Einleitung
Hinsichtlich der Literatur des Anfangsunterrichts sind überaus viele Beiträge für die Hauptfächer Mathematik und Deutsch auffindbar. Vergleicht man diese Vielfalt mit der Literatur vom Schulfach Bewegung, Spiel und Sport, so könnte man leichtfertig auf eine niedrigere Stellung im Schulalltag schließen. Gerade zum Schulanfang ist ein Lernen verbunden mit Bewegung, Spiel und Sport (BSS) notwendig. In der Bewegung können sich Kinder beispielsweise selbst wahrnehmen und zu anderen Menschen und zur Umwelt in Kontakt treten.
Aus diesem Grund soll in der vorliegenden wissenschaftlichen Hausarbeit das Thema Bewegung, Spiel und Sport im Anfangsunterricht näher betrachtet werden.
Da das Schulwesen in Deutschland von den jeweiligen Kultusministerien der einzelnen Bundesländer bestimmt wird, ist eine Fokussierung dieser Arbeit erforderlich. Ich beziehe mich in meinen Ausführungen und in der Forschung auf das Bundesland Baden-Württemberg.
In Kapitel 1 wird zunächst behandelt, ab wann ein Kind in Baden- Württemberg in die Schule gehen darf und was es mit dem Wort „Anfangsunterricht“ auf sich hat.
Eine Zeit lang wurde in den Medien vor einer bewegungsarmen Umwelt gewarnt und von Kindern gesprochen, die – wenn sie in die Schule kommen – nicht einmal mehr balancieren können. Auf Grundlage der Literatur wird daher im Kapitel 3 die veränderte Lebenswelt der Kinder ins Sichtfeld der Hausarbeit gerückt.
Die bereits angesprochene Bedeutung der Bewegung für Schulanfänger wird im Kapitel 4 genauer betrachtet und ein Blick in die motorische Entwicklung im Einschulungsalter geworfen.
Im 5. Kapitel wird der in Baden-Württemberg seit 2004 vorherrschende Bildungsplan näher erläutert und speziell hinsichtlich des Faches BSS dargelegt.
Da der Bildungsplan keine konkreten Inhalte in Bezug auf den Anfangsunterricht im Fach BSS vorgibt, entsteht eine enorme Offenheit bei der Planung dieser ersten Sportstunden. Diese Tatsache wiederum eröffnet den Raum um forschend tätig werden zu können. Die empirische Arbeit erschließt im 7. abschließenden Kapitel die Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer.
Inhaltverzeichnis
Einleitung
1. Der Schulanfang
1.1 Die Schulpflicht
1.2 Der Anfangsunterricht
2. Exkurs: Die Bedeutung von Anlage und Umwelt für die Entwicklung des Kindes
3. Die Lebenswelt der Kinder heute
3.1 Die Familienkonstellation
3.2 Die Wohnsituation
3.3 Die Konsum- und Medienwelt
3.4 Der Erziehungsstil
3.5 Auswirkungen
4. Der Schulanfänger
4.1 Die Bedeutung der Bewegung für Schulanfänger
4.2 Die motorische Entwicklung des Schulanfängers
5. Ziele und Inhalte im Sportunterricht
5.1 Der Bildungsplan
5.2 Bewegung, Spiel und Sport im Bildungsplan
5.3 Bewegung, Spiel und Sport der Schule in der Sportpädagogik
6. Empirische Arbeit
6.1 Das Leitfadeninterview als Experteninterview
6.1.1 Entwicklung des Leitfadens
6.1.2 Auswahl der Interviewpartner
6.2 Untersuchungsdurchführung
6.3 Aufarbeitung der Daten
7. Auswertung der Ergebnisse
7.1. Allgemeine Angaben über die Experten
7.1.1 Lehrzeit, „Betriebs-“ und „Kontextwissen“
7.1.2 Die „Vorlieben“ der Experten
7.2 Darstellung spezifischer Aspekte
7.2.1 Die Besonderheit des Anfangsunterrichts im Fächerverbund Bewegung, Spiel und Sport
7.2.2 Die Voraussetzungen der Schulanfänger
7.2.3 Probleme im Anfangsunterricht
7.2.4 Die ersten Sportstunden im Anfangsunterricht
7.2.5 Regeln und Rituale
8. Zusammenfassung
9. Schlusswort
Abbildungsverzeichnis und Tabellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
Hinsichtlich der Literatur des Anfangsunterrichts sind überaus viele Beiträge für die Hauptfächer Mathematik und Deutsch auffindbar. Vergleicht man diese Vielfalt mit der Literatur vom Schulfach Bewegung, Spiel und Sport, so könnte man leichtfertig auf eine niedrigere Stellung im Schulalltag schließen. Gerade zum Schulanfang ist ein Lernen verbunden mit Bewegung, Spiel und Sport (BSS) notwendig. In der Bewegung können sich Kinder beispielsweise selbst wahrnehmen und zu anderen Menschen und zur Umwelt in Kontakt treten.
Aus diesem Grund soll in der vorliegenden wissenschaftlichen Hausarbeit das Thema Bewegung, Spiel und Sport im Anfangsunterricht näher betrachtet werden.
Da das Schulwesen in Deutschland von den jeweiligen Kultusministerien der einzelnen Bundesländer bestimmt wird, ist eine Fokussierung dieser Arbeit erforderlich. Ich beziehe mich in meinen Ausführungen und in der Forschung auf das Bundesland Baden-Württemberg. In Kapitel 1 wird zunächst behandelt, ab wann ein Kind in Baden- Württemberg in die Schule gehen darf und was es mit dem Wort „Anfangsunterricht“ auf sich hat.
Eine Zeit lang wurde in den Medien vor einer bewegungsarmen Umwelt gewarnt und von Kindern gesprochen, die – wenn sie in die Schule kommen – nicht einmal mehr balancieren können. Auf Grundlage der Literatur wird daher im Kapitel 3 die veränderte Lebenswelt der Kinder ins Sichtfeld der Hausarbeit gerückt.
Die bereits angesprochene Bedeutung der Bewegung für Schulanfänger wird im Kapitel 4 genauer betrachtet und ein Blick in die motorische Entwicklung im Einschulungsalter geworfen. Im 5. Kapitel wird der in Baden-Württemberg seit 2004 vorherrschende Bildungsplan näher erläutert und speziell hinsichtlich des Faches BSS dargelegt.
Da der Bildungsplan keine konkreten Inhalte in Bezug auf den Anfangunterricht im Fach BSS vorgibt, entsteht eine enorme Offenheit bei der Planung dieser ersten Sportstunden. Diese Tatsache wiederum eröffnet den Raum um forschend tätig werden zu können. Die empirische Arbeit erschließt im 7. abschließenden Kapitel die Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer.
Schule ist . . . .
… wie eine handvoll Kieselsteine ins Wasser geworfen
Die Steine und Steinchen versprengen sich,
fallen ins Wasser, unterschiedlich tief,
antworten mit Tönen unterschiedlich hoch
und ergeben zusammen doch einen Ton,
ziehen Kreise,
die einen eng, die anderen weit,
und bewegen sich schließlich alle fort im gleichen Sog
zu neuen Ufern –
unterschiedlich weit entfernt …
Erika Neudeck[1]
1 Der Schulanfang
Jedem Menschen in Deutschland steht oder stand er bevor: Der Schulanfang. Mit ihm ergeben sich bestimmte Anforderungen an das Kind, dessen Eltern[2], an den Lehrer[3] und dessen Schule. Die gemeinsame Grundstufe des Schulwesens bildet in Deutschland die Grundschule. Auf den Seiten des Landesbildungsservers von Baden-Württemberg ist hinsichtlich des Schulanfangs folgendes zu lesen:
„Ein an den individuellen Voraussetzungen des Kindes orientierter Schulstart verbunden mit einem guten Anfangsunterricht ist eine wichtige Voraussetzung und ein zentrales Element für eine zukunftsfähige Grundschule.“ (Landesbildungsserver Baden-Württemberg c).
Aufgrund dessen möchte ich zuerst im ersten Kapitel meiner Arbeit auf die Schulpflicht in Baden-Württemberg und den Anfangsunterricht eingehen.
1.1 Die Schulpflicht
Der Entwicklungsstand von Kindern um die Zeit des Schulanfangs ist individuell sehr verschieden. Allgemein kann aber gesagt werden, dass um das sechste Lebensjahr eine Entwicklungsperiode des Kindes beginnt, welche für eine grundlegende schulische Ausbildung als sehr gut geeignet gilt. Die Kinder entwickeln zu dieser Zeit Voraussetzungen von Reife, die für den beginnenden systematischen Unterricht benötigt werden (vgl. Risswick 2006, S. 17). In Baden-Württemberg scheint diese Individualität der Kinder erkannt worden zu sein und man ist im Begriff diese zunehmend zu berücksichtigen.
„Jedes Kind soll die Möglichkeit erhalten, zu dem Zeitpunkt eingeschult zu werden, der seiner individuellen Lernbiografie am besten entspricht.“ Das betont Dr. Annette Schavan (September 2003), Ministerin für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg.
Im Schulgesetz (SchG) für Baden - Württemberg ist der Beginn der Schulpflicht im Paragraph 73 Abs. 1 S. 1 wie folgt geregelt:
„Mit dem Beginn des Schuljahres sind alle Kinder, die bis 30. September des laufenden Kalenderjahres das sechste Lebensjahr vollendet haben, verpflichtet, die Grundschule zu besuchen. Dasselbe gilt für die Kinder, die bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres das sechste Lebensjahr vollendet haben und von den Erziehungsberechtigten in der Grundschule angemeldet wurden.“ (Landesrecht Baden-Württemberg).
Der 30. September als Stichtag, so heißt es laut dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, wurde aufgrund der Schulgesetzänderung vom 17. Juli 2003 etappenweise von Beginn des Schuljahres 2005/2006 bis zum Schuljahr 2007/2008 vom 30. Juni auf den 30. September verschoben. Des Weiteren wurde die so genannte „Stichtagsflexibilisierung“ auf das gesamte sechste Lebensjahr (vom 1. Oktober bis 30. Juni) ab dem Schuljahr 2005/2006 erweitert. In diesem Zeitkorridor besteht die Möglichkeit, dass die Eltern die Schulpflicht selbst auslösen können. Über die endgültige Einschulung entscheiden aber wie bisher die jeweiligen Schulleiterinnen und Schulleiter (vgl. Schavan, A. 2003). Das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg verfolgt mit dieser „Stichtagsflexibilisierung“ folgende Ziele:
„- Abbau der hohen Zurückstellungsquote,
- Erhöhung der Zahl vorzeitiger Einschulungen,
- Ein an den individuellen Voraussetzungen des Kindes orientierter Schulstart durch
- Flexibilisierung des Einschulungszeitpunktes
- Flexibilisierung der Verweildauer in der Schuleingangsstufe
- Pädagogische und didaktisch-methodische Weiterentwicklung der Schuleingangsstufe und des Anfangsunterrichts.“ (Schavan, A. 2003).
Heutzutage unterscheiden sich die Kinder erheblich stärker in ihren Lebenslagen als früher. Diese äußerst sensible Angelegenheit - die Frage nach dem optimalen Einschulungszeitpunkt - kann deshalb nur von denen beantwortet werden, die sich tagtäglich mit dem Kind auseinandersetzen.
Letztlich kommt es aber auch darauf an, welche Möglichkeiten die umliegenden Schulen jeweils anbieten, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Seit dem Projekt „Schulreifes Kind“ existieren in Baden-Württemberg folgende Modelle:
„Im Modell A1 werden die Klassen 1 und 2 zu einer jahrgangsübergreifenden Lerngruppe zusammengefasst. Die Kinder können dort je nach Lernzeitbedarf unterschiedlich lange verweilen, von einem bis zu drei Jahren. Die Einschulung erfolgt im Allgemeinen ohne Zurückstellungsmaßnahme. Für Grundschulen, die jahrgangsübergreifenden Unterricht durchführen, gilt der Klassenteiler 28 (für Jahrgangsklassen 31). Zusätzlich erhalten sie je nach Klassengröße zwei bis vier Differenzierungsstunden (bis 20 Kinder zwei Stunden, 21 bis 24 Kinder drei Stunden, ab 25 Kinder vier Stunden) in der Direktzuweisung.
In der jahrgangsübergreifenden Eingangsstufe des Modell s A2 werden zwei Einschulungstermine pro Schuljahr angeboten: einer regulär, ein zweiter im Frühjahr. Damit kann der Einschulungszeitpunkt noch stärker an die Entwicklungs-voraussetzungen des Kindes angepasst werden.“ (Rau, H. 2007).
Modell B1, betrifft die Grundschulförderklassen[4]. „Seit dem Schuljahr 2003/2004 wird die Grundschulförderklasse eng mit dem ersten Schuljahr verzahnt. Ein flexibler Übergang während des Schuljahres in die erste Klasse wird ermöglicht.
Das Modell B2 ist eine Präventionsmaßnahme zur Verhinderung von Zurückstellungen. Dort, wo eine Grundschulförderklasse eingerichtet ist, können förderungsbedürftige Kinder ein halbes Jahr vor ihrer Schulpflicht in die Grundschulförderklasse aufgenommen werden. Sie werden regulär eingeschult und erhalten wenn nötig zusätzlich zum Unterricht ein halbes Jahr Förderung in der Grundschulförderklasse.“ (Rau, H. 2007).
Für die zukünftigen Schulanfänger bedeutet das, dass die Möglichkeit besteht schon ab fünf Jahren eingeschult zu werden, wenn die Voraussetzungen beim einzelnen Kind gegeben sind und die Schule sich darauf einstellt. Des Weiteren kann die Verweildauer jedes einzelnen Kindes, je nach Angebot (Modell) der Schule, variieren.
1.2 Der Anfangsunterricht
Gerade dem Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule wird von unserer Gesellschaft eine große Beachtung geschenkt. Nach der feierlichen Einschulung und der Überreichung der traditionellen Schultüte, beginnt für so Manchen nun der „Ernst des Lebens“. Sowohl Eltern als auch Lehrer sind meistens sehr engagiert, wenn es darum geht den Kindern diesen Wechsel so angenehm wie möglich zu gestalten. Laut Röbe & Lichtenstein-Rother (2005, S. 22) wird dieser Wechsel oftmals als eine Art Neuanfang empfunden, „der Kräfte und Bereitschaft mobilisiert, aber immer auch sehr viel Unbekanntes sowie Ungewisses und damit ebenfalls die Möglichkeit des Scheiterns, des Versagens, der Enttäuschung enthält.“
Danach müssen die Schulanfänger in den Schulalltag eingeführt werden. Diese Zeit wird als Anfangsunterricht bezeichnet.
Julia van Risswick (2006, S. 71) definiert den Anfangsunterricht folgendermaßen:
„Als Anfangsunterricht oder auch als Erstunterricht bezeichnet man den Unterricht nach der Einschulung. Hinsichtlich der Dauer des spezifischen Unterrichts für Schulneulinge gibt es keine klare zeitliche Begrenzung. Die unterschiedlichen Auffassungen der wissenschaftlichen Literatur gehen in diesem Punkt weit auseinander, in der Regel beginnen sie mit den ersten Schulwochen und enden mit dem zweiten Schuljahr.“
Auch Hartmut Hacker hat dieses in seinem einführenden Abschnitt zum Thema Anfangsunterricht festgestellt: „Der Schulanfang als Zeitspanne ist dabei nicht klar umrissen“ (2001, S.396). Er bezieht sich dabei auf die Preußischen Richtlinien von 1921, die die Zeitspanne der ersten beiden Schuljahre als Anfangsunterricht ansehen; auf Denzel (1961), der ihn mit dem Zeitraum des ersten Schuljahrs gleichsetzt und zu guter letzt Portmann (1989), Knörzer & Grass (1995) und Hacker (1998), die nur die ersten Wochen in der Schule als Anfangsunterricht ansehen.
Für mich ist der Anfangsunterricht mit dem ersten Schuljahr gleichsetzbar, da ich der Meinung bin, dass die Schulanfänger eine längere Zeit - als nur die ersten Schulwochen - benötigen, um sich an all das Neue zu gewöhnen, das in dieser Zeit auf sie zukommt.
Eine Zeitspanne die sich über ein Schuljahr hinaus erstreckt, empfinde ich als zu lang, da die Schüler mit dem Anfang des zweiten Schuljahres (oder auch früher) mit ihrer Umgebung, Lehrern und Mitschülern vertraut sind. In der Zeit haben sie sich an den veränderten Tagesrhythmus und die hohen Anforderungen an die Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit gewöhnt und die neuen Lern- und Arbeitsweisen kennengelernt. Außerdem geben ihnen bestehende Regeln und Rituale die nötige Sicherheit, um sich im Schulalltag zurechtzufinden. Um diese Ziele zu erreichen beschreiben Röbe & Lichtenstein-Rother drei grundlegende Voraussetzungen: Die Schule, die Lehrkraft und den pädagogischen Raum.
„Grundschulkinder können noch nicht über selbstständige Orientierung und Reflexion ihren Weg selbst finden und bestimmten. Sie bedürfen der Schule als eines pädagogischen Raumes, der ihnen diese Möglichkeiten bereithält und eröffnet, sie bedürfen der Lehrkraft, die sich dem Kind zuwendet, ihm die Gehalte erfahrbar und transparent macht und die den Auftrag der Schule als Anforderung an ihre eigene Person versteht. Die Kinder bedürfen aber auch eines Raumes als einer vorgeordneten Lebenswelt, der Geborgenheit und Sicherheit ermöglicht, weil er dem Kind und seinen Lebensbedürfnissen, seinem Erlebnisvollzug gemäß ist, weil er ihm Spielraum gibt, kindgemäß zu handeln und zu lernen. Auf der Grundlage dieser Sicherheit und Geborgenheit erweitert sich dann der schulische Raum in neue Erfahrungsmöglichkeiten und - ebenen.“ (Röbe & Lichtenstein-Rother 2005, S. 19).
Mehrere Autoren, die sich mit dem Thema des Anfangsunterrichts bzw. mit dem kindgerechten Schulanfang befassten, gelangten zu der Schlussfolgerung, dass besonders diese erste Zeit, die die Schüler in der Schule verbringen, sie für die kommenden Jahre ihrer Schulzeit - wenn nicht sogar darüber hinaus - prägen. Schon 1982 schrieb Susteck: „Mit den Eindrücken und Erlebnissen der ersten Schulmonate wird bei den Schülerinnen und Schülern eine Einstellung aufgebaut, die ihre Haltung gegenüber der Schule in den kommenden Jahren bestimmt.“ (1982, S. 12); Risswick betonte: „Die erste Zeit in der Schule kann das Bild eines Kindes nachhaltig prägen und Weichen für lebenslange Ansichten und Haltungen stellen.“ (2006, S. 71) und Röbe & Lichtenstein-Rother meinten: „Die ersten Erlebnisse und Erfahrungen begründen offenkundig das Selbstverständnis des Einzelnen als Schüler; sie wirken lange nach und beeinflussen das weitere Schulschicksal.“ (2005, S. 25). Dadurch wird wiederholt deutlich, welche bedeutende Rolle der Anfangsunterricht einnimmt. Nicht nur für die Schulanfänger, sondern auch für die Lehrerinnen und Lehrer ist der Anfangsunterricht eine ganz besondere, teilweise schwierige Zeit. Auch sie müssen sich auf die Kinder vorbereiten, müssen einschätzen, was die Kinder schon können, um sie an dem Punkt abholen zu können, wo sie stehen. Die individuellen Vorerfahrungen der Kinder und ihre meist ganz bestimmte Erwartungshaltung gegenüber der Schule, stellt besonders an die Lehrerinnen und Lehrer eine pädagogische Herausforderung. Eine weitere wichtige Rolle spielen die Aufgaben, die die Lehrer gegenüber den Kindern zu erfüllen haben.
Die Lehrkraft soll:
- die im vorschulischen Alter begonnenen vielfältigen Lernprozesse der Kinder fortsetzten,
- die verschiedenen Begabungen der Kinder fördern,
- Verhaltensweisen und Umgangsformen einüben, die für das miteinander Lernen und Leben (innerhalb und außerhalb der Schule) wichtig sind,
- die Kinder dazu befähigen, aufeinander zu hören und voneinander zu lernen,
- Jungen und Mädchen zu einem partnerschaftlichen Verhalten anhalten,
- zu sozialer Bewährung und zum selbstverständlichen Umgang mit Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft sowie zum Zusammenleben mit Menschen mit Behinderungen erziehen,
- gesicherte Kenntnisse vermitteln und mit den Kindern Fertigkeiten einüben, die für die Lebensbewältigung und die Schularbeit wichtig sind,
- die Kräfte des eigenen Gestaltens und schöpferischen Ausdrucks der Kinder fördern,
- die Kinder von den spielerischen Formen zu den systematisierten Formen schulischen Lernens und Arbeitens führen,
- verborgene und noch nicht entwickelte Fähigkeiten oder Eigenschaften der Kinder durch fördernde und ermutigende Hilfen wecken,
- sittliche, religiöse und freiheitlich-demokratische Gesinnung der Kinder wecken, auf der das Zusammenleben gründet und
- das Bewusstsein für elementare, technische, wirtschaftliche und ökologische Zusammenhänge schärfen und zur Verantwortung gegenüber der Natur erziehen (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg).
Dabei sollte sich der Unterricht am emotionalen, psychomotorischen, intellektuellen und sozialen Entwicklungsstand der Kinder orientieren und die Erziehungs- und Bildungsprozesse am Erlebnis- und Erfahrungshorizont der Kinder anknüpfen. Er sollte die unverzichtbaren Grundelemente eines entwicklungsgemäßen Unterrichts beinhalten. Solche unverzichtbaren Grundelemente betreffen Anschaulichkeit, Lebensnähe, Handlungsbezug, kindgemäße Aufgabenstellungen und vielfältige Formen des Lernens, Übens und Wiederholens.
Im Unterricht sollte darauf geachtet werden, dass das Prinzip des fächerverbindenden Arbeitens gewährleistet wird. Dieses kann auch durch die Arbeit im Freien und/oder durch projektorientiertes Lernen realisiert werden. Nur so kann der ganzheitliche, auf die Persönlichkeit des Kindes ausgerichtete Erziehungs- und Bildungsauftrag der Grundschule erreicht werden (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg).
2 Exkurs: Die Bedeutung von Anlage und Umwelt für die Entwicklung des Kindes
Der zu Beginn der Schulzeit individuell sehr unterschiedliche Entwicklungsstand der Schulanfänger wird laut Forschungsstand durch Anlage und Umwelt bestimmt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Anlage und Umwelt
Die Abbildung 1 soll diesen Zusammenhang von Anlage und Umwelt im Bezug auf das Kind darstellen. Die Anlage (linke Seite) bezieht sich hierbei auf die von der Geburt an mitgegebenen Erbinformationen. Diese Erbinformationen - auch Gene genannt - werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten aktiv und beeinflussen mit ihrer Aktivität die Entwicklung des Menschen. Auf diese Erbinformationen ist es nicht möglich einzuwirken, da diese sich während des gesamten Lebens nicht verändern.[5]
Mit Umwelt (rechte Seite) ist alles gemeint, was in irgendeiner Form von außen auf das Kind einwirkt. Professor Dr. G. Büttner der Universität in Frankfurt am Main hat sich mit diesem Thema näher beschäftigt und unterteilt die Umwelt in die materielle und die soziale Umgebung eines Menschen.
Zur materiellen Umgebung zählt er unter anderem:
- die physikalisch-chemischen Einflüsse (z. B. Umweltstoffe, globale Luftverschmutzung),
- die Qualität des Wohnraumes (z. B. Größe, Lage),
- die Verfügbarkeit von Ressourcen (z. B. Bücher, neue Medien) oder
- auch die Qualität der Wohngegend (z. B. Bildungsstätten, Vereine).
Zur sozialen Umgebung zählen - nach Büttner - alle Einwirkungen durch andere Menschen. Er greift dabei folgende Beispiele auf:
- Lernangebote und Erziehungseinflüsse (in der Familie, im Kindergarten, in der Schule),
- Beziehungen zwischen Eltern und Kind, Kontakte zwischen Kind und anderen Kindern (Häufigkeit, Dauer und emotionale Qualität der Kontakte) oder
- auch Erwartungen von Gleichaltrigen in der sogenannten Peer Group.
Des Weiteren lassen sich die Umwelteinflüsse laut Büttner noch danach differenzieren, ob sie geteilt werden (z. B. mit Eltern, Geschwistern, wie beispielsweise die soziale Schicht, Wohnsituation etc.) oder ob sie individuelle Erfahrungen darstellen, wie z.B. Schwangerschaftsverlauf, Geschwisterposition etc. (vgl. Büttner 2006).
Die Frage, ob nun mehr die Anlagen oder mehr die Umwelt auf den Entwicklungsstand des jeweiligen Kindes einwirkt und wie sie genau zusammenwirken, konnte bisweilen noch nicht befriedigend erklärt werden. Dadurch, dass sich die Anlagen eines Kindes nicht beeinflussen lassen, aber die Umweltfaktoren veränderlich sind, sollte der Fokus von Eltern und Lehrkräften auf den beeinflussbaren Faktoren liegen. Das heißt, die Umweltbedingungen durch pädagogische Maßnahmen so zu gestalten, dass vorhandene Ungleichheiten so weit wie möglich ausgeglichen werden können (vgl. Büttner 2006).
Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet das, dass sie besonders Verantwortung für die soziale Umgebung der Schulanfänger sowie der Schüler tragen.
Leider ist nicht allen Eltern bzw. Erwachsenen, die mit einem aufwachsenden Kind betraut sind bewusst, wie sehr die Umwelt auf das jeweilige Kind einwirkt bzw. einwirken kann. Die Förderung der Kinder beginnt von daher bei manchen Kindern schon vor der Geburt[6], bei anderen leider nie. Diese Unterschiede werden besonders in der Schule deutlich. Im Folgenden Kapitel werde ich näher auf diese Vielfältigkeit in den Lebenswelten der Schulanfänger eingehen und einige der heute vorherrschenden Tendenzen aufzeigen.
3 Die Lebenswelt der Kinder heute
Viele Autoren haben bereits zum Thema der Lebenswelt von Kindern Stellung genommen. Ich möchte im Folgenden einige von den Autoren angesprochenen Aspekte der veränderten Lebenswelt von Kindern sammeln, vergleichen und teilweise kurz im Hinblick ihrer Auswirkung auf die Schule verdeutlichen.
3.1 Die Familienkonstellation
Zwei Autoren, die versuchten die Lebenswelt der Kinder darzustellen, sind Stefan und Nikolaus Größing (2002, S. 13 ff.). Sie sprechen als erstes die Veränderungen in der Familienkonstellation an. Die „Herkunftsfamilie“ sei kleiner geworden. Die Rede ist von einer Zunahme von Ein-Kind-Haushalten und Zwei-Generationen-Familien oder einem alleinerziehenden Elternteil (der zumeist die Mutter sei). „Die traditionelle Ehe ist in Auflösung begriffen, Lebensabschnittspartner bilden immer häufiger die Familiengrundlage und ein Drittel aller Kinder in Mitteleuropa wächst als Scheidungskinder auf.“ (Größing & Größing 2002, S. 13).
Risswick (2006, S. 32), welche sich auch mit der Thematik beschäftigte, spricht - wie auch Größing & Größing - von „Veränderungen in der Familienstruktur“. Sie macht dies besonders an den „Einkindfamilien“ fest, die laut ihrer Aussage 50,3% in Deutschland einnehmen. Zusätzlich spricht auch Risswick (vgl. 2006, S. 32 ff.) von einer Zunahme der ehelichen Scheidungen und der neuen Vielfältigkeit anderer Familienformen, wie z. B. Patchworkfamilien.
„Die Ein-Kind-Familie ist mittlerweile der am weitesten verbreitete Familientyp. 53% aller Haushalte mit Kindern haben nur ein Kind.“ lässt Schmidt (2009, S. 374) verlauten und Größing formuliert es mit folgenden Worten: „Die Familie ist zur Klein- und Intimgruppe geworden.“ (Größing 2001, S. 67). Schmidt & Süßenbach erkannten einen Anstieg der Anzahl der alleinerziehenden Eltern. Sie berichten, „dass von ca.14 Millionen Ehepaaren und Alleinerziehenden 51% aller Kinder momentan alleine aufwachsen und 36% mit nur einem Geschwisterkind“ (Schmidt & Süßenbach 2003, S. 8).
Aber es gibt auch Gegner dieser Aussagen. Kretschmer & Giewald (2001, S. 46) untersuchten selbstverantwortlich die Lebens- und Bewegungswelt der Kinder und stellten fest, dass man nicht von einem „Trend zur Einkindfamilie“ sprechen kann. Sie kamen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass etwa 80% der Grundschulkinder mit Geschwistern aufwachsen. „Ebenfalls weniger dramatisch haben sich die Familienverhältnisse verändert […]. Knapp 40% der Eltern sind Doppelverdiener. […] ein hoher Anteil der ca. 20% Alleinerziehenden ist berufstätig.“ (Kretschmer & Giewald 2001, S. 46).
Welche Aussagen wie stark zu gewichten sind möchte ich an dieser Stelle nicht weiter erläutern. Vielmehr ist es an dieser Stelle wichtig zu erkennen, welche Auswirkungen die unterschiedlichsten Familienkonstellationen haben können. Zusätzlich zu ihren Aussagen, trafen manche Autoren auch Überlegungen in Bezug auf solche möglichen Auswirkungen.
Diese Einzelkinder stünden oft zu stark im Mittelpunkt der Familie und müssten ihre Anforderungen und Wünsche so gut wie nie hinten anstellen, meint Risswick (2006, S. 32).
Durch das vermehrte Fehlen von Geschwistern oder Großeltern im Haushalt käme es zu einer Verminderung der Sozialbindungen, meinen Größing & Größing (2002, S. 13 ff.). Auch bei Schmidt & Süßenbach wird dieser Aspekt angesprochen: „Eine Lockerung der sozialen und kulturellen Beziehungen“ und damit eine „neue Formen psychischer Belastung“ (2003, S. 8) wären mögliche Auswirkungen. Jedoch sehen sie auch einen Vorteil durch diese veränderten Lebensbedingungen. Dadurch, dass Kinder sich gezielter um Spielpartner bemühen müssten bestünde die Chance, dass sie früh lernen auf andere Menschen zuzugehen (vgl. Schmidt & Süßenbach 2003, S. 8).
In der Schule müssen sich manche Kinder erst daran gewöhnen, dass sie nicht die einzigen in der Klasse sind. Außerdem können die Lehrkräfte diesen Kindern nicht die gleiche Menge an Aufmerksamkeit schenken, wie sie es von ihrem gewohnten Elternhaus kennen. Kinder müssen evtl. erst lernen Wünsche und Bedürfnisse hinten anzustellen, was zu Problemen führen könnte, wenn dies nicht erkannt wird.
3.2 Die Wohnsituation
Die Wohnsituation umfasst den Wohnraum und das Wohnumfeld.
Meistens spiele - laut Größing & Größing - im Hinblick auf die verminderten Sozialbeziehungen auch die Wohnsituation und die Freizeitbeschäftigung eine wichtige Rolle. Wird die Freizeit anstatt draußen mit den Nachbarkindern oder in einem (Sport-)Verein verbracht, könnten die Kinder - nicht nur durch eine ungünstige Familienkonstellation - keine sozialen Bindungen zu anderen Personen aufbauen. Größing & Größing meinen, dass dadurch eine vertiefte Bindung nur zu einer Bezugsperson entstünde. Außerdem sei das Wohnumfeld heutzutage oft so verdichtet, dass es den Kindern unmöglich würde auf Straßen, Plätzen oder Grünanlagen sorgenfrei spielen zu können. Diese Verdichtung des Lebensraumes im Wohnbereich erzwinge die alltägliche Bewegungsarmut und verführe geradezu zur Bewegungslosigkeit (vgl. Größing & Größing 2002, S. 11 ff.).
„Kinder, die ihre Umwelt als Bewegungswelt wahrnehmen, auch wenn sie längst verbaut, zubetoniert, asphaltiert und reglementiert, eben für Autos und für Erwachsene gemacht ist, werden immer seltener.“ (Zimmer 1997, S. 20).
Zimmer benennt folgende Merkmale des sozialen Wandels:
- „freie Spiel- und Bewegungsräume verschwinden; sie werden durch institutionalisierte, organisierte Spiel- und Sportghettos ersetzt;
- die Kinder werden von der Straße in die Häuser verdrängt, enge Wohnungen verlangen platzsparendes, leises, körperloses Spielen […];“ (Zimmer 1997, S. 21)
Die Auswirkungen auf die veränderte Wohnsituation beschreibt Zimmer folgendermaßen: „Bewegungs- und Spieltraditionen gehen verloren, der Rückgang altersübergreifender Spielgruppen bewirkt, daß Spielkultur nicht mehr von älteren Kindern an jüngere Kinder weitergegeben wird.“ (Zimmer 1997, S. 21).
Aufgrund der Wohnsituation versuchen bewegungsfreundliche Eltern diesen Bewegungsmängeln ihrer Kinder manchmal mit zahlreichen Angeboten entgegenzuwirken. „40% aller Kinder im Westen haben drei oder mehr feste Termine in der Woche […].“ (Schmidt 2009, S. 375).
„Im Wohnbereich des Kindes reduzieren sich die Gelegenheiten zum spontanen Spielen und Bewegen in „naturbelassenen Freiräumen“ und vermehren sich die Angebote des Vereins- und Kommerzsports.“ (Größing 2001, S. 68).
„Charakteristisch für die heutige Kindheit ist der Verlust natürlicher Spiel- und Bewegungsgelegenheiten und der Ersatz durch künstlich geschaffene Plätze zum Spielen, die von Kindern oft nicht selbstständig erreicht werden können und wo zudem das Spielen ohne Aufsicht von Erwachsenen kaum möglich ist.“ (Zimmer 2004, S. 21).
Deshalb müssen Eltern oft die Kinder zu den weit entfernten Bewegungs- oder Sportmöglichkeiten bringen. Größing betitelt aus diesem Grund die Sport- oder Freizeitstätte als eine „Sportinsel“. Dadurch, dass diese Ausflüge zumeist geplant sind, wird auch von einem „Freizeitplan“, einer „Terminkultur“ (vgl. Schmidt & Süßenbach 2003), einer „Institutionalisierung der Kindheit“ und „verplanter Kindheit“ (vgl. Kretschmer & Giewald 2001) gesprochen.
Überdies kann es nicht nur zu einer Bewegungseinschränkung durch das Wohnumfeld, sondern auch durch den Wohnraum stattfinden. Damit werden unter anderem die Kinderzimmer gemeint, die das Spielen durch z. B. viel zu viel Spielzeug eher hindern anstatt zu fördern. Bei der Fülle an Spielzeug können sich Kinder kaum entscheiden mit was sie zuerst spielen sollen oder verlieren schnell die Lust sich länger mit nur einem Spielzeug zu befassen. Die Autoren bemängeln außerdem, dass das Spielzeug meist nicht zum Herstellen oder Reparieren anrege, sondern vielmehr zum Alleinspielen und zum reinen Verwenden. Es verleite die Kinder somit zum reinen Konsumieren und unterbinde damit die Selbstgestaltung ihrer Spiele. Es seien nur „Fertigprodukte für fertige Tätigkeiten“ (Größing & Größing 2002, S. 11 ff.).
3.3 Die Konsum- und Medienwelt
Zur Konsumwelt und der Mediennutzung gibt es unter den Autoren eine einheitliche Meinung im Hinblick auf die Lebenswelt der Kinder.
„Wir leben mitten im Medien- und Computerzeitalter.“ (Kiphard 1997, S. 48). Schmidt & Süßenbach sprechen von „einer Vollversorgung bezüglich Fernsehen (74,8%), CD-Player (91%), Videospielen (69,6%) und Computer (58,7%)“ (Schmidt & Süßenbach 2003, S. 15 ff.), dabei machen sie deutlich, dass je niedriger der soziale Status sei, desto eher würde Fernsehen und somit die „passive Nutzung“ im Alltagsleben der Kinder eine Rolle spielen. Ein nicht bewegungsanregender Erziehungsstil der Eltern sei meist mit einem hohen Medienkonsum der Kinder verbunden. Computer, Nintendo, Gameboy, Fernseher und Co. verlockten die Kinder in die Häuslichkeit und bannten sie über lange Zeit fast bewegungslos vor Bildschirme. Was wiederum dazu führen würde, dass die Kinder vermehrt sitzend spielen (vgl. Möllers 2002, S. 25).
Es käme deshalb bei den Kindern zu einer „Verengung der sinnlichen Wahrnehmung“, „der Erfahrungsverarmung“, „der Vereinseitigkeit der Körpererfahrungen“, „der Verringerung von Naturerfahrungen“ und das Erleben erfolge zumeist aus zweiter Hand (Größing & Größing 2002, S. 12).
Auch Risswick warnt in diesem Zusammenhang vor den Erfahrungen, die die Kinder aus zweiter Hand machen. Sie spricht von einer „Mediatisierung von Erfahrungen“ und im Hinblick auf die Konsumgesellschaft von einer Zunahme der „Wegwerfmentalität“ (vgl. Risswick 2006, S. 34).
Die Dauer des Konsumierens der Medienangebote ist hierbei besonders beachtlich. Kretschmer & Giewald stellten fest, dass beinahe 70% der Kinder täglich fernsehen (vgl. 2001, S. 49).
„Auffällig ist, dass nahezu ein Drittel der Kinder bis zu zwei Stunden fern sieht und dass fast ein weiteres Drittel angibt, noch länger vor der Mattscheibe zu hocken. Oder andersherum gesagt, nur ein gutes Drittel der Kinder sieht nur bis zu einer Stunde fern.“ (Kretschmer & Griewald 2001, S. 50).
Laut Wopp schalten die Fernsehgucker schon nach wenigern Minuten vor dem Fernseher ab, die Gehirnströme hätten dann vergleichbare Schwingungen wie beim Einschlafen. Auch macht Wopp deutlich, dass die perfekt vorgegebenen Bilder kaum noch Raum für Phantasien ließen (vgl. 2001, S. 66).
„Der Siegeszug der elektronischen Medien führt zum Verlust an Eigentätigkeit – passives Konsumieren steht vor aktivem Tun.“ (Zimmer 1997, S. 21).
3.4 Der Erziehungsstil
Auch das Erzieherverhalten wird von mehreren Autoren aufgegriffen. So wird von Schmidt & Süßenbach die heutige Erziehung folgendermaßen beschrieben:
„Eine Erziehung, bei der sich die Kinder nur nach dem Willen der Eltern zu richten haben, wird heute nur noch von 3% der Eltern befürwortet. Eltern betonen immer mehr die Selbstständigkeit und den freien Willen ihrer Kinder. Von Eltern werden heute Einfühlungsvermögen, Sich-Hineinversetzen in kindliche Rollen und partnerschaftliche Umgangsformen erwartet. Man spricht von einem zunehmend positiven kindzentrierten Erziehungsstil, wobei sich die Kommunikation als Aushandeln gegenseitiger Bedürfnisse beschreiben lässt.“ (2003, S.9).
Ebenfalls wird die Aussage über den veränderten Erziehungsstil von Risswick gestützt, indem sie schreibt: „Das Erziehungsverhältnis basiert mittlerweile vorrangig auf dem Konzept des Aushandelns und Verhandelns.“ und „Erziehung ist liberaler und offener geworden. Eltern wollen ihre Kinder weniger zu Disziplin und Zurückhaltung erziehen, sondern streben als Erziehungsziel mehr Selbstständigkeit, Kooperationsfähigkeit und Kreativität an. Sie sind weniger streng und zeigen mehr Verständnis für die individuellen Bedürfnisse ihrer Kinder. Sie sehen ihre Kinder deutlich gleichberechtigter, deshalb befehlen sie auch seltener, sondern besprechen gemeinsam mit ihren Kindern anliegende Dinge.“ (2006, S. 32 ff.).
Das Erzieherverhalten wird also nicht mehr von verbindlichen Normen bestimmt, sondern ist vielmehr geprägt von einem ständigen Aushandeln der Wünsche, Bedürfnisse, Umgangsregeln und Grenzen (vgl. Risswick 2006; Möllers 2002; Schmidt & Süßenbach 2003).
Von Größing & Größing wird dieser Punkt noch durch die Aussage erweitert, dass heutzutage ein meist weiblicher Erziehungsstil vorherrscht. In vielen der Erziehungseinrichtungen, die das Leben der Kinder immer stärker und zeitlich ausgedehnter prägen, werden die Kinder von Frauen betreut (z. B. Hort, Kindergarten, Nachmittagstreff).[7] Ihrer Meinung hätte dies weniger Autorität und mehr Mitbestimmung, weniger körperliche Beanspruchung und mehr Führsorglichkeit, weniger Disziplin und mehr Freiheit zur Folge (vgl. Größing & Größing 2002, S. 14).
Aber nicht nur der Erziehungsstil hat sich verändert, auch der Leistungsdruck, den die Eltern den Kindern gegenüber aufbringen scheint sich - laut Autoren - erhöht zu haben. „Eltern fordern weniger ein perfektes Sozialverhalten, sondern haben ihre Erwartungen beim Lern- und Leistungserfolg in der Schule stark erhöht. Die Erwartungshaltung ist oft so groß, dass sie auf die Erwartungen der Kinder übertragen wird.“ (Risswick 2006, S. 34).
Schmidt und Süßenbach bringen für den gestiegenen Leistungsdruck folgende Erklärung mit ein: „Besonders problematisch sind die gestiegenen Leistungsanforderungen durch die Eltern, da der schulische Erfolg von Kindern als entscheidende Vorbedingung für die Sicherung des sozialen Status, späterer beruflicher Qualifikationen und einem erwünschten sozialen Anstieg angesehen werden.“ (Schmidt & Süßenbach 2003, S. 11).
3.5 Auswirkungen
„Und doch ist Kindheit heute keine Kinderkrankheit, allerdings auch alles andere als ein Kinderspiel.“ (Größing & Größing 2002, S. 16).
Dieses sind noch längst nicht alle Aspekte der kindlichen Lebenswelt von heute. Betrachtet man die möglichen Auswirkungen, die diese Aspekte mit sich bringen, gibt es unterschiedliche Meinungen.
Wopp (2001, S. 69 ff.) geht davon aus, dass die Kinder heute andere Beschäftigungen trotz der veränderten Lebensbedingungen gefunden haben, die die Erwachsenen früher nicht hatten. Als Beispiel bringt er das Jojo-Spielen mit ein. Viele Kinder könnten hervorragend mit diesem Spielgerät umgehen. Es sei für die Kinder von heute bedeutsam, nicht aber die Sachen, die für ihre Eltern von Bedeutung waren, wie z.B. das auf einem Bein stehen. „Auf Grund der veränderten Lebensbedingungen und den Beobachtungen, dass Kinder anders Sport treiben als ihre Elterngeneration sollten wir zurückhaltend sein mit Bewertungen, wonach heute anders aufwachsende Kinder weniger belastbar sind und über ein ungenügendes, motorisches Können verfügen. Auf jedenfall sind sie anders belastbar und verfügen über andere motorische Fähigkeiten.“ (Wopp 2001, S. 70).
Im Gegensatz zu Wopp, betonen Größing & Größing (vgl. 2002, S. 13), dass die heutigen Kinder viel zu vielen Verlockungen zur Bewegungsarmut widerstehen müssten und diesen zunehmend häufiger unterlägen. Die Rede ist oft von „Bewegungsmängeln“, die die Kinder zu Beginn der Schulzeit mitbringen. Die Folgen seien an folgenden Körper- und Verhaltensmerkmalen zu erkennen:
- „Die beständige körperlich-motorische Entlastung der Kinder bewirkt einen statistisch nachweisbaren Rückgang der konditionellen und koordinativen Fähigkeiten und die Vermehrung der körperlichen Schäden (Haltungsverfall) und der gesundheitlichen Probleme.
- Der zeitlich immer größer werdende Medienkonsum verhindert die primären Wirklichkeitserfahrungen und reduziert die Vielfalt der Sinnes-wahrnehmungen auf die Vorherrschaft des Sehsinns. Die virtuelle Lebens- und Erlebniswelt lässt die übrigen Sinne (Gehör, Geschmack, Riechen, Gleichgewicht, Muskelsinn usw.) verkümmern.
- Der unbeschränkte Zugang zu allen Informationen (vor allem via Fernsehen und Internet) konfrontiert die Kinder zu früh mit den Themen Gewalt und Sexualität, bewirkt vorzeitige Sexualpraktiken und zunehmende Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung im Kindesalter.
- Die verstädterte Lebenswelt und Lebensweise entfernt die Natur immer mehr aus dem Alltag der Kinder. Die Naturentfernung führt zwangsläufig zur Naturentfremdung.“ (Größing & Größing 2002, S. 13).
Schlicht & Brand beschreiben als Auswirkung dieser Lebenswelten eine Veränderung der körperlichen Leistungsfähigkeit.
„Diese hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zum Teil deutlich abgenommen. Nach Rusch und Irrgang (2002) erreichen nur noch gut ein Fünftel (27%) der Kinder im Jahr 2001 die Durchschnittswerte ihrer Gleichaltrigen aus dem Jahr 1986. Gemessen wurde mit dem Münchner-Fitness-Test (MFT). Bös (2003) stellt für den Zeitraum von 1975 bis 2000 für nahezu alle grundlegenden Motorikbereiche (aerobe Ausdauer, Schnellkraft, Kraftausdauer, Aktionsschnelligkeit und Beweglichkeit einen signifikanten, durchschnittlich 10%-igen Leistungsabfall fest.
Auch Klaes, Cosler, Rommel und Zens (2003), welche Daten von mehreren Tausend Kindern und Jugendlichen mit dem MFT erfasst haben, berichten eine Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit während des Zeitraums von 1995 bis 2001/2002. Von den 10 bis 14-Jährigen, die in den Jahren 2001 und 2002 getestet wurden, erreichen nur noch 80% der Jungen und 74% der Mädchen die Durchschnittswerte einer Vergleichsstichprobe von 1995.“ (Schlicht & Brand 2007, S. 45).
Aufgrund der genannten Aspekte der Lebenswelt der Kinder von heute, ist die Unterrichts- und Erziehungsarbeit für die Lehrerinnen und Lehrer von Schulbeginn an umfangreicher und komplizierter geworden. Zu Schulbeginn kommen die Kinder durch diese Lebenswelt mit den unterschiedlichsten Erfahrungen und Bedingungen, auf die sich die Lehrerinnen und Lehrer einstellen müssen. Viele Lehrkräfte werden damit vor eine enorme Herausforderung gestellt, denn sie müssen mit den neuen und speziellen Aufgaben die sich daraus ergeben umgehen lernen.
Dadurch, dass sich die meisten Lebensbedingungen zum Nachteil in Bezug auf die kindliche Bewegung auswirken, ist es an dieser Stelle wichtig zu erkennen, wie bedeutungsvoll die Bewegung für Kinder - besonders im Schulanfängeralter - ist.
4 Der Schulanfänger
4.1 Die Bedeutung der Bewegung für Schulanfänger
Kinder
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Kinder wollen sich bewegen,
Kindern macht Bewegung Spaß,
weil sie so die Welt erleben,
Menschen, Tiere, Blumen, Gras.
Kinder wollen laufen, springen,
kullern, klettern und sich dreh`n,
wollen tanzen, lärmen, singen,
mutig mal ganz oben steh`n,
ihren Körper so entdecken,
und ihm immer mehr vertrau`n,
wollen tasten, riechen, schmecken
und entdeckend hören, schau`n,
fühlen wach mit allen Sinnen
innere Bewegung – Glück.
Laßt die Kinder dies gewinnen
und erleben Stück für Stück!
Karin Schaffner (2007, S. 5)
Die Bewegungsförderung, -anregung und -erziehung vom Anbeginn des Lebens ist deshalb so wichtig, weil dem Mensch nur ein kleiner Teil seiner Bewegungsfähigkeit angeboren ist. Der weitaus größere Teil der Bewegungstätigkeiten muss im Laufe des Lebens erworben werden (vgl. Größing 2001 und Haupt & Schmaus & Winterstetter 1996). Dadurch und durch die Tatsache, dass es in unserer Umwelt zu viele Umstände gibt, die Kinder zum Sitzen verlocken (siehe hierzu Kapitel 3), wird eine Erziehung zur Bewegung notwendig.
Die Bewegung ist außerdem unentbehrlich, weil sie den Kindern erst eine Auseinandersetzung mit sich selbst, mit seiner personalen, seiner räumlichen und materialen Mit- und Umwelt ermöglicht.
Zur Auseinandersetzung mit sich selbst zählt z. B. das Wahrnehmen der eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften und das Lernen damit umzugehen, eigene Möglichkeiten und Grenzen richtig einzuschätzen, das Erleben von Freude am eigenen Können, das Erfahren von Anspannung und Entspannung, von Wagnis und Gelingen, Ermüdung und Erschöpfung. Außerdem zählt die Freude am Zuwachs der eigenen Kräfte und der Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit hinzu.
Wird die Auseinandersetzung mit der personalen Mit- und Umwelt beschrieben, ist immer die Auseinadersetzung mit einer weiteren Person (Mitschüler, Lehrkraft, Eltern, etc.) gemeint. Hierbei eröffnet die Bewegung den Raum für das Zusammenspielen mit Anderen, sie ermöglicht Erfahrungen des Mithalten wollen und auch des Scheiterns, aber auch des Helfens und Geholfenwerdens. Durch die Bewegung kommen Kinder viel leichter mit anderen Personen in Kontakt. Es lässt sich sowohl miteinander als auch gegeneinander spielen und oft gibt es Gewinner und Verlierer. Die Bewegung eröffnet den Kindern sich gegenseitig in differenzierter Weise wahrzunehmen, sich zu streiten, Kompromisse zu schließen und sich wieder zu vertragen. Oft harren Kinder in Widerständen aus oder sind anderen Meinungen ausgesetzt, die es auszuhalten gibt.
Zur Auseinadersetzung mit der räumlichen und materialen Mit- und Umwelt können die Bewegungen auf Eis und Schnee oder im Wasser gemeint sein. Jedes dieser Zustände erweist besondere, sehr unterschiedliche Qualitäten. Aber auch die Erfahrungen mit bestimmten Gegenständen und deren Eigenschaften zählen dazu. Die sogenannten „materialen Erfahrungen“ sollen sogar eine hohe Bedeutung für die Denk- und Sprachentwicklung des Kindes haben.
Nicht zuletzt hat die Bewegung auch einen entscheidenden Anteil am Aufbau des Selbst- und des Weltbildes des Kindes (vgl. Haupt & Schmaus & Winterstetter 1996, S. 7 ff.).
Die Bewegung hat eine sehr weitreichende Bedeutung auf vielerlei Teilgebiete. Sie ist z. B. auch Voraussetzung für körperliches Wohlbefinden und Gesundheit. Betrachtet man den Körper genauer, dann verursacht eine ausreichende Bewegung eine positive stoffwechsel- und kreislaufstimulierende Wirkung auf fast alle wichtigen Organsysteme. Dadurch kommt es zu einer Steigerung der Belastbarkeit und der Leistungsfähigkeit dieser Organsysteme und des menschlichen Bewegungsapparates (vgl. Meinel & Schnabel 2007, S. 18). Dagegen durch einen dauerhaften Bewegungsmangel könnten Organschwächen und Übergewicht hervorgerufen werden.
„In der Bundesrepublik Deutschland haben von allen Schülern: 50 bis 60% Haltungsschwächen, 30 bis 40% Koordinationsschwächen, 20 bis 25% Herz-Kreislauf-Schwächen oder Kreislaufregulationsschwächen und über 50% Übergewicht.“ (Weineck 1997, S. 45).
Damit wird nur ein kleiner Teil der Auswirkungen eines dauerhaften Bewegungsmangels verdeutlicht, der an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden kann.
[...]
[1] Volksschule Gschwand (2007). Schulanfangszeitung, S.11. Zugriff am 30.Oktober 2009 unter http://schulen.eduhi.at/vsgschwandt/downloads/schulanfangszeitung07.pdf
[2] Ich möchte in diesem Fall vom Normalfall ausgehen. Es sollte dennoch jedem bewusst sein oder gemacht werden, dass es auch Kinder gibt, die in anderen Verhältnissen z.B. nicht bei Ihren Eltern aufwachsen.
[3] Wenn aus sprachlicher Sicht nur die männliche oder weibliche Form verwendet wird, sollte das nicht als Ausgrenzung des jeweils anderen Geschlechts gedeutet werden.
[4] In diesen Grundschulförderklassen werden zurückgestellte Kinder beschult, um eine optimale Förderung der Kinder zu erreichen und sie gegebenenfalls unterjährig in die erste Klasse einzugliedern. In Baden-Württemberg gibt es derzeit 243 Standorte mit 291Gruppen in denen Kinder gefördert werden.
[5] Außer durch schwere Krankheiten, wie z.B. die Phenylketonurie, die durch Gendefekte bedingt sind und die zu schweren körperlichen und geistigen Schädigungen führen können (vgl. Büttner 2006).
[6] Zum Beispiel mit einer Pränatalen Musik-Beschallung
[7] Diese Tatsache lässt sich unter anderem auf die Veränderungen in der Familienkonstellation zurückführen (siehe Kapitel 3.1), schließlich passten zu früheren Zeiten öfter die Großeltern oder älteren Geschwister auf die Jüngeren auf.
- Citation du texte
- Karina Köhler (Auteur), 2010, Bewegung, Spiel und Sport im Anfangsunterricht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/190788
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