Vergessen, sprich „der Verlust von im Gedächtnis gespeicherten Informationen und Erinnerungen“, gehört genauso zum alltäglichen Leben dazu wie das Aufnehmen bestimmter Informationen. Doch was passiert, wenn Menschen ihr Gedächtnis bzw. Teile davon gänzlich ‚verlieren‘? Was passiert, wenn ein Mensch sich eines Tages weder an seinen Namen noch an seine Herkunft erinnern kann und nicht einmal mehr Frau und Kinder erkennt? Hans J. Markowitsch schildert in seinem Aufsatz über die „Neuropsychologie des menschlichen Gedächtnisses“ den Fall eines Patienten mit psychogener Amnesie, der sich - bedingt durch einen plötzlichen Gedächtnisverlust - nicht mehr an Ereignisse seiner Vergangenheit erinnern konnte. Ihm gelang es zwar, vergangene Erlebnisse neu zu erlernen und sich zudem schnell ein beträchtliches neues Wissensrepertoire anzueignen, allerdings verarbeitete sein Gehirn autobiographische Informationen fortan wie neutrales Faktenwissen.2
Wie aber kommt es zu solchen Gedächtnisverlusten? Im Rahmen dieser Hausarbeit werde ich mich sowohl mit dem Aufbau des Gedächtnisses als auch mit den Gründen und Auswirkungen von bestimmten Gedächtnisverlusten beschäftigen. Im Fokus soll dabei einerseits die Frage nach der Funktion einzelner Strukturen und Systeme des menschlichen Gehirns und andererseits die Frage nach dem Zusammenwirken dieser Strukturen stehen.
Diesbezüglich werde ich zunächst zwei Arten von Gedächtnisverlust skizzieren, um daraus Schlussfolgerungen für allgemeine Strukturen des Gedächtnisses abzuleiten. Daraufhin werde ich auf ein mögliches Modell der Einteilung in bestimmte Gedächtnissysteme Bezug nehmen und zudem die Entwicklung des Gedächtnisses in der Evolution mit der Entwicklung beim Säugling bzw. beim Kleinkind vergleichen. Anschließend werde ich noch genauer auf die Rolle des limbischen Systems bezüglich der Gedächtnisverarbeitung eingehen und im letzten Abschnitt schließlich die nacheinander ablaufenden Gedächtnisprozesse erläutern.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Arten des Gedächtnisverlusts: retrograde und anterograde Amnesie
3. Gedächtnissysteme
3.1. Differenzierung: zeitliche und inhaltliche Einteilung
3.2. Zusammenspiel: Beispiel Sprache
3.3. Entwicklung: evolutionäre und individuelle Gedächtnisentwicklung
4. Die Rolle des limbischen Systems
4.1. Aufbau und Funktion
4.2. Gedächtnisschaltkreise: Papezscher und basolateraler limbischer Schaltkreis
5. Gedächtnisprozesse und relevante Strukturen
5.1. Enkodierung
5.2. Retention/Konsolidierung
5.3. Abruf
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Vergessen, sprich Äder Verlust von im Gedächtnis gespeicherten Informationen und Erinnerungen“1, gehört genauso zum alltäglichen Leben dazu wie das Aufnehmen bestimmter Informationen. Doch was passiert, wenn Menschen ihr Gedächtnis bzw. Teile davon gänzlich ‚verlieren‘? Was passiert, wenn ein Mensch sich eines Tages weder an seinen Namen noch an seine Herkunft erinnern kann und nicht einmal mehr Frau und Kinder erkennt? Hans J. Markowitsch schildert in seinem Aufsatz über die ÄNeuropsychologie des menschlichen Gedächtnisses“ den Fall eines Patienten mit psychogener Amnesie, der sich - bedingt durch einen plötzlichen Gedächtnisverlust - nicht mehr an Ereignisse seiner Vergangenheit erinnern konnte. Ihm gelang es zwar, vergangene Erlebnisse neu zu erlernen und sich zudem schnell ein beträchtliches neues Wissensrepertoire anzueignen, allerdings verarbeitete sein Gehirn autobiographische Informationen fortan wie neutrales Faktenwissen.2
Wie aber kommt es zu solchen Gedächtnisverlusten? Im Rahmen dieser Hausarbeit werde ich mich sowohl mit dem Aufbau des Gedächtnisses als auch mit den Gründen und Auswirkungen von bestimmten Gedächtnisverlusten beschäftigen. Im Fokus soll dabei einerseits die Frage nach der Funktion einzelner Strukturen und Systeme des menschlichen Gehirns und andererseits die Frage nach dem Zusammenwirken dieser Strukturen stehen. Diesbezüglich werde ich zunächst zwei Arten von Gedächtnisverlust skizzieren, um daraus Schlussfolgerungen für allgemeine Strukturen des Gedächtnisses abzuleiten. Daraufhin werde ich auf ein mögliches Modell der Einteilung in bestimmte Gedächtnissysteme Bezug nehmen und zudem die Entwicklung des Gedächtnisses in der Evolution mit der Entwicklung beim Säugling bzw. beim Kleinkind vergleichen. Anschließend werde ich noch genauer auf die Rolle des limbischen Systems bezüglich der Gedächtnisverarbeitung eingehen und im letzten Abschnitt schließlich die nacheinander ablaufenden Gedächtnisprozesse erläutern.
2. Arten des Gedächtnisverlusts: retrograde und anterograde Amnesie
Es lassen sich grundsätzlich zwei Arten des Gedächtnisverlusts unterscheiden. Bei der sogenannten »retrograden Amnesie» geht infolge einer Hirnschädigung das Bewusstsein für frühere Ereignisse verloren. Patienten können sich also nicht mehr an zurückliegende Ereignisse erinnern, sind aber meist dazu in der Lage, neue Informationen zu erlernen. Bei der »anterograden Amnesie« hingegen kann das Gehirn keine neuen Erlebnisse mehr einspeichern, wodurch Patienten keine neuen Vorkommnisse oder Zusammenhänge mehr behalten können.3
Aus Befunden von Patientenstudien kann abgeleitet werden, dass es nicht das eine Gedächtnis gibt, sondern vielmehr verschiedene Gedächtnissysteme, die jeweils unterschiedliche Funktionen innerhalb der Gedächtnisverarbeitung übernehmen. So erleiden Menschen fast nie einen Totalverlust ihrer Fähigkeiten bzw. Erinnerungen. Laut Markowitsch sind beim Abruf episodischer oder autobiografischer Inhalte für gewöhnlich Zonen im Stirnhirn und Schläfenlappen der rechten Hirnseite aktiv, während die linke Hemisphäre für die Verarbeitung des Wissens- oder Kenntnissystems zuständig ist.4
3. Gedächtnissysteme
3.1. Differenzierung: zeitliche und inhaltliche Einteilung
Neben der zeitlichen Einteilung in Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis lässt sich das Gedächtnis auch nach inhaltlichen Aspekten differenzieren: Während episodisches und das semantisches Gedächtnis zu den deklarativen Gedächtnisarten gezählt werden, gehören das prozedurale Gedächtnis und das Priming zu den nicht-deklarativen.5 Im episodischen Gedächtnis werden Äautobiographische, größtenteils singuläre Ereignisse sowie nach Ort und Zeit bestimmte Fakten“6 eingespeichert, wie zum Beispiel die Erinnerung an die eigene Hochzeit oder an den ersten Kuss. Das semantische Gedächtnis oder Wissenssystem ist dagegen Äfür Weltkenntnisse, Schulwissen, Wissen um generelle Zusammenhänge [und] semantisch-grammatikalische Kenntnisse“7 zuständig. ÄMechanische und motorische Fertigkeiten und Handlungsabläufe“8 wie das Autofahren oder das Skilaufen werden durch das prozedurale Gedächtnis koordiniert, wohingegen das Priming Äfür erleichtertes Erinnern von ähnlich erlebten Situationen oder früher wahrgenommenen Reizmustern“9 sorgt.
Die genannten Gedächtnistypen übernehmen zwar sehr unterschiedliche Funktionen, sind aber dennoch keine grundsätzlich getrennten Funktionssysteme, sondern wirken oftmals zusammen. Ein Totalausfall des Gedächtnisses ist laut Markowitsch äußert selten, da bei Gedächtnisverlusten normalerweise meist nur eine der vier Gedächtnistypen betroffen sei.10 Dies erklärt folglich, warum Patienten sich beispielsweise nicht an persönliche Ereignisse der Vergangenheit erinnern können, ihr semantisches und prozedurales Wissen jedoch noch intakt ist.
3.2. Zusammenspiel: Beispiel Sprache
Laut Markowitsch kann anhand des Sprechens das komplexe Zusammenspiel mehrerer Gedächtnisformen veranschaulicht werden. Das prozedurale Gedächtnis sei Äfür die Bewegungskoordination der Stimm-, Gesichts- und Atemmuskulatur“11 besonders wichtig, für die Beherrschung der Sprache dagegen das Wissenssystem, das u.a. wichtige lexikalische, grammatische und semantische Informationen von Wörtern speichert. Daneben bilde für das Sprechen auch das episodische Gedächtnis, sprich die Erinnerung an singuläre (persönliche) Ereignisse, eine unverzichtbare Größe. Darüber hinaus könne das Gesprochene selbst auch Äzuvor unbewußt verarbeitetet Reize spontan und unreflektiert reproduzieren und sich damit auf das Priming-System stützen“12.
3.3. Entwicklung: evolutionäre und individuelle Gedächtnisentwicklung
Als erste Stufe der evolutionären Entwicklung des Gedächtnisses entwickelte sich laut Markowitsch das Priming. Für das Vermögen, bestimmte Reizmuster wiederzuerkennen, seien noch keine verwobenen Strukturen nötig gewesen. Auf die einfache Sinnesverarbeitung sei die Fähigkeit, motorische Abläufe zu erlernen, gefolgt. So habe sich als zweiter Schritt also das prozedurale Gedächtnis entwickelt. Während das Kleinhirn und die Basalganglien ausreichten, um motorisches Lernen zu ermöglichen, musste sich - so Markowitsch - zwangsläufig die Hirnrinde für die Erreichung höherer Lernformen weiter ausbilden.13 ÄIm Zusammenhang mit der weiteren Evolution des Gehirns entstanden [anschließend] zuerst das Wissenssystem und [erst] dann das episodische Gedächtnis.“14
In der Gedächtnisentwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter zeigen offenbar sich parallele Strukturen. Während ein Neugeborenes zuerst lerne, bestimmte ÄSinneseindrücke zu unterscheiden und selektiv damit umzugehen“15, würden Säuglinge erst später die bewusste Kontrolle über Bewegungen erlangen. Es bestehe zudem die Vermutung, dass der Aufbau eines episodischen Gedächtnis erst mit drei bis vier Jahren erfolgt, wenn Kleinkinder bereits einen erweiterten Wortschatz erworben haben.16
[...]
1 Gruber, T. (2011): Gedächtnisprozesse. In: Ders.: Gedächtnis. Wiesbaden: Springer, S. 103.
2 vgl. Markowitsch, H.J. (2001): Neuropsychologie des menschlichen Gedächtnisses. In: Spektrum der Wissenschaft - Digest: Rätsel Gehirn: S. 59.
3 vgl. Markowitsch: a.a.O., S. 54.
4 vgl. Markowitsch: a.a.O., S. 53.
5 vgl. Markowitsch: a.a.O., S. 54f.
6 Markowitsch: a.a.O., S. 55.
7 Markowitsch: a.a.O., S. 55.
8 Markowitsch: a.a.O., S. 55.
9 Markowitsch: a.a.O., S. 55.
10 vgl. Markowitsch: a.a.O., S. 56.
11 Markowitsch: a.a.O., S. 55.
12 Markowitsch: a.a.O., S. 55f.
13 vgl. Markowitsch: a.a.O., S. 56.
14 Markowitsch: a.a.O., S. 56.
15 Markowitsch: a.a.O., S. 56.
16 vgl. Markowitsch: a.a.O., S. 56.
- Arbeit zitieren
- Linda Lau (Autor:in), 2011, Gedächtnis & Gedächtnisverlust, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191482
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