Methode: Für diese Arbeit wurde eine qualitativ-empirische Untersuchung, in Form von Expert/inneninterviews, durchgeführt. Die Auswertung erfolgte nach dem Konzept von Michael Meuser und Ulrike Nagel.
Ziel und Inhalt der Arbeit: Krisenintervention und Akutbetreuung, Rituale, damit zusammenhängend Trauer-und Abschiedsrituale sowie der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer sind Themen der Arbeit. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, welche Bedeutung Ritualen in krisenhaften Akutsituationen beigemessen wird.
Ergebnis: Rituale waren lange Zeit selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Gesellschaftliche Veränderungen bedingen eine teilweise Abkehr von traditionellen Vorgaben, neue Ritualformen sind wenig erprobt. Dennoch hat sich gezeigt, dass in Krisensituationen das Bedürfnis nach Ritualen und rituellen Handlungen groß ist.
Schlüsselwörter: Krisenintervention, Rituale, Trauerrituale, Sterben, Tod und Trauer.
INHALTSVERZEICHNIS
ABSTRACT
EINLEITUNG
1 KRISENINTERVENTION/AKUTBETREUUNG
1.1 Kriseninterventionsteam (KIT) Land Steiermark
1.2 Strukturen der Organisation··
1.3 Aufgaben der Krisenintervention/psychosozialen Akutbetreuung
1.4 Ausbildungsrichtlinien
1.5 Einsatzstatistik
1.6 Ablauf eines KIT Einsatzes
2 RITUALE
2.1 Versuch einer Begriffsdefinition
2.2 Wann ist ein Ritual ein Ritual?
2.3 Ritualtheorien·
2.3.1 Die genealogische Perspektive: Religion und Mythos
2.3.1.1 Edward Burnett Tylor (1832-1917)
2.3.1.2 William Robertson Smith (1846-1894)
2.3.1.3 Mircea Eliade (1907-1986)
2.3.2 Strukturelle und funktionale Perspektive
2.3.2.1 Arnold van Gennep (1873-1957)
2.3.2.2 Victor Turner (1920-1983)
2.3.3 Das Ritual als Text
2.3.3.1 Clifford Geertz (1926-2006)
2.3.3.2 Ronald Grimes (*1943)
2.3.4 Rituale als Performance
2.4 Funktion von Ritualen
2.5 Typologie von Ritualen
3 TRAUER- UND ABSCHIEDSRITUALE
4 STERBEN, TOD UND TRAUER
4.1 Umgang mit Sterben, Tod und Trauer im ländlichen Bereich
4.2 Umgang mit Sterben, Tod und Trauer im städtischen Bereich·
4.2.1 Befunde zur Vereinsamung in den Städten
4.2.2 Statistische Daten zur Veränderung der Haushalte·
4.3 Auswirkung der Todesart auf die Hinterbliebenen
4.4 Unterschiede emotionaler Trauerreaktionen zwischen Frauen und Männern
4.5 Kulturelle Unterschiede·
4.5.1 Christliche Sterbe- und Trauerkultur
4.5.2 Islam
4.5.3 Orthodoxie
4.5.4 Buddhismus
4.5.5 Die traditionelle afrikanische Kultur am Beispiel der Dagara
4.6 Intrakulturelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern
4.7 Interkulturelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern
5 EMPIRISCHER TEIL
5.1 Fragestellung
5.2 Untersuchungsdesign
5.2.1 Erhebungsmethode
5.2.2 Expert/inneneninterviews
5.2.3 Auswertungsmethode
5.3 Forschungsprozess
5.3.1 Entwicklung des Leitfadens
5.3.2 Die Interviewpartner/innen
5.3.3 Ablauf der Interviews
5.3.4 Transkription und Anonymisierung
6 DARSTELLUNG DER ERGEBNISSE
6.1 „Kerzen verwenden wir sehr häufig“
6.2 „Eher bieten wir an“
6.3 „Meistens kommen noch einmal ganz viele Emotionen hoch“
6.4 „Manchmal bin ich beobachtend, manchmal näher dabei“
6.5 „Am Land wird noch viel mehr gebetet“
6.6 „Frauen sind in solchen Situationen die sozialeren Wesen und drücken sich leichter aus“·
6.7 „Wir halten den Raum frei“
6.8 „Es hat sich nicht sehr viel verändert“/„oft tun wir uns schwer, überhaupt ein Netzwerk aufzubauen“
6.9 „Ist ein Tabuthema“/„es wird vermutlich mehr darüber geredet“
6.10 „Traditionelle Religionen treten zurück“
7 FAZIT
8 LITERATURVERZEICHNIS
TABELLENVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
GLOSSAR
ANHANG
Interviewleitfaden 144 Die Geschichte von der sehr, sehr alten Seele
ABSTRACT
Titel der Arbeit: Die Bedeutung von Ritualen im Rahmen der Krisenintervention am Beispiel des Kriseninterventionsteams Land Steiermark.
Verfasserin: Petra Christine Türl
Methode: Für diese Arbeit wurde eine qualitativ-empirische Untersuchung, in Form von Expert/inneninterviews, durchgeführt. Die Auswertung erfolgte nach dem Konzept von Michael Meuser und Ulrike Nagel.
Ziel und Inhalt der Arbeit: Krisenintervention und Akutbetreuung, Rituale, damit zusammenhängend Trauer-und Abschiedsrituale sowie der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer sind Themen der Arbeit. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, welche Bedeutung Ritualen in krisenhaften Akutsituationen beigemessen wird.
Ergebnis: Rituale waren lange Zeit selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Gesellschaftliche Veränderungen bedingen eine teilweise Abkehr von traditionellen Vorgaben, neue Ritualformen sind wenig erprobt. Dennoch hat sich gezeigt, dass in Krisensituationen das Bedürfnis nach Ritualen und rituellen Handlungen groß ist.
Schlüsselwörter: Krisenintervention, Rituale, Trauerrituale, Sterben, Tod und Trauer.
ABSTRACT
Title of the paper: The importance of rituals in the framework of crisis intervention, using the example of the crisis intervention team of the province of Styria.
Author: Petra Christine Türl
Method: An empirical qualitative study in the form of expert interviews was carried out for this paper. It was evaluated based on the concept of Michael Meuser and Ulrike Nagel.
Objective and contents of the paper: Crisis intervention and acute care, rituals, related mourning and parting rituals and dealing with dying, death and grief are the topics of this paper. Against this backdrop, the importance that is attached to rituals in acute situations of crisis is investigated.
Results: Rituals were a natural part of life for a long time. Social changes result in a partial rejection of traditional standards, and new types of rituals have not been tried out thoroughly. Still it has become apparent that there is a great need for rituals and ritual acts in situations of crisis.
Keywords: crisis intervention, rituals, mourning rituals, dying, death and grief.
EINLEITUNG
Im Rahmen meiner Ausbildung zur Lebens - und Sozialberaterin kam ich 2009 das erste Mal mit dem Kriseninterventionsteam des Landes Steiermark in Berührung. Die Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention berichtete in einem Vortrag über Aufgabe, Einsatzindikation und Ausbildungsrichtlinien des Kriseninterventionsteams. Mein Interesse war sofort geweckt und kurze Zeit später meldete ich mich für ein Aufnahmegespräch an. Da dieses Gespräch positiv verlief, konnte ich von Jänner bis April 2010 die Ausbildung absolvieren und bin seit Mai 2010 ehrenamtliche Mitarbeiterin im Kriseninterventionsteam des Landes Steiermark. Ausschlaggebend für meine Bewerbung waren hauptsächlich zwei Gründe:
Während meiner Arbeit als Klinikhebamme war ich auch mit Situationen konfrontiert, in denen Paare oder Frauen eine Totgeburt erleben mussten. Das, was in einer derartigen Situation für die Betroffenen hilfreich gewesen wäre, war weder bei Hebammen noch Ärzt/innen in der Ausbildung vorgesehen. Somit war jegliches Handeln letztendlich geprägt von Hilflosigkeit.
1999 kam mein Sohn, viel zu früh, Ende des fünften Monats zur Welt. Nach vier Wochen, die ein Wellental aus Hoffnung und Verzweiflung waren, starb er. Mir wurde mitgeteilt, dass mein Mann und ich Zeit hätten, uns in Ruhe zu verabschieden und dann gehen könnten. Unseren Sohn sollten wir einfach im Zimmer lassen, er würde später abgeholt werden. Abgesehen davon, dass wir uns völlig allein gelassen fühlten, informierte uns auch niemand über die möglichen psychischen Auswirkungen nach dem Tod eines Kindes, sowohl auf die Eltern, als auch auf die Geschwister, noch wurden wir an eine damit befasste Institution weiterverwiesen.
Während der Zeit des fast permanenten Aufenthalts auf der Frühgeborenen- Intensivstation lernte ich eine Mutter von Zwillingen mit ihrem Partner kennen. Zufällig trafen wir uns mehrere Monate nach dem Aufenthalt in der Klinik in der Stadt. Sie berichtete mir, dass beide Kinder verstorben waren. Das Gefühlschaos danach war gekennzeichnet von Trauer, Schuldgefühlen, Zweifel, Selbstwertproblemen, Wut, Verständigungsschwierigkeiten mit dem Partner und dem sozialen Umfeld uvm. Ich konnte das nur bestätigen. Weder ihre noch meine Beziehung hatten diese Situation ausgehalten.
Ausgehend von diesen Erfahrungen war die Ausbildung zur KIT Mitarbeiterin für mich die Möglichkeit, in der Akutphase nach einem krisenhaften Geschehen, betroffene Personen zu unterstützen, in Verbindung mit einem fundierten fachlichen Zusatzwissen.
Während der Ausbildung wurden wir wiederholt darauf hingewiesen, wie wichtig für Hinterbliebene die Möglichkeit ist, sich von einer/m Verstorbenen zu verabschieden. Das Verabschieden selbst kann bereits als Ritual gewertet und entsprechend begleitet werden, weil dadurch ein Schritt zum Begreifen und Annehmen des Unfassbaren getan wird. Ist ein direktes Abschiednehmen von einer/m Toten nicht möglich, kann das Anbieten eines Rituals, oder die Unterstützung bei der Durchführung eines Rituals für die Angehörigen sehr hilfreich sein. Da Rituale oder rituelle Handlungen unser Leben begleiten und etwas Vertrautes sind, schaffen sie ein Stück weit Sicherheit und Realitätsbezug (vgl. Benko, 2006, 186). Mit Hilfe eines Rituals besteht eventuell auch die Möglichkeit etwas auszudrücken, was nicht oder nur schwer ausgesprochen werden kann. Herbert Muck (1999, 129) führt aus: „Dankbar ist man für einen hilfreichen Ritus, wenn man die Grenze erfährt, an der menschliches Sagen und Handeln nichts mehr vermag“.
Die Verbindung dieser beiden Themen, Krisenintervention und Rituale, führte zum Thema der vorliegenden Arbeit: „Die Bedeutung von Ritualen im Rahmen der Krisenintervention, am Beispiel des Kriseninterventionsteams Land Steiermark“. Wobei ich von der Annahme ausgehe, dass Rituale in der Krisenintervention, in einer Zeit der zunehmenden Sinnsuche, der Abnahme tragfähiger sozialer Netze, sowie einer deutlichen Veränderung im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer, von wachsender Bedeutung sind. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass es in Bezug auf Rituale Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Bezirken, zwischen verschiedenen Kulturkreisen und zwischen Frauen und Männern gibt.
Da es dazu leider kaum Forschungsarbeiten gibt, möchte ich anhand einer qualitativempirischen Studie - am Beispiel des Kriseninterventionsteams Land Steiermark - einen Beitrag leisten, um diese Forschungslücke ein Stück weit zu schließen.
Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut:
Die Einleitung gibt Auskunft über die Herleitung des Themas.
Kapitel eins befasst sich mit den Anfängen und Zielen der Krisenintervention. Am Beispiel des Kriseninterventionsteams Land Steiermark (KIT) werden die Strukturen, die Aufgaben und die Ausbildungsrichtlinien erläutert, sowie ein Einblick in die Einsatzstatistik und den Ablauf eines KIT Einsatzes gegeben.
Kapitel zwei ist dem Ritual gewidmet. Beginnend mit dem Versuch einer Begriffsdefinition, über die Frage, wann ein Ritual als solches gilt, der Vorstellung bedeutender Ritualtheorien sowie der Funktion von Ritualen bis zur Typologie von Ritualen.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Sinn von Abschieds- und Trauerritualen sowie der Veränderung, die diese in den letzten Jahren erfahren haben. Zwei Rituale werden näher vorgestellt.
Kapitel vier setzt sich mit dem Umgang mit Sterben, Tod und Trauer auseinander. Da jeder dieser drei Begriffe für sich eine Masterthesis beanspruchen würde, kann es sich im Rahmen dieser Arbeit nur um einen groben Überblick handeln. Untersucht wird der Umgang mit der Thematik im ländlichen und städtischen Bereich, in Verbindung mit der zunehmenden Isolation im urbanen Raum sowie der Veränderung der Haushaltsformen. Ein Abschnitt ist der Auswirkung der Todesart auf die Hinterbliebenen gewidmet. Anschließend werden die emotionalen Unterschiede der Trauerreaktionen zwischen Frauen und Männern, zwischen verschiedenen Kulturen, sowie intra- und interkulturelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern näher beleuchtet.
Das fünfte Kapitel umfasst den empirischen Teil der Arbeit, mit der Fragestellung und dem Untersuchungsdesign, welches Auskunft gibt über die Erhebungs- und Auswertungsmethode und Expert/inneninterviews. Der Forschungsprozess informiert über die Entwicklung des Leitfadens, die Interviewpartner/innen, den Ablauf der Interviews sowie über Transkription und Anonymisierung.
In Kapitel sechs werden die Ergebnisse dargestellt, den theoretischen Befunden gegenübergestellt und interpretiert.
Das siebente Kapitel beschließt die Arbeit mit einem Fazit.
1 KRISENINTERVENTION/AKUTBETREUUNG
Das Wort Krise leitet sich vom griechischen „krisis“ ab und bedeutet Entscheidung bzw. entscheidende Wendung. Der Begriff wird für unterschiedliche Phänomene wirtschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Natur verwendet, fließt allerdings auch im alltäglichen Gebrauch häufig ein, wie z. B. in der Redewendung: „Ich krieg gleich eine Krise“.
Die Wurzeln der Krisenintervention finden sich in der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit den Folgen von akuten Traumatisierungen und schweren Verlusten. Die Begriffe Traumatisierung und Trauer sind daher eng mit dem theoretischen Verständnis von Krise und Krisenintervention verknüpft (vgl. Stein, 2009, 17).
Als Väter der heutigen Krisenintervention können Eric Lindemann und Gerald Caplan angesehen werden. Nach einem verheerenden Feuer, im Coconut Grove Nightclub mit 492 Toten in Boston 1942, erhellte Lindemanns Beschreibung der Symptome im akuten Trauerfall, die Komplexität von Tod, Trauer und Trauma. In weiterführenden Untersuchungen stellte er fest, dass Personen, die kurz nach dem Unglück Hilfe und Unterstützung bekommen hatten, ihre Trauer besser verarbeiten konnten und weniger pathologische Trauerverläufe aufwiesen. Als Konsequenz der Erkenntnisse aus dem Unglück begründete Lindemann gemeinsam mit Caplan ein Programm zur frühzeitigen Intervention in traumatischen Krisenfällen. (In dieser Phase wird das Kriseninterventionsteam tätig und leistet Akutbetreuung. Anm. d. Verf.) Während Lindemann das Programm hinsichtlich des Verständnisses und der Behandlung von akuten Trauerreaktionen unterstützte, erweiterte Caplan die Nutzung der Strategien der Krisenintervention, hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf alle aktuellen und zukünftigen traumatischen Ereignisse (vgl. Brown, Shiang, Bongar, 2003, 433).
Gottfried Fischer und Peter Riedesser (2009, 89/90) definieren als traumatisches Ereignis oder Psychotrauma ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst und Weltverständnisses bewirkt“. Von Bedeutung ist dabei das subjektive Erleben der einzelnen Person von Hilflosigkeit, Ohnmacht und intensiver Furcht, das auf ein objektiv belastendes Ereignis folgt.
In Österreich bildeten sich in den 1990er Jahren erste Initiativen zur psychosozialen Betreuung von Menschen nach einem Notfall. Das Grubenunglück in Lassing 1998 gilt in der Steiermark als Geburtsstunde des Kriseninterventionsteams, das 1999 im Steiermärkischen Katastrophenschutzgesetz auch gesetzlich verankert wurde. 2004 wurden durch die AkutBetreuungWien und die Kriseninterventionsteams der Länder Steiermark und Vorarlberg die Plattform Krisenintervention - Akutbetreuung (PF) gegründet. Bis heute werden nach einem festgelegten Procedere Institutionen, die im Bereich Krisenintervention/Akutbetreuung in Österreich tätig sind, in die Plattform aufgenommen. Das österreichische System genießt international einen ausgezeichneten Ruf, mit Vorbildwirkung für andere Staaten, u. a. durch folgende Merkmale:
- Bei Großschadensereignissen oder Katastrophen arbeiten die Kriseninterventionsteams bundesweit und international unter einem organisatorischen Dach zusammen.
- Die Anforderung von Kriseninterventionsteams erfolgt durch Einsatzorganisationen oder Behörden.
- Die österreichische Plattform für Krisenintervention sichert eine einheitliche Ausbildung der Mitarbeiter/innen.
- Krisenintervention steht sowohl bei Großschadensereignissen als auch bei kleinen Personengruppen oder Einzelpersonen zur Verfügung.
- Die Inanspruchnahme ist für die betroffenen Personen unentgeltlich (vgl. Hagleitner, Bednar, 2007, 21; Plattform Krisenintervention - Akutbetreuung, 2009).
Krisenintervention oder Akutbetreuung bedeutet: „Unmittelbare und kurzfristige Betreuung vor Ort, die sich auf den aktuellen Anlass bezieht und erste Verarbeitungsschritte des traumatischen Ereignisses erleichtert. Sie umfasst neben der psychischen Stabilisierung und der Beschaffung von Informationen auch soziale Unterstützung und Hilfe bei der Wiederherstellung des eigenen sozialen Netzes. Sie richtet sich hauptsächlich an Zivilpersonen (d. h. Opfer und Angehörige) im Fall traumatischer Ereignisse“ (cit. Plattform Krisenintervention - Akutbetreuung, 2009). Die psychosoziale Krise definiert Gernot Sonneck (2000, 15) als „den Verlust des seelischen Gleichgewichts, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen, Erlebnissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und vom Ausmaß her seine früheren Erfahrungen, erworbenen Fähigkeiten und erprobten Hilfsmittel zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder zur Bewältigung seiner Lebensumstände überfordern“.
Eine derartige Überforderung der vorhandenen Problemlösungsstrategien kann zu vielfältigen Beeinträchtigungen und Krankheitsbildern, wie z. B. zur Posttraumatischen Belastungsstörung führen. Gezielte psychosoziale Frühintervention in Akutsituationen, reduziert die erlebte Hilflosigkeit, fördert die Bewältigungskompetenz der betroffenen Personen und wirkt nachweislich präventiv (vgl. Plattform Krisenintervention - Akutbetreuung, 2009).
Krisenintervention, wie ich den Begriff in meiner Masterthesis verwende, ist somit psychosoziale Akutbetreuung und Begleitung von Betroffenen nach plötzlichen, unerwarteten, einmaligen und außerhalb der Vorstellungskraft liegenden Ereignissen, die mit den vorhandenen Problemlösungsstrategien nicht bewältigt werden können. Entscheidend für einen Einsatz ist nicht die Zahl der Betroffenen, sondern der Schweregrad der möglichen Traumatisierung (vgl. Benko, 2005, 54).
1.1 Kriseninterventionsteam (KIT) Land Steiermark
Die in den Abschnitten 1.1 - 1.6 verwendeten Quellen wurden ergänzt durch aktuelle Informationen und Daten, die mir von Frau Cornelia Daum, der Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention, zur Verfügung gestellt wurden.
Im Juli 1998 kommt es in Lassing in der Steiermark zur größten BergwerksKatastrophe der Zweiten Republik. In einem Talkum Bergwerk brechen Stollen ein, an der Oberfläche bildet sich ein Krater in dem Häuser versinken. Elf Bergleute werden verschüttet. Einer der Bergleute wird nach zehn Tagen gefunden und lebend geborgen. Die Suche nach den anderen zehn Männern wird nach 19 Tagen eingestellt (vgl. Höfler, 2008, Internet).
Während der Zeit des Wartens und Hoffens wurden die betroffenen Personen - Angehörige, Werksarbeiter, Evakuierte, Dorfbewohner - durch Sozialarbeiter/innen der Bezirkshauptmannschaft Liezen, Psychotherapeut/innen, Psychiater/innen und Polizisten der Verhandlungsgruppe Süd betreut. Die Akutbetreuer von damals waren mit einer Katastrophe konfrontiert, ohne über eine zusätzliche Ausbildung im Bereich der Katastrophenhilfe zu verfügen (vgl. Daum, 2009, 2ff).
Das Grubenunglück in Lassing machte die Notwendigkeit einer psychosozialen Akutbetreuung für Betroffene, Angehörige aber auch für Einsatzkräfte nach traumatischen Ereignissen deutlich. Von den Verantwortlichen des Landes Steiermark wurde daher im März 1999 das Anrecht auf psychosoziale Betreuung im steirischen Katastrophenschutzgesetz verankert (vgl. Voves, 2005, 5). Durch die gesetzliche Verankerung ist die finanzielle Sicherstellung des Bereiches Krisenintervention/Akutbetreuung durch das Land Steiermark gegeben.
Eine steirische Arbeitsgemeinschaft, „Psychosoziale Akuthilfe und interkonfessionelle Notfallseelsorge“ befasste sich mit der Ausbildung von MitarbeiterInnen und der Organisation des Kriseninterventionsteams. Ein Expert/innenteam aus verschiedenen Fachbereichen und Professionen wurde an der Katastrophenschutzabteilung des Landes Steiermark beratend tätig. Ein Anforderungsprofil über die Fähigkeiten der zukünftigen psychosozialen Helfer wurde erstellt und ein Ausbildungsprogramm entwickelt. Im Jahr 2000 konnten im Rahmen eines Pilotprojektes die ersten Kriseninterventions-Teams ausgebildet werden. 2003 wurde von einer österreichischen Arbeitsgruppe ein gemeinsamer Leitfaden für die Ausbildung der Mitarbeiter/innen der Krisenintervention/Akutbetreuung erstellt und durch die beamteten Katastrophenschutzverantwortlichen verabschiedet (vgl. Purtscher, Benko, 2005, 5).
Mittlerweile stehen in allen steirischen Bezirken bestens ausgebildete ehrenamtliche Mitarbeiter/innen, insgesamt ca. 400, zur Verfügung, die zu jeder Tages- und Nachtzeit für Einsätze angefordert werden können.
1.2 Strukturen der Organisation
Die Koordinationsstelle Krisenintervention ist der Abteilung 20, Katastrophenschutz und Landesverteidigung, angegliedert, die dem Landeshauptmann als politischem Referenten unterstellt ist. Über die Landeswarnzentrale, die als Referat ebenfalls in der Abteilung 20 angesiedelt ist, wird das Kriseninterventionsteam Land Steiermark durch die Einsatzorganisationen vor Ort, über die Notrufnummer 130 angefordert. Die Landeswarnzentrale ist rund um die Uhr besetzt und bietet somit die optimalen Voraussetzungen für die Absicherung der Alarmierungs- und Einsatzstruktur. Die KIT Teams werden von der LWZ aus disponiert und nach erfolgter Alarmierung vor Ort in den Einsatz geschickt.
Das KIT Team wird von einem Leitungsteam geführt, bestehend aus einer wissenschaftlichen Leiterin, der Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention sowie von einem fachlich/operativen und einem juristischen Leiter. Die wissenschaftliche Leiterin evaluiert die Akutbetreuung und bringt neueste wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychotraumatologie ein. Weiters steht sie bei Großschadensereignissen oder komplexen Schadenslagen als Reflexionspartnerin für die operative Einsatzleitung zur Verfügung.
Die Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention ist zuständig für die Mitarbeiter/innenkoordination, die Weiterentwicklung der Aus- und Fortbildung, sowie weitere fachliche inhaltliche Aufgaben.
Zu den Aufgaben des fachlich/operativen Leiters zählen die Aus- und Weiterbildung der KIT Mitarbeiter/innen, die Abhaltung von Teamabenden, die Durchsicht der Einsatzberichte, die Medienarbeit sowie die fachliche Weiterentwicklung von KIT Land Steiermark. Hinzu kommt die Übernahme der Einsatzleitung vor Ort bei Großschadensereignissen oder komplexen Schadenslagen.
Der juristische Leiter ist für juristische Fragen zuständig, die für die Krisenintervention relevant sind. Sein Zuständigkeitsgebiet umfasst auch die Sicherstellung der finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen für die Psychohygiene der Mitarbeiter/innen und die Aus- und Weiterbildung.
Zusätzlich steht den KIT Mitarbeiter/innen im Einsatz rund um die Uhr eine fachliche Hintergrundbereitschaft, zur Absicherung des Interventions- und Betreuungsplanes, zur Verfügung. Bei Bedarf kann sich die Hintergrundbereitschaft, bei speziellen Fragen, an den fachlichen Leiter bzw. an die wissenschaftliche Leiterin wenden.
1.3 Aufgaben der Krisenintervention/psychosozialen Akutbetreuung
Kriseninterventionsteams begleiten und unterstützen Menschen (Betroffene, Angehörige, Freunde, Augenzeugen, Arbeitskollegen) in den ersten Stunden nach einem außergewöhnlich belastenden Ereignis vor Ort. Nach derartigen Ereignissen reagieren Betroffene in unterschiedlicher Form. Das Spektrum reicht von intensiver Angst, Hilflosigkeit, Aggressionen und Schuldgefühlen, starker Trauer und heftigen Stimmungsschwankungen bis zu Orientierungslosigkeit.
KIT Mitarbeiter/innen nehmen sich Zeit und hören zu, gehen auf momentane Bedürfnisse ein, helfen dabei Emotionen auszudrücken und diese als normale Reaktionen, auf ein außerhalb der Vorstellung liegendes Ereignis, anzunehmen. Sie unterstützen dabei, Unfassbares in Worte zu fassen und leisten Beistand beim Abschiednehmen von verstorbenen Personen (vgl. Koordinationsstelle Krisenintervention, Infofolder).
Für Edwin Benko (2006, 185f) bedeutet der Einsatz von KIT Mitarbeiter/innen die Möglichkeit, betroffenen Personen durch Zeithaben und Dasein, einerseits Sicherheit zu vermitteln und ihnen andererseits das Gefühl zu geben in dieser Situation nicht allein zu sein. Als weitere Aufgaben der Akutbetreuer/innen nennt er die Weitergabe von möglichst genauen Informationen, in Zusammenhang mit dem Geschehen, an die Betroffenen, das Achten auf biologische, psychologische und soziale Bedürfnisse, sowie die Aktivierung des sozialen Netzes gemeinsam mit den Betroffenen. In Betreuungssituationen ist zudem darauf zu achten, persönliche Bewältigungsstrategien von Betroffenen zu fördern und selbstständiges Handeln und Entscheiden zu unterstützen. Die Grundregel heißt: „Mit ihm und nicht statt ihm“ (cit. ibid., 186).
Das Anbieten von Ritualen stellt für Benko (vgl. ibid.) eine weitere Möglichkeit dar, den Prozess der Trauer zu begleiten, wobei die Gestaltung nach den Bedürfnissen der Betroffenen, unter Berücksichtigung von Kultur, Religion und Sozialisation, erfolgt.
Kriseninterventionsteams kommen zum Einsatz beim plötzlichen Tod eines Angehörigen, plötzlichem Kindstod, Todesfällen und Unfällen in der Öffentlichkeit, bei der Begleitung der Exekutive beim Überbringen einer Todesnachricht oder bei der Betreuung von Angehörigen bei Suchaktionen nach vermissten Personen (vgl. Koordinationsstelle Krisenintervention, Infofolder). Diese sogenannten alltagsnahen Einsätze machen den Großteil der KIT Betreuungen aus.
Weitere Einsatzgebiete sind Großschadensereignisse (z. B. Busunfälle), Katastrophenereignisse (z. B. Naturkatastrophen, Explosionen) oder Hilfe für Helfer (vgl. ibid.). Beim letztgenannten Punkt, der Hilfe für Helfer in Akutsituationen und die Unterstützung von Helfern nach besonders belastenden Ereignissen umfasst, werden KIT Mitarbeiter/innen, mit einer Zusatzausbildung in Stressverarbeitung nach belastenden Ereignissen (SVE Team), eingesetzt.
- Die Ziele der Betreuung durch KIT Mitarbeiter/innen sind:
- Die emotionale Stabilisierung der Betroffenen.
- Das Wiederherstellen der eigenen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit.
- Die Aufklärung von Angehörigen und die Unterstützung für Angehörige, die von dem Ereignis nicht direkt betroffen waren.
- Die Verringerung der akuten Belastung.
- Das Vermeiden von Folgeerkrankungen, wie z. B. der posttraumatischen Belastungsstörung oder pathologischer Trauerreaktionen.
- Die Vernetzung mit Einrichtungen für die psychosoziale Nachbetreuung (vgl. ibid.).
Die Dauer einer Krisenintervention richtet sich nach den Bedürfnissen der Betroffenen. Im Durchschnitt ist ein KIT Team zwischen drei und fünf Stunden vor Ort. Durch die Besetzung der Koordinationsstelle Krisenintervention mit einer psychosozialen Fachkraft wurde eine Möglichkeit geschaffen, Menschen nach traumatischen Ereignissen professionell an weiterführende Beratungs- und Betreuungseinrichtungen zu vernetzen. In jedem Fall ist es wichtig, die Betreuung gut und klar abzuschließen. „Das deutliche Beenden und Verabschieden ist ein Teil unseres Auftrages“ führt Benko (2008, 187) aus.
1.4 Ausbildungsrichtlinien
Die Mitarbeiter/innen des Kriseninterventionsteams sind speziell ausgebildete psycho-soziale Fachkräfte und Ersthelfer. Für die Zulassung zur Ausbildung bedarf es eines entsprechenden psychosozialen Grundberufes, wie Fachkräfte aus den Bereichen Medizin, Psychotherapie, Psychologie oder Sozialarbeit mit zweijähriger Berufserfahrung oder einer mindestens fünfjährigen aktiven Mitarbeit in einer Einsatzorganisation. Das Mindestalter liegt bei 25 Jahren. Die Mitarbeit im Kriseninterventionsteam ist freiwillig und ehrenamtlich.
Die Ausbildung selbst richtet sich nach den Richtlinien der Plattform Krisenintervention - Akutbetreuung und ist, wie bereits erwähnt, österreichweit einheitlich geregelt. Sie besteht aus einem Theorieteil (80 Stunden) mit den Schwerpunkten Stressreaktionen und Psychotraumatologie, Kommunikation in Krisensituationen, besonderen Aspekten in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, behördlichem Krisenmanagement und Kooperationen für die mittelfristige Betreuung. Des weiteren sind ein Praktikum von 40 Stunden, bei Einsatzorganisationen oder psycho-sozialen Institutionen, sowie ein Erste-Hilfe-Kurs verpflichtende Bestandteile der Ausbildung.
Die Qualität der Arbeit der KIT Mitarbeiter/innen wird durch regelmäßige Weiterbildung und Supervision unterstützt und gewährleistet.
Die Aufnahme zur Ausbildung erfolgt durch ein persönliches Gespräch im Beisein der Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention, einer/m weiteren Vertreter/in des Leitungsteams bzw. einer/s erfahrenen KIT Mitarbeiter/in. Die Kosten der Ausbildung werden vom Land Steiermark getragen (vgl. Das Land Steiermark, 2011, Internet).
1.5 Einsatzstatistik
Erste statistische Zahlen zur Anzahl der Einsätze liegen für das Jahr 2005 vor. Insgesamt wurden 343 Betreuungen durchgeführt, davon 141 sog. alltagsnahe Einsätze, bei denen ein bis zwei Personen betreut wurden. Bei diesen Zahlen sind die Betreuungen die mit der Tsunami-Katastrophe in Zusammenhang stehen nicht berücksichtigt (vgl. Kriseninterventionsteam Jahresbericht 2005, 56). Der Jahresbericht der Koordinationsstelle Krisenintervention 2006/2007 gibt für 2006 449 Einsätze, mit 1.729 betreuten Personen an. Im Jahr 2007 wurden 485 Einsätze verzeichnet, mit insgesamt 3.368 geleisteten Betreuungsstunden. Die Anzahl der betreuten Personen scheint hier nicht auf (vgl. Koordinationsstelle Krisenintervention 2006/2007).
Für das Jahr 2008 werden 576 Ereignisse (898 Einsätze und Folgeinterventionen), mit 2.457 betreuten Personen und 11.207 ehrenamtlich geleisteten Einsatzstunden angegeben. Im Jahr 2009 ist die Zahl der Ereignisse auf 592 (913 Einsätze und Folgeinterventionen) und die Anzahl der betreuten Personen auf 2.544 gestiegen. Insgesamt wurden 11.832 Einsatzstunden geleistet (vgl. Koordinationsstelle Krisenintervention 2008/2009).
Laut Auskunft von Frau Cornelia Daum am 8.6.2011, der Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention, wurden für das Jahr 2008 erstmalig Einsatzzahlen von Gesamtösterreich erhoben. Österreichweit wurden bei 4.375 Ereignissen Kriseninterventionsteams eingesetzt, die insgesamt 15.935 Personen betreuten. Neuere Zahlen liegen derzeit noch nicht vor.
1.6 Ablauf eines KIT Einsatzes
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1, Quelle: Koordinationsstelle Krisenintervention
Abbildung 1 veranschaulicht die Alarmierung eines KIT bzw. eines SVE Teams. Tritt ein Ereignis ein, bei dem die Einsatzleitung vor Ort (Exekutive, Notärztin- oder arzt, Rotes Kreuz, Feuerwehr, Bezirkshauptfrau- oder Mann etc.) ein KIT Team anfordern möchte, so geschieht das, wie bereits unter Abschnitt 2.2 erwähnt, über die Nummer 130 der Landeswarnzentrale. Diese alarmiert die KIT Mitarbeiter/innen im jeweiligen Bezirk und die Hintergrundbereitschaft. Drei psychosoziale Fachkräfte mit Einsatz- und Beratungserfahrung stehen als Hintergrundbereitschaft turnusmäßig zur Verfügung.
Die Anzahl der alarmierten Mitarbeiter/innen ist vom Einsatzgeschehen abhängig, mindestens geht immer ein Zweierteam in den Einsatz. Üblicherweise treffen sich die Mitarbeiter/innen vor dem Einsatz, zu einem kurzen Abgleich und Austausch der erhaltenen Informationen, um dann gemeinsam zum Einsatzort zu fahren. Je nach Komplexität des Geschehens können über die Landeswarnzentrale weitere Mitarbeiter/innen angefordert werden. Bei Bedarf wird vom KIT Team vor Ort die fachliche Hintergrundbereitschaft miteinbezogen, von dieser bei komplexeren Fragen auch die fachliche und/oder wissenschaftliche Leitung, wie aus Abbildung 2 ersichtlich ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2, Quelle: Koordinationsstelle Krisenintervention
Bei Eintritt eines Großschadensereignisses wird ein/e KIT Einsatzkoordinator/in bzw. ein/e psychosoziale/r Fachberater/in in die Einsatzleitung integriert, die/der fachliche, koordinatorische und organisatorische Aufgaben übernimmt.
Wie bereits angemerkt, hängt die Dauer eines Einsatzes von den Bedürfnissen der betroffenen Personen und den jeweiligen Anforderungen ab, kann sich jedoch über mehrere Stunden erstrecken. Nach Beendigung des Einsatzes findet üblicherweise eine Nachbesprechung zwischen den Mitarbeiter/innen statt, um das Einsatzgeschehen zu reflektieren und gut abzuschließen. Innerhalb von 24 Stunden wird ein Einsatzbericht an das Leitungsteam übermittelt, um den Einsatz nochmals aus der fachlichen Perspektive zu prüfen. Bei Bedarf steht den KIT Mitarbeiter/innen nach jedem abgeschlossenen Einsatz kostenfreie Supervision zur Verfügung, aber auch eine Nachbesprechung des Einsatzgeschehens mit dem Leitungsteam und/oder den Einsatzkolleg/innen ist möglich.
2 RITUALE
Bei einer oberflächlichen Beschäftigung mit dem Ritualbegriff ergibt sich weder Erklärungsbedarf über Sinn und Zweck, noch werden Gedanken laut, in welchen Zusammenhängen des täglichen Lebens dieser Begriff verwendet wird. Je intensiver die Auseinandersetzung mit der Thematik erfolgt, desto mehr Verwirrung entsteht. Einerseits durch einander widersprechende Aussagen, was denn nun als Ritual gelten „darf“, andererseits durch eine Fülle an klassischen und neuen Ritualtheorien.
Hinzu kommt die von einigen Autor/innen (Mary Douglas, 2004; Florian Uhl 2010; Malidoma Somé, 2000) postulierte Entritualisierung der Gesellschaft, wahrnehmbar u.a. am Bedeutungsverlust kirchlicher Riten, wie etwa der Konfirmation. Aber auch Thesen, dass Rituale bzw. rituelle Handlungen völlig ohne Bedeutung und somit ohne Zweck sind. Diese Ansicht wurde von Frits Staal (1979) in „The Meaninglessness of Ritual“ vertreten und von Caroline Humphrey und James Laidlaw (1994) in modifizierter Form weiterverfolgt.
In den letzten Jahren, darüber besteht unter den damit befassten Wissenschaftler/innen (Corina Caduff, 1999; Christoph Wulf, 2004; Jörg Zirfas, 2004; Birgit Heller, 2007) Konsens, erlebt das Ritual inklusive der Auseinandersetzung damit, sowohl eine wissenschaftliche als auch eine mediale Renaissance. Sonderforschungsbereiche (SFB), wie z.B. der SFB 619 der Universität Heidelberg wurden eingerichtet, ein großer Buchmarkt bedient unterschiedliche Interessen, sei es mit populären Ratgebern oder mit wissenschaftlichen Herausgeberwerken. Aber auch Tageszeitungen, Radioberichte und Fernsehreportagen nehmen sich der Thematik an.
Die Ursache dieser „Wiederbelebung“ sowie die wachsende Bedeutung des Rituals wird u.a. „in der gegenwärtigen politischen Situation“, im „Verlust von Werten“, in der „Suche nach kultureller Identität“ (cit. Wulf, 2008, 181), im Sehnen nach Kraft und Halt, „in einem kulturellen Raum, der weder Halt noch Gewissheit zu bieten vermag, sondern nur den Anschein von beidem“ (cit. Michaels, 2007, 13) oder wie Uhl (cit. 2010, 163) ein Kapitel seines Buches betitelt in „(K)ein Bewusstsein von dem was fehlt“, angenommen.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es nicht möglich, alle Aspekte einzubringen oder zu berücksichtigen, da aus der Fülle der wissenschaftlichen Literatur für diese Arbeit nur ein kleiner Teil ausgewählt werden kann. So weit es möglich ist, versuche ich einen Überblick über grundlegende Ansätze zum Thema Ritual und Ritualtheorien zu vermitteln.
In den Anfängen der Ritualforschung, vor etwas mehr als hundert Jahren, wurden Rituale hauptsächlich mit Religion in Verbindung gebracht. Heutige Ritualtheorien betrachten Rituale kaum mehr als ausschließlich religiöse Phänomene, sondern beschreiben damit symbolische Handlungen ganz allgemein. Dies beruht vor allem darauf, dass ethnologische und anthropologische Forschungen zur Erkenntnis beitrugen, dass Rituale in fast allen Bereichen des Lebens zu finden sind.
Bis ca. 1960 vertraten Wissenschaftler wie Émile Durkheim (1912), Mircea Eliade (1954), James G. Frazer (1955) oder Siegmund Freud (1912) die sich mit der Ritualthematik auseinandersetzten die Ansicht, dass Rituale sekundäre Phänomene sind und die tatsächliche Bedeutung außerhalb der rituellen Handlung zu finden sei. So war z. B. Durkheim der Meinung, dass die Bedeutung dahinter das Bedürfnis nach sozialer Solidarität ist (vgl. Wulf/ Zirfas, 2004, 12). Für Freud war das Bedürfnis hinter dem Ritual die Verdrängung traumatischer Ereignisse (vgl. Michaels, 1999, 25).
Gegenwärtige Ritualwissenschaftler/innen (Andrea Belliger, 2008; Axel Michaels, 2002; Dietrich Harth/ Axel Michaels, 2003) hingegen betrachten Rituale als besondere Phänomene, deren Erforschung nur interdisziplinär betrieben werden kann. Somit ist die Ritualforschung heute ein Bereich, mit dem sich fast alle soziologischen Wissenschaften, die Rechtswissenschaft, die Theologie, die Medien- und Kommunikationswissenschaft, die Literatur- und Kulturwissenschaft, aber auch Kunsttheoretiker und Dramaturgen befassen. Aus dieser interdisziplinären Zusammenarbeit entstand in den letzten Jahren der Forschungszweig der „ritual studies“ (vgl. Belliger, Krieger 2008, 7ff).
2.1 Versuch einer Begriffsdefinition
„There is the widest possible disagreement as to how the word ritual should be understood”. (cit. Leach, 1972, 523)
Beim Studium der umfangreichen Literatur zum Thema Ritual stellte sich für mich die Unmöglichkeit heraus, eine, für alle damit befassten Disziplinen, gültige Definition von Ritualen zu erkennen.
Hinzu kommt, dass Begriffe wie Ritual, Ritus, Gewohnheit, Kult und Brauch bei manchen Autor/innen (Axel Michaels, 1999; Hans Gerald Hödl, 2003b) streng voneinander getrennt werden, mit einer eindeutigen Definition und wann, was, wofür zu verwenden ist, bei anderen Autor/innen (Catherine Bell, 2004; William Sax, 2008; Yoko Tawada, 1999) hingegen keine starre Abgrenzung erfolgt.
In zunehmendem Maße wird der Begriff Ritual auch durch die Bezeichnung „Performance“, vor allem in den neueren Ritualtheorien, ersetzt, und als Synonym wird „Ritualisierung“ verwendet. Statt von Ritualen wird auch von ritualisierten Handlungen gesprochen. Belliger und Krieger (2008, 10) sind der Ansicht, „dass fast jede Handlung unter bestimmten Bedingungen „ritualisiert“ werden kann. Grundidee dieser neuen Begrifflichkeit ist die Überwindung der alten Gegensätze zwischen Handeln und Denken, Theorie und Praxis, Ausführung und Skript. […] Mit Begriffen wie „Performance“ und „Ritualisierung“ wird versucht, die Aufmerksamkeit auf die sinnkonstitutiven Aspekte des Handelns zu lenken und die in der Tradition herrschende Dichotomie zwischen Denken und Handeln zu überwinden“.
Schlägt man im Duden (Ausgabe 2007) nach, finden sich für die oben angeführten Begriffe folgende Bedeutungen:
Ritual (lat. ritualis)
- schriftlich fixierte Ordnung der (römisch-katholischen) Lithurgie
- Gesamtheit der festgelegten Bräuche und Zeremonien eines religiösen Kultes
- wiederholtes immer gleich bleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung (cit. ibid., 1401)
Ritus (lat. ritus)
- hergebrachte Weise der Ausübung einer Religion
- Brauch, Gewohnheit bei feierlichen Handlungen (cit. ibid., 1401)
Gewohnheit
- durch häufige und stete Wiederholung selbstverständlich gewordene Handlung, Haltung, Eigenheit
- etwas oft nur noch mechanisch oder unbewusst Ausgeführtes (cit. ibid., 692)
Kult (lat. cultus)
- an feste Formen, Riten, Orte, Zeiten gebundene religiöse Verehrung einer Gottheit durch eine Gemeinschaft
- übertriebene Verehrung, die Jemandem, einer Sache zuteil wird (cit. ibid., 1028)
Brauch
- innerhalb einer Gemeinschaft fest gewordene und in bestimmten Formen ausgebildete Gewohnheit
- überkommene Sitte (cit. ibid., 330)
Mir persönlich erscheint eine strikte Trennung der Begrifflichkeiten nicht sinnvoll, da jeder dieser Begriffe eine Art von Ritualisierung, im Sinne von wiederholbaren, ähnlich ablaufenden und den Teilnehmern bekannten Handlungen beinhaltet. Einzig der Begriff der Gewohnheit lässt sich noch am ehesten abgrenzen, da er m. E. mit konditionierten Verhaltensweisen des täglichen Lebens verbunden ist, wie z.B. „Morgenritualen“ oder „Zu-Bett-geh-Ritualen“. Aufgrund der sich täglich wiederholenden Selbstverständlichkeit handelt es sich vermutlich um unreflektierte Abläufe, wohingegen Rituale, meiner Meinung nach bewusste und überlegte Handlungen sind. Yoko Tawada (1999, 219ff) hingegen betrachtet auch ihren Alltag als Schriftstellerin als eine stete Aufeinanderfolge von Ritualen.
Hierzu führt Axel Michaels (1999) aus, dass er sich gegen die „postmoderne Beliebigkeit“ (cit. ibid., 29) verwehrt, Routine und Ritual synonym zu verwenden. Obwohl er einräumt, dass eine eindeutige Trennung mitunter mühsam ist, kann für eine gewohnheitsmäßige Handlung, wie Zähne putzen oder Hände schütteln, kaum der gleiche Begriff wie für Initiation verwendet werden. Wenn behauptet wird, dass zwischen den Begriffen kein Unterschied besteht, “dann scheint doch der Blick für das Wesentliche auf der Strecke zu bleiben“ (cit. ibid., 1999, 29).
William Sax (2008) lehnt eine ontologische Definition des Begriffs Ritual ab, da er die Meinung vertritt, dass Rituale ebenso wenig wie die Begriffe Religion, Wirtschaft oder Politik über Merkmale verfügen, die identifiziert oder aufgezählt werden können, und auch keine Dinge oder Wesen sind, die man wiegen oder messen kann. Seiner Ansicht nach handelt es sich um Praktiken, die ähnlich aber nicht identisch sind. Rituale werden in verschiedenen Kulturen und Sprachen durchgeführt, sie bestehen aus unterschiedlichen Handlungen und sie dienen unterschiedlichen Zwecken. Bestimmte Merkmale finden sich jedoch in allen rituellen Handlungen. Sax befürwortet, ab einer ausreichenden Anzahl, eben dieser Merkmale, von Ritualen zu sprechen (vgl. ibid., 222).
Exemplarisch werden nachfolgend zumindest drei Definitionen herausgegriffen. Hans Kraml und Roy Rappaport nehmen dabei einen eher enger gefassten Standpunkt ein, der wenig Spielraum lässt, die Definition von Erika Fischer-Lichte bietet mehr Raum für Interpretationen.
Für Kraml (1999, 40) sind Rituale im engeren Sinn: „Sequenzen aufeinander abgestimmten Verhaltens zwischen mehreren Personen, das in typischen Situationen erkennbar wiederholbar wird und die Herstellung und Sicherung der Bedeutung von Interaktionszusammenhängen zum Gegenstand hat“.
„Unter Ritual verstehe ich eine Form oder Struktur. Es handelt sich dabei um die Ausführung mehr oder weniger unveränderlicher Sequenzen formaler Handlungen und Aussagen, die nicht von den Akteuren codiert worden sind“ (cit. Rappaport, 2008, 191).
Erika Fischer-Lichte (2008, 118) versteht unter einem Ritual „transformative Handlungen, die einem tradierten Muster folgen“.
Aus diesem kurzen Abriss ergibt sich, dass ein Ritual über Wiederholung, ähnliche Merkmale und mehr oder minder festgelegte Formen grob definiert werden kann. Persönlich würde ich mich der oben angeführten Idee von Sax anschließen, da mir diese „Definition“ am wenigsten einengend erscheint. Die ausreichende Anzahl von Merkmalen, die Sax erwähnt, führen zum nächsten Kapitel:
2.2 Wann ist ein Ritual ein Ritual?
Diese Frage lässt sich ebenso wenig eindeutig beantworten, wie die Frage nach einer einheitlichen Definition. Versuche einer Begriffsdefinition überschneiden sich teilweise mit den an ein Ritual gestellten Anforderungen, um als solches zu gelten. Ich greife hier die fünf Kriterien heraus, die Michaels (1999, 29ff; 2004, 318f) anführt, die für sein Verständnis, ein Ritual erfüllen muss:
Ursächliche Veränderung (causa transitionis)
Rituale stehen mit zeitlichen und räumlichen Veränderungen in Beziehung.
Rituale gibt es nur dort, wo Grenzüberschreitung, Veränderung, Wechsel stattfindet.
Förmlicher Beschluss (solemnis intentio)
Zur Durchführung eines Rituals braucht es einen formalen Beschluss, die solemnis intentio macht aus einer alltäglichen Handlung eine Ritualhandlung[1]. Meist kommt es zu einem Wechsel der Sprachebene; Ritualsprache unterscheidet sich von Alltagssprache.
Formale Handlungskriterien (actiones formaliter ritorum)
Rituale brauchen drei, manchmal vier formale Handlungskriterien. Handlungen müssen sein:
- förmlich, stereotyp, sich wiederholend (damit nachahmbar).
- öffentlich - Rituale, vor allem lebenszyklische, brauchen Öffentlichkeit und Gemeinschaft.
- unwiderruflich - Rituale wirken unabhängig von ihrer Bedeutung, sie können nicht rückgängig gemacht werden, außer durch ein neues Ritual. liminal - der Platz innerhalb einer sozialen Gruppe wird neu bestimmt (kann aber muss kein Kriterium eines Rituals sein).
Modale Handlungskriterien (actiones modaliter ritorum)
Innere Motivationen bestimmen, ob es sich um eine alltägliche Handlung oder ein Ritual handelt. Michaels (1999, 2004) verwendet die Begriffe:
- communitas - alle Funktionen eines Rituals, die auf die Gemeinschaft bezogen sind, wie Solidarität, Hierarchie, Normierung[2].
- religio - die spirituelle Absicht, die alltäglichen Handlungen Erhabenheit und Ernst verleiht (nicht gleichzusetzen mit Religion).
- individualitas - der subjektive Handlungsaspekt des einzelnen Ritualteilnehmers.
Veränderung von Identität, Rolle, Status, Kompetenz (transitio vitae)
- Durch ein Ritual muss eine erkennbare Veränderung eintreten, z.B. ein neuer sozialer Status oder der „Erwerb“ einer vor dem Ritual nicht vorhandenen Kompetenz.
Mit Hilfe dieser fünf Kriterien kann, nach Michaels, ein Ritual von Zeremonie, Sitte, Brauch, Spiel, Routine, Theater oder Sport abgegrenzt werden. Die Elemente, die Michaels anführt, werden von Florian Uhl (2010) übernommen, da er die Ansicht vertritt, dass es Komponenten braucht, „um von Ritualen im engeren Sinne sprechen zu können, um Rituale von ritualisierten „normalen“ Handlungen, ritualisierten Gewohnheiten abgrenzen zu können“ (cit. ibid., 159).
Catherine Bell hingegen versteht auch unter körperlichen Aktivitäten und sportlichen
Übungen Rituale und ritualisierte Handlungen (vgl. Bell, 2004, 237). Christian
Bromberger (2008, 293) findet die Behauptung, „dass ein Fussballmatch einer heiligen Zeremonie sehr nahe stehe“ durchaus berechtigt. Jan Assmann bezeichnet die Zauberflöte als Verbindung von Ritual und Liebesroman (vgl. Assmann, 2008, 112).
Einigkeit oder Übereinstimmung kann ich in diesen Betrachtungen nicht feststellen, da der Ritualbegriff, um es mit Michaels zu sagen, beliebig verwendet wird. Allerdings lassen sich die von ihm vorgeschlagenen Kriterien sowohl auf sportliche Übungen, auf ein Fußballmatch, als auch auf die Zauberflöte umlegen. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht kann somit nicht eindeutig geklärt werden, wann ein Ritual ein Ritual ist.
Malidoma Somé (2000) vom Stamm der Dagara in Burkina Faso, der Rituale aus der traditionellen Stammeskultur heraus beschreibt, stellt wenig wissenschaftlich fest: „Um ein Ritual handelt es sich immer dann, wenn ein Geist gerufen wird, um in menschliche Angelegenheiten einzugreifen“ (cit. ibid., 52). Wie Michaels nennt Somé Elemente, die ein Ritual ausmachen bzw. die vorhanden sein müssen:
- Ein Ritual ist eine Anrufung nichtmenschlicher Wesen zu einem bestimmten Zweck.
- Ein Ritual ist ein Dialog feierlicher Art, mit den Geistern und mit uns selbst.
- Ein Ritual ist Wiederholung - die Strukturen sind immer dieselben, wobei die Art und Weise, wie etwas gemacht wird, sich ändern kann.
- Ein Ritual braucht Eröffnung und Abschluss - der rituelle Raum ist geöffnet, wenn die Geister angerufen sind, der rituelle Raum wird geschlossen durch die symbolische Verabschiedung der Geister (vgl. ibid. 98).
Zwischen den Anforderungen die Michaels an ein Ritual stellt und den Elementen die Somé anführt ergeben sich durchaus Gemeinsamkeiten, wie etwa die Wiederholbarkeit durch gleichbleibende Strukturen oder die eindeutige Eröffnung.
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit einem Überblick über die Ritualtheorien. Bedeutende Theoretiker und deren Ansätze werden kurz skizziert.
2.3 Ritualtheorien
Wie bereits angemerkt, gibt es keine einheitliche Definition von Ritualen, so erstaunt es kaum, dass es auch keine „allgemeine“ Theorie gibt. Christoph Wulf und Jörg Zirfas (2004) führen dazu aus: „Angesichts der zentralen Bedeutung von Ritualen in vielen gesellschaftlichen und kulturellen Feldern überrascht es kaum, dass es keine allgemein akzeptierte Theorie des Rituals gibt. Zu unterschiedlich sind die Positionen in den verschiedenen Wissenschaften. Je nach Gegenstandsbereich, Disziplin und methodischem Ansatz werden unterschiedliche Aspekte betont. In der internationalen Ritualforschung besteht daher heute Übereinstimmung darüber, dass es nicht sinnvoll ist, die Fülle und den Reichtum der Perspektiven zugunsten einzelner Theorien zu reduzieren“ (cit. ibid., 8).
Ritualtheorien und Ritualforschungen lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten unterteilen. Bei Sichtung der Literatur, die in diesem Fall nur einen kleinen Ausschnitt darstellte, konnte ich zumindest fünf voneinander abweichende Klassifikationen feststellen. Für diese Arbeit wähle ich eine Synthese der Einteilung von Axel Michaels (1999) und Wulf, Zirfas (2004). Michaels richtet sich nach der Funktion von Ritualen, Wulf und Zirfas orientieren sich eher an den historischen Schwerpunkten.
2.3.1 Die genealogische Perspektive: Religion und Mythos
Im Mittelpunkt steht die Erforschung von Ritualen im Zusammenhang mit Religion, Mythos und Kultur. Die Beschäftigung mit dem Ritual, als Sammelbegriff verschiedener Aktivitäten und Praktiken, beginnend gegen Ende des 19. Jahrhunderts, erfolgte ursprünglich in der Absicht, Theorien über den Ursprung von Religion und Zivilisation zu bestätigen bzw. zu widerlegen. Die grundlegende Frage die sich damit stellte war, ob Religion aus dem Mythos oder aus dem Ritual hervorgegangen ist (vgl. Wulf, Zirfas, 2004,10).
2.3.1.1 Edward Burnett Tylor (1832-1917)
Tylor, ein englischer Anthropologe, vertrat eine mythische Welterklärung. Er verstand Mythen als philosophischen Versuch die Welt zu erklären und zu verstehen. Er war der Ansicht, dass mit Hilfe von Mythen die Mentalität primitiver Kulturen zu verstehen sei. Spuren der primitiven Mentalität sind in modernen Gesellschaften in unverständlich gewordenen Ritualen („survivals“) anzutreffen. In seinem Konzept des Animismus sieht Tylor die Urstufe der Religion (vgl. Hödl, 2003a, 577f).
2.3.1.2 William Robertson Smith (1846-1894)
Smith hingegen sah das Ritual als vorgängig an und war der Meinung, dass sich die Religion aus dem Ritual entwickelt hat, dessen Funktion der Stärkung und Stabilisierung der Gemeinschaft dient. Der Mythos dient dem Zweck, das Ritual zu erklären, wenn die ursprüngliche Bedeutung in Vergessenheit geraten war. Rituale waren nach Smith Meinung fest bestimmt und Sache der religiösen Pflicht, Mythen waren veränderlich und der Glaube daran dem Einzelnen überlassen (vgl. Hödl, 2003a, 578).
Weder Tylor noch Smith können als Ritualtheoretiker bezeichnet werden, allerdings waren ihre Darstellungen Bezugspunkt für bedeutende Theorien und Erklärungen, wie z.B. von Durkheim, Freud oder Eliade.
2.3.1.3 Mircea Eliade (1907-1986)
Eliade, dessen Arbeit zu den Klassikern der Ritualtheorie zählt, untersuchte Rituale aus der religionsgeschichtlichen Perspektive. Wie Tylor vertrat er den Ansatz, dass das Ritual aus dem Mythos hervorgegangen sei.
In „Kosmos und Geschichte“ (Eliade, 1984, 34) ist nachzulesen, dass jeder rituellen Handlung ein „göttliches Modell, ein Urbild“ zugrunde liegt. Im Mythos werden beispielhafte Handlungen der Götter beschrieben, die den Handlungen der Menschen als Vorbild dienen sollen. Im Ritual werden diese Handlungen im Hier und Jetzt nachgeahmt. Somit stellt das Ritual eine Nachahmung des Mythos dar, im Sinne von „Wie im Himmel so auf Erden“ bzw. „Wie im Anfang, so auch jetzt“.
Das bedeutet, dass jedes sinnvolle menschliche Handeln erst möglich wird, durch rituelle Nachahmung von Mythen. Der Mythos würde ohne rituelle Verkörperung gar nicht verstanden werden, d.h. Mythos als Handlungswissen stellt einen untrennbaren Teil des rituellen Wissens dar (vgl. Lentes, 2009, 328f; Belliger, Krieger, 2008, 27f).
Die genealogischen Ansätze treffen sich in der Idee, dass es am Anfang so etwas wie Einheit, Stabilität und Erfüllung gegeben hat. Mythen und Rituale halten einerseits die Erinnerung daran wach und helfen andererseits dabei diesen jenseitigen Zustand immer wieder zu aktualisieren (vgl. Wulf, Zirfas, 2004, 11). Micheals spricht von konfessionalistischen Ritualtheorien, die Rituale mit einer mythisierenden und transzendierenden Funktion verbinden (vgl. Micheals, 1999, 26).
2.3.2 Strukturelle und funktionale Perspektive
Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht die Thematik, welche soziale Funktion das Ritual erfüllt und wie soziale Gruppen in ihrer Organisation bzw. ihren Abläufen beeinflusst werden. Zumeist sind diese Theorien soziologisch oder psychologisch ausgerichtet (vgl. Wulf, Zirfas, 2004, 12).
Diese Perspektive stimmt bei Michaels (1999, 25f) weitgehend mit der von Wulf und Zirfas überein. Die funktionalistischen Theorien belegt Michaels mit der Funktion der Krisenintervention, sei es aus angstreduzierenden, therapeutischen oder kontrollierend-stabilisierenden Gründen.
2.3.2.1 Arnold van Gennep (1873-1957)
Van Genneps Werk „Les rites de Passage“ wurde erstmals im Jahre 1909 publiziert. Trotz mancher Kritik zählt es auch heute noch, mehr als 100 Jahre später, zu den Klassikern der Ritualtheorie und gilt als Standardwerk der Ritualforschung. Nachfolgende wichtigste Aussagen seiner Ritualtheorie sind der 3. erweiterten Auflage der „Übergangsriten“, 2005, 13-34, entnommen, wörtliche Zitate werden gesondert gekennzeichnet.
In „Les rites de Passage“ geht van Gennep von der Feststellung aus, dass jede Gesellschaft verschiedene Gruppierungen umfasst:
- soziale Gruppen
- Berufsgruppen Altersgruppen
- politische Gruppierungen usw.
- Innerhalb von sozialen Gemeinschaften kommt es ständig zu
Grenzüberschreitungen, Individuen wechseln ihren Wohnort, ihre Stelle, ihre Gruppenzugehörigkeit, ihren sozialen Status, ihre Altersgruppe usw. Beim Wechsel von einer Gruppe in eine andere Gruppe, wird dieser Übergang von bestimmten Handlungen begleitet, um Störungen der sozialen Ordnung zu verhindern. „Jede Veränderung im Leben eines Individuums erfordert teils profane, teils sakrale Aktionen und Reaktionen, die reglementiert und überwacht werden müssen, damit die Gesellschaft als Ganzes weder in Konflikt gerät, noch Schaden nimmt“ (cit. ibid., 15). Van Gennep sieht somit in Ritualen die Funktion mögliche Konflikte abzuwehren, und als solche dienen sie der Kontrolle des sozialen Lebens.
Zu diesen Übergängen, die van Gennep als Übergangsriten bezeichnet, gehören bestimmte Zeremonien, mit dem Ziel „das Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte hinüberzuführen“ (cit. ibid., 15).
Van Gennep war der Erste, der in den Handlungsabläufen der Übergangsriten drei Phasen erkannte und beschrieb:
Trennungsphase - in dieser Phase kommt es zu einer Ablösung. Van Gennep beschreibt diese Phase u.a. in Initiationsriten von Stammesgesellschaften in unterschiedlichen Kulturen.
Schwellen- bzw. Umwandlungphase[3] - diese Phase kennzeichnet einen Zustand, in dem das „Alte“ nicht mehr und das „Neue“ noch nicht wirksam ist.
Angliederungsphase - das Individuum wird durch Zeremonien in einer neuen Gruppe aufgenommen bzw. integriert.
Diese Phasen sind in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich stark ausgeprägt, bzw. nicht in allen Zeremonialkomplexen gleich stark ausgebildet. In jedem Fall sind Übergangsriten gekennzeichnet durch eine Veränderung des Individuums, da einerseits mehrere Grenzen überschritten bzw. mehrere Etappen bewältigt werden. Van Gennep weist auch wiederholt darauf hin, dass nicht alle Riten Übergangsriten sind. So kann z.B. ein Reinigungsritus einfach den Zustand der Unreinheit aufheben, oder aber als aktiver Ritus in den Zustand der Reinheit versetzen. Die Grenzen sind von außen mitunter nicht klar erkennbar.
Die Gesellschaft vergleicht van Gennep mit einem Haus, das in verschiedene Zimmer und Flure unterteilt ist. Je weiter fortgeschritten eine Gesellschaft ist, desto dünner sind die Trennwände zwischen den Räumen und desto weiter stehen die Türen der Kommunikation offen. Je weniger zivilisiert eine Gesellschaft ist, desto sorgfältiger sind die einzelnen Räume voneinander getrennt und desto mehr Zeremonien sind erforderlich, um von einem Raum in den nächsten zu gelangen. In wenig zivilisierten Gesellschaften z.B. ist ein Neugeborenes nicht automatisch Teil einer Gruppe, sondern wird erst durch bestimmte Zeremonien Teil derselben.
Van Genneps Werk stieß zunächst auf „Unverständnis, Ablehnung und heftige Kritik“ (cit. Schomburg-Scherff, 2005, 233). Obwohl es heute, wie bereits erwähnt, zu den Klassikern der Ethnologie zählt, weisen auch Wissenschaftler die seine Arbeit zu würdigen wissen, darauf hin, dass van Gennep „ein schwacher Theoretiker war, der das was er gleichsam intuitiv erkannte, nicht ausreichend begrifflich zu fassen und theoretisch zu begründen vermochte“ (cit. ibid., 242).
2.3.2.2 Victor Turner (1920-1983)
Das Werk von Turner, einem britischen Ethnologen, beruht vor allem auf seinen Feldforschungen bei den Ndembu, einem Bantu-Volk im heutigen Zambia.
Aufgrund der Krisen und Spannungen, die er bei den Ndembu beobachten konnte, entwickelte er das Konzept des „sozialen Dramas“, das aus Turners Sicht in vier Phasen abläuft: zunächst erfolgt ein Bruch sozialer Normen dieser Bruch mündet in einer Krise es folgt der Versuch der Bewältigung, entweder durch eine formale Gerichtsverhandlung und/ oder durch rituelle Aktivitäten die vierte Phase führt entweder zur Reintegration, oder zum unüberwindlichen Bruch (vgl. Bräunlein, 2004, 328ff)
Turner betrachtet Gesellschaft nicht als geschlossenes System, sondern als ein strukturiertes Gebilde von unterschiedlichen Kräften und Bestrebungen. Zur Bewältigung der Konflikte werden Strategien entwickelt, die in sozialen und rituellen Dramen ausagiert werden. Im sozialen Drama sowie in Riten geht es um die Überwindung des Trennenden und um die Erfahrung der Einheit der Gemeinschaft (vgl. ibid.).
In seiner weiteren Arbeit baut Turner auf dem Ansatz von van Gennep auf und entwickelt und interpretiert, mit den gewonnenen Erfahrungen bei den Ndembu, seine Theorie der Übergangsriten. In den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt er die Schwellen- und Übergangsphase, die er als liminale Phase bezeichnet. Den Zustand der „Liminalität“ bezeichnet Turner als „notwendigerweise unbestimmt“ (cit. Turner, 2005, 95), da Schwellenwesen weder da noch dort sind. Sie „befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen“ (cit. ibid.). Während dieser Phase weisen keine Insignien auf den früheren oder zukünftigen Status oder Zustand hin. Vielmehr scheint es darum zu gehen, die Neophyten „auf einen einheitlichen Zustand“ (cit. ibid.) zu reduzieren. In der liminalen Phase befinden sich die Neophyten auf dem Weg zu einer Transformation, sie überschreiten eine biologische oder soziale Grenze. In der Schwellenphase stellt sich die Gesellschaft als unstrukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft dar, die Turner als „Communitas“, aber auch als Anti- Struktur bezeichnet.
[...]
[1] Schuhe ausziehen per se ist keine Ritualhandlung. In Verbindung mit einer solemnis intentio beim Betreten eines Tempels, wird es zu einer Ritualhandlung, unabhängig davon, was die Intention des Einzelnen ist (vgl. Michaels 1999, 32)
[2] Die meisten Konfirmanden z.B. sind von der Firmung nicht überzeugt und glauben auch nicht an den Sinn oder Nutzen. Trotzdem ist es ihnen nicht möglich, sich dem Druck der Familie/Gemeinschaft zu entziehen.
[3] Schwellenriten beziehen sich auf einen Raumwechsel, Umwandlungsriten auf einen Zustandswechsel (Anm. d. Ü, Klaus Schomburg und Sylvia Schomburg-Scherff in Arnold van Gennep, Übergangsriten 2005, 21)
- Arbeit zitieren
- MSc Petra Christine Türl (Autor:in), 2012, Die Bedeutung von Ritualen im Rahmen der Krisenintervention am Beispiel des Kriseninterventionsteams Land Steiermark, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191733
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