - damals noch als Hilfsschulen bezeichnet -verschwanden aus der Bildungslandschaft mit der Umsetzung der Idee des Unwerten Lebens im Zuge des Euthanasieprogramms. Auch an arischen Schulen fielen große Teile des Unterrichts aus: Militärdienste, Sozialeinsätze oder HJ-Treffen beanspruchten die Zeit der Schüler. Für Kriegsteilnehmer wurden Kurzlehrgänge und Sonderreifeprüfungen ohne Abitur eingeführt. Zusammenfassend lässt sich aber bis auf die Indoktrination und die Gleichschaltung der Lehrkräfte keine schulpolitische Gesamtkonzeption (Herrlitz) des Nationalsozialistischen Regimes erkennen (Langewiesche/Tenorth 1989:199ff,Herrlitzu.a. 1993).
2.5 Wiederaufbau und Bildungsexpansion
Die Entwicklung des Bildungswesens in Westdeutschland nach dem zweiten Weltkrieg war grundsätzlich ein Rückschritt zum Weimarer System, die Dreigliedrigkeit wurde bis auf wenige Änderungen wieder aufgenommen. Die Chance einer grundlegenden Reform wurde nicht wahrgenommen. Bei Kriegsende waren 90% der Schulgebäude zerstört und es fehlten Lehrkräfte. Das durch den Krieg geschwächte Deutschland verzichtete auf eine Neuordnung zugunsten eines Rückgriffs auf die Weimarer Bildungstradition, man gab sich schon mit einem ordnungsgemäßen Schulbetrieb (Herrlitz) zufrieden. Das Jahr 1945 leitete eine Umbruchsituation ein, die Wiedereröffnung der Schulen Ende Juni 1945 erfolgte regional unterschiedlich nach den Schularten Volksschule, Mittelschule und Gymnasium getrennt. Damit war schon eine Vorentscheidung getroffen und die Vorstellung der alliierten Mächte, ein einheitliches System mit Grundschule und darauf aufbauenden höheren Schule aufzubauen, konnte sich nicht durchsetzen und wurde neben den vordringlicheren Entnazifizierungsmaßnahmen vernachlässigt (Führ/Furch 1998a, Herrlitz u.a. 1993).
Wichtig war zunächst ein geregelter Universitäts- und Schulbetrieb. Die Besatzungsmächte waren an Universitätsgründungen8 beteiligt, hatten ansonsten allerdings nicht viel Einfluss auf den Bildungsbereich. Bis 1947 erfolgte von den westlichen Alliierten keine Einmischung, man scheute grundlegende Reformen und hielt den Zeitpunkt, angesichts der materiellen Probleme, der mangelnden Mittel und der fehlenden Organisation, für nicht passend. Die ersten Schulgesetze von 1948/49 sahen zwar neben Lehrplanumgestaltung eine zwölfjährige Einheitsschule mit sechsjähriger Grundstufe vor, aber diese Bestimmungen wurden tatsächlich nur in Bremen, Hamburg, Berlin und Südwürttemberg-Hohenzollern realisiert. Die Landesverfassungen, die auch Bildungsfragen behandelten, behinderten die Einführung eines einheitlichen Systems nach westlichen Vorstellungen (Führ/Furch 1998a).
In den folgenden Jahren etablierte sich das dreigliedrige System entgegen allen Bestrebungen zur Einheitlichkeit. Konservative Gruppen lehnten es ab, die überlieferte Schulstruktur zu verändern, während Sozialdemokraten und Kommunisten eine sechsjährige Grundschule als Vorstufe zu einer Einheitsschule nach Vorstellungen der amerikanischen Militärregierung befürworteten. Man orientierte sich jedoch überwiegend am Schulsystem der Weimarer Republik. Neu war ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur die Legitimierung des Systems. Nicht mehr Standesgrenzen oder Entwicklungsmöglichkeiten rechtfertigten diese Differenzierung, sondern natürliche Begabung und ein entsprechender Ausleseprozess. Die Verteilung der Schüler auf die drei Schularten erfolgte nach der Begabungsstruktur der Bevölkerung und den Anforderungen der Berufshierarchie in der Wirtschaft. Geistige Berufe, praktische Berufe und ausführende Tätigkeiten stellten eine Dreiteilung dar, die mit dem theoretischen, theoretisch-praktischen und praktischen Begabungstyp legitimiertwurde (Führ/Furch 1998a:247ff). Die Stabilisierung der Schulrechtsstrukturen war Ende der 1950er Jahre abgeschlossen. Die nationalsozialistische Zeit hatte strukturell zwar wenig verändert, dafür die deutsche Gesellschaft ideologisch derart geprägt, dass eine große Verunsicherung herrschte. Eine Rückkehr zu alten Werten und dem Weimarer System schien angebracht. Das humanistische Gymnasium wurde stilisiert als Träger der geisteswissenschaftlichen Tradition; der nationalsozialistischen Indoktrination wurde ein Humanitätsideal entgegensetzt. Die deutsche konservative Grundtendenz führte eher zu einem Rückgriff auf christlich-abendländische Werte9 . Erreicht wurde zumindest durchgehend die Unentgeltlichkeit der Bildung (Führ/Furch 1998a:7). Im Jahre 1949 erfolgte die Einrichtung einer Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK). Die KMK sollte die Zuständigkeiten der Länder zu einem Kompromiss führen und den differierenden Entwicklungen entgegen wirken. Als Dauereinrichtung soll sie Empfehlungen aussprechen, die auf das Ziel der Einheitlichkeit hin orientiert sind. Die Entwicklung der Sekundarstufe I in den 90er Jahren zeigt, wie wenig Erfolg die KMK hat: ständige Abstimmungsprobleme zwischen Bund und Ländern sind die Regel (Führ/ Furch 1998a).
Im Jahre 1953 wurde der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen gegründet, der Mängel und Versäumnisse im Bildungssystem feststellte, 1959 regte er mit dem Rahmenplan für Umgestaltung und
Vereinheitlichung des allgemeinbildenden Schulwesens Reformdiskussionen an (Führ/Furch 1998a:251). Trotzdem blieb die Konzentration auf das Gymnasium als Eliteschule erhalten. Die Reformunwilligkeit und der Mangel an Schulkritik in der Bildungspolitik waren einerseits Folge festgefahrener traditioneller Strukturen und ergaben sich andererseits aus der Erfahrung, dass der Wiederaufbau auch ohne durchgreifende Schulreformen gelungen war. Man sah daher keine Notwendigkeit für eine Änderung (Herrlitz u.a. 1993).
Die Gründung des Deutschen Bildungsrats als beratendes Gremium im Jahre 1965 löste den Deutschen Ausschuß ab und bahnte schließlich den Weg für die Veränderungen der 1960er Jahre und die Bildungsexpansion. Zwischen 1965 und 1975 wurden Vorschläge für das Bildungswesen erarbeitet, die den neuen Bedürfnissen der Gesellschaft entsprachen, und mehrere Empfehlungen ausgesprochen, infolge derer das Bildungswesen reformiert und Bildungseinrichtungen neu geschaffen wurden (vgl. Kemper 1984:46ff). Die gleichberechtigte Förderung aller Kinder jeglicher Begabung wurde Diskussionsthema. Weil aber im föderalistischen Deutschland die Bundesländer ihre Kompetenzen im allgemeinbildenden Bereich behielten, blieb bis heute eine immer wieder geforderte ,große Bildungsreform' aus (Führ/Furch 1998a).
Georg Picht und Ralf Dahrendorf kritisierten in den 1960ern das Bildungssystem Deutschlands und warnten vor einer zukünftigen Bildungskatastrophe (Picht 1964) weil aufgrund sozialer Benachteiligung Humankapital und Bildungsressourcen ungenutzt blieben. Dahrendorf forderte nicht nur eine allgemeine Expansion des Bildungswesens, sondern auch eine Veränderung des Systems, in der er die Grundlage für eine Erhöhung der Zahl der Abiturienten und Mittelschulabsolventen sieht (Dahrendorf 1975:35f).
Picht bemängelte die sozialen Ungleichheiten, die auf folgenden vier Faktoren der Benachteiligung beruhen: Religion, sozialer Stand, Geschlecht und Wohnort, und brachte sie auf die prägnante Formel der katholischen Arbeitertochter vom Lande (Picht 1964). Die Frage, wieso bestimmte soziale Gruppen beim Übergang zu den Gymnasien hinter anderen zurück bleiben war, nicht nur mit der wirtschaftlichen Lage der Eltern zu erklären. Vorurteile von Lehrern hinsichtlich der Begabung und Schulchancen von Mädchen und Kindern aus unteren sozialen Schichten antizipierten Empfehlungen für die weiterführenden Schulen (Dahrendorf 1975).
Das tatsächliche Hemmnis waren der Traditionalismus der konservativen Eliten und die Unmündigkeit der unteren Schichten. Im System effektiver sozialer Kontrollen sollten die erreichten Positionen der hohen Gesellschaftsklassen erhalten bleiben. Dahrendorf kritisierte die deutsche Einstellung des „Schuster, bleib' bei deinen Leisten" (Dahrendorf 1975:71) und bemängelte damit den Modernitätsrückstand der deutschen Gesellschaft, der die Effektivität der deutschen Bürger- und Bildungsrechte einschränkt. Dahrendorf forderte außerdem eine aktive Bildungsforschung - ihm zufolge sollten sich bildungspolitische Entscheidungen nach neuen Erkenntnissen der Pädagogik richten - und die Einrichtung von mehr Reform- und Modellschulen, wie zum Beispiel der Odenwaldschule (Dahrendorf 1975:71ff).
Picht sprach sich für eine parteiunabhängige aktive Bildungspolitik aus, er wollte alle Zweige neu konzipieren und konstruieren und damit die Gleichheit der Bildungschancen erreichen und ungünstige Startbedingungen ausgleichen (Picht 1964, Führ/Furch 1998a:19), allerdings gegen den Widerstand der Lehrervertreter und Philologen war eine Strukturveränderung der höheren Schulen nicht möglich: „So behalten sowohl die Philologen als auch die Eltern, die eine solche Schule wünschen,jenes Gymnasium, das Ihnen gefällt." (Dahrendorf 1975:36). Probleme des Bildungswesens blieben weitgehend unangetastet, Reformgedanken der sechziger und siebziger Jahre sickerten nur langsam ins Bildungswesen, und Empfehlungen des Deutschen Ausschusses beziehungsweise später des Deutschen Bildungsrats wurde nur zögerlich nachgegangen.
Die vom Deutschen Bildungsrat 1970 geforderte Einführung einer Orientierungsstufe (Klassen 5 und 6), die falsche Schulformentscheidungen nach der Grundschule abschwächen und die Möglichkeit zur Revision frei lassen sollte, wurde in den konservativen Ländern, die am bestehenden System festhalten wollten nur schulformabhängig eingeführt, womit sich faktisch an der Teilung nichts änderte (Führ/Furch 1998a:290ff).
Seit den 1950er Jahren erfolgte ein größerer Andrang auf Gymnasien und Realschulen. Ein freiwilliges 10. Schuljahr10 an Hauptschulen sollte diesem Trend entgegen wirken. Bis 1989 wurde das dreigliedrige Schulwesen weiter ausgebaut, Realschulen wurden flächendeckend eingerichtet, ebenso Sonderschulen. Das Höhere Schulwesen sowie die Universitätslehre wurden schon im Zuge der
Bildungsexpansion in den 1960er Jahren reformiert . Reglementierungsschübe gab es erneut Ende des 20. Jahrhunderts, als Fragen der Schulorganisation, Schulpflicht, Lehrpläne und Schülermitverwaltung diskutiert wurden (Führ/Furch 1998a). Ab 1964 wurden per Abkommen zwischen den Bundesländern mehr von der Standardstruktur abweichende Schulversuche mit Zustimmung der KMK zugelassen. Auf Empfehlung des Deutschen Bildungsrats wurden einheitliche Modellschulen eingerichtet und ausgebaut, wie zum Beispiel die Jenaplan-Schulen, die musische und handwerkliche Grundlagen vermitteln (Führ/Furch 1998a:378ff).
Die Einrichtung von Gesamtschulen sollte für größere Chancengleichheit,
individuelle Förderung und breiteres Fächerangebot sorgen, ebenfalls sollten dadurch verfrühte Schullaufbahnentscheidungen vermieden werden. Gesamtschulen wurden überwiegend als Ganztagsschulen eingerichtet, nur in Hamburg und Hessen als Halbtagsschulen. Ziel der Gesamtschulgründungen war es, diese Schulform als Regelschule zu etablieren. Die bundesweite Umstellung des Schulsystems auf Gesamtschulen blieb jedoch nicht zuletzt aufgrund der föderalistischen Bildungshoheit der Länder eine Vision; zwar wurde die Umstellung von den Sozialdemokraten befürwortet, stieß aber auf Seiten der konservativen Parteien auf starke Ablehnung (Führ/Furch 1998a: 331 ff}. Während die SPD-geführten Länder integrierte Gesamtschulen etablierten, bauten die CDU-regierten Länder das bestehende dreigliedrige System aus. In diesen Länden hat sich die Anzahl der Hauptschülerzwischen 1961 und 1991 fast halbiert (Führ/Furch 1998a:254f). Was blieb aber am Ende des 20. Jahrhunderts nach der Kritik an der Chancenungleichheit des dreigliedrigen Schulsystems und am Ende der Reformbestrebungen der 60er Jahre mit dem Ziel einer einheitlichen Struktur? Die vom Deutschen Ausschuss und Deutschen Bildungsrat eingeleiteten Reformen führten zu einer Bildungsexpansion, zu einem Ausbau der Realschulen und der Gymnasien, das Hochschulwesen verzeichnete Universitätsneugründungen und es entstanden Fachhochschulen und Fernstudiengänge (Führ/Furch 1998a:16). Übergreifende Reformvorschläge, die eine Einheitsschule forderten, fanden jedoch keinen Anklang, das System wurde beibehalten, weil der gesetzliche Rahmen wenig Spielraum ließ und die Interessen konservativer Bevölkerungsgruppen starke politische Vertretung fanden. 1975 wurde der Deutsche Bildungsrat auf Antrag Baden-Württembergs aufgelöst, seitdem gibt es in Deutschland kein ähnliches Beratungsgremium für das Schulwesen mehr11 (Anweiler 1996:35).
2.6 Das Schulsystem der DDR
Während in der BRD eine föderale Bildungspolitik herrschte und das alte Bildungssystem der Weimarer Republik restauriert wurde, beseitigte in der sowjetischen Besatzungszone SBZ das Einheitsschulgesetz von 1946, das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule, den traditionellen Schulaufbau. Damit war statt Volksschule, Mittelschule und höherer Schule eine gemeinsame achtjährige Grundschule für alle errichtet. Die sowjetische Militärverwaltung etablierte eine zentralistische Ordnung und richtete schon 1945 in Berlin die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung ein. Es herrschte ein staatliches Schul- und Hochschulmonopol, Privatschulen waren verboten. Noch im Jahr 1945 wurden Unterrichtsrichtlinien, die primär Entnazifizierung und Säuberung des Lehrstoffs anvisierten, erlassen. Anschließend wurde ein Einheitsschulsystem mit einer 8jährigen Grundschule und 4jähriger Oberschule eingeführt, das allen Bevölkerungsschichten gleiche Bildungschancen ermöglichen sollte (Führ/Furch 1998b:13ff, Döbertu.a. 2002:92ff, Herrlitz u.a 1993).
Im Jahre 1946 wurden einheitliche Lehrpläne ausgegeben, in der 5. Klasse begann
die erste Fremdsprache (seit 1949 Russisch) . Ein radikaler Traditionsbruch beseitigte die Gymnasien, Griechisch und Latein waren nur wenigen Schülern vorbehalten. Die Pädagogik war geprägt von ideologischer Erziehung, Ziel war die Einheit von fachlicher Bildung auf der ideologischen Grundlage des MarxismusLeninismus (Führ/Furch 1998b:137).
Seit der 1958 begonnenen polytechnischen Bildungsreform hatte die polytechnische Oberschule POS (Führ/Furch 1998a:12) zehn Klassen unentgeltliche Pflichtschule: Grundschule von 7 bis 14 Jahren, darauf aufbauend eine dreijährige Berufsschule mit Fachschulanschluss oder eine vierjährige Oberschule. In der erweiterten Oberschule EOS (Klassen 9 bis 12) konnte ein neusprachlicher, mathematisch-naturwissenschaftlicher oder altsprachlicher Zweig gewählt werden. Der Lehrplan sah einen
[...]
1 Gemeint sind Schüler und Schülerinnen: Sofern nicht explizit auf bestimmte Gruppen verwiesen wird, werden in dieser Arbeit immer männliche Formen verwendet; dies soll der besseren Lesbarkeit dienen.
2 Die Unterrichtssituation an Volksschulen war dementsprechend schlecht, in den meisten Fällen wurden Schüler aller Altersgruppen in einem Raum unterrichtet von einer Lehrperson, die meist zuvor keine besondere wissenschaftliche oder pädagogische Ausbildung genossen hatte (Fend 2006a).
3 Das Konzept der allgemeinen Menschenbildung, also einer Bildung als Entfaltung der Persönlichkeit, entstand 1803 (Reichsdeputationshauptschluss) unter französischem Einfluss (Jeismann/Lundgreen 1987).
4 Industrieschulen und Gewerbeschulen vermittelten elementare Bildung und bereiteten auf das Arbeitsleben vor, überwiegend durch Vermittlung von Werten wie Gehorsam, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit oder Fleiß (Jeismann/Lundgreen 1987:161ff).
5 Die Schulpflicht wurde eher nachlässig verfolgt, auf dem Land war der Schulbesuch der Volksschulen sowieso der Arbeit untergeordnet, vor allem in den Sommermonaten. Erst im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen kam es zu einem Ausbau des Volkschulwesens und einer strengen staatlichen Aufsicht der Schulbesuchspflicht (Fend 2006a).
6 Ab 1820 setzte sich einheitlich die Bezeichnung Volksschule durch (Müller 1981).
7 Erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich die Vorstellung durch, dass Ausgaben für das Unterrichtswesen zu den Investitionen zählten, welche langfristig die Produktivität des Landes erhöhen.
8 So zum Beispiel 1946 die Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, 1948 die Universität des Saarlandes in Saarbrücken und ebenfalls 1948 die Freie Universität Berlin.
9 So z.B. in der Bayerischen Verfassung, die den Impetus auf Herz- und Charakterbildung legt und eine Erziehung in Achtung vor Gott vorsieht (vgl. Führ/Furch 1998a:40) oder die Verfassung des Landes Baden-Württemberg, §12 „Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen" (www.dejure.org).
10 In der DDR wurde 1959 auch die 10jährige Vollzeitschulpflicht eingeführt.
11 Der 1957 gegründete Wissenschaftsrat ist zuständig für die Belange der Hochschulen, der Wissenschaft und der Forschung (Cortina u.a. 2005:170).
- Citation du texte
- Laura Hordoan (Auteur), 2007, Das dreigliedrige Schulsystem auf dem Prüfstand, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191917
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