Sammelleidenschaft:
Hierbei handelt es sich um eine sehr intensiv ausgeprägte Eigenart des Ich-Erzählers Walter Eggers. Sie betrifft keinen der weiteren drei Protagonisten unmittelbar, obwohl letztlich alle davon profitieren. Mit dieser geradezu obsessiv betriebenen Tätigkeit verbindet Walter hervorragende Kenntnisse als Historiker und Philologe. Sein Spezialgebiet sind hannoversche "Staatshandbücher" mit statistischen Daten, die er im Hause von Frieda Thumann, als
Nachkömmling des Statistikers Jansen, vermutet und bald darauf auch entdeckt. Unter anderem findet er ein "Statistisches Handbuch / des Königreichs Hannover" von 1824, verfasst von eben diesem Jansen, von dem sich bereits ein Exemplar in seinem Besitz
befindet.
Diese Sammelleidenschaft teilt Walter Eggers im übrigen mit dem Autor Arno Schmidt, der in seinen Zettelkästen enorme Mengen von historischen und literarischen Daten aufbewahrte, die er aus Bibliotheken, Archiven und Nachschlagewerken zusammenstellte. Darüberhinaus besaß er aber auch eine größere Kollektion »erhaben=kleinliche Alltäglichkeiten«, ein Sammelsurium verschiedener, zum Teil winziger, unscheinbarer Gegenstände, die ihm aus irgendeinem Grunde des Aufbewahrens wert erschienen und an die er sein Herz gehängt hatte. Eine Ursache für diese Verhaltensweise
liegt offensichtlich "in seiner ärmlichen Hamburger Kinderzeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg ..., in der alles doppelt und dreifach verwendet wurde."
Sammelleidenschaft
Hierbei handelt es sich um eine sehr intensiv ausgeprägte Eigenart des Ich-Erzählers Walter Eggers. Sie betrifft keinen der weiteren drei Protagonisten unmittelbar, obwohl letztlich alle davon profitieren. Mit dieser geradezu obsessiv betriebenen Tätigkeit verbindet Walter hervorragende Kenntnisse als Historiker und Philologe. Sein Spezialgebiet sind hannoversche "Staatshandbücher" (32) mit statistischen Daten, die er im Hause von Frieda Thumann, als Nachkömmling des Statistikers Jansen, vermutet und bald darauf auch entdeckt. Unter anderem findet er ein "Statistisches Handbuch / des Königreichs Hannover" von 1824 (42), verfasst von eben diesem Jansen, von dem sich bereits ein Exemplar in seinem Besitz befindet.
Diese Sammelleidenschaft teilt Walter Eggers im übrigen mit dem Autor Arno Schmidt, der in seinen Zettelkästen enorme Mengen von historischen und literarischen Daten aufbewahrte, die er aus Bibliotheken, Archiven und Nachschlagewerken zusammenstellte. Darüberhinaus besaß er aber auch eine größere Kollektion »erhaben=kleinliche Alltäglichkeiten« (vgl. Marbacherkatalog 183 ff.), ein Sammelsurium verschiedener, zum Teil winziger, unscheinbarer Gegenstände, die ihm aus irgendeinem Grunde des Aufbewahrens wert erschienen und an die er sein Herz gehängt hatte. Eine Ursache für diese Verhaltensweise liegt offensichtlich "in seiner ärmlichen Hamburger Kinderzeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg ..., in der alles doppelt und dreifach verwendet wurde." (ebd. 184)
Bei Walter Eggers ist jedoch eine Akzentverschiebung zu beobachten: Seine Sammelleidenschaft ist keine Überlebensstrategie, die der Sicherung der nackten Existenz dient (wie sie auch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Bevölkerung weit verbreitet war; vgl. Der zeitgeschichtliche Hintergrund, S. 4 f.), sondern bei ihm geht es um Strategien der Selbstbehauptung und des Durchsetzungsvermögens in einer Umgebung, die nur wenig Interesse an geistigen Produkten zeigt und in der er sich mit seinen Fachkenntnissen profilieren kann. Dabei tarnt er sein philologisches Interesse den Thumanns gegenüber geschickt mit dem Argument, dass "alte Bücher" (15), die Karl für "Tinnef" (46) hält, auch "Geld bringen" (15) können und stellt sogar eine Summe von "300 Mark" (32) in Aussicht, um ihnen den Mund wässrig zu machen. Auch Frieda betrachtet Walters Suche nach Büchern in ihrem Haus ganz pragmatisch unter dem Aspekt ihres materiellen Wertes und macht "klar=kommerzielle Augen dazu". (25)
Es zeigt sich, dass Walters exzessiv betriebene Sammelleidenschaft sich an Zahlen, Daten und Fakten entzündet, die in Staatshandbüchern enthalten sind. Er verspricht sich davon aufschlussreiche Erkenntnisse und gerät darüber in einen Zustand geradezu rauschhafter Ekstase: " ... ich habe die Gabe, über Statistiken wahnsinnig werden zu können!" (42) Er ist Feuer und Flamme und glüht förmlich vor Begierde (vgl. 43) herauszufinden, ob ihm bei seinen Recherchen im Hause Thumann Bände dieser Staatshandbücher in die Hände fallen werden, die ihm noch fehlen. Er betrachtet "Staatshandbücher als Geschichtsquellen!" (44), als eine
Fundgrube voller aufschlussreicher Informationen über historische Persönlichkeiten oder Daten über Bevölkerungsstatistik. Er empfindet eine geradezu erotisch gefärbte "wahnsinnige Lust an Exaktem: Daten, Flächeninhalte, Einwohnerzahlen" (46) Und er fügt mit einer gewissen Selbstherrlichkeit hinzu: "Wer die Sein=setzende Kraft von Namen, Zahlen, Daten, Grenzen, Tabellen, Karten, nicht empfindet, tut recht daran Lyriker zu werden; für beste Prosa ist er verloren; hebe Dich hinweg!" (ebd.)
Diese obsessive Beschäftigung mündet in seinen eigentlichen Lebenstraum, nämlich eine "Große Kartei" (70) zu erstellen, mit der er die Vielzahl dieser statistischen Daten erfassen und mit Hilfe mathematischer Formeln ("z = a mal q hoch n", 70) auswerten will. Er berechnet ein Volumen von etwa "fünfzigtausend Karteikarten" (ebd.). Die Beschäftigung mit Staatshandbüchern verfolgt ihn bis in den Schlaf: In seinen Träumen vermengen sich Bilder von "Mädchen" und "Erotica" mit "Polizisten", die bei ihm eine "Hausdurchsuchung" vornehmen, um "sämtliche Staatshandbücher" zu beschlagnahmen. (35 f.) Darin offenbart sich natürlich seine Sorge, diesen wertvollen Objekten könne etwas zustoßen oder man könne sie ihm wegnehmen, weil er etwas tut, was eigentlich nicht legal ist.
Die Entdeckung der Gold- und Silbermünzen in der Decke des für Line Hübner hergerichteten Zimmers lässt sein Sammlerherz wieder höher schlagen. Obwohl Münzen nicht eigentlich zu seinem Spezialgebiet gehören, besitzt er offensichtlich ausgezeichnete numismatische Kenntnisse und geht bei der Bergung dieses Schatzes "systematisch" (131) und mit gewohnter Präzision vor. Es geht um "Sortieren, "Zählen", "Wiegen", "Nachrechnen", "Häufchen von je hundert machen" und schließlich darum, "pedantisch" eine "Liste" anzulegen, um die wertvollen Stücke genau zu erfassen. (131) Im Zweifelsfalle bedient man sich einer "Lupe" (ebd.), um Schriften und sonstige Hinweise auf den Münzen entziffern zu können. Als Fachmann der Numismatik kann Walter Eggers genau zwischen dem bloßen "Metallwert" (150) und dem ideellen bzw. dem Sammlerwert unterscheiden, d. h. er erkennt, dass die kostbaren Stücke "von einzigartiger privathistorischer und numismatischer Bedeutung" sind (150). Im Unterschied zu seinen Staatshandbüchern denkt er allerdings in diesem Bereich - wie Karl und Frieda - ganz pragmatisch. Hier geht es ihm im Grunde nur um den materiellen Wert, konkret: um das Geld, das er bei einem Verkauf herausschlagen kann. Um dieses Geschäft möglichst vorteilhaft abzuwickeln, bringt er dem Käufer Dr. Dettmering gegenüber, der "bloß Numismatiker" (145) ist und den historischen Hintergrund überhaupt nicht einschätzen kann, seine Kenntnisse als Historiker und Philologe wirkungsvoll zur Geltung. Er zeigt sich also in jeder Hinsicht als "Fachmann" (145), und davon profitiert auch Frieda, die von ihm höchst beeindruckt ist. In arroganter Selbstüberheblichkeit bemerkt er zu Frieda: "Ich kann keinen Menschen achten, der nicht hannoversche Staatshandbücher sammelt." (146) Und Frieda pflichtet ihm voller Stolz bei: "Ohne Deine Kenntnisse hätten wir längst nich das rausgeholt!" (152) Der Roman schließt mit einer leidenschaftlichen Bettszene, aber Walters letzter Gedanke gilt denn doch seinen geliebten Staatshandbüchern, für deren Registrierung er über ein verschiedenfarbiges Ordnungssystem nachdenkt. (Vgl. 163)
Strategien der Selbstbehauptung
Wie bereits mehrfach erwähnt, geht es hierbei nicht (mehr) um die Überlebensstrategien der unmittelbaren Nachkriegszeit (vgl. Der zeitgeschichtliche Hintergrund, S. 3 ff.), in der viele Menschen sich in einer akuten Notsituation befanden und damit beschäftigt waren, sich mit den wichtigsten lebenserhaltenden Gütern zu versorgen. Inzwischen - d. h. Mitte der Fünfziger Jahre - hat sich das Konzept der sozialen Marktwirtschaft durchgesetzt, nach dem Motto "Arbeit und Wohlstand für alle". Für breite Bevölkerungsschichten in Westdeutschland gehört die akute Not inzwischen der Vergangenheit an. Aber mit der sozialen Marktwirtschaft gewinnt auch der Kapitalismus und das Gewinnstreben an Boden. Es geht darum, sich in einer Gesellschaft zu behaupten, in der Konkurrenzstreben eine treibende Kraft des wirtschaftlichen Aufschwungs geworden ist.
Wenn man sich darüberhinaus ein gewisses Maß an Luxus erlauben will, so geht das - nach der Lebensphilosophie eines Walter Eggers - nicht nach dem Rezept "Ehrlich währt am längsten". Man passt sich vielmehr den inoffiziellen Spielregeln an, nach denen diese Gesellschaft funktioniert. Und das bedeutet, dass man gesetzliche Vorgaben zwar formal beachtet, sie aber nicht zur Richtschnur seines Handelns macht. Wenn man erfolgreich sein will, muss man sich auch außerhalb der Legalität bewegen können, freilich: ohne dass die Vertreter der Justiz, Staatsorgane, Behörden und sonstige Ordnungshüter es merken. Das heißt: Man begeht Diebstahl, Betrug und Urkundenfälschung auf so raffinierte Weise, dass es gar nicht auffällt, und führt im übrigen das unspektakuläre Leben eines Biedermannes, der sich aber nicht selbst übers Ohr hauen lässt. Dies ist die Strategie des Ich-Erzählers im Roman, und sie funktioniert problemlos vom Anfang bis zum Ende.
Hinzu kommt noch die Fähigkeit, seine wahren Absichten zu verheimlichen, zu verschleiern und nur häppchenweise mit der Wahrheit herauszurücken, wenn er darin einen Vorteil erkennt. Darüberhinaus kommt ihm seine überragende Intelligenz sehr zustatten, mit der er problemlos alle Hürden und Hindernisse aus dem Wege räumt, und sein Geschick, sich zu verstellen, zu untertreiben oder besserwisserisch aufzutrumpfen und seine Gegner zu verunsichern, ganz wie es die jeweilige Situation erfordert. Er spielt häufig mit gezinkten Karten, beherrscht dieses Spiel aber so raffiniert und perfekt, dass seine Gegner sich bluffen und in die Defensive drängen lassen. Er präsentiert sich nicht nur als "Fachmann", der sich jeder Situation gegenüber gewachsen zeigt, aus der er Profit für sich schlagen kann (wie der vorige Abschnitt gezeigt hat), sondern er beherrscht darüberhinaus die ganze Klaviatur des Bluffens, Täuschens und Tricksens, wobei er nie seine Ziele aus den Augen verliert und immer die Selbstkontrolle bewahrt.
Aus solchen Überlegungen lässt sich an dieser Stelle schon der wichtige Kerngedanke ableiten, dass nach den Auffassungen eines Walter Eggers Lügen und Betrügen in der kapitalistisch geprägten Gesellschaft der Mittfünfziger Jahre sozusagen zum Handwerkszeug des kleinen Mannes gehören und dass einer, der mit echter Münze zahlt, nie auf einen grünen Zweig kommen kann. Im übrigen machen nach diesem Argumentationsmuster die Herren von Politik und Wirtschaft es einem ja vor, wie man in viel größerem Ausmaß täuscht und betrügt und dabei ganz ungeschoren bleibt.
Ein Mann wie Walter Eggers begibt sich nicht unvorbereitet in ein ungewisses Abenteuer hinein. Er hat seine Unternehmungen vielmehr mit Hilfe von akribisch durchgeführten Recherchen in Archiven und Bibliotheken und anhand selbst erstellter Karten, Pläne und Skizzen auf das genaueste vorbereitet. Bei der Durchführung lässt er sich Zeit. Ihn treibt nichts an. Er ist vorsichtig und agiert nach einem vorher entworfenen, in allen Einzelheiten
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- Citar trabajo
- Hans-Georg Wendland (Autor), 2012, Zeitgeschehen und Zeitkritik in "Das Steinerne Herz" von Arno Schmidt - Analyse ausgewählter thematischer Schwerpunkte - Teil II, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/190990
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