1.1 Einführung in die Thematik
Das Konsumgut Automobil wird wie kein Zweites zur öffentlichen Inszenierung seines Besitzers genutzt. Besonders in Deutschland ist es als Ausdruck der Persönlichkeit emotional hoch besetzt. So beschreiben Leggewie/Welzer:
„Das Auto ist Identifikation für Belegschaften, die „beim Daimler“ schaffen; Orte wie Wolfsburg oder Detroit sind industrielle Monokulturen. Automobile strahlen immer noch – man betrachte die Jungs-Abteilungen der Spielzeugetagen – eine nachhaltige technische und ästhetische Faszination aus. Die vier Räder stehen für das Ingenieurswissen ganzer Nationen, die sich im Grand Prix austoben können. Das Auto ist, obwohl es ein Dino der Moderne ist, der Hauptindikator sozialen Fortschritts,… ein unschlagbares Statussymbol und genauer Reputationsindex.“
Aus diesem Grund versuchen Automobilkonzerne, die mit dem Automobil verbundene Erlebniswelt als Kaufkriterium in den Fokus zu rücken. Dies legt die Vermutung nahe, dass soziale Milieus und die damit verbundenen Lebensstile eng mit den individuellen Erfahrungen der Besitzer, bezogen auf das Fahrzeug, verknüpft sind.
Betrachtet man das Konsumgut Auto hinsichtlich der jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen, lassen sich schnell zwei Hauptentwicklungen herauskristallisieren, die das Konsumverhalten von Besitzern von Automobilen beeinflussen. Zum einen ist zu vermuten, dass durch die Effekte der Weltwirtschaftskrise 2008/09 eine Veränderung der Lebenswelten der sozialen Milieus stattgefunden hat und diese Veränderung jeweils spezifische Auswirkung auf das Konsumverhalten der Angehörigen der verschiedenen Milieus hat. Zum anderen stehen die Automobilkonzerne durch die immer schnellere Entwicklung der alternativen Antriebsformen einem Paradigmenwechsel bezüglich der vorherrschenden Antriebstechnologien gegenüber.
Diese Entwicklungen zeigen sich verstärkt in den Milieus der Oberschicht, da gerade diese gesellschaftlichen Leitmilieus in Bezug auf neue Entwicklungen die stärksten Potenziale für Veränderungen aufweisen. Aus diesem Grund bilden sie den Schwerpunkt dieser Arbeit.
Zusammenfassend stellt sich somit die Frage welche Auswirkungen die Weltwirtschaftskrise 2008/09 auf das Konsumverhalten der gesellschaftlichen Leitmilieus in Hinblick auf die Einstellung zu alternativen Antrieben hat. Diese Fragestellung soll im Folgenden untersucht wer-den.
Inhaltsverzeichnis
II Abkürzungsverzeichnis
III Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
1.2 Problemstellung
1.3 Zielstellung der Arbeit
2. Die Sozialen Milieus
2.1 Die historische Entwicklung des Konzeptes Soziale Milieus
2.2 Was sind soziale Milieus?
2.3 Die Sinus-Milieus
2.3.1 Theoretische Grundlagen der Sinus Milieus
2.3.2 Methodik der Sinus-Milieus
2.4 Kritik an dem Konzept der Sozialen Milieus
2.5 Die Sinus-Milieus in Deutschland
2.6 Identifikation der gesellschaftlichen Leitmilieus Milieus in Deutschland
2.6.1 Die Etablierten
2.6.2 Die Postmateriellen
2.6.3 Moderne Performer
3. Das Konsumverhalten und Soziale Milieus
3.1 Das Konsumverhalten und die gesellschaftlichen Leitmilieus
3.2 Historische Grundlagen der Konsumgesellschaft
3.3 Vehlens Konsumkritik und die Theorie der feinen Leute
3.4 Der DemonstrativeKonsum
4. Das Konsumverhalten vor der Weltwirtschaftskrise 2008/09
4.1 Fahrzeuge mit alternativen Antriebsformen als demonstratives Konsumgut
4.2 Übersicht der alternative Antriebsformen im Automobilsektor
4.3 Das Konsumverhalten der Milieus der Oberschicht vor der Weltwirtschaftskrise 2008/09
4.3.1 Die Etablierten
4.3.2 Die Postmateriellen
4.3.3 Die Modernen Performer
4.4 Die Akzeptanz fur alternative Antriebsformen vor der Weltwirtschaftskrise 2008/09
4.4.1 Die Etablierten
4.4.2 Die Postmateriellen
4.4.3 Die Modernen Performer
5. Das Konsumverhalten nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09
5.1 Die Weltwirtschaftskrise 2008/09
5.2 Das Konsumverhalten der Milieus der Oberschicht nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09
5.2.1 Die Etablierten
5.2.2 Die Postmateriellen
5.2.3 Die Modernen Performer
5.3 Die Akzeptanz fur alternative Antriebsforme nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09
5.3.1 Die Etablierten
5.3.2 Die Postmateriellen
5.3.3 Die Modernen Performer
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1. Der Konsum als Element der Alltagswelt
Abb. 2. Fotodokumentation am Beispiel des Milieus der Modernen Performer in Deutschland
Abb. 3. Die Sinus-Milieus am Beispiel Deutschland
Abb. 4. Die Etablierten
Abb.5. Die Postmateriellen
Abb. 6. Die Modernen Performer
Abb. 7. Veblen-Effekt
Abb. 8. Der demonstrative Konsum als Instrument zur Milieuverortung
Abb. 9. Übersicht alternative Antriebsformen
Abb. 10. Umweltbezogene Wertorientierungen des Milieus der Etablierten
Abb. 11. Zahlungsbereitschaft für klimaverträglichere Produkte
Abb. 12. Umweltbezogene Wertorientierungen des Milieus der Postmateriellen
Abb. 13. Zahlungsbereitschaft fürumweltverträgliche Produkte bei Postmateriellen
Abb. 14. Umweltbezogene Wertorientierungen des Milieus der Modernen Performer
Abb. 15. Prognose Wirtschaftswachstum 2009/2010
Abb. 16. Veränderung des BIP und die Auswirkung auf die Arbeitslosenzahlen
Abb. 17. Bedeutungsverschiebungen nach der Weltwirtschaftskrise 2008/2009
Abb. 18. Aufteilung des Konjunkturpaketes II der deutschen Bundesregierung 2008/09
Abb. 19. Verbraucher, die 2010 von der Krise betroffen sind
1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
Das Konsumgut Automobil wird wie kein Zweites zur öffentlichen Inszenierung seines Besitzers genutzt. Besonders in Deutschland ist es als Ausdruck der Persönlichkeit emotional hoch besetzt.[1] So beschreiben Leggewie/Welzer:
„Das Auto ist Identifikation für Belegschaften, die „beim Daimler“ schaffen; Orte wie Wolfsburg oder Detroit sind industrielle Monokulturen. Automobile strahlen immer noch - man betrachte die Jungs-Abteilungen der Spielzeugetagen - eine nachhaltige technische und ästhetische Faszination aus. Die vier Räder stehen für das Ingenieurswissen ganzer Nationen, die sich im Grand Prix austoben können. Das Auto ist, obwohl es ein Dino der Moderne ist, der Hauptindikator sozialen Fortschritts,... ein unschlagbares Statussymbol und genauer Reputationsindex. “[2]
Aus diesem Grund versuchen Automobilkonzeme, die mit dem Automobil verbundene Erlebniswelt als Kaufkriterium in den Fokus zu rücken. Dies legt die Vermutung nahe, dass soziale Milieus und die damit verbundenen Lebensstile eng mit den individuellen Erfahrungen der Besitzer, bezogen auf das Fahrzeug, verknüpft sind.
Betrachtet man das Konsumgut Auto hinsichtlich der jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen, lassen sich schnell zwei Hauptentwicklungen herauskristallisieren, die das Konsumverhalten von Besitzern von Automobilen beeinflussen. Zum einen ist zu vermuten, dass durch die Effekte der Weltwirtschaftskrise 2008/09 eine Veränderung der Lebenswelten der sozialen Milieus stattgefunden hat und diese Veränderung jeweils spezifische Auswirkung auf das Konsumverhalten der Angehörigen der verschiedenen Milieus hat. Zum anderen stehen die Automobilkonzeme durch die immer schnellere Entwicklung der alternativen Antriebsformen einem Paradigmenwechsel bezüglich der vorherrschenden Antriebstechnologien gegenüber.
Diese Entwicklungen zeigen sich verstärkt in den Milieus der Oberschicht, da gerade diese gesellschaftlichen Leitmilieus in Bezug auf neue Entwicklungen die stärksten Potenziale für Veränderungen aufweisen.[3] Aus diesem Grund bilden sie den Schwerpunkt dieser Arbeit.
Zusammenfassend stellt sich somit die Frage welche Auswirkungen die Weltwirtschaftskrise 2008/09 auf das Konsumverhalten der gesellschaftlichen Leitmilieus in Hinblick auf die Einstellung zu alternativen Antrieben hat. Diese Fragestellung soll im Folgenden untersucht werden.
1.2 Problemstellung
In der wissenschaftlichen Debatte der letzten Jahre entstanden verschiedene Werke, die sich mit dem Konsumverhalten und der Marktsegmentierung in der Automobilindustrie beschäftigen, wie zum Beispiel Beisswenger (2007) zu den Auswirkungen des demografischen Wandels auf das Automobilmarketing. Dabei bedienten sich die verschiedenen Autoren der Analyse der Kundenstruktur von Automobilmarken unter anderem des Konzeptes der sozialen Milieus, wie beispielsweise Ohle (2007) über die Marktsegmentierung im Automobilmarkt sowie Förster (2009) über die Lebensstile als Instrument der Marktsegmentierung.[4]
Der Ursprung des Konzeptes der sozialen Milieus und der damit verbundenen Analyse liegen hierbei in der Sozialforschung, die die Thematik seit Mitte der 1980er Jahre kontrovers diskutiert. Angestoßen durch die Arbeiten von Pierre Bourdieu (1984) zu den „feinen Unterschieden“ der französischen Gesellschaft einerseits und durch Ulrich Becks (1983, 1986) viel diskutierte Thesen zur intensivierten Individualisierung in der westdeutschen Wohlfahrts- und Wohlstandsgesellschaft andererseits, wurde nun immer öfter die Frage aufgeworfen, in welcher Gesellschaft wir nun eigentlich leben. Dabei kristallisierten sich neben der klassischen Auffassung von einer Klassen- oder Schichtengesellschaft, vertreten von Rainer Geißler (1992) auch die Ansätze einer Ordnung der Gesellschaftsstruktur nach sozialen Milieus von Ueltzhöffer/Flaig (1993) heraus.
Der Ausgangspunkt fur die hierzu gehörende wissenschaftliche Debatte ist, dass sozioökono- mische Gegebenheiten zur Einordnung von Akteuren in die heutige postmoderne Gesellschaft an Bedeutung verlieren. Daher ist es unstrittig, dass nach wie vor Unterschiede bei Armut und Benachteiligung, bezogen auf die berufliche Stellung als Arbeiter, Angestellter oder Unternehmer bestehen.[5]
Die Kriterien der Sozialstrukturanalyse treten somit immer stärker in den Hintergrund. Statt - dessen kategorisieren die Mitglieder der Gesellschaft sich oder andere nach ihrem Freizeit- und Konsumverhalten (Siehe hierzu die „Erlebnisgesellschaft“ von Schulze (1992)). Besonders deutlich treten dabei die Dimensionen des Konsums hervor[6].
In Folge der oben angegebenen Veränderungen entstanden verschiedene Modelle, die die sozialen Milieus als Instrument zur Beschreibung von gesellschaftlichen Veränderungen nutzen. In die Unternehmen der Automobilbranche hielt das Konzept der sozialen Milieus insbesondere Eingang über das Modell des Marktforschungsinstituts Sinus, mit deren Hilfe die Unternehmen ihre Kunden in die sozialen Milieus verorten und somit eine effizientere Vermarktung ihrer Produkte zu erreichen hoffen.
1.3 Zielstellung der Arbeit
Im Rahmen dieser Arbeit soll mit Hilfe des wissenschaftlich fundierten Ansatzes des Sinus Instituts, der auf den theoretischen Arbeiten von Ueltzhöffer/Flaig beruht, das Konzept der sozialen Milieus genutzt werden, um die Veränderungen des Konsumverhaltens der gesellschaftlichen Leitmilieus unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise 2008/09 zu untersuchen. Dabei werden für die Analyse dieser Thematik drei Hypothesen aufgestellt.
Hypothese 1
Die Krise bewirkt eine Entwicklung hin zu einer stärkeren Akzeptanz für alternative Antriebe, da die Effekte der Krise einen Wandel bezüglich der Anforderungen an das Konsumgut und Statussymbol Auto bewirkt haben. Nicht mehr ein möglichst leistungs- und verbrauchsstarkes Fahrzeug verspricht den erstrebten Prestigegewinn, sondern ein möglichst ökologisches, verbrauchsarmes und damit nachhaltiges Automobil mit alternativem Antrieb.
Hypothese 2
Die Krise wirkt der Entwicklung hin zu einer stärkeren Akzeptanz für alternative Antriebe entgegen, da die Effekte der Krise zu einem stärkeren Kostenbewusstsein und einer geringeren Risikobereitschaft der gesellschaftlichen Leitmilieus geführt haben. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist ein Rückzug auf „Bewährtes “ zu beobachten und somit ist mit einer sinkenden Aufpreisbereitschaft für alternative Antriebsformen zu rechnen.
Hypothese 3
Die Krise hat keine Auswirkungen auf die Entwicklung der Akzeptanz für alternative Antriebe, da die gesellschaftlichen Leitmilieus aufgrund ihrer stabilen finanziellen Situation keine negativen Auswirkungen der Krise verspüren.
Soziale Milieus bieten tiefergehende Analysepotenziale als die „klassischen Theorien“ zur Sozialstruktur, da sie zur Antizipation der Entwicklung oder Veränderung von Verhaltensweisen oder Verhaltensmustem, wie zum Beispiel des Konsumverhaltens, die Betrachtung des Einzelnen in der Gesellschaft um die Analyse seiner Alltagswelt erweitern.
Für die Betrachtung des Konsumverhaltens beschrieb Thorstein Vehlen grundlegend spezifische Motive für das Handeln der gesellschaftlichen Oberschicht besonders im Hinblick auf das Konsumverhalten. Diese Effekte werden durch die Individualisierung in der Postmoderne noch verstärkt. Somit bildet das Konzept des demonstrativen Konsums eine hervorragende Möglichkeit zur Analyse des Konsumverhaltens der gesellschaftlichen Leitmilieus. Aus diesen theoretischen Vorüberlegungen ergibt sich folgender Aufbau für die vorliegende wissenschaftliche Arbeit.
Teil 2 umfasst die historischen und methodischen Grundlagen des Konzeptes der sozialen Milieus. Des Weiteren werden die konzeptionellen Vorteile des Milieuansatzes des SinusInstitutes für die Analyse des Konsumverhaltens herausgearbeitet, um schließlich die gesellschaftlichen Leitmilieus nach Sinus vorzustellen.
In Teil 3 folgt die Darstellung der historischen Entwicklung des Konzeptes des demonstrativen Konsums anhand der Theorie der feinen Leute von Thorstein Vehlen. Dabei soll beson- ders die Relevanz des Konzeptes des demonstrativen Konsums für die Ein- und Abgrenzung der gesellschaftlichen Leitmilieus in der Gesellschaft der Postmoderne thematisiert werden.
In Teil 4 werden einleitend die alternativen Antriebe und ihre möglichen zukünftigen Perspektiven für die Automobilindustrie vorgestellt. Daran schließt sich die Analyse des spezifischen Konsumverhaltens der gesellschaftlichen Leitmilieus an, um daraufhin die Auswirkungen auf die Akzeptanz von alternativen Antriebsformen vor der Weltwirtschaftskrise 2008/09 zu untersuchen.
Teil 5 umfasst die Beschreibung des Verlaufs sowie der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das Konsumverhalten der gesellschaftlichen Leitmilieus, um daraus schlussfolgernd die Veränderungen bezüglich der Akzeptanz von alternativen Antriebsformen in den gesellschaftlichen Leitmilieus herauszuarbeiten zu können.
Im Fazit erfolgt die Untersuchung der Ergebnisse der Analyse aus Teil 3 hinsichtlich der drei aufgestellten Hypothesen.
2. Die Sozialen Milieus
2.1 Die historische Entwicklung des Konzeptes Soziale Milieus
Soziale Milieus sind nicht nur eine Kategorie der Sozialwissenschaften. Auch im Alltag wird eine Gruppierung von Menschen, die in ähnlichen Umständen lebt und ähnliche Denk- und Verhaltensmuster aufweist, als „soziales Milieu“ bezeichnet. Meistens wird dabei mit dem Milieu-Begriff auf soziale Vor- und Nachteile verwiesen, wodurch auf kulturelle Unterschiede zwischen den Gruppierungen aufmerksam gemacht werden soll. Daher kommt die alltagssprachliche Verwendungsweise des Milieubegriffs den sozial wissenschaftlichen Definitionen recht nahe.[7]
Die Tradition des Milieukonzepts reicht bis in die französische Aufklärung zurück, als man sich bemühte, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften, die wesentlichen Einwirkkräfte auf die menschliche Existenz rational zu erfassen. Bereits in dieser Zeit gingen viele Überlegungen davon aus, dass nicht nur ererbte Anlagen, sondern auch äußere Einflüsse wesentliche Faktoren zur Untersuchung menschlichen Daseins sind. Vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Milieubegriff immer häufiger verwendet, man verstand unter Milieus damals neben sachlichen Gewohnheiten auch immer mehr die jeweiligen Menschen im direkten sozialen Umfeld. Sogar die individuellen Sichtweisen wurden in die Definition mit einbezogen. Diese Ausweitung im Sinne einer „Soziologisierung“ und „Subjektivierung“ des Milieubegriffs folgte dem Vordringen von Modernisierung und Industrialisierung in traditionelle Lebenswelten[8], so dass in deren Folge auch Merkmale oder Aspekte wie der Konsum zur Ka- tegorisierung der eigenen Lebenswelt herangezogen wurden (Siehe Abbildung 1), um die jeweilige individuelle Verortung in die durch die Industrialisierung im nachhaltigen Wandel befindliche Gesellschaft zu ermöglichen. Resultat ist eine Differenzierung der Milieus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, da das Erleben und Umgehen mit der neuen Industriewelt sich sehr unterschiedlich gestaltete, je nachdem welcher Arbeitswelt, Wohnumgebung, Konfession, Region etc. die Menschen angehörten.[9]
Nach dem zweiten Weltkrieg geriet der Milieubegriff mit der vollen Durchsetzung der Industriegesellschaft in den Hintergrund. Es wurde mehr und mehr unterstellt, dass vor allem andere Strukturen, wie Klassen und Schichten, die moderne Erwerbssphäre und die industrielle Ar- beitswelt die Lage und das Leben der Menschen prägten. Eine Ausnahme bildet hier Helmut Schelsky. Er veröffentlichte bereits in den fünfziger Jahren mehrere Arbeiten, in denen er die Auffassung vertrat, dass man zumindest für die deutsche Bevölkerung von einem „Entschich- tungsvorgang“ ausgehen müsse, in dessen Folge die vertikale Komponente aufgrund der Nivellierung der sozialen Schichten an Sichtbarkeit verloren hat[10].
Abb. 1. Der Konsum als Element der Alltagswelt
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In den sechziger und siebziger Jahren gingen Sozialwissenschaftler davon aus, dass das Denken und Verhalten der Menschen von ihrer Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit geprägt seien. In Soziologie, Politikwissenschaft, Publizistik etc. war dies die Zeit der „schichtspezifischen“ Sozialisation. Sprache usw. Milieubegriffe „passten“ nicht gut in die Realität und noch weniger in die damaligen Vorstellungen, die eine ökonomisierte, standardisierte, materiell determinierte Industriegesellschaft erkannten. So wurde der Milieubegriff von der Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre hinein wenig benutzt.[11]
In den USA begann eine intensivere Auseinandersetzung mit der Lebensstilforschung Ende der 70er Jahre[12]. In deren Mittelpunkt stand eher eine Beschreibung von Alterskohorten, die sich durch unterschiedliche Verhaltensweisen auszeichneten. Ein Beispiel dafür sind Generationseffekte, die sich jenseits von Klasse und Schicht in neuen kulturellen Präferenzen, wie Musik und Literatur, niederschlugen. Je weiter sich das Indikatorenspektrum ausdehnte, umso schwieriger wurde es, die vielen Beobachtungen auf einen gemeinsamen Kern zurückzufuh- ren[13]. In diesem Zusammenhang spricht Müller auch von der „Pluralisierung des Ungleichheitsparadigmas“[14].
Angestoßen durch diesen Prozess entwickelte sich auch in Deutschland ein intensiver wissenschaftlicher Diskurs. Dieser wurde einerseits durch die Arbeiten von Pierre Bourdieu (1984) zu den „feinen Unterschieden“ der französischen Gesellschaft und andererseits durch Ulrich Becks (1983, 1986) viel diskutierte Thesen zur intensivierten Individualisierung in der westdeutschen Wohlfahrts- und Wohlstandsgesellschaft beeinflusst. Somit gab es seit den 1980er Jahren zahlreiche Anstrengungen, zunächst die westdeutsche, dann aber auch die ostdeutsche und später die gesamtdeutsche Sozialstruktur mit Lebensstil- und Milieuansätzen zu beschreiben.
Ganz im Gegensatz zu Beck kann die Analyse von Bourdieu als konsequente Aufkündigung der Antagonie von Individuum und Gesellschaft gesehen werden. Er betrachtet das Handeln der Menschen hauptsächlich unter dem Aspekt der Relationen, und diese Relationen werden zu einem Großteil aus strategischer Perspektive beurteilt[15]. Demnach ist Bourdieus strukturierter sozialer Raum also weit mehr als ein einfacher Rahmen, um die gesellschaftliche Schichtung auszudrücken. Mit dem Konzept des Habitus schafft Bourdieu eher eine Art vermittelnde Ebene zwischen dem „Sein und Bewusstsein“, durch den die Milieus auf eine spezifische Weise hervorgebracht werden[16]. Die äußeren materiellen Lebensbedingungen und die subjektiven Neigungen der Akteure - wie ästhetische, kognitive und körperliche Praktiken - die Bourdieu oft als verinnerlichten, nicht hinterfragten Geschmack bezeichnet, sind miteinander verknüpft, „aber dieser Zusammenhang ist kein mechanischer, diese Beziehung ist nicht direkt“[17]. Die Milieus sind aktiv beeinflusst, jedoch durch einen Vorgang „jenseits des Be- wusstseins wie des diskursiven Denkens“[18]. Soziale Praxis ist deshalb „kein bloßes Produkt mechanischer Bestimmungsfaktoren des Milieus, sondern Resultat einer Alchimie, eines Umwandlungsprozesses“[19]. Bezogen auf den Konsum lässt sich somit attestieren, dass jedes Mal, wenn ein Akteur entscheidetl ob er ein Konsumgut erwerben soll oder nicht, er keine rein individuellen Entscheidungen trifft. Die Entscheidung wird immer auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wahmehmungs- und Bewertungsschemata getroffen. Nach Honneth sind diese als positionsbedingte Nutzenkalküle zu verstehen und immer vorhanden, wenngleich auch nicht bewusst[20]. Milieus bilden somit die von Vehlen beschriebenen Effekte der Ein- und Abgrenzung zwangsläufig aus.
Im Gegensatz dazu fußt die Individualisierungstheorie von Ulrich Beck auf der Feststellung, dass sich traditionelle Großgruppen- oder Klassenmilieus auflösen oder zumindest an Bedeutung verlieren und dass auch die Zusammengehörigkeit innerhalb von Familien sich zunehmend lockern wird. Dadurch wächst die Verantwortung für die Individuen hinsichtlich ihres Selbstverständnisses und ihrer Lebensgestaltung, was möglicherweise auch Chancen eröffnen kann durch die positiven Möglichkeiten, welche eine „neue Freiheit“ mit sich bringt. So können unter den Individuen der Gesellschaft neue Zusammenhänge entstehen, nun aber „jenseits von Klasse und Schicht“[21] als Muster „neuer soziokultureller Gemeinsamkeiten“[22]. Dies geschieht auf der Grundlage bestimmter, über den Strukturen stehender Interessen und diese Zusammenhänge haben einen relativ kurzlebigen und schnell veränderbaren Charakter. Somit wird Identität nicht mehr durch Klasse und Schicht „gestiftet“, sondern muss von den Individuen reflexiv hergestellt werden[23].
Nach diesem Erstarken der Milieuperspektive in den 1980er Jahren, bedingt durch die weit verbreitete Illusion der „immerwährenden Prosperität“, wurde sie im Laufe der neunziger Jahre durch eine realistischere Sicht ersetzt. Ergebnisse verschiedener empirischer Studien zeigten, dass Milieus nicht unabhängig von Berufs-, Einkommens- und Bildungshierarchien bestehen konnten. Grund dafür war die Stagnation der Ökonomie in dieser Zeit und eine dadurch verursachte Rückbesinnung auf die berufliche Stellung, das Einkommen und den Bil- dungsgrad als Prägefaktoren für das Alltagsleben der Menschen[24]. Besonders in der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung hatten sich Milieu und Lebensstilparadigmen so stark etabliert, dass im Falle der Sinus-Milieus sogar länderübergreifende Meta-Milieus konstruiert wurden.
2.2 Was sind Soziale Milieus?
In der Sozialforschung werden unter sozialen Milieus normalerweise Gruppen Gleichgesinnter verstanden, die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen[25]. Somit gestalten und interpretieren Angehörige desselben Milieus ihr Umfeld in ähnlicher Weise und grenzen sich dadurch auch von anderen sozialen Milieus ab. Im Kem lässt sich diese Tatsache also auf „psychologisch tief sitzende“ Dispositionen zurückführen[26]. Spezifische Milieus wie zum Beispiel Organisations- oder Berufsmilieus zeichnen sich zudem über einen inneren Zusammenhang aus, der sich in verstärkten Binnenkontakten und einem spezifischen Wir-Gefuhl widerspiegelt[27]. Schon in den frühen 1970er Jahren äußerte sich M.R. Lepsius über die Kategorie des „sozialmoralischen Milieus“:
,,Der Begriff des sozialmoralischen Milieus hat gegenüber dem Klassenbegriff den Vorteil eines explizit weiter gesteckten Bezugrahmens. Ich verwende ihn hier als Bezeichnung für soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Traditionen, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, sichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet wurden. Das Milieu ist ein soziokulturelles Gebilde, das durch eine spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf einen bestimmten Bevölkerungsteil bestimmt wird.“[28]
In den späten 1980er Jahren greift Karl-Heinz Naßmacher in den Oldenburger-Studien die Konstruktion von Lepsius wieder auf und definiert die Kategorie der Milieus nicht nur auf der gesamtgesellschaftlichen, sondern auch auf der regionalen Ebene. Bei der Konstruktion sozialer Milieus auf der Ebene der Gesamtgesellschaft erhält die Kategorie den Charakter eines von der sozialen Wirklichkeit abgehobenen idealtypischen Modells. Der Versuch einer empi- rischen Verifizierung mit den Methoden der Statistik führt zu Strukturarrangements diverser ökonomischer, sozialer, politischer und soziokultureller Variablen, deren qualitative Relevanz außerdem einer Überprüfung durch die historische Anschauung bedarf.[29]
Daraus folgt für die Analyse der konkreten Lebensverhältnisse und der in ihr agierenden Gruppen und Personen, dass man die Untersuchung um die Instrumente der teilnehmenden Beobachtung und Befragung erweitern muss, um eine Verortung in Milieus vornehmen zu können. Somit erscheinen die ökonomische Struktur und soziale Schichtung, das Handeln politischer Eliten und Parteien, Formen des Zusammenlebens und Kommunikationsstrukturen, soziale, ideelle und religiöse Prägungen nicht als „Korrelationen“ sozialstaatlicher „Daten“, sondern als der verstehbare Lebenszusammenhang konkreter Menschen. Das soziale Milieu wird durch diese Erweiterung in seiner Anschaulichkeit unmittelbar einsichtig. Diese „ganzheitliche Betrachtungsweise“ umgeht somit die methodischen Probleme, die bei der mit Mitteln der Sozialstatistik vorgenommenen empirischen Konstruktion von Milieus unausweichlich sind[30]. Diese ganzheitliche Betrachtungsweise wird mit Hilfe der Sinus- Milieus in verschiednen Gesellschaften angewandt, wie zum Beispiel für die Gesellschaft Bundesrepublik Deutschland.
2.3 Die Sinus-Milieus
In Marketing- und Media- Plänen von verschiedensten Akteuren der Wirtschaft werden nach wie vor rein demografische Zielgruppen ermittelt, die meistens nur um einige gesonderte, den Lebensstil betreffende Merkmale erweitert werden. Für die Zielgruppendefinition hat es sich aber bewährt, dass neben demografischen Variablen und Markenpräferenzen auch Alltagsgewohnheiten, Umgebungsbedingungen, Motive und Bedürfnisse, vor allem aber grundsätzliche Werte, Lebensziele, Einstellungen und ästhetische Orientierungen mit in die Betrachtung des individuellen Verhaltens von Konsumenten einbezogen werden.[31]
Ansonsten kann nicht beschrieben werden, zu welchen Lebensleitbildem die Markenpositionierung passt und wo Chancen und Risiken für Wachstum liegen. Markenpräferenzen bzw. Kaufakte sind mehr dennje ein reflexartige Reaktion der sozialen und kulturellen Identität der Menschen. Deren Werte sowie sozial- und gesellschaftspolitischen Grundeinstellungen, beispielsweise Umwelt- oder Gesundheitsbewusstsein, das Bestreben sich von anderen zu unterscheiden oder sich anzupassen, demonstrieren die Identifikation mit vorgegebenen oder eigenen Ansprüchen, das Bekenntnis zum Genuss oder die bewusste Entscheidung für die Verweigerung. Selbst unter Billigstangeboten gibt es heute die Möglichkeit zu wählen.[32]
Alltagsbewusstsein und Alltagsverhalten in hoch entwickelten Konsumgesellschaften werden nicht mehr durch schichtbezogene Variablen, wie beispielsweise Einkommen, Beruf, Lebensstandard, sozialer Status usw., bestimmt, sondern vielmehr durch die alltagsästhetischen Beziehungsentscheidungen der Menschen und durch die grundlegenden und außerordentlich vielfältigen Wertorientierungen, auf die sie schließen lassen. Darüber hinaus entscheiden so- ziokulturelle und alltagsästhetische Identitätsfindungen in der heutigen Zeit nicht nur über Lebensweise, Kommunikationsmuster, Konsumziele etc. des Einzelnen und von Gruppen, sondern prägen zunehmend auch die strukturellen Merkmale von Gesellschaften.[33] Aus diesem Grund bilden die Sozialen Milieus, auf Grundlage des Sinus-Institutes, die zentralen Untersuchungskategorien für die Analyse des Konsumverhaltens und die Untersuchung der Akzeptanz von alternativen Antrieben.
2.3.1 Theoretische Grundlagen der Sinus Milieus
Um derartige Strukturmuster und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen, auf Wirtschaft, Politik, Kultur und Konsum, im Grunde auf alle Lebensbereiche, sozialwissenschaftlich analysier- und beschreibbar zu machen, haben Ueltzhöffer und Flaig Ende der siebziger Jahre ihren Zugriff auf die Sozialen Milieus entwickelt, bzw. genauer, aus sozialästhetischer Perspektive neu konstruiert, und auf der Grundlage qualitativer Daten ein entsprechendes Gesellschaftsmodell, zunächst fur die Bundesrepublik Deutschland, entworfen[34]. 1981 erfolgte die erste Quantifizierung auf der Grundlage einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe. Soziale Milieus beschreiben Menschen mit jeweils charakteristischen Einstellungen und Lebensorientierungen. Sie fassen soziale Gruppen, also Menschen, zusammen, deren Wertorientierungen, Lebensauffassungen und Lebensweisen ähnlich sind.[35]
Die theoretischen Überlegungen von Ueltzhöffer und Flaig[36]
1. Die dem Schicht- bzw. Klassenmodell als dem Differenzierungsparadigma der Moderne zugrunde liegenden sozioökonomischen Lebensbedingungen werden in der Alltagswelt postindustrieller Gesellschaften in sehr unterschiedlichen ästhetischstilistischen Inszenierungen wirksam, sicht- und erfahrbar.
2. Gleiche sozioökonomische Lebensbedingungen produzieren im Alltag offensichtlich ungleiche Stilwelten.
3. Bestimmte Stilwelten scheinen sich losgelöst vom Schicht- bzw. Klassenzusammenhang und den ihn generierenden Merkmalen zu entfalten, während andere wiederum Schicht- bzw. klassenspezifischen sozialhierarchischen Linien folgen.
4. Die Unterschiedlichkeit von Lebensstilen ist fur die Alltagswirklichkeit von Menschen - und somit für die Prozesse subjektiver Sinnkonstitution - vielfach bedeutsamer als die Unterschiedlichkeit sozioökonomischer Lebensbedingungen.
5. Soziale Zugehörigkeit wird weniger von Schicht- bzw. klassenspezifischen Merkmalen geprägt als von Gemeinsamkeiten der grundlegenden Wertorientierungen, der Lebensweise und deren habituellen Grundmustem.
Das Milieumodell von Ueltzhöffer und Flaig bedeutete nicht nur für die empirische Markt- und Sozialforschung eine Wende, sondern erweiterte das soziologische Verständnis nachindustrieller Gesellschaften und deren spezifische Veränderungsdynamik überhaupt. Es hat seither in Wirtschaft und Wissenschaft nicht nur hohe Resonanz, sondern auch zahlreiche Nachahmer gefunden. Der erste wirtschaftliche Akteur, der sich dieses Modells bediente, war mit BMW ein Unternehmen der Automobilindustrie, die in den Folgejahren immer zahlreicher auf dessen Leistungsfähigkeit setzen sollte. Heute beteiligen sich fast alle großen internationalen Automobilhersteller aus Europa, Asien und Amerika an der weltweiten Milieuforschung. Sie lässt sich an nahezu allen Punkten der betrieblichen Wertschöpfungskette erfolgreich einsetzen, beispielsweise fur Produktentwicklung, Produkttests und -kliniken, Design, Marktsegmentierung, Lifecycle-Management, Markenfuhrung, Zielgruppen-Marketing und der gewerblichen Kommunikation.[37]
2.3.2 Methodik der Sinus-Milieus
Die Fähigkeit von Milieus, sowohl die Stabilität gesellschaftlicher Strukturen (Menschen ändern ihre grundlegenden Wertorientierungen und ihr Lebenswelt konstituierenden Zusammenhänge nicht im Jahresrhythmus), als auch deren spezifische Veränderungsdynamik abzubilden, machte das Milieumodell von Ueltzhöffer und Flaig zu einem der international erfolgreichsten Ansätze der soziokulturellen Marktsegmentierung.. Das ursprüngliche Milieumodell wurde daher auf der Grundlage umfangreicher qualitativer wie auch quantitativer Erhebungen kontinuierlich weiterentwickelt. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses standen und stehen auch weiterhin die Veränderungen der Alltagswelt (Arbeitsalltag, Freizeit, Urlaub, Konsum etc.) und deren subjektive Interpretation durch die Menschen selbst. Es gehörte von Anfang an zur methodischen Besonderheit der Milieuforschung, den Menschen durch nicht-direktive narrative Interviews möglichst frei und unbeeinflusst die Möglichkeit zu geben, ihre subjektive Wirklichkeit darzustellen.[38]
Sie erzählen selbst, was in ihrem Leben von Bedeutung ist, was ihnen weniger wichtig ist oder überhaupt nicht. Sie beschreiben die Alltagswelt aus einer persönlichen Perspektive, um zu zeigen, wie sich ihre subjektive Lebenswelt ästhetisch abbildet. Davon werden von den Forschungsinstituten in jenen Ländern, die nach Sozialen Milieus segmentiert werden, umfassende Fotodokumentationen angelegt (Siehe Abbildung 2). Diese liefern dann die Grundlage für die Entwicklung länderspezifischer Statement-Batterien, den so genannten „MilieuIndikatoren“, mit deren Hilfe man große repräsentative Stichproben nach Milieuzugehörigkeit segmentieren kann[39].
Abb. 2. Fotodokumentation am Beispiel des Milieus der Modernen Performer in Deutschland[40]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auf diese Weise identifizierte Ueltzhöffer bereits Mitte der 1980er Jahre ein damals neu entstehendes Milieu, das Neue Arbeitermilieu heute: Modernes Arbeitnehmermilieu, in welchem sich frühzeitig die veränderte Alltagswelt der heraufziehenden IT-Gesellschaft manifestierte. Es bildete die erste Spezifizierung des ursprünglichen Modells. Später erfolgte die Integration des Modernen bürgerlichen Milieus in das Modell. Beide Milieus zusammen repräsentieren den Modernen Mainstream der deutschen Gegenwartsgesellschaft, der fur das KonsumgüterMarketing so bedeutsam werden sollte. Die Aufnahme des Milieus der Modernen Performer ins Modell, einer neuen urbanen Lifestyle-Avantgarde, verwies bereits Anfang der neunziger Jahre auf eine säkulare gesellschaftliche Veränderungsdynamik, die die Trendforschung als "Postmodemisierung der Alltagswelt" beschrieb. Abbildung 3 gibt die gegenwärtigen Milieustrukturen, nach Sinus, in Deutschland, einschließlich der derzeitigen[41] Milieugröße, wieder.[42]
Durch die Fähigkeit sehr spezifisch gesellschaftliche Veränderungen zu identifizieren, bietet sich das Milieu-Modell nach Sinus in besonderem Maße für die Untersuchung der Veränderungsdynamik der aktuellen Weltwirtschaftskrise auf das Konsumverhalten bezüglich alternativer Antriebe an.
2.4 Kritik an dem Konzept der Sozialen Milieus
Rainer Geißler kritisierte schon in den 1990er Jahren, dass auch die Milieus ähnliche Schwächen aufweisen wie die Klassen, Schicht- und Lagermodelle. Ihre zentralen Begriffe sind unscharf und finden sich in verschiedenen Varianten wieder. Aus diesem Grund lassen sich Milieus und Lebensstile auch nicht genau gegeneinander abgrenzen.[43]
Jan Pehrke kritisiert die Lebensstil-Milieus hinsichtlich ihrer Anfälligkeit, zu „Self-Fulfilling- Prophecies" zu werden. Durch die Methode die Lebensstile über Einstellungen, Freizeitaktivitäten usw. operationalisiert, gelangt man sodann im Sinne eines Zirkelschlusses zu dem vorhersehbaren Ergebnis, dass diese Milieus das Konsum-, Freizeit- oder Wahlverhalten besonders gut zu erklären vermögen.[44]
Dazu auch Ullrich:
,,Je mehr mit Milieu-Studien gearbeitet wird, desto eher bewahrheiten sich aber auch ihre Definitionen. So tauchen in den erhobenen Daten - etwa in jenen Fotos von Wohnzimmern - zunehmend Produkte auf, die bereits mit Hilfe von Milieu-Studien entwickelt und einem speziellen Milieu zugeordnet wurden. Die Arbeit der Soziologen wird damit nicht nur erleichtert, sondern zum Muster einer "Self-Fulfilling-Prophecy": Die Gesellschaft passt sich ihren Ein- teilungen an. Da es kaum noch Waren gibt, die nicht irgendwelchen Typologien folgen, hat sich der Kunde jedes Mal zu entscheiden, welcher Mentalität, welchem Lebensstil und welchen Werten er den Vorzug gibt. Selbst wenn keine Produktvariante genau passt, muss er sich auf etwas festlegen. Studien, die Menschen typologisieren, besitzen somit nicht nur deskriptiven Charakter, sondern üben normierenden Einfluss aus.“[45]
Die Hauptargumente der Kritiker an dem Konzept der sozialen Milieus beziehen sich im Kern auf vier Argumente.
1. Die unzureichende Vergleichbarkeit der Typologien: Das zentrale Manko besteht in der Vielfalt ermittelter Milieutypologien. Nach Schellerberger und Berger-Schmitt bleibt festzustellen, dass zwar „bei unterschiedlichen Vorgehen vergleichbare Typen identifiziert worden sind“ doch ergibt sich keine direkte Vergleichbarkeit im Sinne identischer Typenkonstruktionen[46]. Hartmann bezeichnet Vergleiche nach Etikett und Beschreibung als „recht fragwürdig“: „Solche Vergleiche bewegen sich in Abwesenheit von Daten, die die Bestimmung von Übergangsmatritzen erlauben, auf der Ebene partiell informierter Phantasien, deren Ursprung im assoziativen Verstehen von Typbezeichnung und Typbeschreibung vor allgemeinen soziologischen Hintergrundwissen liegt.[47]
2. Der Realitätsgehalt einzelner Lebenstypen ist fraglich, da bei typologisch orientierten Ansätzen immer die Gefahr der Reifikation besteht[48]: Die meisten Lebensstiltypologien sind in ihrer Gänze oder in ihren Teilen für die Rezipienten nicht eingängig und „lebensnah“ genug, und des Weiteren fraglich ist auch, ob sie überhaupt Entsprechungen in realen Gesellschaftszusammenhängen haben.[49]
3. Die Mehrheit der Lebensstilstudien bringt eine theoriearme Deskription sozialer Unterschiede im Freizeitverhalten und alltagsästhetischen Geschmack hervor, ohne eine tiefergehende Sozialstrukturanalyse zu leisten. Über die empirisch ermittelten Zusammenhänge zwischen den Lebensstilen, der sozialen Lage und den Verhaltensvariablen wird eher deutend gemutmaßt, als dass theoretisch stringente Erklärungen angeboten werden. Somit werden Typologien nur selten in übergreifende theoretische Sozialstrukturkonzepte eingebettet. Der bourdieusche Ansatz der im sozialen Raum ver- orteten Lebensstile, die ihre Entstehung aus Klassenlagen, Kapitalsorten und Habitus- dispositionen erklären, die mit empirischen Befunden verknüpft sind, kann als nach wie vor unerreicht gelten.[50]
4. Im Vergleich zu konventionellen Sozialstrukturkonzepten sind Milieu- und Lebensstilansätze mit einem vielfach größeren Aufwand bei der Erhebung verbunden. Zum Beispiel wird für den „Milieu-Indikator“ des Sinus-Instituts auf eine StatementBatterie mit über 50 Items zurückgegriffen. Daraus resultiert, dass Lebensstile für die Sozialforschung sehr zeitaufwendig sind, da die Dauer für die Erhebung gegenüber einer Standarddemographieabfrage ungleich höher ist.[51]
Schlussfolgernd kann man attestieren, dass für das Bestehen aller vier Probleme die methodologischen und methodischen Vorgehen die Hauptgründe bilden, da die Indikatoren der Lebensstildimensionen und Typen üblicherweise durch ein statistisches Verfahren erhoben werden und nicht a priori bestimmt werden[52]. Darüber hinaus bleibt der Hauptkritikpunkt, dass fast nie theoretische Begründungen für die Auswahl der Lebensstilmerkmale geliefert werden, so dass sich die Lebensstilforschung einer wissenschaftlichen Überprüfung ihrer Kemmetho- dik entzieht.
Trotz der angeführten Kritik beinhaltet der sozialstrukturelle Ansatz der Milieus entscheidende Vorteile gegenüber klassischen Klassen- und Schichtenmodellen gerade für die praktische Anwendung in Unternehmen. Zum einen benötigt man nur ein einziges Modell sowohl für die strategischen Entscheidungen zur Unternehmens- und Markenpositionierung, als auch für die weiterführende Marketing- und Mediaplanung. Zum anderen bietet der Milieuansatz für die länderübergreifende Steuerung den Vorteil, mit einem gleichbleibenden Modell zu arbeiten und trotzdem die Unterschiede bezüglich der Mentalität und Einstellung, die in den einzelnen Ländern vorherrschen, herausarbeiten zu können. Somit bietet der sozialstrukturelle Ansatz der Milieus gegenüber den klassischen Schichten- oder Klassenmodellen den Vorteil, dass er trotz seines Anspruches die generelle Gesellschaftsstruktur zu erklären, die Möglichkeit erhält, relativ gezielte, auf die Mikroebene und somit auf den jeweiligen gesellschaftlichen Akteur an sich gerichtete Aussagen über das Konsum- und Sozialverhalten treffen zu können. Durch die Einschaltung des Sinus Milieuindikators in große Repräsentativerhebungen lassen sich die Angehörigen der einzelnen Milieus quantitativ exakt auf die Erwachsenen- Bevölkerung abbilden. So zeigt Abbildung 3, dass die einzelnen Milieus sehr unterschiedliche Anteile der Bevölkerung repräsentieren. Wie dargestellt sind die Grenzen zwischen den Milieus flie- ßend. Es liegt in der Natur der Sache, dass Lebenswelten nicht so (scheinbar) exakt etwa nach Einkommen oder Schulabschluss eingrenzbar sind wie soziale Schichten. Sinus Sociovision nennt das die „Unschärferelation der Alltagswirklichkeit“[53]. Dabei handelt es sich um einen grundlegenden Bestandteil des Milieu-Konzepts: Zwischen den verschiedenen Milieus gibt es Berührungspunkte und Übergänge welche in der Summe eine genauere Sozialstrukturanalyse ermöglichen, als es mit Schicht- oder Klassenmodellen möglich wäre.
Abb. 3. Die Sinus Milieus am Beispiel Deutschland[54]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.5 Die Sinus-Milieus in Deutschland
Diese im vorherigen Kapitel angesprochenen Überlappungspotenziale sowie die Position der Milieus in der deutschen Gesellschaft nach sozialer Lage und Grundorientierung lassen sich anhand der folgenden Grafik (Abbildung. 3) veranschaulichen: Je höher das entsprechende Milieu in dieser Grafik angesiedelt ist, desto gehobener sind Bildung, Einkommen und Be- rufsgruppe (1= Oberschicht und obere Mittelschicht, 2= mittlere Mittelschicht und 3= untere Mittelschicht und Unterschicht). Je weiter es sich nach rechts erstreckt, desto weniger traditionell ist die Grundorientierung des jeweiligen Milieus (A= Traditionelle Werte, B= Modernisierung und C= Neuorientierung). In dieser „strategischen Landkarte“ können Produkte, Marken und Medien positioniert werden[55].
Die Gesellschaftlichen Leitmilieus[56]
Etablierte (Sinus Bl) 10 %*
Das selbstbewusste Establishment orientiert sich an Erfolgs-Ethik, Machbarkeitsdenken und zeigt ausgeprägte Exklusivitätsansprüche.
Postmaterielle (Sinus B12) 10 %*
Das aufgeklärte Nach-68er-Milieu zeichnet sich durch eine liberale Grundhaltung aus, darüber hinaus ebenso durch eine postmaterielle Wertewelt und ihre intellektuellen Interessen, aus.
Moderne Performer (Sinus C12)10 %*
Die junge, unkonventionelle Leistungselite praktiziert beruflich und privat ein intensives Leben, wichtig ist ihnen dabei die Multioptionalität und Flexibilität in ihrem Leben. Darüber hinaus zeigen sie eine hohe Multimedia-Begeisterung.
Die Traditionellen Milieus[57]
Konservative (Sinus A12) 5 %*
Das alte deutsche Bildungsbürgertum fußt auf einer konservativen Kulturkritik und bezieht sich dabei auf seine humanistisch geprägte Pflichtauffassung.
Traditionsverwurzelte (Sinus A23) 14%*
Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegsgeneration ist verwurzelt in der kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur.
[...]
[1] Vgl. Förster: 2009. S.12.
[2] Leggewie/Welzer: 2009. S.90.
[3] Vgl. Ascheberg: 2005. S.13.
[4] Arbeiten im Literaturverzeichnis angeben.
[5] Vgl. Richter: 2005. S.10.
[6] Vgl. Förster: 2009. S. 13.
[7] Vgl. Hradil: 2006. S.3.
[8] Vgl. Ebd. S.3.
[9] Vgl. Ebd. S.4.
[10] Vgl. Schelsky: 1979. S.335.
[11] Vgl. Hradil: 2006. S.4.
[12] Vgl. Coleman: 1983. S.265-280.
[13] Vgl. Jäckel: 2005. S.180.
[14] Müller: 1992. S.355.
[15] Vgl. Jäckel: 2005.S.181.
[16] Vgl. Bremer: 2007.S.133.
[17] Bourdieu: 1992. S.32.
[18] Bourdieu: 1982. S.727.
[19] Bourdieu: 1992. S.32.
[20] Honneth: 1990. S.161.
[21] Beck: 1986. S.121.
[22] Beck: 1986.S.119.
[23] Vgl. Keupp: 1999. S.l-39.
[24] Vgl. Hradil: 2006. S.4.
[25] Vgl. Hradil: 2006a. S.278.
[26] Vgl. Hradil: 2006. S.5.
[27] Vgl. Schultze: 1992. S.746.
[28] Lepsius: 1973. S.68.
[29] Vgl. Von Oertzen:2006. S.52.
[30] Vgl. Ebd. S.53.
[31] Vgl. Ascheberg,: 2006. S.18.
[32] Vgl.Ebd. S.18-19.
[33] Vgl.Ebd. S.18-19.
[34] Vgl. Ueltzhöffer/Flaig: 1993. S.63ff.
[35] Vgl. Ueltzhöffer: 1999. S.628.
[36] Vgl. Ebd. S.629.
[37] Vgl. Ascheberg: 2006. S.19-20. und Meffert: 2008. S.192ff.
[38] Vgl. Ascheberg: 2006. S.20.
[39] Vgl. Ascheberg: 2006. S.20.
[40] Ascheberg: 2005. S.9.
[41] Stand 2007.
[42] Ascheberg: 2005. S.10.
[43] Vgl. Geißler: 2006.S.106.
[44] Vgl. Pehrke: 2009.
[45] Vgl. Ullrich: 2006.
[46] Vgl. Otte: 2004. S. 43-44.
[47] Hartmann: 1999. S.144.
[48] Vgl.Ebd. S.167.
[49] Vgl. Otte: 2004. S.44.
[50] Vgl. Ebd. S.45.
[51] Vgl. Otte: 2004. S.45.
[52] Vgl. Ebd. S.45.
[53] Im Literaturverzeichnis unter: sinus-sociovision1
[54] Im Literaturverzeichnis unter: Stem Markenprofile.
[55] Im Literaturverzeichnis unter: Stem Markenprofile.
[56] Im Literaturverzeichnis unter: sinus-sociovision1.
[57] Vgl. Ebd.
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.