In der vorliegenden Studie wurde untersucht, ob Kinder der dritten Grundschulklasse direkt oder indirekt aggressiv handeln würden, ob sie Rachephantasien haben und ob sie Emotionen, die sich auf negative Affekte wie Ärger beziehen, kontrollieren können.
Hierzu wurden insgesamt N = 103 Mädchen und Jungen aus zwei verschiedenen Grundschulen jeweils zu einem Messzeitpunkt befragt. Die Kinder waren zwischen 8 und 10 Jahren alt. Für die neu entwickelte Skala zu Rachephantasien ergaben sich zwei Subskalen, die mit Rachebefürwortung und Racheablehnung umschrieben wurden.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die teilnehmenden Kinder tendenziell dazu neigen, Rachephantasien zu haben, wobei Jungen geringfügig höhere Werte aufwiesen als Mädchen. Weiterhin besteht ein positiver Zusammenhang zwischen direkt und indirekt aggressiven Verhaltensweisen und der Befürwortung von Rache. Hinsichtlich der Regulierung von Emotionen mittels emotionaler Kontrolle wiesen sowohl Mädchen als auch Jungen Werte im mittleren Bereich auf.
Inhaltsverzeichnis
Kurzzusammenfassung
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Aggression
2.1 Definition von Aggression
2.2 Formen von Aggression
2.3 Exkurs: Abgrenzung der Begriffe Aggressivität und Gewalt
3 Erklärungsansätze für das Auftreten aggressiven Verhaltens
3.1 Die Frustrations-Aggressions-Theorie
3.2 Der kognitiv-neoassoziationistische Ansatz
3.3 Die sozial-kognitive Lerntheorie
3.4 Zusammenfassung der aufgeführten Theorien
4 Modelle zur Erklärung der Entstehung von aggressivem Verhalten
5 Erklärungsansatz zum Phantasiebegriff
6 Exkurs: Seelische Gesundheit und Rachephantasien
7 Theoretischer Hintergrund zum Rachebegriff
7.1 Formen von Rache
7.2 Rache als Phantasie - Rache als Handlung
7.3 Auslösebedingungen einer Rachehandlung
7.3.1 Soziale Zurückweisung
7.3.2 Machtlosigkeit
7.3.3 Geringschätzung
7.3.4 Erlebte Ungerechtigkeit
8 Geschichtlicher Hintergrund zur Rachethematik
8.1 Gesellschaft, kulturelle Einflüsse und Rache
8.2 Rache in der heutigen Zeit
9 Psychologische Aspekte zu Rache
10 Rache und Persönlichkeitsmerkmale
11 Entwicklung der Emotionsregulation
11.1 Ärger und seine Regulierung
11.2 Teilaspekte der Ärgerregulierung
12 Zusammenfassung
13 Zielsetzung der vorliegenden Arbeit
14 Hypothesen
14.1 Faktorenanalytische Überprüfung der Dimensionen
14.2 Kinder im Grundschulalter haben Rachephantasien
14.3 Zusammenhang zwischen direkt und indirekt aggressiven Verhaltensweisen und Rachebefürwortung- und ablehnung
14.4 Zusammenhang zwischen Rachebefürwortung, Racheablehnung und negativer Emotionalität
14.5 Zusammenhang zwischen emotionaler Kontrolle und Rachebefürwortung
14.6 Geschlechterunterschiede bei Rache und emotionaler Kontrolle
15 Methode
15.1 Stichprobe
15.2 Material
15.2.1 Aggression
15.2.2 Rachephantasien
15.2.3 Emotionsregulation
15.3 Durchführung
16 Ergebnisse
16.1 Aggressions- und Emotionsregulationsskala
16.2 Racheskala
16.3 Faktorenanalyse der Racheskala
16.4 Überprüfung der Hypothesen
16.4.1 Hypothese 1
16.4.2 Hypothese 2
16.4.3 Hypothese 3
16.4.4 Hypothese 4
16.4.5 Hypothese 5
16.4.6 Hypothese 6
17 Diskussion
18 Literaturverzeichnis
19 Anhang
Kurzzusammenfassung
In der vorliegenden Studie wurde untersucht, ob Kinder der dritten Grundschulklasse direkt oder indirekt aggressiv handeln würden, ob sie Rachephantasien haben und ob sie Emotionen, die sich auf negative Affekte wie Ärger beziehen, kontrollieren können.
Hierzu wurden insgesamt N = 103 Mädchen und Jungen aus zwei verschiedenen Grundschulen jeweils zu einem Messzeitpunkt befragt. Die Kinder waren zwischen 8 und 10 Jahren alt. Für die neu entwickelte Skala zu Rachephantasien ergaben sich zwei Subskalen, die mit Rachebefürwortung und Racheablehnung umschrieben wurden.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die teilnehmenden Kinder tendenziell dazu neigen, Rachephantasien zu haben, wobei Jungen geringfügig höhere Werte aufwiesen als Mädchen. Weiterhin besteht ein positiver Zusammenhang zwischen direkt und indirekt aggressiven Verhaltensweisen und der Befürwortung von Rache. Hinsichtlich der Regulierung von Emotionen mittels emotionaler Kontrolle wiesen sowohl Mädchen als auch Jungen Werte im mittleren Bereich auf.
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1 Aggressionsformen nach Krahé (2001)
Tabelle 2 Direkte und indirekte Formen körperlicher und verbaler Aggression nach Buss (1961, S. 8), entnommen aus Scheithauer (2003, S. 121)
Tabelle 3 Formen von Rache nach Maes (1994)
Tabelle 4 Emotionsregulationsstrategien in der Kindheit, nach Lohaus et al. (2010)
Tabelle 5 Aspekte von Regulierungsprozessen des Ärgergefühls
Tabelle 6 Deskriptive und statistische Kennwerte der Aggressionssubskalen und der Emotionalen Kontrolle
Tabelle 7 Itemmittelwerte und Standardabweichung der Racheskala mit prozentualen Antworthäufigkeiten
Tabelle 8 Faktorenladungen der Racheskala
Tabelle 9 Deskriptive und statistische Kennwerte der beiden Rachesubskalen
Tabelle 10 Korrelationen zwischen direkter und indirekter Aggression mit Rachebefürwortung und -ablehnung
Tabelle 11 Korrelationen von Rachebefürwortung mit Racheablehnung und Emotionaler Kontrolle
Tabelle 12 Statistische Kennwerte der Rachesubskalen und der Emotionsregulationsskala nach Geschlechtern getrennt
Abbildung 1 Phasen des Beobachtungslernens nach Jonas und Brömer (2002)
Abbildung 2 Kognitive Verarbeitungsschritte bei der sozialen Informationsverarbeitung bis zur Ausführung des Verhaltens, nach Crick und Dodge (1994)
Abbildung 3 Itemmittelwerte der Racheskala
1 Einleitung
In den letzten Jahren kam es an verschiedenen Schulen weltweit immer wieder zu Amokläufen von Schülern, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen und diverse Diskussionen z.B. über den Umgang mit gewalthaltigen Computerspielen, über das Aggressions- und gewaltpotential von Kindern und Jugendlichen sowie die Prävention von solch schweren Gewalttaten hervorriefen. Gerade bei jugendlichen Amokläufern ist häufig die Rede von bestimmten Phantasien, die sie im Vorfeld der Tat hegen und die zum Teil extrem gewalthaltigen Inhalts sind (vgl. Robertz & Wickenhäuser, 2010). In solchen Phantasien geht es u.a. um die Schädigung anderer, z.B. von Mitschülern oder Lehrern, die nicht selten gerächt werden sollen, weil sie aus Sicht der Täter für deren eigene Lebenssituation und daraus resultierende Probleme verantwortlich gemacht werden.
Grundlage der vorliegenden Arbeit war die Frage, ob Kinder im Grundschulalter bereits Rachephantasien haben, wie sie diese bewerten und ob sie geneigt wären, solche Phantasien auch in die Tat umzusetzen. Aufgrund des thematischen Zusammenhangs wurden die Themengebiete Aggression und Emotionsregulation in die Arbeit integriert.
Zum Untersuchungszeitpunkt der Fragebogenstudie gab es bislang keine weitere Studie, die sich konkret mit Rachephantasien bei Kindern im Grundschulalter beschäftigt.
Von dem Thema Aggression ausgehend, das sich vor allem bezüglich des Kindes- und Jugendalters als viel beachtetes Thema erweist, ist anzunehmen, dass Rachephantasien in Verbindung mit aggressionsbezogenen Phantasien stehen. Dabei ist vor allem die Entstehung aggressions- und rachebezogener Phantasien vor dem Hintergrund der kognitiven Vorgänge und Funktionen von Bedeutung. Die Verarbeitung von Reizen aus der Umwelt, deren Interpretation, der Vergleich und die Erinnerung mit bzw. an vorangegangene Ereignisse und die Handlungsentscheidung am Ende eines solchen Verarbeitungsprozesses legen die Vermutung nahe, dass Phantasien innerhalb dieses Prozesses auftreten und an der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Handlung beteiligt sein können.
Ob und wie eine Reaktion auf ein Ereignis umgesetzt wird, hängt wiederum entscheidend damit zusammen, inwiefern Kinder in der Lage sind, mit ihren Emotionen umzugehen. Anzunehmen ist hier, dass emotional kontrollierte Kinder überlegter handeln und damit impulsiv-aggressiven oder rachebezogenen Reaktionen keinen Raum bieten.
Zu Beginn der Arbeit werden verschiedene Aspekte zum Thema Aggression vorgestellt, die u.a. die Entstehung und das Auftreten von Aggressionen beinhalten. Anschließend geht es im Zusammenhang mit Aggressionsphantasien zunächst um die Bedeutung von Phantasieverhalten im Kontext der Psychohygiene sowie darauf folgend um Rache und rachebezogene Phantasien und Handlungen. Das Thema der Emotionsregulation mit dem Schwerpunkt der Regulierung von Ärger rundet den theoretischen Teil der Arbeit ab, um anschließend mit der Vorstellung und Auswertung der Fragebogenstudie fortzufahren.
2 Aggression
2.1 Definition von Aggression
In der Sozialpsychologie wird aggressives Handeln als absichtliches Handeln bezeichnet, welches das Zufügen von psychischem oder physischem Schmerz zum Ziel hat (vgl. Aronson, Wilson & Akert, 2008). Aus psychiatrischer Sicht wiederum ist Aggression als „Teil weiter reichender Syndrome […], z.B. der antisozialen Persönlichkeitsstörung“ (Wahl, 2009, S. 6) zu verstehen. Die Wortherkunft von „Aggression“ führt zur lateinischen Form „aggredi“, was „angreifen“ und „herangehen“ bedeutet (vgl. Wahl, 2009). Aggression kann aus subjektiver Sicht ein Angriff oder eine Beeinträchtigung der eigenen Person darstellen, sich objektiv über Normverletzungen oder dem Übertreten von Höflichkeitsregeln/Vorschriften äußern sowie anhand des Ausdrucksverhaltens der handelnden Person wahrgenommen werden (vgl. Kornadt, 2011).
Allein die weitreichenden Gebiete - von Politik über Medien, Wirtschaft oder Justiz bis hin zum alltäglichen Leben - auf denen sich Aggression äußern kann, lassen erahnen, auf welch unterschiedliche Art und Weise Aggression auftreten kann. Unschärfen bei der Definition von Aggression ergeben sich beispielsweise bei Überschneidungen mit den Begriffen Hass, Rache oder Gewalt. Hierbei ist von einer meist körperlichen Handlung mit Schädigungsabsicht auszugehen (vgl. Cierpka, Lück, Strüber & Roth, 2007). Eine nähere Beschreibung des Gewaltbegriffs sowie dem Begriff der Aggressivität und deren Abgrenzung zur Aggression folgt in Kapitel 2.3.
Eine Unterscheidung verschiedener Ebenen von Aggression nimmt Scheithauer (2003) vor. Er differenziert die motivationale, die emotionale und die Verhaltensebene. Die motivationale Ebene kennzeichnet sich durch die Schädigungsabsicht, die eine Person dazu motiviert, aggressiv zu handeln. Auf der emotionalen Ebene geht es um den Zusammenhang zwischen Frustration bzw. Ärger und Aggression. Hierbei spielen auch die „Intensität der Erregung [sowie] [situative] Einflüsse“ (Scheithauer, 2003, z. n. Lamnek, 2008, S. 197) eine Rolle. Die Verhaltensebene beinhaltet schließlich die Umsetzung von Aggression, d.h. die tatsächliche Handlung sowie körperliche Übergriffe oder feindselige Mimiken.
Trotz verschiedener Ansätze und Definitionsmöglichkeiten lässt sich festhalten, dass Aggression mit der Absicht verbunden ist, einer Person oder auch einem Gegenstand Schaden zuzufügen (vgl. Scheithauer, 2003). Wirft demnach ein Schüler beispielsweise beim Sportunterricht einem anderen Kind versehentlich einen Ball an den Kopf, so wird dies nicht als aggressive Handlung verstanden. Begeht der Schüler die gleiche Tat jedoch mit Absicht, muss dies als aggressives Verhalten bewertet werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Aggression als absichtliches, schädigendes Verhalten umschrieben werden kann, dessen Auftreten und Intensität von verschiedenen Einflüssen, wie z.B. dem erlebten Ärger in einer Situation und dem Gesamtkontext, in dem die Situation stattfindet, abhängt.
In den folgenden Abschnitten wird deshalb darauf eingegangen, inwiefern sich bestimmte Formen und Typen von Aggression unterscheiden lassen.
2.2 Formen von Aggression
Aggressives Verhalten kann sich auf unterschiedliche Art und Weise äußern. Tabelle 1 bietet einen Überblick zu den Typologien aggressiven Verhaltens. Krahé (2001) unterscheidet u.a. die Art der Ausführung einer aggressiven Reaktion, die verbal und physisch stattfinden kann, die Sichtbarkeit der Aggressionshandlung, die offen oder verdeckt geschehen kann oder auch den Anlass einer solchen Handlung, der keinen Grund haben muss oder aber als Racheakt, also vergeltend ausgeführt werden kann.
Tabelle 1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nach Cierpka (2002) ergeben sich Einteilungen von offener und verdeckt- hinterhältiger Aggression, von aktiv-ausübender und passiv-erfahrener Aggression, nach außen und nach innen gewandter Aggression (vgl. Cierpka, 2002). Petermann und Helmsen (2008) nennen einige Beispiele von aggressiv- dissozialem Verhalten, das sich u.a. in der Schule bemerkbar machen kann. So werden hier neben der Verletzung oder Schädigung von Personen oder Gegenständen auch das Wegnehmen von fremdem Eigentum, das Erreichen eines eigenen Vorteils zu ungunsten eines Anderen, das Übertreten sozialer Regeln ohne eine direkte Schädigung Anderer sowie oppositionelles Verhalten gegenüber Autoritäten oder Regeln unter den Bereich des aggressiv-dissozialen Verhaltens subsumiert (vgl. Petermann & Helmsen, 2008).
Die Form der sozialen Aggression erläutert Scheithauer (2003). Darunter werden Handlungen verstanden, „durch die interpersoneller Schaden durch nicht- konfrontative Methoden über die soziale Gemeinschaft verursacht wird“ (Scheithauer 2003, S. 122). Sie kann in direkter Form u.a. mittels verbaler Zurückweisung und auf indirekte Weise über das Verbreiten von Gerüchten oder dem Ausschluss aus einer Gruppe auftreten (vgl. Scheithauer, 2003).
Dass eine Einteilung zwischen direkten und indirekten Aggressionsformen einer genaueren Spezifizierung bedarf, lässt sich z.B. bei Buss (1961) feststellen. Er unterteilt die körperliche und verbale Aggression in direkte und indirekte Formen, wie es in Tabelle 2 ersichtlich wird. Die direkte, körperliche Aggressionsform wird hier als unmittelbarer Angriff einer Person, auch unter der Verwendung von Waffen, verstanden. Wird eine Person beschimpft, angeschrieen oder extrem zurechtgewiesen und es bleibt bei einem verbalen Ausagieren, so ordnet Buss dies der direkten, verbalen Aggressionsform zu.
Das Verbreiten von Gerüchten sieht Buss (1961) als indirekte verbale Form an, da das Opfer, über das Gerüchte gestreut werden, nicht anwesend ist. Die indirekte physische Form zeichnet sich durch die Schädigung von Besitz des Opfers aus: „[…]the victim is not hurt or injured, but objects associated with and valued by him are destroyed“ (Buss, 1961, S. 8).
Tabelle 2
Direkte und indirekte Formen körperlicher und verbaler Aggression nach Buss (1961, S. 8), entnommen aus Scheithauer (2003, S. 121)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Weiterhin wird zwischen der feindseligen und der instrumentellen Aggression unterschieden. Die feindselige Form entspringt der Motivation, jemandem Schaden zuzufügen, um daraus einen Zustand der Befriedigung zu erlangen (vgl. Wahl, 2009). Der instrumentellen Form liegt beispielsweise die Absicht zugrunde, eine Ressource zu erlangen. Dabei wird die mögliche Schädigung anderer in Kauf genommen, um eigene Interessen durchzusetzen.
Dass solch verschiedene Formen teils beobachtbar und messbar sind, bestätigt eine Untersuchung von Lösel aus dem Jahr 2003. Lösel (2003) fand unter 800 untersuchten Kindergartenkindern zwei Aggressionstypen heraus, die sich im Verhalten und im Hinblick auf Hormon-Messungen unterschieden. Fünf Prozent der untersuchten Kinder bezeichnete Lösel als „reaktiv-aggressive“ Kinder. Sie fielen durch ängstliches, aber auch impulsives Verhalten auf; fühlten sich durch ihr leicht erregbares Temperament schnell angegriffen. Dies schlug sich auch in den Cortisolwerten nieder, die mittels Speichelproben erhoben wurden. Die Kinder vom reaktiv-aggressiven Typus hatten die höchsten Cortisolwerte von allen untersuchten Kindern, was sich durch die sehr niedrige Erregungsschwelle des autonomen Nervensystems und schnellem Stressempfinden äußert (vgl. Possemeyer, 2003). Weitere drei bis vier Prozent gehörten nach Lösel (2003) dem instrumentell-aggressiven Typus an. Diese Kinder verhielten sich furchtlos und zeigten kaum Mitleid gegenüber anderen Kindern. Der instrumentell-aggressive Typus zeichnet sich durch geplantes, aggressives Handeln aus, indem er andere zu dominieren und die eigenen Ziele durchzusetzen versucht. Im Gegensatz zu den reaktiv-aggressiven Kindern hatten diese Kinder einen sehr niedrigen Cortisolwert und verspürten weniger Angst sowohl vor Gefahren als auch vor Strafandrohungen.
Cierpka und Kollegen (2007) nennen weiterhin den konstruktiven und den destruktiven Aggressionstypus. Den konstruktiven Typus zeichnet der starke innere Drang aus, seine Umgebung zu erkunden und sich gegenüber dieser durch „sensomotorische Aktivitäten“ (Cierpka et al., 2007, S. 87) zu behaupten. Diese Verhaltensweisen treten bereits bei Kindern unter sechs Monaten auf, kennzeichnen sich durch die Reaktion auf äußere Reize (z.B. über Bewegungen wie Tasten und Greifen) und werden von den Autoren aufgrund ihres sozialen und kommunikativen Charakters als häufig vorkommend und normal bezeichnet. Der destruktive Typus erlebt Wut- und Hassgefühle, die insofern nicht spontan entstehen, als sie die Folge von massiven Frustrations- und Unlusterlebnissen sind. Solche destruktiven Formen äußern sich bei Kindern und Jugendlichen beispielsweise als Störung des Sozialverhaltens (vgl. Cierpka et al., 2007).
Anhand der dargestellten Formen und Typologien wird deutlich, dass meist versucht wird, Aggressionsformen in einem dualistischen System wiederzugeben bzw. zu unterscheiden. Vor allem der Grund der Veranlassung einer Aggressionshandlung, der - wie aus Tabelle 1 ersichtlich wird - mitunter in einer Vergeltungstat bestehen kann, ist im Hinblick auf die Kapitel 6 und 7 dieser Arbeit relevant, wenn es um Rache und rachebezogene Phantasien gehen wird.
2.3 Exkurs: Abgrenzung der Begriffe Aggressivität und Gewalt
Wie eingangs bereits erwähnt wurde, hängen viele verschiedene Verhaltensweisen mit dem Aggressionsbegriff zusammen. Dabei sind jedoch manche Begrifflichkeiten von ihrer Bedeutung her von diesem zu unterscheiden. Hierzu zählen die Begriffe Gewalt und Aggressivität. Geht man bei der Aggression von einem schädigenden Verhalten aus, drückt die Aggressivität hingegen die Handlungsbereitschaft zu einem solchen Verhalten oder bestimmte feindselige Eigenschaften und Dispositionen für aggressives Verhalten aus (vgl. Scheithauer, 2003; Wahl, 2009).
Der Gewaltbegriff bezieht weitergehende Bereiche mit ein. Wie auch bei der Aggression ist Gewalt aus verschiedenen Blickwinkeln mit unterschiedlichen Definitionen versehen. So wird zwischen interpersonaler und struktureller Gewalt unterschieden, zwischen impulsiven, affektiven und vorsätzlichen gewalttätigen Handlungen. Der Begriff kann aus strafrechtlicher Sicht beleuchtet und in physische und psychische Bereiche eingeteilt werden (vgl. Scheithauer, 2003). Wahl (2009) erwähnt die ‚Gewalt von oben’ und ‚von unten’ und gibt dem Begriff der Macht in diesem Zusammenhang Bedeutung (vgl. Wahl, 2009). Es wird auch hier deutlich, dass eine allgemeine Definition durch verschiedene Sichtweisen auf Gewaltphänomene und damit verbundene Deutungen, Formen, Begründungen und Instrumentalisierungen erschwert wird. Wahl (2009) unternimmt dennoch den Versuch einer allgemeinen Beschreibung von Gewalt, auch im Hinblick auf die Abgrenzung zur Aggression:
Gewalt nennen wir die Teilmenge von Aggression, die durch Gesellschaft und Staat jeweils sozial- und kulturhistorisch unterschiedlich normierte Formen hat. Oft ist Gewalt in eine Hierarchie eingebettet. Je nach Situation gibt es gebotene, gewünschte, geduldete oder geächtete Formen von Gewalt. (S. 13)
Anderson und Bushman (2002) resümieren: „Violence refers to extreme forms of aggression, such as physical assault and murder. All violence is aggression, but not all aggression is violence” (Anderson & Bushman, 2002, S. 354).
Auch Diepold, Krannich, Sanders, Ratzke und Cierpka (1997) führen an, dass nicht jede Aggressionsform mit Gewalt gleichgesetzt werden kann. Unterschieden werden hier, wie auch bei Scheithauer (2003), gesellschaftliche und institutionelle Formen, den Vandalismus als eine gegen Sachen gerichtete Gewaltform sowie personenbezogene Formen von Gewalt, wie z.B. sexuelle oder fremdenfeindliche Gewalt.
Da manche Autoren den Gewalt- und Aggressionsbegriff teils synonym verwenden, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass in der vorliegenden Arbeit der Begriff Aggression verwendet und damit vom Gewaltbegriff unterschieden wird.
Im folgenden Kapitel werden verschiedene Ansätze vorgestellt und erläutert, die versuchen, das Entstehen aggressiven Verhaltens herzuleiten. Hierbei finden vor allem naturwissenschaftliche und philosophische Ansätze in Form eines Kurzüberblicks Berücksichtigung. Den Kern des Kapitels bilden jedoch die Ausführungen zu aktuellen psychologischen und pädagogischen Modellen aggressiven Verhaltens.
3 Erklärungsansätze für das Auftreten aggressiven Verhaltens
Naturwissenschaftler gehen bei Aggression von einem „[instinktiven], [menschlichen] Wesenszug“ (Aronson, Wilson & Akert, 2008, S. 383) aus, der jedoch ebenfalls erlernte Anteile von aggressivem Verhalten beinhaltet. In der Philosophie sind vor allem Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau zu nennen, die bereits im 17. bzw. 18. Jahrhundert Theorien zu den Wesenszügen des Menschen entwickelten. Ausgehend vom Naturzustand des Menschen, d.h. ohne zivile Gesellschaft, bestehe nach Hobbes ein permanenter Unsicherheitszustand aufgrund der Angst, von Mitmenschen getötet zu werden. Der aggressive Wesenszug des Menschen gründet sich demnach in der Annahme, dass permanent die Gefahr besteht, jeder müsse gegen jeden kämpfen und sich behaupten, um zu überleben. Um mehr Sicherheit zu gewinnen, schlössen sich deshalb einzelne Menschen zusammen (vgl. Aronson, Wilson & Akert, 2008). Erkennbar ist bei Hobbes’ Theorie also das Instinktverhalten und der Überlebenstrieb des Menschen zur Sicherung des eigenen Lebens (vgl. Aronson, Wilson & Akert, 2008; Zimbardo & Gerrig, 2004). Rousseau hingegen geht beim Menschen vom „mitfühlenden Einzelgänger“ (Aronson, Wilson & Akert, 2008, S. 383) aus. Er bezieht sich sehr stark auf die gesellschaftliche Entwicklung und an diese Entwicklung gekoppelten menschlichen Verhaltensweisen. In Anlehnung an gesellschaftliche Wandlungsprozesse verändere sich daher auch das Verhalten des Menschen.
Die biologisch orientierte Aggressionsforschung befasst sich vor allem mit zwei Komponenten: zum einen mit der erbgenetischen Verankerung von Aggressionen und zum anderen mit der neurophysiologischen Seite dieses Phänomens, z.B. mit der Bedeutung von bestimmten Gehirnregionen, Hormonen und Neurotransmittern (vgl. Kornadt, 2011).
Die Annahme aus der Hirnforschung, dass es bestimmte Aggressions- Zentren im Gehirn geben könnte, wurde mittels Experimenten bzw. Untersuchungen und Operationen bei Tier und Mensch überprüft. Es wurden Hinweise darauf gefunden, dass im Bereich des Mittelhirns und des Hypothalamus, genauer noch im Nucleus Amygdalae, Aggressionen ihre Funktionszentren haben, diese jedoch „nicht an bestimmte, punktuelle Bereiche des Zentralnervensystems gebunden sind“ (Myschker, 2005, S. 374).
Aus Sicht der Evolutionsforschung ist Aggression genetisch im Menschen angelegt. Der Grund dafür sei die Sicherung der Weitergabe eigener Gene. Dabei geht es zum einen um die Dominanz gegenüber anderen Männern und zum anderen um das Sicherstellen der Vaterschaft. Tiere verhalten sich aus evolutionstheoretischer Sicht ebenfalls aggressiv, „um sich den Zugang zu den gewünschten Partnern zu sichern und um die Ressourcen zu schützen, die ihnen und ihren Nachkommen das Überleben ermöglichen“ (Zimbardo & Gerrig, 2004, S. 805). Diese genetische Sichtweise auf die Frage nach dem Ursprung von Aggressionen vertritt auch Dawkins. Er sieht den Menschen als „Überlebensmaschine“, als ein eigennütziges Wesen, das auf die Sicherung des Fortbestands der eigenen Gene bedacht ist und somit in Konkurrenz zu anderen „Überlebensmaschinen“ steht (vgl. Lamnek, 2008). Aggressives Verhalten könnte somit als eine durch höhere Instanzen gesteuerte Strategie zum Überleben dargestellt werden. Auch der Einfluss der Hormone Testosteron und Progesteron wird bislang zumindest als aggressionsrelevant angesehen. Den Beleg für die biologisch orientierten Annahmen liefern z.B. Zwillingsuntersuchungen, Züchtungen mit hochaggressiven Tierstämmen und der aggressionsmindernde Effekt bei der Kastration männlicher Tiere (vgl. Kornadt, 2011).
Zu erwähnen ist hierbei dennoch, dass zwar Gemeinsamkeiten zwischen dem Menschen und ihm verwandten Tierarten bezüglich des Aggressionsverhaltens aufgrund der Evolutionsgeschichte bestehen. Allerdings müssen die beim Menschen viel höher ausgebildeten Kontroll- und kognitiven Steuerungsfunktionen berücksichtigt werden. Solche Steuerungsfunktionen haben Einfluss auf die Entstehung, Wahrnehmung und Umsetzung von Aggressionen. Zur weiteren Anschauung werden diesbezüglich im darauffolgenden Kapitel die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura (1962), die zu den lerntheoretischen Modellen gehört und vor allem für die Pädagogik von Bedeutung ist, herangezogen, sowie die zu den sozialpsychologischen Ansätzen gehörende Frustrations-Aggressions-Theorie und der kognitiv-neoassoziationisischen Ansatz vorgestellt.
3.1 Die Frustrations-Aggressions-Theorie
Ein lange Zeit sehr einflussreicher Deutungsansatz in der Aggressionsforschung ist die sog. Frustrations-Aggressions-Theorie der amerikanischen Forschergruppe um Dollard („Yale-Gruppe“), die Aggression als Folge von Frustration definiert. Frustration wird hier als „Unterbrechung einer zielgerichteten Handlung“ (Myschker, 2005, S. 386) verstanden. Aggression tritt auf, um das ursprünglich angestrebte Handlungsziel mit verstärktem Energieeinsatz zu erreichen (vgl. Merkens, 1989; Scheithauer, 2003). Dabei können Aggressionsverschiebungen (z.B. die Suche nach einem ‚Sündenbock’ als Ersatzziel) und Ersatzhandlungen (verbale anstelle von physischer Reaktion) auftreten. Als Erweiterung der Frustrations-Aggressions-Theorie kann der kognitiv-neoassoziationistische Ansatz von Berkowitz betrachtet werden, der nachfolgend näher erläutert werden soll.
3.2 Der kognitiv-neoassoziationistische Ansatz
Berkowitz entwickelte bereits in den 1960er Jahren seine Theorie der aggressiven Hinweisreize. Hiernach reagiert ein Mensch infolge einer Frustration eher aggressiv, wenn in seiner unmittelbaren Umgebung bestimmte aggressive Hinweisreize vorhanden sind (vgl. Möller, 2006). Im Umkehrschluss hieß das laut Berkowitz (1973), dass die Wahrscheinlichkeit einer feindselig-aggressiven Handlung durch die „Entfernung äußerer Reize, die aggressiv wirken könnten“ (Berkowitz, 1973, S. 158), herabgesetzt werden könne. In den 1990er Jahren erweiterte Berkowitz seine Ideen schließlich zur kognitiv-neoassoziationistischen Theorie, nach welcher aggressive Hinweisreize aggressionsbezogene kognitive Netzwerke aktivieren. Der Kernpunkt dieses Modells ist die Beschreibung, dass der Zustand eines negativen Affekts den grundlegenden Ausgangspunkt für Ärger und Aggression darstellt (vgl. Berkowitz, 1990). Dieser Zustand wird laut Berkowitz durch aggressionsbezogene Netzwerke (aggressive Gedanken, Erinnerungen und ärgerbezogene Gefühle, aggressionsspezifische motorische Reaktionen) aktiviert, die ihrerseits durch aggressive Hinweisreize angeregt werden. Über ein assoziatives Netzwerk, das bestimmte Bestandteile wie Gefühle, motorische und physiologische Reaktionen, Erinnerungen und Gedanken miteinander verbindet, werden Ärgergefühle mit entsprechenden Gedanken und Gefühlen sowie Reaktionen und Erinnerungen assoziiert. Wird einer dieser Bestandteile aktiviert, so geht Berkowitz davon aus, dass auch die anderen Bestandteile in Gang gesetzt werden. Je nach Assoziationsstärke verläuft die Aktivierung unterschiedlich (vgl. Möller, 2006). In einer Situation, in der sich z.B. ein Streit zwischen zwei Schülern zuspitzt, kann ein feindseliger Gesichtsausdruck genügen, sodass einer der Schüler aggressiv handelt, weil er diesen Gesichtsausdruck mit bestimmten Erlebnissen und Erfahrungen verbindet. Sind dabei zusätzliche Hinweisreize, wie beispielsweise eine Waffe vorhanden, begünstigt dies die Umsetzung einer aggressiven Handlung.
3.3 Die sozial-kognitive Lerntheorie
Ein heute sehr verbreiteter Ansatz, der auch unter dem Namen Modelllernen bekannt ist, stammt von Bandura (1962). Die früher als soziale Lerntheorie bezeichnete sozial-kognitive Lerntheorie Banduras (1962) gibt Aufschluss darüber, wie sich verschiedene Verhaltensweisen, äußere Einflussfaktoren und weitere individuelle, d.h. kognitive sowie biologische Faktoren des Menschen zum einen gegenseitig beeinflussen und zum anderen wechselseitig bedingen.
Drei wichtige Kernkonzepte dieser Lerntheorie stellen die Symbolisierung, das vorausschauende Denken und die Selbstreflexion dar, die die Grundlage für Selbstregulation und Modelllernen bilden. Die Fähigkeit zur Symbolisierung gibt dem Menschen Anlass, bestimmte Erlebnisse mit einer Bedeutung zu versehen und sie zu verstehen; hier sind kognitive und sprachliche Fähigkeiten gefragt, die helfen, bestimmte Erlebnisse wiederzugeben und zu verarbeiten (vgl. Jonas & Brömer, 2002). Kinder, die ihre Erlebnisse oder Empfindungen nicht oder nur teilweise verbal äußern können, ihnen also keinen Ausdruck verleihen können, zeigen somit aufgrund der mangelnden Symbolisierungsfähigkeit Aggressionen, um ihre Erlebnisse und Emotionen auf eine andere Weise zu bewältigen. Ohne die Symbolisierungsfähigkeit wäre laut Bandura ein vorausschauendes Denken nicht möglich. Dieses wiederum befähigt das Individuum zur Vergegenwärtigung von gewissen Zielzuständen des eigenen Handelns: Welche Konsequenzen hat mein Handeln, was bewirke ich mit meinem Handeln und gibt es eventuelle Handlungsalternativen?
Die Selbstreflexion hingegen meint das Nachdenken über die Realitätsangemessenheit der eigenen Gedanken sowie „das Ausmaß der Kontrolle über das eigene Verhalten“ (Jonas & Brömer, 2002, S. 278). Insbesondere im Diskurs über den Erwerb sozialer Kompetenzen scheinen diese Fragen zentral zu sein - im Falle einer Situation, in der Aggressionen zum Vorschein treten, umso mehr, da hier die Reflexion des eigenen Denkens und Handelns womöglich Eskalationen verhindern könnte. Welche Verhaltensweisen Individuen jedoch wählen, hängt von einer weiteren Komponente ab, z.B. der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit. Diese drückt die individuelle Überzeugung aus, ein gewisses Verhalten ausüben zu können oder nicht.
Dass Individuen zu einem großen Teil durch Beobachtung, aber auch durch Beeinflussung von verbalen und bildhaften Ausdrücken und Darstellungen lernen, greift Banduras Theorie der symbolischen Modellierung, oder besser bekannt als Modelllernen oder Beobachtungslernen mit den in Abbildung 1 dargestellten vier Phasen „Aufmerksamkeitszuwendung“, „Behaltens- und Reproduktionsphase“ sowie der „motivationalen Phase“, auf.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Phasen des Beobachtungslernens nach Jonas & Brömer (2002)
Dabei werden Verhaltensschemata durch Beobachtung kognitiv erworben und bei der Reproduktion und Aufrechterhaltung solcher Verhaltensweisen durch äußere Einflüsse, wie beispielsweise einer Belohnung oder Bestrafung, beeinflusst (vgl. Lenzen, 2005). So wird ein Kind, das ein anderes Kind beim aggressiven Umgang mit einer Puppe beobachtet, welches im Nachhinein von einer erwachsenen Person bestraft wird, diese Handlung nur dann ebenfalls ausführen, wenn kein Erwachsener anwesend ist. Wer einer Person als Modell dienen kann, hängt von der Identifikationsmöglichkeit (Vorbildfunktion) ab. Weist eine Person Machtkomponenten oder sozial hochbemessene Attribute auf, übernehmen Kinder bevorzugt deren Verhalten (vgl. Lenzen, 2005).
Banduras Theorie vom Lernen am Modell ist für die Pädagogik nach wie vor von Aktualität, da sie ausdrückt, dass Erwachsene, aber auch Medien wie der Fernseher, mit ihrem eigenen Verhalten bzw. dem Inhalt Einfluss auf Kinder haben, die dieses Verhalten beobachten und nachahmen können. Werden aggressive Verhaltensweisen beobachtet, die womöglich als geeignetes Mittel zur Problemlösung vermittelt werden, so ist das Risiko groß, dass ein solches Verhalten von Kindern übernommen wird. Die Theorie des Modelllernens verdeutlicht somit, dass für das Auftreten von Aggression kein spezifischer Auslöser vonnöten ist, sondern vielmehr ein Prozess des Beobachtens und Lernens stattfindet, der dazu hinführt, aggressiv zu handeln.
3.4 Zusammenfassung der aufgeführten Theorien
Die Frustrations-Aggressions-Theorie sieht im Gegensatz dazu einen äußeren Einfluss an der Auslösung von Frustration und darauf folgend von Aggression beteiligt, nämlich die Behinderung am Erreichen eines Handlungsziels. Der erhöhte Erregungszustand einer Person, der durch eine Frustration auftritt, stellt allerdings eine Verbindung zwischen dem Lernen am Modell und der Frustrations-Aggressions-Theorie her. Wenn eine Person bemerkt, dass es ihr durch aggressives Handeln gelungen ist, ihren erhöhten Erregungszustand wieder zu normalisieren, erfährt sie nicht nur eine Erleichterung, sondern lernt gleichzeitig: Wenn ich mich mittels Aggression in bestimmten Situationen beruhigen kann, ist dies mein geeignetes Mittel der Wahl.
In der Erweiterung der Frustrations-Aggressions-Theorie führte Berkowitz (1973) im kognitiv-neoassoziationistische Ansatz an, dass nach der Frustration zunächst ein Zustand emotionaler Erregung eintritt, der wiederum Gedanken, Erinnerungen und weitere Prozesse im menschlichen Gedächtnis hervorruft und damit eine innere Bereitschaft für aggressives Handeln aktiviert. Wenn zudem Hinweisreize in der Situation vorhanden sind, beispielsweise der Zugang zu einer Waffe, kann es zur aggressiven Handlung kommen. Da Berkowitz (1973) die Bedeutung des assoziativen Netzwerks hervorhebt, in dem auch bestimmte Erfahrungen und Erinnerungen eine Rolle spielen, lässt sich auch hier eine Verbindung zum Modelllernen herstellen. Hat ein Kind Erfahrungen mit aggressiven Verhaltensweisen gemacht und dabei gelernt, dass aggressives Handeln ein geeignetes Durchsetzungsmittel ist, so erinnert es sich in neuen Situationen an diese Erfahrungen und setzt dieses Mittel mit höherer Wahrscheinlichkeit ein als ein Kind, das diese Erfahrungen noch nicht gemacht hat.
Zwar sind sowohl die Theorie der Yale-Gruppe als auch das Modell von Berkowitz im Hinblick auf die Aggressionsforschung bedeutsam gewesen, sie wurden jedoch durch neuere Modelle abgelöst bzw. erweitert. Hierzu zählen das soziale Informationsverarbeitungsmodell (SIP) nach Crick und Dodge (1994) und das General Aggression Model (GAM) von Anderson und Bushman (2002). Die Vorstellung der netzwerkähnlichen Strukturen in der Verarbeitung von aggressionsspezifischen Reizen bei Berkowitz finden sich beispielsweise im GAM wieder. Im Folgenden soll anhand des SIP-Modells aufgezeigt werden, welcher Weg - von einem auslösenden Reiz bis zur tatsächlichen Handlung - vollzogen werden kann, bis eine aggressive Tat stattfindet. Elemente dieses Modells finden sich auch im General Aggression Model wieder, das ebenfalls nun näher erläutert wird.
4 Modelle zur Erklärung der Entstehung von aggressivem Verhalten
Die Annahme, dass aggressives Verhalten ein erlerntes Verhalten ist, bildet die Grundvoraussetzung für das Modell der sozialen Informationsverarbeitung nach Crick und Dodge (1994). Dieses Modell nimmt „bestimmte kognitive Prozesse als Mediatoren an, die eine Verbindung zwischen biologischen, Umgebungs- und situationalen Reizen und dem resultierenden Verhalten herstellen“ (Möller, 2006, S. 35). In dem Modell treten 5 kognitive Verarbeitungsschritte nacheinander auf, an deren Ende schließlich die Ausführung eines Verhaltens steht (Abbildung 2).
Crick und Dodge (1994) nehmen an, dass Kinder bestimmte Reize aus der Umwelt sowie Reize innerhalb der eigenen Person bekommen oder wahrnehmen, diese enkodieren und anschließend interpretieren. Der Interpretationsvorgang kann durch im Gedächtnis gespeicherte Erfahrungen und Informationen beeinflusst oder gesteuert werden. Im nächsten Schritt wird ein Ziel ausgewählt, d.h. ein vom Kind erwünschter Ausgang der Situation. Hier stellen sich beispielsweise Fragen, ob Schwierigkeiten mit dem Interaktionspartner vermieden werden, ob sich am Provokateur gerächt oder Freundschaft geschlossen wird oder ob man z.B. ein erwünschtes Spielzeug erlangen möchte. Nachdem entschieden wurde, welches Ziel fokussiert werden soll, beginnt die Suche nach Handlungsalternativen im Gedächtnis. Befindet sich das Kind in einer für ihm neuen Situation, werden neue Verhaltensweisen in Antwort auf direkte soziale Hinweisreize konstruiert. Je nach bestimmten Ergebniserwartungen, der Selbstwirksamkeit (self-efficacy) des Kindes und der Bewertung/Angemessenheit der gewählten Handlung entscheidet sich das Kind für eine Reaktion. Im letzten Schritt schließlich wird die Handlung dann ausgeführt.
Anderson und Bushman (2002) integrieren in ihrem General Aggression Model mehrere Theorien über die Entstehung aggressiven Verhaltens. Das Modell basiert auf der Annahme, dass aggressives Handeln auf dem Erlernen, der Aktivierung und Anwendung von Wissensstrukturen gründet, die im Gedächtnis gespeichert sind und einen Bezug zu Aggression haben. Situative Variablen (alle wichtigen Merkmale einer Situation, z.B. aggressive Hinweisreize, Provokation, Frustration, Schmerz und Unwohlsein, Drogen, bestimmte Anreize, die Aggression hervorrufen können) und personale Variablen, d.h. alle Charakteristika, die eine Person mit in die Situation bringt (z.B. prädisponierende Charaktereigenschaften, feindselige Attribuierung oder bestimmte Überzeugungen und Einstellungen bezüglich aggressiven Verhaltens), werden als Inputs bezeichnet und stellen beeinflussende Faktoren auf mögliche aggressive Handlungen dar (vgl. Anderson & Bushman, 2002).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2. Kognitive Verarbeitungsschritte bei der sozialen
Informationsverarbeitung bis zur Ausführung des Verhaltens nach Crick & Dodge (1994).
Die situations- und personenabhängigen Variablen beeinflussen innere Zustände (Routes genannt) der Kognition (feindselige Gedanken, aggressive Skripts), des Affekts (Gefühl und Emotion, z.B. Schmerz, unangenehme Temperaturen, automatische Reaktionen wie beispielsweise bestimmte Gesichtsausdrücke) und der Erregung (körperliche Veränderungen wie z.B. schnelles Herzklopfen). Es folgen Auswertungs- und Entscheidungsprozesse (sog. Outcomes). Hieran sind automatische Prozesse („sofortige Auswertung“) und kontrollierte Prozesse („Neubewertung“) beteiligt, die die letztendliche Handlung (in einer sozialen Interaktion - „person in the situation“, Anderson & Bushman, 2002, S. 34) veranlassen.
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- Theresa Nadler (Autor), 2012, Aggression und Rachephantasien bei Kindern im Grundschulalter, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/190167
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