Im ersten Abschnitt befasse ich mich mit der sexuellen Assistenz für MmB und beschreibe die Unterschiede zwischen passiver und aktiver Assistenz. Als Teil der aktiven Assistenz gehe ich auf die Sexualbegleitung ISBB® in Trebel und die Prostitution gesondert ein.
Im zweiten Teil widme ich mich der Sexualität und ihren unterschiedlichen Aspekten. Dabei beschreibe ich den biologischen, soziosexuellen und psychosexuellen Aspekt, sowie die Entfaltung der Sexualität im zeitlichen und kulturellen Wandel.
Im dritten Teil stelle ich die besonderen Umstände dar, die für die Sexualität von MmB in dieser Gesellschaft und im Allgemeinen gelten (z.B. die erhöhte Missbrauchsgefahr). Dabei interessieren mich die gesellschaftlichen Vorurteile, deren Wirkung auf den Umgang mit Sexualität und Behinderung abstrahlt. Ich begegne der Frage, ob es ein „Recht auf Sexualität“ gibt und versuche Ansätze zu finden, warum gelebte Sexualität zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen kaum stattfindet(oder stattfinden darf?).
Der vierte Teil der Arbeit befasst sich größtenteils mit den Aussagen, die ich aus unterschiedlichen Quellen herausgearbeitet habe. Dazu interviewte ich zwei Sexualbegleiter in der Schweiz und zwei Sexualbegleiterinnen aus Deutschland. Des Weiteren besuchte ich einen sog. Erotikworkshop in Trebel, wo ich die Möglichkeit fand zwei männliche, körperbehinderte Kunden zur SB zu befragen. Auf einen Aufruf im Internet hin meldete sich ein junger Mann mit einer Körperbehinderung, der sich meinen Fragen schriftlich stellte. Seine Erfahrungen beziehen sich auf Treffen mit Prostituierten. Um darüber hinaus auch die sexuellen Möglichkeiten und Einschränkungen von MmB in einer Institution im Blick zu haben, sprach ich mit einer Mitarbeiterin des psychologischen Fachdienstes der Bruderhausdiakonie in Reutlingen.
So ergibt es sich, dass sich drei Perspektiven auf SB und Prostitution ergeben. Die der Kunden, die der Anbieter (wobei nur SBter interviewt wurden) und die Sichtweise einer Institution.
Im der Schlussbetrachtung und Ausblick, gleichzeitig fünften und letzten Teil der Arbeit versuche ich das gewonnene Wissen zusammenzufassen und in Verbindung zu bringen.
Dabei will zu einer Klärung der Frage kommen, welche Bedeutung käufliche, sexuelle Dienstleistungen im Leben eines MmB zukommen können und ob sie den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden.
Inhaltsverzeichnis
I. Danksagung
II. Sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter
III. Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Sexuelle Assistenz
2.1 Passive Assistenz
2.2 Aktive Assistenz
2.2.1 Sexualbegleitung ISBB®
2.2.1.1 Richtlinien der Sexualbegleitung ISBB®
2.2.1.2 Erotik-Workshop für MmB in Trebel
2.2.1.3 Ausbildung zum Sexualbegleiter ISBB®
2.2.2 Prostitution
3 Sexualität
3.1 Biologische und physiologische Aspekte
3.2 Soziosexuelle Aspekte
3.3 Aspekte bei der Partnersuche
3.4 Gesellschaftliche Konventionen
3.5 Psychosexuelle Aspekte
3.6 Zeitlicher und kultureller Wandel
4 Behinderung und eine verhinderte Sexualität
4.1 Lebenssituation von MmB
4.2 Gesellschaftliche Vorurteile
4.3 Vom Recht auf Sexualität
4.4 Sex mit einem Behinderten – Ein No-Go!
4.4.1 Gattungsinteresse
4.4.2 Anspruchsdenken
4.4.3 Gesellschaftliche Bewertung
4.4.4 Weitere Interessenssysteme
4.4.5 Fazit
4.5 Was ist pervers? – Amelos berichten
4.6 Internet als Hilfe zur Sex- und Partnersuche
5 Interviews
5.1 Kundensicht
5.1.1 Die Interviewpartner
5.1.2 Sexualität
5.1.3 Beweggründe für käuflichen Sex
5.1.4 Vorerfahrungen
5.1.5 Erfahrungen und Berichte mit käuflichen Sex
5.1.6 Für sich gelernt
5.1.7 Sexualbegleitung und Prostitution
5.1.8 Geschlechtsverkehr
5.1.9 Erstkontakt/Initiative
5.1.10 Hindernisse im Prostitutionsgewerbe
5.1.11 Geschäft mit dem Gefühl
5.1.12 Selbstbefriedigung
5.1.13 Partnersuche
5.1.14 Familie/Betreuer/Umfeld
5.1.15 Finanzielle Lage und Finanzierbarkeit
5.1.16 Wohnen
5.1.17 Wünsche und Anliegen
5.2 Institutionelle Sicht
5.2.1 Die Interviewpartnerin
5.2.2 Bedeutung von und Bedarf nach Sexualität bei MmgB
5.2.3 Besondere Bedürfnisse von MmgB
5.2.4 Bedarf an Sexualbegleitung
5.2.5 Sexualbegleitung und Prostitution
5.2.6 Verhütung und Genitalverkehr
5.2.7 Selbstbefriedigung
5.2.8 Aufklärung
5.2.9 Partnersuche
5.2.10 Schwierigkeiten bei der Realisation von Partnerschaften
5.2.11 Einstellungen von Familie und Umfeld:
5.2.12 Missbrauch
5.2.13 Entwicklungsmöglichkeiten, Wünsche und Anliegen
5.3 Anbietersicht
5.3.1 Die Interviewpartner
5.3.2 Über Sexualbegleitung
5.3.3 Erfahrungen
5.3.4 Ablauf der Begleitung / eines Dates - Nachbetreuung
5.3.5 Grenzen während der Begleitung
5.3.6 Unterscheidung zur Prostitution
5.3.7 Schwierigkeiten bei der Begleitung
5.3.8 Lust und Unlust
5.3.9 Abscheu
5.3.10 Motivation
5.3.11 Sexuelle Biografie
5.3.12 Wichtige Eigenschaften als Sexualbegleiter
5.3.13 Sexualbegleitung für Nichtbehinderte
5.3.14 Schwerstmehrfachbehinderte
5.3.15 Veränderungen beim Kunden
5.3.16 Liebe und Verliebtsein
5.3.17 Sex auf Rezept
5.3.18 Unterschiede bei der Begleitung von MmgB und MmkB
5.3.19 Schwierigkeiten mit Institutionen
5.3.20 Tantra
5.3.21 Gesellschaftliche / soziale Resonanz
5.3.22 Die Zukunft / Die Wünsche
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
7 Literaturverzeichnis
8 Internetquellen
9 Filmverzeichnis
I. Danksagung
Zu den angenehmen Pflichten eines Autors gehört zweifellos die Danksagung. Damit wird klar, dass nun die Abgabe der Arbeit in greifbare Nähe rückt, mit der ich mich monatelang beschäftigt habe.
Ich möchte in meiner Arbeit vor allem meinen Interviewpartnern für ihre Offenheit danken. Jochen, Sebastian, Sarunas, Natalie, Christa, Damien und Heinz (Namen wurden von mir geändert), fühlt euch herzlich gedankt. Ohne eure Bereitschaft, mir Einblick in eure Tätigkeit und euer Leben zu gewähren, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.
Desweiteren danke ich all den Menschen, die mir Korrektur gelesen haben und mich in dieser Hinsicht tatkräftig unterstützten. Zuletzt danke ich Prof. Dr. Weiß und Prof. Dr. Stinkes bei der Betreuung meiner Arbeit und wünsche angenehmes Lesevergnügen.
II. Sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter
Um die Arbeit leserfreundlich zu gestalten, wurde auf eine durchgehende Nennung beider Geschlechter verzichtet. Wo nur die männliche oder weibliche Form verwendet wird, kann davon ausgegangen werden, dass auch immer das andere Geschlecht gemeint ist.
III. Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Während meines Studiums der Sonderpädagogik wurde ich erst gegen dessen Ende mit der Thematik SB konfrontiert. Es wurde deutlich, dass die Sexualität von behinderten Menschen ein Thema ist, dem in meinem Studium bislang wenig Bedeutung zugekommen war. Zwar war mir bekannt, dass es Studien zu Elternschaften von MmB gibt oder dass die Zwangssterilisation erst seit kurzer Zeit verboten worden ist. Ebenfalls hatte ich gelernt, dass sich diese Menschengruppe in Lebensbereichen wie Wohnen, Freizeit oder Arbeit mit mehr oder weniger starken Diskriminierungen konfrontiert sieht. Mit einem konkreten Bedürfnis dieser Menschen nach Sexualität hatte ich mich jedoch nicht auseinandergesetzt. Ich schien nicht der Einzige zu sein, dem es so ging.
Sexualität ist ein heikles Thema, was sich schon daran zeigt, dass im Allgemeinen eher privat als öffentlich darüber gesprochen wird. Die Erfüllung der Bedürfnisse von MmB ist meistens auf das beschränkt, was die betreuenden Institutionen vorgeben bzw. zulassen, oder was der MmB vom Staat rechtlich einfordern kann, da eine Nichterfüllung seines Bedürfnisses gegen geltendes Menschenrecht verstoßen würde (vgl. VOM RECHT AUF SEXUALITÄT).
Es kommt immer dann zu einer Verbreitung eines neuen Bewusstseins über Belange behinderter Menschen, wenn darüber diskutiert wird. Die öffentliche Debatte erreicht nicht nur mehr Menschen, sondern kann auch den Anstoß geben, althergebrachte Strukturen innerhalb von Institutionen oder restriktive Gesellschaftseinstellungen zu modifizieren. Verändert sich die öffentliche Meinung dauerhaft, so braucht es meist nicht lange, bis die Gesetze durch neue Richtlinien an die geschehenen Veränderungen angepasst werden. Dies wird erst möglich, wenn die Veränderungen innerhalb des öffentlichen Bewusstseins bereits vollzogen sind. Konkret bedeutet dies, dass die Sexualität von behinderten Menschen einer öffentlichen Debatte bedarf, wenn man die allgemeine Vorstellung davon beeinflussen möchte.
Im Umkehrschluss wirft dies die Frage auf, was es für die betroffenen Menschen bedeutet, wenn ihre Sexualität durch die Gesellschaft (auch die Betreuer, Helfer, Eltern, Angehörige von MmB rekrutieren sich aus der Gesellschaft) größtenteils verschwiegen oder negiert wird?
Im Folgenden möchte ich meine persönlichen Erfahrungen bezüglich Sexualität und Behinderung erläutern, damit ersichtlich wird, warum ich den Schwerpunkt in meiner Arbeit auf die Themenfelder Sexualität, Behinderung und sexuelle Dienstleistungen legen möchte.
Ich erinnere mich noch an meine erste Begegnung mit der Sexualität eines geistig behinderten Mannes namens Angel-Sereno, während meines „Anderen Dienstes im Ausland“ in Madrid in einer Einrichtung für behinderte Menschen. Angel-Sereno muss damals um die 30 Jahre alt gewesen sein. Eines Tages erwischte ich ihn, wie er draußen, an die Wand des Heims gelehnt, masturbierte. Vor sich hatte er den Boden mit Zeitungen ausgelegt, um sich an kleinen Bildern der Sex-Annoncen zu erregen. Im ersten Moment war ich ziemlich verwirrt. Nicht wegen des Umstands der Masturbation, sondern weil ich dabei zusehen musste und mir diese Situation unangenehm war. Es gehörte sich nicht in der Öffentlichkeit zu onanieren und es gehörte sich nicht dies zu beobachten, dachte ich. Er hatte mich durch sein Handeln in eine mir äußerst peinliche Situation gebracht. Ich bat ihn die Toilette aufzusuchen und dort weiterzumachen. Er, der selbst ein wenig erschrocken schien, gehorchte umgehend. Ich brachte ihn zur Toilette, worin er verschwand und die Tür hinter sich verschloss. Nach 5 Minuten machte ich einen Kontrollgang durch das Haus und entdeckte ihn im Zimmer eines anderen Bewohners. Wieder lag das erigierte Glied in seiner Hand. Ich schickte ihn abermals auf die Toilette, diesmal wesentlich deutlicher, denn ich war mittlerweile wütend geworden. Er hatte also bewusst damit gerechnet von mir oder jemandem anderen ertappt zu werden.
Damals sah ich wohl ein, dass dieser Mensch das Verlangen nach Sexualität hatte und ich erkannte auch eine gehörige Portion Exhibitionismus in seinem Verhalten. Aber es fiel mir schwer, die seinem Verhalten innenwohnende Verzweiflung, mit der er als Mann und sexuelles Wesen nach Ausdruck verlangte, zu verstehen oder in seine Lebensumstände als Heimbewohner einzuordnen.
Derselbe Mann befriedigte sich eines Nachts anal mit einer Taschenlampe. Ich fand sie am Morgen befleckt mit den Spuren der nächtlichen Tätigkeit auf seinem Nachttisch. Darauf hatte ich ebenso wenig eine Reaktion parat. Vielmehr reagierte ich gar nicht und die Heimleitung, der ich davon erzählte, tat auch nichts.
Bei dem Heim handelte es sich um eine geschlossene Einrichtung mit anthroposophischer Ausrichtung. Bei der Verpflegung verzichtete man bewusst auf starke Gewürze, um die Libido der Heiminsassen gering zu halten. Sexuelle Übergriffe unter den Bewohnern, welche teilweise in Doppelzimmern untergebracht waren fanden in besorgniserregender Regelmäßigkeit statt.
Einen besonders eindrücklichen Fall will ich hier kurz schildern. Eines Morgens wurde ich in aller Eile gerufen, um Miguel, einen Bewohner mit Trisonomie 21, zu beruhigen. Er war gerade dabei die gesamte Inneneinrichtung seines Zimmers zu zerstören. Vor der Tür seines Zimmers standen die weiblichen Betreuer und trauten sich nicht hineinzugehen. Ich hörte Wutschreie und das Zersplittern von Glas. Als ich die Zimmertür öffnete, flog mir ein Bettgestell entgegen. Meine einzige Chance bestand darin, mich auf Miguel zu werfen und ihn mit aller Kraft auf den Boden zu drücken. Es gelang, auch wenn er versuchte sich in meine Hände und Arme zu verbeißen. In dem stämmigen, breitnackigen Mann schlummerte eine unheimliche physische Kraft. Die eilfertigen Betreuerinnen fesselten ihm die Hände, auf dass er sich mit der Zeit wieder beruhigen würde. Mein Hemd war schweißnass als ich den Raum verließ, unfähig zu verstehen was in diesem Menschen vor sich gegangen war. Er war mir zuvor noch nie durch Aggressionen aufgefallen. Miguel war ein ruhiger Bewohner. Er war geistig stark eingeschränkt, hatte autistische Züge, praktizierte keine Verbalsprache und kommunizierte im Allgemeinen sehr wenig. Nach dem Vorfall wurde er von dem Doppelzimmer, das er sich mir José, ebenfalls ein Mensch mit der Diagnose Down-Syndrom, teilte, in ein Einzelzimmer verlegt. Einer Betreuerin fiel bei der Pflege auf, dass Miguel Wunden im Afterbereich und Kratzspuren am Gesäß hatte. Man kam zu dem Schluss, dass José versuchte hatte Miguel in der Nacht vor dem besagten Morgen zu vergewaltigen.
Es gab keine Pärchen unter den ca. 20 gemischt-geschlechtlichen Bewohnern. Keines der Zimmer ließ sich von innen abschließen, viele wurden jedoch über Nacht von außen abgeschlossen. Aus der Intention heraus seine sexuelle Energie in geregelte Bahnen zu lenken, wurde Angel-Sereno angeraten, sich mit Pilar zu befreunden, einer jungen Frau mit Down-Syndrom. Er verschloss sich jedoch jedem „Kupplungsversuch“ seitens der Heimleitung. Sie entsprach nicht dem was er wollte, denn sie sah ihm, wie er sagte, zu „behindert“ aus. Als er sich weigerte der „wohlwollenden“ Intention der Heimleitung Folge zu leisten, reagierten manche Pflegerinnen mit offenen Vorwürfen.
Pilar, ca. 25 Jahre alt, die nur zu gerne bereit gewesen wäre mit Angel-Sereno eine Bindung einzugehen, suchte bei den männlichen Betreuungskräften Trost. Ständig war sie in der Nähe von uns jungen Zivildienstleistenden, betrachtete uns als ihre „Freunde“ und verhielt sich teilweise sehr verliebt. Wir versuchten dies zu ignorieren oder schickten sie bei anhaltenden Annährungsversuchen weg. Es gab keine Versuche, sie außerhalb des Heims mit männlichen Personen in Kontakt zu bringen.
Eine Frau, deren Namen mir in der Zwischenzeit entfallen ist, wurde in meiner Zeit in Spanien sterilisiert. Ob ihre Einwilligung vorlag, kann ich nicht bezeugen. Ich wusste damals auch gar nicht, was eine Einrichtung durfte und was nicht. Jedenfalls fuhr man sie eines Morgens ins Krankenhaus und sie kam einige Tage später mit entfernten Eierstöcken zurück. „Satt, sauber und unauffällig“, so schien die Devise dieses Heimes im Herzen von Spanien zu sein.
Sicherlich wäre es eine Erleichterung für Angel-Sereno und Pilar gewesen, hätten sie die Möglichkeit gehabt außerhalb des Heims auf Partnersuche zu gehen oder sich mit einer Prostituierten oder Sexualbegleiterin zu treffen, hätte es so etwas bereits gegeben. Vielleicht hätte man den Übergriff an Miguel verhindern können, wäre man früher in eine lösungsorientierte Auseinandersetzung mit der Sexualität der Heimbewohner gegangen. Auf scharfe Gewürze beim Essen zu verzichten hatte sich jedenfalls nicht als der Weisheit letzter Schluss erwiesen.
Wenn ich diese Erfahrungen heute betrachte wird mir klar, dass das Thema Sexualität in dieser Einrichtung eindeutig unterdrückt wurde, obwohl es nachweislich gegenwärtig war.
Diese Erfahrungen haben dafür gesorgt, dass ich nun ein differenzierteres Bild auf die Sexualität derjenigen Personen habe, welche mir als Lehrer einmal anvertraut werden. Unzulängliche Handlungsmöglichkeiten und falsche Vorstellungen hängen oft mit unzureichender Information über einen Sachverhalt zusammen. Vieles was ich damals in der spanischen Einrichtung für Usus in der Behindertenarbeit hielt, könnte ich heute nicht mehr tolerieren. Mit dieser Arbeit werde ich versuchen diesem Informationsdefizit beizukommen, um meinen Handlungsrahmen innerhalb meiner beruflichen Arbeit mit MmB zu erweitern.
Es gilt zu beachten, dass meine Erfahrungen mit der Behinderteninstitution vor 7 Jahren stattfanden und überdies nicht in Deutschland. Man muss somit vorsichtig sein, diese Erfahrungen auf gegenwärtige Behinderteneinrichtungen hierzulande zu übertragen.
Trotzdem bleibt es ein Gemeinplatz, dass es um die Lebenssituation von MmB nicht gut bestellt ist. Es sind nachweislich vor allem jene MmB, die in Institutionen leben, welche geringere Chancen auf Partnerschaft und somit auch auf eine eigenständige sexuelle Entwicklung haben. Im Leben von MmB findet Sexualität dadurch weniger oder kaum statt. Diese Thematik wird seit wenigen Jahren in Deutschland öffentlich von einigen wenigen mutigen und engagierten Menschen, angesprochen. Einige davon werden in dieser Arbeit vorgestellt. Es gibt in der Zwischenzeit auch sexualbegleitende Dienste, die sexuelle Dienstleistungen für MmB anbieten oder ein Institut in Norddeutschland (vgl. SEXUALBEGLEITUNG ISBB®), bei dem MmB erotische Wochenend-Workshops buchen können.
Als ich mich für ein Referat zum ersten Mal mit diesem Angebot auseinandersetzte war meine Haltung zur SB und Sexualassistenz sehr ambivalent. Meine wenigen Kenntnisse darüber siedelten die vornehmlich weiblichen Anbieterinnen irgendwo zwischen Prostituierten und esoterischen Anhängern des Tantras an. Einerseits fand ich es gut, dass es Menschen gibt, die anderen die Freuden der Sexualität näherbringen, andererseits erschien mir ihre Motivation nicht nachvollziehbar und deswegen verdächtig.
Prostitution wird von der Gesellschaft als moralisch verwerflich und die Damen des Gewerbes als „Sünderinnen“ oder „gefallene Mädchen“ betrachtet (SCHUSTER 2003, 8).
Die Filme „Die Heide ruft“ und „Behinderte Liebe 3“ zeichnen von SB ein ganz anderes Bild. Darin werden die SBterinnen keineswegs als gefallene Frauen dargestellt. Im Gegenteil bekommt man das Gefühl, dass sie eine wichtige, ja revolutionäre Arbeit leisten. (vgl. DIE HEIDE RUFT 2007 & BEHINDERTE LIEBE 3 2009) Mein Interesse war geweckt.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit soll die SB stehen, da ihr von Anfang an mein größtes Interesse galt. Bald wurde mir jedoch klar, dass die Prostitution als weitaus größeres Handlungsfeld für käuflichen Sex für MmB ebenso dargestellt werden muss.
Aus den Einblicken, die mir in den letzten 6 Monaten zuteilwurden, erarbeite ich in dieser Arbeit eine differenzierte Sichtweise auf die Probleme und Möglichkeiten bezüglich der Entfaltung der Sexualität bei MmB im Allgemeinen und innerhalb des Angebots von käuflichem Sex im Speziellen. Insofern müsste der Titel meiner Arbeit auch dementsprechend lauten, allerdings musste dieser angemeldet werden, bevor ich mich intensiv mit dem Thema auseinandersetzten konnte. Der neue Titel würde demnach lauten: Sexualität und Behinderung, Schwerpunkt „käuflicher Sex“ für MmB.
Ich versuche zur Klärung der Frage „Welche Bedeutung können sexuelle Dienstleistungen im Leben eines MmB einnehmen und in welcher Weise entsprechen sie dabei seinen Bedürfnissen“, beizutragen.
Sexualität ist Lebenskraft. Sie dient der Entspannung und des Wohlgefühls. Selten ist die Liebe eines Paares nur platonischer Art, sondern geht einher mit geteilter körperlicher Sexualität. Dies ist auch der Grund weswegen diese Arbeit Sexualität und Partnerschaft nicht strikt voneinander getrennt behandeln kann.
Im ersten Abschnitt befasse ich mich mit der sexuellen Assistenz für MmB und beschreibe die Unterschiede zwischen passiver und aktiver Assistenz. Als Teil der aktiven Assistenz gehe ich auf die Sexualbegleitung ISBB® in Trebel und die Prostitution gesondert ein.
Im zweiten Teil widme ich mich der Sexualität und ihren unterschiedlichen Aspekten. Dabei beschreibe ich den biologischen, soziosexuellen und psychosexuellen Aspekt, sowie die Entfaltung der Sexualität im zeitlichen und kulturellen Wandel.
Im dritten Teil stelle ich die besonderen Umstände dar, die für die Sexualität von MmB in dieser Gesellschaft und im Allgemeinen gelten (z.B. die erhöhte Missbrauchsgefahr). Dabei interessieren mich die gesellschaftlichen Vorurteile, deren Wirkung auf den Umgang mit Sexualität und Behinderung abstrahlt. Ich begegne der Frage, ob es ein „Recht auf Sexualität“ gibt, versuche Ansätze zu finden, warum gelebte Sexualität zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen kaum stattfindet (oder stattfinden darf?) und finde in der Gruppe der Amelos[1] eine logische Umkehrung, welche nunmehr die Toleranz von MmB herausfordert.
Der vierte Teil der Arbeit befasst sich größtenteils mit den Aussagen, die ich aus unterschiedlichen Quellen herausgearbeitet habe. Dazu interviewte ich zwei Sexualbegleiter in der Schweiz und zwei Sexualbegleiterinnen aus Deutschland. Des Weiteren besuchte ich einen sog. Erotikworkshop in Trebel, wo ich die Möglichkeit fand zwei männliche, körperbehinderte Kunden zur SB zu befragen. Auf einen Aufruf im Internet hin meldete sich ein junger Mann mit einer Körperbehinderung, der sich meinen Fragen schriftlich stellte und sie per Email beantwortete. Seine Erfahrungen beziehen sich ausschließlich auf Treffen mit Prostituierten. Um darüber hinaus auch die sexuellen Möglichkeiten und Einschränkungen von MmB in einer Institution im Blick zu haben, sprach ich mit einer Mitarbeiterin des psychologischen Fachdienstes der Bruderhausdiakonie in Reutlingen. Ihre Aussagen beziehen sich vor allem auf MmgB.
So ergibt es sich, dass sich drei Perspektiven auf SB und Prostitution ergeben. Die der Kunden, die der Anbieter (wobei nur SBter interviewt wurden) und die Sichtweise einer Institution.
Im der Schlussbetrachtung und Ausblick, gleichzeitig fünften und letzten Teil der Arbeit versuche ich das gewonnene Wissen zusammenzufassen und in Verbindung zu bringen.
Dabei will zu einer Klärung der Frage kommen, welche Bedeutung käufliche, sexuelle Dienstleistungen im Leben eines MmB zukommen können und ob sie den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden.
Problemstellungen, die sich innerhalb der „käuflichen Liebe“ unausweichlich auftun, müssen dabei selbstverständlich diskutiert zu werden.
In dieser Arbeit wird es nicht darum gehen den käuflichen Sex als solchen zu bewerten, sondern vielmehr aufzeigen, welche Rolle ihm in der Sexualität von behinderten Menschen zukommen kann.
2 Sexuelle Assistenz
SA lässt sich in passive Assistenz und aktive Assistenz aufteilen. SB wird durch Lothar Sandfort begrifflich von der aktiven Assistenz getrennt.
Der Unterschied liegt vor allem darin, dass bei der Assistenz ein Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis besteht. Dass heißt, der Kunde verlangt, während der Dienstleister ausführt. In der Begleitung kommt es zu einer emotionalen Partnerschaft für eine begrenzte Zeit. Das sieht auch eine vermehrte Aktivität des MmB vor, anstatt sich bedienen zu lassen. (vgl. ISBB TREBEL 1, 2010)
Sandfort räumt ein, dass ein Begleiter auch die Haltung eines Assistenten übernehmen kann, wenn dies gewünscht ist (vgl. ebd.).
Die beiden Begriffe sind schwer voneinander abzugrenzen und werden fälschlicherweise oft auch synonym verwendet. Selbst die von mir interviewten SBter benutzten die Begrifflichkeiten durcheinander, wie aus den Interviews im fünften Teil der Arbeit hervorgehen wird. Es stellt sich für mich jedoch die Frage:“Was ist Dienst und ab wann wird ein Dienst zu einer emotionalen Begleitung?“
Ich halte mich jedoch an SANDFORTS Definition. Den Begriff der SB gliedere ich der aktiven Assistenz als einen Teilbereich unter, da beides die aktive Handlung des Dienstleisters für das sexuelle Geschehen fordert.
2.1 Passive Assistenz
Passive Assistenz bedeutet Voraussetzungen für die Verwirklichung von Sexualität zu schaffen. Dazu gehört die Sexualpädagogik, sexuelle Beratungsleistung und die Information über sexuelle Praktiken. Innerhalb der passiven Sexualassistenz können Materialien gestellt (Pornovideos, sexuelle Hilfsmittel) oder sexuelle Dienstleistungen vermittelt werden. (vgl. WALTER 2004, 12) Es handelt sich also um Informationsleistungen und Vermittlerdienste.
Passive SA kann vom Umfeld und den Betreuern von MmB geleistet werden. Wieweit diese Leistungen gehen, ist maßgeblich davon abhängig welche Einstellung der Helfer selbst zur Sexualität einnimmt. Es kann sein, dass sich ein Betreuer nicht im Stande sieht, seinem Anvertrauten ein Pornovideo zu besorgen oder es einzulegen. Vor allem dann, wenn die explizite Darstellung von Sexualität nicht mit seinen Überzeugungen konform geht. Ein Betreuer könnte sich weigern den Kontakt zu einer Prostituierten herzustellen, wenn er Prostitution als solches für unmoralisch und verwerflich hält. Weil sich ein Mensch, je nach Art seiner Behinderung und Lebensumstände in verschieden großer Abhängigkeit zu seinem Umfeld befindet, sind die Einstellungen seiner Helfer von immenser Bedeutung. Sollte sich ein Betreuer aus Glaubens- und Gewissensgründen weigern gewisse Wünsche zu erfüllen, so ist dies sein gutes Recht, nur darf dem MmB dadurch nicht generell die Chance auf die Erfüllung seines Wunsches genommen werden. Meiner Meinung nach muss an dieser Stelle der Betreuer das Hilfegesuch an einen anderen Helfer weiterleiten.
2.2 Aktive Assistenz
Aktive Assistenz beinhaltet alle Dienste bei denen die Betreuer, Mitarbeiter oder Pflegekräfte, oder speziell ausgebildete Sexualassistenten aktiv ins sexuelle Geschehen mit einbezogen werden. Dazu gehören erotische Massagen, Hilfe bei der Selbstbefriedigung (sog. „Handentspannungen“), jede Form des aktiven „Hand-Anlegens“ bis hin zum GV (vgl. WALTER 2004, 12).
Frauen und Männer, die dieser Tätigkeit nachgehen, werden als Sexualassistenten, Berührer und fälschlicherweise oft auch als Sexualbegleiter betitelt. (Die genaue Unterscheidung zur SB werde ich später eingehend behandeln.) Sie bieten MmB sexuelle Dienstleistungen für Geld und ermöglichen somit oftmals erste Erfahrungen im Bereich der Sexualität. Auch Prostituierte bieten Sex für Geld und bedienen viele behinderte Kunden, wodurch auch sie eine Form der aktiven Sexualassistenz darstellen. Dass SB durchaus unterschiedliche Merkmale zur Prostitution aufweisen kann, wird im Folgenden gesondert diskutiert.
Während passive Assistenz von Betreuern geleistet werden kann, ist es wichtig, dass die aktive Assistenz an externes Personal übergeben wird. Dies hat mehrere Gründe:
- Die Gefahr von Übergriffen und Missbrauch soll vermindert werden.
- Die Betreuer würden durch diese Tätigkeit oftmals ihre persönlichen Grenzen nicht mehr wahren können und kämen in Rollenkonflikte.
Es wird vereinzelt diskutiert ob Pflegekräfte, die den Behinderten täglich begleiten, selbst „Hand anlegen“ sollten. Ich halte dies nicht für sinnvoll. Wenn sich daraufhin auf beiden Seiten keine negativen Folgen einstellen, ist dies sicherlich auch nicht von vornherein falsch.
Allerdings bewegen sich jene Betreuer dabei nicht nur auf rechtlich unsicherem Boden (Missbrauchsgefahr), sondern verlieren auch den nötigen professionellen Abstand zu ihren Schutzbefohlenen. Auch dem Erwachsenen mit Behinderung ist dadurch kein Dienst getan, stelle man sich vor, dass er von derselben Person, die ihn morgens wäscht und „beim Anziehen“ hilft, abends sexuell befriedigt wird. Dies kann auf beiden Seiten nicht das gewünschte Vorgehen für die zukünftige Gestaltung und Realisation von Sexualität von MmB sein.
2.2.1 Sexualbegleitung ISBB®
Das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderte in Trebel ist bundesweit eine von mehreren Institutionen, welche sexuelle Dienstleistungen, deren Vermittlung oder Beratungen für MmB anbieten. Was die Öffentlichkeitsarbeit anbelangt ist es jedoch die derzeit wohl aktivste Einrichtung. Die Beschreibung weiterer Anbieter sexueller Dienstleistungen finden sich in der Literatur bereits ausführlich dargestellt (vgl. BANNASCH 2002, S.52ff, S.71ff).
Ich werde mich in meiner Arbeit im Bereich der aktiven Sexualassistenz auf das tonangebende Institut ISBB in Trebel konzentrieren und keine weiteren Institutionen wie Sensis oder Sexabilities beschreiben, da alles weitere den Umfang meiner Arbeit sprengen würde.
Der Begriff SB wurde bisweilen unterschiedlich verstanden, weshalb es Bemühungen gab für Eindeutigkeit zu sorgen. Ein Institut welches maßgeblich zur Professionalisierung der SB in Deutschland beigetragen hat ist das ISBB. Leiter dieses Instituts, das 1997 gegründet wurde, ist der Diplompsychologe Lothar Sandfort. Seit einem Autounfall mit 20 Jahren sitzt der heute 58-jährige im Rollstuhl und spürt abwärts des Bauchnabels nichts mehr. Dank der Methode der Insemination bekam er mit seiner nichtbehinderten Ehefrau 3 Kinder. Wohl auch aufgrund seiner persönlichen Geschichte machte Sandfort die Sexualität von MmB zu seinem beruflichen Thema.
Das Institut in Trebel hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Enttabuisierung von Sexualität und Behinderung voranzubringen. Die Einrichtung hat verschiedene Pfeiler auf denen sie aufgebaut ist. Da sind zum einen die Erotikworkshops für MmB bei denen SBter gebucht werden können. Zum anderen besteht die Möglichkeit sich als SBter ausbilden zu lassen oder Fortbildungen in Sexualberatung zu absolvieren. Das Institut betreibt außerdem gezielte Öffentlichkeitsarbeit, indem die SBter und Sandfort sich Institutionen, Heimen oder Hochschulen für Fortbildungen, Vorträge und Seminare anbieten.
Gemeinsam mit der durch die Medien bekannte Nina de Vries entwickelte er die SB als eine Art sexueller Ersatzpartnerschaft. Richtete sich das Angebot anfänglich nur an körperbehinderte Menschen, so nehmen heute auch MmgB daran teil. Nina de Vries hat sich vor einigen Jahren als Sexualbegleiterin und Mitarbeiterin in Trebel zurückgezogen. Kürzlich machte sie in einem Artikel des Magazins „Der Spiegel“ auf sich aufmerksam, als davon berichtet wurde, dass sie ihr sexualbegleitendes Angebot nun auch auf einen demenzkranken Menschen in einem Pflegeheim ausgeweitet hat (vgl. SPIEGEL 2010).
SB hebt sich von der aktiven Sexualassistenz ab. Die SBter verfügen über eine spezielle Ausbildung zur SB, welche bundesweit derzeit nur in Trebel möglich ist. Dieser, beim Deutschen Patent- und Markenamt eingetragene Begriff, dient seit Oktober 2008 als Qualitätszeugnis für die SB im Zusammenhang mit dem ISBB. (vgl. ISBB TREBEL 2, 2010)
Auch in der Schweiz und in Österreich gab es bereits Ausbildungskurse zur SB ISBB®, durch Ausbilder, welche in Trebel die SB gelernt haben.
SBter bringen innerhalb der Begegnung ihre eigene Persönlichkeit und ihre Gefühle mit ein, was auch bedeutet den Kunden zu reflektieren. Sie verkaufen eine Zeit der Intimität und keinen konkreten sexuellen Akt. Alles darf sich entwickeln, aber nichts muss. Bei der Assistenz weiß der Kunde genau was er will und der Assistent befriedigt seine Erwartungen dementsprechend. Dem Gegenüber bedeutet die Begleitung ein körperliches Zusammenspiel von zwei Menschen, die die Situation gleichberechtigt erleben. Der Kontakt ist das Erleben einer Ersatzbeziehung für mindestens eine Stunde, wobei dem Kunden klar sein sollte, dass es sich dabei nicht um eine Liebesbeziehung handelt.
2.2.1.1 Richtlinien der Sexualbegleitung ISBB®
Auf der Internetseite des ISBB stellt Lothar Sandfort Richtlinien vor, die für einen gleichbleibenden qualitativen und inhaltlichen Standard der SB ISBB® sorgen sollen. So können nur Mitarbeitende des ISBB das Qualitätszeugnis Sexualbegleitung ISBB® lizensiert bekommen, die sich regelmäßig an der kollegialen Supervision beteiligen. Neben dieser halbjährlich stattfindenden, mehrtägigen Supervision gibt es immer wieder einzelne Beratungen, die in den sexualtherapeutischen Prozessen eingebettet sind.
Ferner müssen sich die Lizenznehmer verpflichten nach bestimmten Idealen und Richtlinien zu arbeiten, die im Lizenzvertrag formuliert sind. Folgende Regeln werden genannt:
a) Ziel der SB ist die reflektierte Persönlichkeitsentwicklung der Klienten, insbesondere durch Stärkung der erotischen und sexuellen Kompetenzen.
b) SB steht für eine Begegnung, die offen ist für Sexualität.
c) GV wird im Vorfeld der Begegnung nicht ausgeschlossen.
d) In der Begegnung ist Voraussetzung das Achten und Respektieren der aktuell eigenen Grenzen und der Grenzen der Klienten.
e) Die Sexualbegleitenden verpflichten sich zur ehrlichen Kommunikation den Klienten gegenüber.
f) Die Sexualbegleitenden verpflichten sich, die Safer-Sex-Standards einzuhalten.
g) Die Sexualbegleitenden verpflichten sich zu regelmäßiger Reflexion ihrer Arbeit und ihrer persönlichen Motivationen und Entwicklungen. Sie nutzen dazu mindestens zweimal im Jahr die kostenpflichtigen Supervisions- und Tagungstermine innerhalb des ISBB.
h) SBter arbeiten mindestens zweimal im Jahr während eines Erotik-Workshops des ISBB mit. Das ISBB stellt diese Termine sicher.
i) Die Sexualbegleitenden richten ihr Angebot nicht ausschließlich an behinderte Klientinnen und Klienten.
j) Der vereinbarte Preis der SB bezieht sich auf die gemeinsame Zeit und nicht auf bestimmte sexuelle Handlungen.
k) Die Sexualbegleitenden sind den Menschenrechten verpflichtet, nicht bestimmten Religionen. (vgl. ISBB TREBEL 2, 2010)
Sollten Kunden nicht zufrieden sein mit den erbrachten Leistungen, besteht die Möglichkeit sich beim Institutsleiter Lothar Sandfort zu beschweren.
2.2.1.2 Erotik-Workshop für MmB in Trebel
Zur Recherche meiner Arbeit besuchte ich unter anderem den Erotikworkshop des ISBB in Trebel. Diese Erotikworkshops finden mehrmals im Jahr statt und gehen ein ganzes Wochenende. Bei diesen Workshops haben MmB die Möglichkeit ihre sexuellen Bedürfnisse zu erfahren, zu besprechen oder ihnen konkret bei einem Date mit einem SBter nachzukommen.
Da ich am Workshop nicht als reiner Beobachter teilnahm, sondern außer bei den Dates und beim Tantra-Kurs überall dabei war, fällt es mir schwer das Erlebte in sachlicher und objektiver Weise wiederzugeben. Dazu war ich schlichtweg zu sehr in das Geschehen involviert. Das Folgende ist ein persönlicher Erlebnisbericht, der den Ablauf eines Erotikworkshops beschreibt.
Bevor ich nach mehrstündiger Autofahrt in Trebel ankam ging mir so einiges durch den Kopf. Wie wird man mich empfangen? Bin ich als Student und Außenstehender dort überhaupt willkommen? Wie reagieren die Menschen auf mich, die dort SB buchen? Ich musste daran denken, wie es wäre, wenn ich mich mit Block, Stift und Aufnahmegerät bewaffnet in den Empfangsraum eines Bordells stellen würde. Kurzum, ich war aufgeregt was mich erwarten würde. Dass ich dank eines Staus auch noch zu spät kommen sollte, steigerte dieses Gefühl nur noch.
Hastig aus dem Auto gestiegen wurde ich sogleich von Frau Sandfort begrüßt und ins Fernsehzimmer geführt. Dort saßen bereits einige behinderte und nichtbehinderte Menschen beisammen und schauten interessiert der Auslosung der Fußball-WM in Südafrika zu. Ich war überrascht, aber was hatte ich erwartet?
Richtig los ging es mit einem gemeinsamen Abendessen, der „erotischen Tafel“, bei dem man sich gegenseitig kennenlernte. Anwesend waren in diesem Fall drei körperlich behinderte Männer, zwei Betreuer, zwei Sexualbegleiterinnen, der Institutsleiter Lothar Sandfort und ich. Die MmB saßen allesamt wegen einer Spastik im Rollstuhl. Einer war 23, einer ca. 35 und einer 46 Jahre alt. Die Spastik war bei ihnen unterschiedlich stark ausgeprägt. So konnte sich einer selbst mit dem Rollstuhl bewegen, ein anderer benutzte einen E-Rolli und der dritte musste geschoben werden, da er aufgrund seiner Versteifung mehr im Rollstuhl lag, als dass er sitzen konnte.
Sie kamen alle aus ähnlichen Gründen, nämlich um ihre Sexualität genauer zu betrachten, wobei nicht jedem im Vornherein klar war, ob sie ein Date mit einer Begleiterin buchen würden. Zwei davon hatten ihre Betreuer dabei, die an dem Abend mit am Tisch saßen.
Man stellte sich kurz vor und erzählte seine Erwartungen. Ich empfand es als angenehm, dass man mich und meine Beobachterrolle mit so wenig Argwohn betrachtete, was wahrscheinlich auch daran lag, dass häufiger Wissenschaftler, Interessierte oder Journalisten an diesen Workshops zur Teilnahme eingeladen werden. Das Essen bestand aus Finger-Food, was, (Zitat: Lothar Sandfort: „solange man nur dran glaubt“) anregend wirken soll. Dazu gab es Wein, Bier oder Apfelsaft. Mit der Zeit kam man schnell ins Gespräch und es wurde über Sexualität und Partnerschaft gesprochen.
Nach dem Essen zeigte der Institutsleiter Sequenzen aus dem Film „Behinderte Liebe 3“, einem Wuppertaler Filmprojekt. (vgl. BEHINDERTE LIEBE 3, 2009) Der Film dokumentiert die SB anhand verschiedener behinderter Menschen und der Sexualbegleiterin Vimala Brunnmüller, die bereits in dem Film „Die Heide ruft“ mitwirkte(vgl. DIE HEIDE RUFT, 2007).
Derjenige, der noch ohne viel Vorerfahrung war, konnte sich damit einen Eindruck von SB machen. Der Film portraitiert unter anderem einen spastisch-gelähmten Mann aus Stuttgart, dessen selbstbewusste Kommentare zu seiner Sexualität von den MmB aus unserer Runde mit Beifall bedacht wurden.
Am nächsten Tag, ging es nach dem Frühstück zur freiwilligen, einstündigen Gruppenberatung mit dem Diplompsychologen Lothar Sandfort. Die Teilnehmer äußerten ihre Bedürfnisse, ihre Probleme innerhalb der Sexualität und Partnerschaft und formulierten ihre Wünsche für das Wochenende. Als Teil der Gruppe tat ich es ihnen gleich. Herr Sandfort gab Tipps und reflektierte das Geäußerte schonungslos. Das Bedürfnis nach Partnerschaft war in den Beiträgen der MmB das eigentliche Thema und Sexualität als ein Bereich der Partnerschaft eher untergeordnet. Damit hatte ich nicht gerechnet. Die Frage war: „Wie bekomme ich als behinderter Mann eine Frau, die mich liebt? Was kann ich dafür tun um als attraktiver Partner in Frage zu kommen?“
Am Nachmittag nach dem gemeinsamen Mittagessen gab es einen kostenpflichtigen Tantra-Kurs (30 Euro), der von den Sexualbegleiterinnen gestaltet wurde. Ich selbst war dabei nicht anwesend. Auch ein Rollstuhlfahrer verzichtete, da er sich sein Geld für das Date sparen wollte und sein Budget für beides nicht ausreichte.
Nach dem Abendessen hatten die Teilnehmer die Möglichkeit ein Date mit einer Begleiterin auszumachen, was schließlich auch die anfangs Zögernden taten. Ein Date kostet pro Stunde 90 Euro (der Preis hat sich in den letzten Jahren immer wieder erhöht).
Die meisten buchten gleich 2 Stunden um sich mehr Zeit lassen zu können. Die Betreuer wuschen und parfümierten die behinderten Männer, sofern sie es nicht alleine konnten, legten sie in eine angenehme Position aufs Bett und den zu zahlenden Betrag daneben auf den Nachttisch, bevor sie sich zurückzogen.
Die Dates stellen einen Abschnitt des Wochenendes dar, der mit dem eigentlichen Workshop nichts zu tun hat, der unter dem Aspekt der Sexualberatung gefasst ist. Die SB ist ein externes Angebot der Sexualbegleiterinnen, die auch Aufträge außerhalb des Workshops in Trebel annehmen. Tantra und Sexualbegleitung eine Ergänzung praktisch-konkreter Möglichkeiten zu den theoretisch-beratenden Anteilen des Wochenendes. Aus diesem Grund müssen die Teilnehmer die Treffen und die Bezahlung mit den SBtern selbst regeln.
Eine meiner eindrücklichsten Erinnerungen von diesem Wochenende war der Moment, als einer der Teilnehmer nach dem Date zu mir und seinem Betreuer in den Fernsehraum rollte. Seine Arme, die aufgrund der Spastik sonst immer angewinkelt nach oben zeigten, hielt er nun gerade und unverkrampft von sich gestreckt. Er grinste leicht und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck purer Entspannung. „Wie wars?“, fragte ich. Er meinte nur: „Fünf Mal“, wobei sich das Grinsen über das gesamte Gesicht ausbreitete.
Wir unterhielten uns noch eine Weile wie alte Freunde, die über ihre sexuellen Abenteuer sprachen und ich gewann einen Eindruck, wie wichtig es für ihn war Sexualität zu erleben und wie sehr er sich dadurch auch als Mann bestätigt fühlte.
Am Sonntag nach dem Frühstück gab es für die Kunden und Betreuer einschließlich mir als Studenten nochmals das Angebot einer sexualpsychologische Beratungsstunde durch Herrn Sandfort. Dabei wurde das Erlebte reflektiert und jeder schaute für sich, was er in seine Welt außerhalb der „Insel“ Trebel mitnehmen wolle. Die gemeinsame Abschiedsrunde mit den Sexualbegleiterinnen bot die Möglichkeit nochmal miteinander zu sprechen oder sich zum Wochenende zu äußern. Niemand war gezwungen etwas zu sagen und auch kritische Äußerungen waren erlaubt.
Ich selbst habe an diesem Wochenende viele Interviews und Gespräche geführt, was mir einen Eindruck von der Bedeutung der Sexualität im Leben eines MmB gegeben hat. Meine direkte Anwesenheit ließ die Klischees verblassen, die ich mir, ob bewusst oder nicht, im Kopf zurechtgelegt hatte. Die Art und Weise wie an diesem Ort mit Sexualität im Kontext mit Behinderung umgegangen wurde, erschien mir als sehr gelassen und menschlich. Da war kein Leistungsdruck, keine geheuchelte Toleranz, keine Verklemmtheit, oder ein Wettbewerbsdruck untereinander zu verspüren. Jeder kam hierher aus seinen persönlichen Gründen und alle anderen respektierten das. Innerhalb der Gruppe war in der kurzen Zeit, die man in so vertrauter Atmosphäre miteinander verbrachte, etwas gewachsen und so fiel der Abschied recht herzlich aus. Ich verstand plötzlich mit dem Herzen, was ich in der Theorie längst begriffen hatte. Sexualität ist normal, egal bei wem. Und jeder Mensch hat das Recht sie zu erfahren und zu leben.
Die Teilnehmer bezahlen nur für die Übernachtung und Verpflegung sowie evtl. für den Transfer zum Bahnhof, die Seminareinheiten sind umsonst. Die Kosten liegen zwischen 95 und 115 Euro (Preise je nach Doppel-/ Einzelzimmerbelegung).
Die Dates und der Tantra-Teil sind freiwillige und kostenpflichtige Bestandteile des Wochenendes, die mit den SBtern vereinbart werden. Grundsätzlich sei gesagt, dass es dem Institut nicht um die Erfüllung sexueller Lust geht, sondern es den einzelnen Menschen in seiner gesamtpersönlichen Entwicklung, einschließlich seines Selbstbewusstseins voranbringen will.
2.2.1.3 Ausbildung zum Sexualbegleiter ISBB®
Sexualbegleitung ISBB® ist ein patentierter Begriff. D. h. nur wer die spezielle Ausbildung absolviert hat darf sich Sexualbegleiter ISBB® nennen. Durch die Professionalisierung soll ein gleichbleibender Qualitätsstandard gesichert werden und der Benutzung des Begriffs SB durch unseriöse Anbieter entgegengewirkt werden. Innerhalb der Ausbildung werden psychologische, pädagogische und pflegerische Aspekte im Umgang mit MmB berücksichtigt. In bestimmten Übungen wird die Wahrnehmung des eigenen des anderen Körpers geschult. Die Reflexion der eigenen Sexualität sowie den persönlichen Grenzen sind grundlegende Fähigkeiten eines Sterz ISBB®. Diese Qualifikationen sollen den verantwortungsvollen Umgang mit der behinderten Klientel sichern. Das Institut zur Selbstbestimmung Behinderter bietet als einziges Institut eine derartige Ausbildung in Deutschland an.
Ziel ist es, irgendwann über ein enges Netzwerk professioneller SBter zu verfügen, die in Einrichtungen, in Beratungsstellen oder auch als freie Anbieter sexueller Dienstleistungen arbeiten. Zur Teilnahme an einer Fortbildung zur SB ISBB® braucht es keine besonderen Voraussetzungen. Es handelt es sich nicht um eine Ausbildung im üblichen Sinne von mehreren Jahren, Teilnehmenden und Lehrenden und einer Gesellenprüfung. Nie werden mehr als zwei Menschen gleichzeitig in SB ISBB® eingeführt. Dabei begeben sich die Teilnehmenden direkt in die Praxis indem sie von Anfang an die Möglichkeit haben bei Erotik-Workshops Begleitung anzubieten. Sandfort nennt die Ausbildung auch Supervision, da immer die Möglichkeit gegeben ist, das sich SBter und er als Psychologe direkt über das Erfahrene auszutauschen.
Die "Supervision" verläuft über sechs Wochenenden, an denen es zu einer Verbindung von praktischer Tätigkeit, Selbsterfahrung in der Gruppe und theoretischen Anteile kommt. Das Geschehen innerhalb der Gruppe ist zuständig für die Inhalte der Ausbildung, denn es wird sich mit dem beschäftigt, was der Teilnehmer die und Situation an Erfordernis mit sich bringen. (vgl. ISBB TREBEL 3, 2010)
Inhaltlich ist die Ausbildung demnach nicht strikt festgelegt. SANDFORT beschreibt einen Kanon an Fragen, die gewöhnlich behandelt werden. Dabei geht es unter anderen um folgende Bereiche und Problemstellungen:
- Erfahrung in der Begegnung mit Behinderten
- Pflege bei MmB
- Typische Einschränkungen bei MmB und Bedeutungen für den Umgang
- Unterschiede in der Begleitung von Körperbehinderten, Sinnesbehinderten oder MmgB
- Animationsprodukte und Hilfsmittel
- Sinn von Sexualbegleitung
- Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität
- Stellenwert von Sexualität in der eigenen Biographie
- Als Sexualbegleiter Grenzen setzten
- rechtliche Besonderheiten
- Aufklärungsarbeit
Die angehenden SBter lernen auch, dass die Begleitung nur eine zeitliche Hilfe ist, die den Einstieg in die Welt der Sinnlichkeit erleichtern soll, dem Gebot folgend sich zu verselbstständigen, und irgendwann auch wieder beendet wird. (vgl. ISBB TREBEL 3, 2010)
2.2.2 Prostitution
Das sogenannte „älteste Gewerbe“ der Welt ist ein wirtschaftlicher Dauerbrenner. Der Umsatz der Prostitution in Deutschland wird auf einen zweistelligen Milliardenbetrag geschätzt. (vgl. BUNDESMINISTERIUM 1, 2010)
In so gut wie jeder Kultur findet sich Prostitution als ein etabliertes, wenn auch nicht akzeptiertes Gewerbe. Das Hauptmerkmal dieses Geschäfts ist die Vornahme sexueller Handlungen für ein vereinbartes Entgelt. Die gesellschaftliche Bewertung des „horizontalen Gewerbes“ unterliegt Schwankungen, welche sich durch kulturelle, ethische oder religiös bedingte Einstellungen definieren. Es lässt sich jedoch sagen, dass eine Person, welche sich für Geld sexuell anbietet, häufig oder größtenteils negative Resonanz erfährt.
Da in diesem Milieu vor allem Frauen arbeiten, während Männer den größten Kundenkreis stellen, könnte man zu der Überzeugung gelangen, dass Prostitution ein Ausdruck der männlichen Hegemonie und der weiblichen Unterdrückung in unserer Gesellschaft wäre. Die sog. „gefallenen Mädchen“ geraten scheinbar unverschuldet in die Prostitution, werden von Zuhältern dazu gezwungen und können sich aus eigener Kraft nicht mehr daraus befreien. (vgl. SCHUSTER 2003 , 8)
Die Vorstellung, dass jemand freiwillig und gezielt sexuelle Dienstleistungen anbietet, scheint häufig nicht mit den sexualmoralischen Vorstellungen der Gesellschaft vereinbar zu sein. Prostituierte werden als Opfer betrachtet, ihre Kunden und Zuhälter stellen die Täterschaft. Dass es aber auch eine Gruppe von Frauen gibt, die ihrem Beruf gerne und auf freiwilliger Basis nachkommen, scheint unvorstellbar.
Prostitution gilt erst seit 2001 in Deutschland nicht mehr als sittenwidrig. Seit 2002 haben Prostituierte die Möglichkeit in einem anerkannten Arbeitnehmerverhältnis zu stehen und haben somit auch das Anrecht auf Sozialleistungen. Dazu müssen sie allerdings auch als Prostituierte beim Amt gemeldet sein. Nur wenige Prostituierte nehmen diese Möglichkeit in Anspruch. Die Gründe dafür sind unterschiedlichster Art. Genannt werden die noch immer herrschende Stigmatisierung und die daraus resultierende Sorge vor dem Verlust der Anonymität, die damit verbundenen finanziellen Abzüge, der Verlust der Autonomie durch das Arbeitsverhältnis oder der Umstand, dass viele Prostituierte ihren Beruf nur als kurzfristige Tätigkeit einordnen wollen. (vgl. BUNDESMINISTERIUM 2, 2010)
Eine häufig zitierte Schätzung, die auf die Berliner Prostituiertenberatungsstelle Hydra e.V. zurückgeht, geht von bis zu 400.000 Prostituierten in Deutschland aus. Wobei mehr als eine Millionen Kunden täglich diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen sollen (vgl. BUNDESMINISTERIUM 1, 2010).
Dagegen erscheint die Handvoll ausgebildeter SBterinnen und sexuellen Dienstleister, die sich auf MmB spezialisiert haben, wie wenige Körner in einer Sanduhr.
Ich habe während meiner Arbeit, meinen Interviews, der Literatur und Webrecherche von vielen MmB erfahren, dass sie aufgrund ihrer Behinderung besondere Schwierigkeiten haben sexuelle Erfahrungen zu machen. Auf die Gründe hierfür werde ich später noch genauer eingehen. Es ist also nicht verwunderlich, wenn MmB oft auf die Dienstleistungen von Prostituierten angewiesen sind.
Mein Kontakt mit dem Milieu der Prostitution beschränkt sich nahezu auf zwei Internetforen. joy.de und sexworkers.at[2]. Hieraus enthielt ich jedoch eine Menge an Informationen über die Lebenswelt und Erfahrungen von Sexworkern, die in unzähligen Berichten bereitwillig Auskunft über ihr Erfahrungswissen in der Sexarbeit geben. Auch behinderte und nicht-behinderte Kunden von Prostituierten diskutieren dort mit. Viele Damen treten behinderten Kunden sehr positiv entgegen, wobei es auf der anderen Seite auch Vorbehalte gibt, die die Kunden mit Behinderung im Forum versuchen aufzulösen.
Ich wollte einmal testen, wie es sich mit den Anbietern im Umkreis Reutlingen verhält. Dazu beschrieb ich mich als körperbehinderten Mann, der im Rollstuhl sitzt und auf der Suche nach einem sexuellen Dienstleister in seinem Umkreis ist. Ich schickte sechs Emails an verschiedene Anbieter, welche auf ihren Webseiten eine Emailadresse hinterlegt haben. Immerhin drei meldeten sich daraufhin zurück und baten mich mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Einmal wurde mir auch direkt die Durchwahl zu einer Dame vermittelt, die MmB in ihren Kundenkreis aufnimmt. Drei von sechs ist für mich eine überraschend positive Resonanz. Die anderen Anbieter schrieben nicht zurück, eine Absage erhielt ich auch nicht.
Prostitution reicht vom billigen Straßenstrich bis zur Edelhure, bzw. bis zum teuren Callgirl. Dazwischen finden sich freiberufliche Anbieterinnen, die in der Zeitung inserieren, sich für sexuelle Treffs Wohnungen anmieten oder sich in der eigenen Wohnung treffen, bzw. den Kunden besuchen. Es gibt Prostituierte im Wohnwagen, an der Autobahn, oder in Laufhäusern in der Innenstadt. Sauna-, Massage- oder FKK-Clubs beschäftigen Prostituierte genauso wie klassische Bordelle, bei denen die Damen ihre Kunden an der Bar akquirieren. Für MmB kommen weder der Straßenstrich noch die Edelhure wirklich in Frage, da meistens der Zugang zu ersterem und das Geld für zweiteres nicht vorhanden sind. Insofern rekrutieren sich die Dienstleister aus Anbietern mit barrierefreiem Zugang (für körperbehinderte Kunden), welche gewillt sind, behinderte Menschen zu bedienen und deren Preisvorstellung sich innerhalb der Möglichkeiten von MmB bewegt.
3 Sexualität
Sexualität ist, was wir daraus machen. Eine teure oder billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdrückung), ein kurzweiliger Zeitvertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse oder das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form der Zärtlichkeit, eine Art der Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung. (OFFIT 1979, zit. nach WALTER 2005a, 34 f.)
Das Verständnis von Sexualität dreht sich oftmals um den GV, um Koitus,
Potenz und Orgasmus. Die Gesellschaft denkt an konkrete sexuelle Inhalte oder Stellungen, wenn von Sexualität die Rede ist. Dadurch werden oben genannte Begriffe im Vergleich zu Zärtlichkeit, Liebe, Partnerschaft und körperlicher Nähe überbetont. Sexualität ist weit mehr als nur das. Der Mensch hat keine Sexualität, er ist sexuell. Sie berührt alle Bereiche, die das Mann- und Frausein, das Menschsein und die zwischenmenschliche Kommunikation betreffen. (vgl. KRENNER 2003, 11)
Sexualität umfasst ein derart breites Spektrum, kann unterschiedlichste Facetten annehmen und auf verschiedenste Weise zum Ausdruck kommen, so dass es nicht möglich ist eine eindeutige Definition des Begriffs zu geben. Somit erscheint mir eine Annährung durch verschiedene Perspektiven als sinnvoll. Zuerst skizziere ich die biologischen/physiologischen Eigenschaften von Sexualität, bevor ich die gesellschaftliche Rolle und die damit verbundenen Regeln der Sexualität im Miteinander darstelle. Dann werde ich die Rolle der Sexualität und Attraktivität bei der Partnersuche herausstellen, bevor ich die gesellschaftlichen Konventionen, welche das Auftreten von Sexualität in der Öffentlichkeit reglementieren, beschreibe. Daraufhin findet der psychosexuelle Aspekt Beachtung. Zuletzt beschreibe ich die Veränderungen der Perspektive auf Sexualität durch den zeitlichen und kulturellen Wandel. Auf die sich ergebende Problematik für MmB gehe ich im Einzelnen speziell ein.
3.1 Biologische und physiologische Aspekte
Warum verhalten sich Menschen sexuell? Dafür findet Sandfort eine einfache biologisch-physiologische Erklärung:
Der Mensch verhält sich sexuell, weil er dafür mit einem wunderschönen, berauschenden hormonellen Cocktail belohnt wird. Eine körpereigene Droge. Allein schon der Gedanke an Sex kann uns lustvolle Gefühle bereiten. […] Das treibt Menschen sexuell zusammen und sorgt für die nächste Generation. (SANDFORT 2007, 29)
Der physiologische Aspekt der Sexualität hebt den körperlichen Lustaspekt hervor, welcher sich aus Anspannung und Entspannung gewinnt. Die im Sex gefundene Befriedigung wirkt sich entspannend auf das Körpergefühl, also letztendlich auch auf die seelisch-emotionale Verfassung, aus. Sexologen sind sich darin einig, dass Sex stressabbauend wirkt und somit förderlich für eine emotionale und körperliche Ausgeglichenheit ist.
Betrachtet man die Gattung Mensch, so lässt sich sagen, dass sich die Natur Sex als ein Belohnungsinstrument ausgedacht hat, welches dazu führt, dass es zu Fortpflanzung kommt. Der Akt der Vermehrung hat sich über Millionen Jahre kaum geändert. Es geht darum, dass das Spermium den Weg zur Eizelle findet und diese befruchtet, was zu einer Vermehrung der Gattung führt. Diese Methode ist überaus erfolgreich, wenn man bedenkt, dass wir auf der Erde aktuell mit dem Phänomen der Überbevölkerung und einem damit verbundenen Ressourcenmangel konfrontiert sind.
Heutzutage besteht die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung, jedoch spielt diese Methode im Vergleich zur natürlichen Kopulation kaum eine nennenswerte Rolle. Sie wird nur dann angewandt, wenn die natürliche Befruchtung versagt oder unerwünschte Merkmale wie eine Behinderung oder Krankheit beim Nachwuchs ausgeschlossen werden sollen[3].
Ist trotzdem damit zu rechnen, dass der Fötus nicht normgetreu heranwachsen kann wird fast immer eine Abtreibung durchgeführt. Für die westliche Welt bedeuten diese Möglichkeiten, dass immer weniger behinderte Menschen zur Welt kommen, da eine negative Eugenik durch die Methoden der Diagnostik ermöglicht wird. Behinderte Menschen selbst sind am Fortpflanzungsprozess einer Gesellschaft so gut wie gar nicht beteiligt, profitieren aber gleichsam von den physiologischen Auswirkungen der Sexualität, der beruhigenden Wirkung, dem lustvolle Erlebnis oder der körperliche Entspannung.
Bei der Affenart der Bonobos erfüllt der Sex eine soziale Funktion innerhalb der Gruppe und zwischen den Geschlechtern. Auch beim Menschen ist diese soziale Funktion ersichtlich, auch wenn sie subtilere Ausdrucksformen angenommen hat. Damit leite ich über zum soziosexuellen Aspekt und der gesellschaftlichen Rolle von Sexualität.
3.2 Soziosexuelle Aspekte
Sexualität bedeutet nicht zwangsläufig den Beischlaf zu vollziehen oder den Orgasmus zu erreichen. Sexualität beginnt bereits viel früher. Sie kann beispielsweise in der Kopfmassage durch eine Friseurin entstehen, im Händeschütteln oder mit dem Lächeln einer Person. Sie ist greifbar in der Spannung zwischen zwei Menschen, die sich anziehend finden und spielt eine Rolle in jeder Begegnung von Mensch zu Mensch. Ob man mit einer Frau oder mit einem Mann kommuniziert, ob man sie/ihn als attraktiv empfindet, man sich unbewusst oder bewusst Chancen auf eine sexuelle Zusammenkunft ausrechnet, verändert maßgeblich die Art des Miteinanders.
Sexualität vertieft menschliche Beziehungen und hilft sie aufzubauen. Somit kommt der Sexualität eine gesellschaftliche, bzw. soziale Eigenschaft zu. Da Sexualität die Sprache des körperlichen Miteinanders ist, kann sie auch einen kommunikativen Charakter annehmen.
Sexuell anziehend zu sein gründet sich vor allem auf folgende Eigenschaften: Intelligenz, Sportlichkeit, Selbstständigkeit, Leistungsfähigkeit, Potenz, Gesundheit und Schönheit. Schönheit und Gesundheit liegen begrifflich nahe beieinander. Was uns als schön erscheint, ist meistens auch ein Zeichen von Gesundheit. Die Symmetrie ist Anhaltspunkt für beides, einen gesunden Knochenbau und eine ästhetisch-schöne Form.
An jeder Litfaßsäule hängen spärlich bekleidete, junge, nach allgemeinen Kriterien als schön bewertete Menschen. Zeitschriften steigern ihren Umsatz, indem sie halbnackte Frauen auf der ersten Seite abdrucken lassen. Der Hauptgrund, warum Männer sich in zu enge T-Shirts pressen, Fitnessstudios boomen und Frauen sich Diäten aufzwingen, liegt darin, dass sie allesamt danach streben, eine möglichst große sexuelle Begehrlichkeit auszustrahlen. Der Leser kann sich an dieser Stelle fragen, wie viel Zeit er täglich oder wöchentlich darauf verwendet, sich attraktiv zu gestalten. Dazu gehören die Körperpflege, die Wahl der Kleidung, des Parfums, etc.. Im weiteren Sinne kann auch die sportliche Betätigung oder sogar die Kaufentscheidung bei einem Produkt, welches den eigenen Attraktivitätswert zu erhöhen scheint, dazu gezählt werden. Pessimisten sehen in manch einer Verhaltensweise schon den verinnerlichten Zwang einer gesamten Gesellschaft nach Ästhetik und Jugend, welche ein Schönheitsideal bedienen möchte, das mit natürlichen Mitteln kaum zu erreichen scheint.
Wer schön ist, der ist meistens auch sexuell begehrenswert. Schönheit ist gleichzeitig Hauptkriterium und Mittel, dessen Ausmaß darüber entscheidet in welcher Weise sexuelles und partnerschaftliches Begehren provoziert werden kann. Es geht weniger darum, ob jemand seine Möglichkeiten tatsächlich in Sex umsetzt, denn es reicht allein darüber zu verfügen.
Sexuelle Anziehungskraft ist ein Merkmal, das sich beim Träger des Merkmals günstig auf seine soziale Position auswirkt. Im Umkehrschluss lässt sich daraus folgern, dass eine Person, welche weniger sexuelle Anziehungskraft ausstrahlt, oftmals auch von ihrem Umfeld negativer bewertet wird. Mit MmB verbindet man Attribute wie hilfsbedürftig, verkrüppelt, nicht-leistungsfähig, deformiert, hässlich oder krank, womit sie im Ranking um eine große Attraktivität an unterster Stelle liegen. Sandfort beschreibt dieses positive und negative Leitbild mit den entgegengesetzten Begriffen Heros und Lepros (SANDFORT 2007, 41), was im untenstehenden Diagramm deutlich wird. Dem Heros gilt die Achtung, dem Lepros wird die Verachtung zuteil.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten(ISBB TREBEL 4, 2010)
Sexualität ist Macht. Derjenige, der sexuelle Anziehungskraft ausübt, hat ein gewisses Maß an Verfügungsgewalt über Menschen, die dieser Anziehungskraft erliegen. Um sich eine Chance auf einen möglichen sexuellen Kontakt zu wahren, laufen Menschen Gefahr, in Situationen nach der Erwartungshaltung derjenigen zu agieren, die sexuelle Anziehungskraft auf sie ausüben. Wer die Balztänze moderner Menschen verfolgen möchte, dem empfiehlt es sich an einem Samstagabend an die Theke einer gut besuchten Bar zu setzen und zu beobachten wie sich das Miteinander von Personen, ausgestattet mit dem Merkmal der Attraktivität und jenen, die diesem erliegen, gestaltet. Für erstere, vornehmlich weibliche Gruppe, ließe sich das Maß ihrer Attraktivität evtl. in der Anzahl der Angebote kostenloser Getränke durch die zweite, vornehmlich männliche Gruppe darstellen. Kulturell bedingt wird von Männern ein aktives und bisweilen aggressives Balzverhalten erwartet.
Menschen bewegen sich in unterschiedlichen sozialen Bewegungsradien. Attraktivität hat nicht auf alle Bereiche den gleichen Einfluss. Ich teile die soziale Welt hierfür in drei unterschiedliche Bereiche ein: Privatbereich, Nahbereich und gesellschaftlicher Bereich. Im Privatbereich sehe ich die Familie und sehr engen Freunde, im Nahbereich die Bekannten, Freizeit- und Arbeitskollegen und entfernten Verwandten. Der Rest des sozialen Umfelds gehört zum gesellschaftlichen Bereich. Ich gehe bei meiner Annahme vor allem von einer mäßigeren Bewertung durch den gesellschaftlichen Bereich aus. Der Nahbereich rekrutiert sich hauptsächlich aus dem gesellschaftlichen Zirkel, womit deutlich wird, dass auch hier anfänglich das sexuelle Merkmal Bedeutung gehabt haben muss. Allerdings wird seine Signifikanz im Laufe der Zeit zunehmend durch Attribute wie Freundschaft, Zuneigung, Vertrauen etc. abgelöst oder ersetzt. Wenn ein Bekannter zum engen Freund wird und damit die Grenze zwischen Nah-Bereich und persönlichem Bereich übertritt, beginnt er, sein Gegenüber sprichwörtlich „mit anderen Augen“ zu sehen.
Sicherlich gilt dieses System nicht generell für die sexuelle Paarbeziehung zwischen einem Liebespaar. An dieser Stelle soll die sexuelle Anziehungskraft erhalten bleiben und wird dementsprechend gepflegt, auch wenn viele langjährige Paare innerhalb ihrer sexuellen Beziehung von einem Rückgang der sexuellen Anziehungskraft und somit auch der Häufigkeit ihrer sexuellen Begegnungen berichten.
Derzeit kann man, vor allem an der Nutzung des Internets erkennen, dass die verschiedenen Bereiche zunehmend ineinander übergehen. Wenn wir unsere Urlaubsfotos mit einigen hundert „Freunden“ auf sozialen Netzwerken wie Facebook teilen, fließen nahe und ferne soziale Bereiche allmählich ineinander. Derart öffentlich gemacht, steigert sich der Erwartungsdruck auf unsere Person, den Ansprüchen von Attraktivität und sexueller Begehrlichkeit gerecht zu werden. Bei so vielen „Freunden“ gehört nur eine Handvoll zu den wirklichen, guten Freunden und somit zum privaten Bereich, während der Rest Bekannte oder flüchtige Bekannte aus dem Nahbereich oder gesellschaftlichen Bereich sind. Die Art und Weise, wie wir uns innerhalb der einzelnen Zirkel verhalten, ist verschieden. Während im privaten Bereich das Vertrauen untereinander hilft, vor beurteilenden und missgünstigen Blicken zu schützten, ist man ihnen in den anderen Zirkeln ausgeliefert.
Dies führt dazu, dass fast jeder Teilnehmer des Social Media-Bereichs ein möglichst begehrenswertes Bild von sich selbst zeichnen will, welches seine Schwächen, wenn möglich, kaschiert. In den seltensten Fällen hebt jemand seine Schwächen in der Kommunikation mit einer eher unvertrauten Umgebung hervor, da ihn dies in eine verletzliche Position bringen würde. Fälle, in denen umgekehrt die persönlichen Nachteile herausgekehrt werden, finden sich äußerst selten, da sie besonderen Mut und ein stabiles Selbstbewusstsein benötigen. Gerade das kann jedoch auf andere auch attraktiv wirken. In diesem Sinne kann man MmB nur raten, sich nicht hinter ihren vermeintlichen Nachteilen zu verstecken, sondern sie offen zu thematisieren, auch wenn sie dadurch Gefahr laufen ihre Behinderung in einem Maße hervorzuheben, die ihre charakterlichen und somit wesensmäßigen Eigenschaften in den Hintergrund rücken. (vgl. INTERNET ALS HILFE ZUR PARTNERSUCHE)
Sexy zu sein, bedeutet einen Anspruch an Begehrlichkeit zu erfüllen. Wie groß dieser Anspruch ist, wird unter anderem vom sozialen Umfeld, den medialen Vorbildern und dem Menschenbild einer Gesellschaft bestimmt. Ob eine Person mit ihrer eigenen Attraktivität auf Kriegsfuß lebt oder sich in ihrer Haut wohl fühlt, liegt entschieden daran, inwieweit sie sich dem Diktat der Einflüsse unterwirft.
3.3 Aspekte bei der Partnersuche
Sexualität durchtränkt fast alle Bereiche unseres sozialen Lebens und kommt besonders bei der Partnersuche zum Vorschein. Fast jeder sucht sich seinen Partner nach sexuellen und damit verbundenen optischen Merkmalen aus. Die Mehrheit der Bevölkerung sucht einen Partner des anderen Geschlechts, nur eine Minderheit sucht sich gleichgeschlechtliche Partner.[4]
Das typische Verhalten der Menschen bei der Paarungssuche hat sich in mühevoller Selektion über Jahrmillionen als ein genetischer Code herausgebildet und determiniert die Gruppe derer, an die sich das Paarungsverhalten richtet. Behinderte Menschen haben demnach erschwerte Grundvoraussetzungen einen Partner zu finden. Glücklicherweise sind es nicht nur sexuelle, bzw. optische Kriterien, die bei der Partnerwahl ausschlaggebend sind. Dem Schönheitswahn der Jugend mag ein älterer Jahrgang aufgrund eigener körperlicher Mängel absprechen. Sekundärtugenden wie Treue, Offenheit, Fürsorge nehmen in der Liebesbeziehung mit der Zeit eine wichtigere Stellung ein, brauchen aber einen längeren Zeitraum bevor sie feststellbar und stabil sind. Da die genannten Eigenschaften nicht zu objektiv sichtbaren Merkmalen gehören, ist Äußerlichkeit, als das sichtbarste Merkmal einer Person, ein wichtiger Grund und Auslöser überhaupt einen Erstkontakt zu erwägen.
3.4 Gesellschaftliche Konventionen
Wenn wir uns gerade mit bewussten und unbewussten sozialen Eigenschaften der Attraktivität beschäftigten, wollen wir uns nun den gesellschaftlichen Regeln sexueller Spielarten zuwenden.
Obwohl jeder Mensch der lebendige Beweis gelebter Sexualität seiner Eltern ist, erfreut sich dieses Thema einer Sonderrolle. Sexualität ist weitestgehend in den Privatbereich platziert und geht andere Menschen nichts an. Dies ist auch positiv zu vermerken, weil der Sexualität dadurch der Moment des erotisch Verborgenen und liebevoll Intimen bleibt. Dieser Umstand bedeutet allerdings eine besondere Erschwernis für MmB, die in einem besonderen Maße von anderen Menschen abhängig sind. Sie bedürfen hinsichtlich ihrer Sexualität Hilfestellung, Beratung und Aufklärung von offenen und toleranten Menschen, die das Thema nicht unter den Tisch kehren. Trotzdem verhält es sich so, dass die Beschäftigung mit der Sexualität anderer zwangsläufig eine Beschäftigung mit der eigenen Sexualität auslöst, was bei vielen Fachkräften, Eltern oder Angehörigen persönliche Grenzen überschreitet, woraufhin versucht wird das Thema zu vermeiden oder zu tabuisieren.
Obwohl Sexualität tagtäglich ausgeübt wird, und wie Nahrungsaufnahme, Schlaf oder der Ausscheidungsprozess zu den biologisch-determinierten Verhaltensweisen der Menschen gehört, bespricht man sich darüber fast ausschließlich im privaten Bereich. (die Pollution, umgangssprachlich als „feuchter Traum“ bekannt, passiert männlichen Jugendlichen ohne eigenes Zutun und ist somit als biologisch-determiniert zu betrachten)
Das körperliche Zusammenspiel mit anderen gehört, wie das Erleben des eigenen Körpers zu den normalen Lebensäußerungen. Dabei geschehen viele sexuelle Handlungen innerhalb der Privatsphäre, während andere Vorgänge, wie das Küssen, auch in der Öffentlichkeit gestattet sind.
Die Masturbation gehört für viele Menschen zum Alltag und wird als entspannendes Mittel genossen. Es ziemt sich nicht in der Öffentlichkeit oder in Gegenwart von anderen zu masturbieren. Dies ist uns allzu verständlich und es würde gesellschaftliche bis strafrechtliche Sanktionen nach sich führen, weshalb das „Hand anlegen“ alleine vollzogen wird. (vgl. EINLEITUNG)
MmgB haben es oftmals schwerer, eine Trennung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit zu ziehen, da sie wenig Intimsphäre gewohnt sind. Durch die tägliche Pflege kennen sie es von klein auf, dass andere sie nackt sehen und berühren dürfen. Dies kann ihre eigene Schamgrenze herabsetzten und es schwierig gestalten, Situationen, bei verändertem Kontext, adäquat einzuschätzen. Wird ihnen allerdings das Masturbieren verwehrt, so könnte dies als Zeichen gewertet werden, dass Sexualität insgesamt etwas „Böses und Schlechtes“ sei, was sexualpädagogisch abträglich wäre.
Eine Reaktion von Eltern behinderter Jugendlicher oder Institutionen wie Schulen oder Heimen könnte es sein, Räume und Situationen bereitzustellen, in denen das Masturbieren erlaubt ist. Ob es solche Räumlichkeiten in Sonderschulen schon gibt entzieht sich leider meiner Kenntnis. Würde eine Schule einen derartigen Raum bereitstellen, würde dies eine Lawine an Fragen loslösen. Was passiert mit denen, die sich nicht selbstbefriedigen können? Müsste ihnen bei der Masturbation geholfen werden? Müsste oder dürfte man diesen Raum unter Aufsicht stellen? Dürfte diesen Raum nur eine Person allein aufsuchen? Würde es als logische Folge auch einen Raum zur geteilten Sexualität geben dürfen? Wenn nicht, welches Bild von Sexualität würde damit vermittelt werden. Sexualität alleine wäre demnach in Ordnung, aber gemeinsame Sexualität nicht. Oder jedenfalls wäre es in der Schule nicht in Ordnung. Was halten die Eltern davon? Kommt dies in einer Sonderschule nicht wieder einer Sonderbehandlung gleich? (In anderen Schulen gibt es ja auch keine Selbstbefriedigungsräume)
Man sieht, dass der institutionelle Umgang mit Sexualität oftmals bereits an der Menge von Fragezeichen erstickt, den er aufzuwerfen droht.
Festzustellen bleibt, dass es eine sexualpädagogische Maßnahme wäre, eine klare Unterscheidung in Ich-Bereiche (Intimsphäre) und Fremdbereiche (Öffentlichkeit) zu vermitteln, wie es Achilles, selbst Mutter eines behinderten Kindes, beschreibt (ACHILLES 2005).
3.5 Psychosexuelle Aspekte
Sexualität umfasst bei weitem mehr als nur den Akt der Fortpflanzung. Ihre erotisierende Wirkung macht sich weitaus früher als beim sexuellen Verkehr bemerkbar und ist als Triebfeder im Leben und im Kontakt mit anderen Menschen allgegenwärtig.
Sexualität ist grundsätzlich bei jedem angelegt und zeigt in ihren Erscheinungen ganz unterschiedliche Spielarten. Sigmund Freud war einer der ersten, der der Sexualität eines Menschen einen großen Stellenwert für die Entwicklung seiner Persönlichkeit und für sein seelisches Empfinden beimaß, weswegen er als Wegbereiter für das heute weit gefasste Begriffsverständnis von Sexualität gelten kann. Es ist ihm zu verdanken, dass Sexualität nicht mehr nur mit der Genitalsexualität gleichgesetzt, sondern als eine Art Lebensenergie verstanden wird. Sexualität ist eine fundamentale Kraft im Menschen, die einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsbildung leistet und ihn durch alle Phasen seiner Entwicklung begleitet. (vgl. ARBEITSBLATT FREUD)
Eine eigene Sexualität bildet die Grundlage der Geschlechteridentität, sprich, sich als Mann oder als Frau zu fühlen, als Junge oder Mädchen. In seinem bekannten Phasenmodell sieht Freud den Beginn der psychosexuellen Entwicklung des Menschen bereits bei den Lebensäußerungen des Säuglings, der sich durch Lust und Unlust ausdrückt. (vgl. BEHA 2009, 14f)
Sexualität ist geprägt von dem, was wir darüber gelernt und erfahren haben. Haben wir Sexualität kaum erfahren dürfen, so befindet sich selbige in einem vergleichsweise unterentwickelten Stadium.
Genauso verhält es sich mit der Einstellung zur Sexualität, die durch unsere Erfahrungen geprägt ist. Es verwundert demnach nicht, wenn Menschen, die Erfahrungen des Missbrauchs gesammelt haben, dazu neigen können eine negative und demütigende Vorstellung von Sexualität zu entwickeln. Dies kann sogar dazu führen, dass jene Menschen sexuelle Kontexte ablehnen oder gänzlich zu vermeiden versuchen, oder ihre Sexualität im erfahrenen Verständnis betreiben.
Gerade wenn geteilte Sexualität ausgeübt wird, bedeutet dies, sicheres Terrain zu verlassen. Denn in einer gelungenen sexuellen Verbindung heißt es, die sexuellen Vorstellungen des anderen zu akzeptieren und anteilhaft zu realisieren. Wenn die Wünsche des Partners nicht mit den eigenen vereinbar sind, so ist kaum eine positive sexuelle Zusammenkunft möglich.
Es fällt vielen Menschen schwer, ihre Wünsche genau zu benennen. Sie schämen sich dafür, weil sie evtl. meinen, dass ihre Bedürfnisse keine Berechtigung haben, da sie oder ihre Wünsche scheinbar nicht in das öffentliche Bild von Sexualität passen, oder sie fürchten, dass der Partner sich von ihnen abwenden könnte. Oftmals kennen Menschen ihre Wünsche und Sehnsüchte nicht, sondern haben sich an die Ausübung einer Sexualität gewöhnt, von der sie annehmen, dass sie den Kriterien einer gelungenen Sexualität entspräche, auch wenn jene Kriterien nicht von den beteiligten Personen selbst gesetzt wurden.
Sexualität ist geprägt von dem, was wir gelernt haben, was wir darüber denken und was wir meinen, dass andere Menschen darüber denken. Man kann sich vorstellen, dass gerade MmgB diesbezüglich besondere Hilfestellung benötigen, wenn sie aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen Schwierigkeiten haben, sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzten.
Genau das Gegenteil war die letzten Jahrzehnte der Fall. Das Thema Sexualität von MmB wurde totgeschwiegen, vermieden, oder bagatellisiert.
Das lässt sich auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung feststellen, die erst seit kurzer Zeit stattfindet, es mittlerweile jedoch an Publikationen zu diesem Gebiet nicht mangeln lässt. Vor allem Eltern und Betreuer, sowie MmB selbst, beteiligen sich mittlerweile lebhaft an der Diskussion.
Die Haltung des Umfelds von MmB hat gewisse Gründe. Eltern haben beispielsweise Sorge, dass ihre Kinder beim Sex frustrierende Erfahrungen machen könnten, sie ausgenutzt werden, oder dass der Zusammenkunft unangenehme Folgen erwachsen (evtl. Kinder oder eine Geschlechtskrankheit). Sie ziehen es deswegen oft vor, keine „schlafenden Hunde“ zu wecken [ein Ausdruck, der im Zusammenhang mit der Sexualität von MmB immer wieder gebraucht wird (vgl. SENCKEL 2010, S101).]
Die einmal wachgeküssten Menschen könnten im Sinne der Normalisierung ja dann auch das Recht auf Kinder oder einen Ehepartner einfordern. Jeder, der diese Wünsche negiert oder mit seinen Handlungen zur Verneinung beisteuert, sollte sich seines restriktiven Verhaltens bewusst sein. Es reicht, einen Perspektivwechsel zu unternehmen, um sich zu fragen, ob man an umgekehrter Stelle gleichermaßen behandelt werden wolle.
Die Psychologie beschäftigt sich gerade dann mit der Sexualität, wenn sich abnorme Verhaltensweisen innerhalb der geäußerten Sexualität zeigen oder psychische Krankheiten auftreten. Ein Grund für die psychologische Auseinandersetzung können auch die Folgen einer unterdrückten Sexualität sein. Wenn Sexualität nicht gelebt werden kann, jedoch trotzdem ein Wunsch bzw. Bedürfnis besteht, kann das negative Auswirkungen auf Psyche und Verhalten haben. Dies ist auch bei MmB der Fall, die unter erschwerten Bedingungen für eine selbstbestimmte Sexualität leiden. Eltern berichten über Auto- und Fremdaggression, Unruhe, Unausgeglichenheit oder Depressionen ihrer geistig behinderten Zöglinge, deren Sexualität nicht oder in einem unbefriedigendem Maße stattfindet. (vgl. KRENNER 2003, 68) Wenn dieser Mangel gedeckt wird, führt dies automatisch zu einem Rückgang des auffälligen Verhaltens.
So berichtet die Mutter eines autistischen Erwachsenen auf die Frage, was SB bei ihrem Sohn ausgelöst hat:
Ich sehe ein ganz klares Zurückgehen von Aggression. Er zeigt viel weniger Aggressionen und schon gar nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Versuch zu onanieren. (dessen Versuch zuvor immer von Autoaggressionen begleitet wurde. Anmerkung des Verfassers) Er hat für sich die Möglichkeit entdeckt, in sein Zimmer zu gehen, die Tür zuzumachen und eine intime Erfahrung mit sich selbst zu machen. Er kann sich jetzt selber befriedigen. Was aber auch deutlich ist, er ist damit nicht zufrieden, er braucht auch das Setting in unmittelbarem Zusammenhang mit Dir (gemeint ist Nina de Vries – Anmerkung des Verfassers)(WALTER 2004, 156)
3.6 Zeitlicher und kultureller Wandel
Die Sexualität entwickelt entlang verschiedener Einflüsse (biologische-, psychologische-, soziologische-) unterschiedliche Formen der Ausgestaltung. Innerhalb mancher Systeme verhält sich Sexualität relativ gleichbleibend (was z. B. die Merkmale des Heros und Lepros betrifft), während ihre Ausdrucksformen anderswo an die sich verändernden Bedingungen der Umwelt geknüpft sind.
Die Sexualität braucht keine Fortpflanzung, doch die Fortpflanzung braucht Sexualität. Mittlerweile teilen Menschen selten miteinander das Bett, um konkret ihren Wunsch nach Nachwuchs zu erfüllen. Die Kirche hielt ein überholtes Verständnis über Sexualität über Jahrhunderte am Leben, indem sie körperliche Lust als eine Sünde verschrie. Eine Veränderung hin zum Lustaspekt erlebten weite Teile der westlichen Welt erst durch die sexuelle Revolution der 68er Jahre. Dass Genitalsexualität durch moderne Verhütungsmaßnahmen von der Fortpflanzung losgelöst stattfinden kann, führte zu ganz anderen Möglichkeiten des gegenwärtigen und zukünftigen sexuellen Miteinanders. Dieser neue Zustand ist erst eine Hundertstel Sekunde her, verglichen mit der gesamten menschlichen Entwicklung. Die sexuelle Unterdrückung, Zensur und Restriktion erlebte in der Menschheitsgeschichte ein Auf und Ab. Während es im 17. Jahrhundert noch freimütiger zugegangen sein soll, die Codes für das Rohe, Obszöne und Unanständige recht locker waren, direkte Gesten, schamlose Reden und sichtbare Überschreitungen stattfanden (vgl. FOUCAULT 1987 , 11) , beschreibt FOUCAULT das 19. Jahrhundert als die monotonen Nächte des viktorianischen Bürgertums:
Die Sexualität wird sorgfältig eingeschlossen. Sie richtet sich neu ein, wird von der Kleinfamilie konfisziert und geht ganz im Ernst der Fortpflanzung auf. Um den Sex breitet sich Schweigen. Das legitime, sich fortpflanzende Paar macht das Gesetz. […] Im gesellschaftlichen Raum, sowie im Innersten jeden Hauses gibt es nur einen Ort, an dem die Sexualität zugelassen ist – sofern sie nützlich und fruchtbar ist: das elterliche Schlafzimmer. (FOUCAULT 1987, 11)
Einstellungen zur Sexualität stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den aktuell herrschenden Vorstellungen der Sittlichkeit innerhalb einer Kultur. Kulturelle Einstellungen unterliegen dem Wandel ihrer Zeit. Bei dem Film Die Sünderin von 1951 wurde die Biographie einer Prostituierten thematisiert und unter anderem Nacktszenen gezeigt, worauf Priester Stinkbomben in die Kinos warfen. (vgl. WIKIPEDIA DIE SÜNDERIN)
Etwa 50 Jahre später sorgt Nacktheit und Prostitution zwar immer noch für Aufmerksamkeit, aber keinesfalls für derartige Stürme der Empörung. Der öffentlich-mediale Aufschrei wird umso größer, je weniger eine Handlung zum Erwartungshorizont über eine Person oder Personengruppe passt. Sprich: Von einem It-Girl der High Society erwartet man den „Busenblitzer“, während sich kirchliche Würdenträger lieber bedeckt halten sollten. Genauso gilt, dass ein MmB nicht öffentlich über seine Sexualität spricht, weil dieses Thema nicht dem Erwartungshorizont über seine Person entspräche. Je mehr MmB dieses Tabu brächen, desto eher würde sich jedoch auch die gesellschaftliche Voreingenommenheit verändern.
Während der Akt der Fortpflanzung im Laufe der Jahre relativ konsistent geblieben ist, haben sich die Spielweisen der Erotik und Verführung durch den Eingriff der Kultur immer wieder verändert und tun dies auch heute. Gleichfalls fällt es schwer, von allgemein gültigen Kriterien oder Bedingungen zu sprechen, die Erotik auslösen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Kultur sich nicht nur zeitlich verändert, sondern die Einflüsse verschiedener Kulturen auf der Welt in Konkurrenz zueinander stehen.
Wenn der freigelegte Busen der Frau oder der nur mit einem Seil an den Bauch befestigte Penis eines Mannes aus dem Stamm der Yanonami Indianer im brasilianischen Urwald als praktisch erscheint, würde dieselbe öffentliche Zurschaustellung in Deutschland für Befremdung sorgen, da man sie bereits im sexuellen-erotischen Raum verortet sieht. Die traditionelle Kleidung einer indischen Frau, der Sari, bedeckt die Beine und die Brust vollständig, lässt allerdings den Bauch und den oberen Rücken frei. Die bedeckten Stellen gehören für indische Männer verständlicherweise gerade zu den interessantesten. Die Begegnung mit westlichen Touristinnen, die ein tiefausgeschnittenes Dekolleté tragen, führt immer wieder zu gegenseitigem Unverständnis. Die Touristinnen schimpfen über das „unverschämte Glotzen“, während die indischen Männer über das „sittenlose Auftreten“ der Reisenden lästern. Für traditionelle Moslems des Orients scheint fast jedes unbedeckte Stückchen Haut eine sexuelle Gedankenkette auszulösen.
Unterschiedliche Kulturen transportieren verschiedene sexualmoralische Werte und Einstellungen, welche durch Religion, Geschichte, Brauchtum oder spezifischer Praktikabilität beeinflusst wurden und werden.
Kinder zeigen sich gegenüber dieser Prägung noch weitgehend unbeeinflusst und neigen dazu, das „sittliche Verhalten“ zu übersehen. Als ich mich vor einigen Jahren an einem Strand in Südfrankreich sonnte, konnte ich beobachten, wie ein ca. 5-jähriger Junge seinem Vater seinen erigierten Penis zeigte. Der Vater war sichtbar peinlich berührt und legte dem Jungen schnell ein Handtuch um. Dieser wehrte sich, denn er hätte sich gerne noch weiter mit der frisch-entdeckten Äußerung seines Körpers beschäftigt. Durch die Reaktion seines Vaters sah er aber, dass dies nicht erwünscht wurde und so beugte er sich dem väterlichen Diktat und behielt das Handtuch schlussendlich an. Ich war an diesem Tag also Zeuge eines kulturellen und sexualmoralischen Lernprozesses. Der Vater zeigte mit seiner schamvollen Reaktion bereits die sittlich anerkannte Reaktion auf das öffentliche Zuschau stellen sexueller Inhalte. Diese Reaktion musste der Sohn erst noch lernen.
Die Kultur hat sexuelle Reize aufgenommen und umgeformt. So stellen sich Push-Up-Brusthalter in den Dienst der männlichen Beliebtheit von üppigen und gleichzeitig festen Brüsten. Rotgefärbte Lippen simulieren die Rotfärbung der Schamlippen beim Geschlechtsakt (vgl. SANDFORT 2007, 35). Oder warum konnte sich ein andersfarbiger Lippenstift nie wirklich durchsetzen?
Der Tanz ist die wohl eindeutigste Art und Weise, in der sich die Umgestaltung von Sexualität durch die Kultur deutlich macht. Der argentinische Tango gilt dabei als einer der leidenschaftlichsten Stile. George Bernhard Shaw, irischer Nobelpreisträger für Literatur, bringt es folgendermaßen auf den Punkt:
Der Tango ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens.
( George Bernhard Shaw in WIKIPEDIA TANGO)
In Varietés oder Nachtclubs soll der Tanz an der Stange (die Metaphorik ist eindeutig) eine erotisierende Wirkung auf die männlichen Gäste ausüben. Erotischer Tanz ist Verführung, (Vor-)Spiel, Kommunikation und Imitation des Geschlechtsakts.
Eine kulturelle Umformung hat sich auch im Bereich des Geruchs ergeben. Sexualduftstoffe, sogenannte Pheromone, die unsere Körper selbst produziert, sind im Schweiß vorhanden. Heutzutage gilt Schweiß als unhygienisch. Eigengerüche werden durch Parfüme oder Deodorants ersetzt. Manche davon, wie Moschus, wurden lange Zeit aus tierischen Sexualstoffen gewonnen. Seit mehr als hundert Jahren kann Moschus auf synthetischem Wege hergestellt werden. (vgl. WIKIPEDIA MOSCHUS)
Das attraktive Frauen- und Männerbild hat sich in den letzten Jahrzehnten ebenfalls immer wieder gewandelt. Zwar gibt es Grundmerkmale, welche quasi die „Dauerbrenner“ sind. Sie erotisieren sowohl den Menschen vor 5000 Jahren als auch heute, doch verändern sich die Schönheitsideale im Rahmen ihrer natürlichen und bisweilen auch künstlich-geschaffenen Möglichkeiten.
Die ersten Pin-Up-Schönheiten vor einem Jahrhundert waren deutlich hellhäutiger und fraulicher gerundet, als die Laufstegschönheiten der Nuller-Jahre. Der aktuelle Trend bevorzugt schlanke Frauen mit großen Brüsten und schmaler Taille bei einem gebräunten Teint. Dünne Frauen haben aber selten große Brüste, weswegen operativ durch Implantate nachgeholfen werden kann. Gebräunte Haut verbindet man mit Urlaub, Freizeit und Gesundheit weswegen sie mittlerweile zu einem attraktiven Merkmal geworden ist. Noch vor hundert Jahren gehörte gebräunte Haut zu den Merkmalen der armen Feldarbeiter und man bevorzugte es hellhäutig zu sein, wenn man es sich leisten konnte.
Wenn man davon ausgeht, dass kulturelle Einflüsse imstande sind, das Bild auf Sexualität zu verändern und umzuformen, so ist dies grundsätzlich als positive Nachricht für MmB zu vermelden. Ob die aktuellen Veränderungen des Menschenbilds mit seiner Orientierung an der Perfektion in eine Richtung weisen, die dem MmB zukünftig entgegenkommt, muss allerdings bezweifelt werden. Dagegenhalten ließe sich das Konzept der Sublimierung, welche MmB bei erfolgreicher kultureller Leistung, wiederrum den Zugang zur Attraktivität eröffnen würde, den sie aufgrund ihrer äußerlichen Merkmale nicht erhalten. Ich beschreibe diesen Gedankengang noch einmal ausführlicher:
Die Kultur hat nicht nur Einfluss auf die Sexualität, gleiches gilt in einem vergleichbar höheren Maße auch umgekehrt. Nach psychoanalytischer Ansicht ist die Entstehung der menschlichen Kultur auch ein Ergebnis von Sublimierung. Sigmund Freud verstand unter Sublimierung eine Umwandlung oder Umlenkung von Triebwünschen in eine geistige Leistung oder kulturell anerkannte Verhaltensweise (Bereiche wie Kultur, Religion oder Wissenschaften). (vgl. WIKIPEDIA SUBLIMIERUNG)
Sexualität kann aber auch erreicht werden, indem geistige oder kulturell anerkannte Leistungen als Attraktivitätsmerkmal ins Spiel kommen. Sie sind die Federn mit denen sich ein Mensch schmückt, welche ihn erfolgreich, selbstbewusst, evtl. mächtig und somit begehrenswert für andere erscheinen lassen und ihm damit die Möglichkeit zu einer Partnerschaft und zur geteilten Sexualität eröffnen. Der Trieb wird also unterdrückt, indem man ihn sublimiert und umlenkt, wobei der kulturell anerkannte Erfolg wiederum die Möglichkeit auf Triebentfaltung bietet. Man sieht, welche indirekten Wege die Sexualität beim Menschen beschreitet. Demnach würde ein MmB durch Erfolg und Sublimierungsgabe wieder am Wettbewerb um die Gunst der Partner mitmischen. Ein MmB wird jedoch genau aus dem Grund als behindert betrachtet, weil er kulturell anerkannte Erfolge fast nie vorweisen kann. Dieses Prinzip schlösse also Alle aus, für die kulturell anerkannte Leistungen nicht zu erreichen sind. Ihre diskriminierende Position im Geschäft um allgemeine Attraktivitätsmerkmale wäre nur für eine kleine Gruppe aufzulösen, welche ausschließlich Körperbehinderungen vorweisen, wie z. B. des ALS-kranken Astrophysiker Stephen Hawking oder der contergangeschädigte Bassbaritonsängers Thomas Quasthoff. Für alle anderen bedeutet dies, dass ihnen allenfalls nur behinderte Partner zustehen oder sie lernen müssen, ohne geteilte Sexualität zu leben. Vielen MmB geht dies genau so, wie meine Interviews und Erfahrungsberichte im fünften Teil der Arbeit zeigen werden.
4 Behinderung und eine verhinderte Sexualität
Nach internationalen Schätzungen gelten zehn Prozent der Bevölkerung als behindert, etwa 70 Prozent davon sind körperbehindert. Dass heißt, sie sind in ihrem Bewegungsvermögen, ihrem sprachlichen, visuellen und auditiven Fähigkeiten eingeschränkt. Nur bei knapp 5 Prozent der Menschen mit Behinderung ist diese angeboren (vgl. PRO FAMILIA 1997, 4, 5)
Nach Ergebnissen des Mikrozensus lebten im Mai 2003 insgesamt 8,4 Mio. Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Im Durchschnitt war somit jeder zehnte Einwohner behindert. Der größte Teil, nämlich rund 6,7 Millionen, war schwerbehindert, 1,7 Millionen Personen dagegen leichter behindert. Behinderungen treten vor allem bei älteren Menschen auf: So waren 72% der behinderten Menschen 55 Jahre oder älter. (STATISTISCHES BUNDESAMT 2004)
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass viele Menschen im Alter erst behindert werden, anstatt behindert zur Welt zu kommen.
Lange Zeit war es still um die sexuellen Belange von MmB In der Theorie beschäftigte man sich v.a. mit Missbrauch und Sterilisationsverbrechen der Nazis in Verbindung mit den unmenschlichen Überzeugungen von Rassenhygienikern. Man forschte über Elternschaft von MmB, ihrem Wunsch nach Kindern oder Partnerschaft. Dabei übersah man stillschweigend die Frage nach der praktischen Umsetzung von sexuellen Bedürfnissen.
Oftmals wird im Zusammenhang von MmB und Sexualität von einer „behinderten Sexualität“ gesprochen. Dieser Begriff ist leicht irreführend, da er glaubhaft macht, MmB wäre eine grundsätzlich andere Sexualität zu eigen. Es macht mehr Sinn von einer „verhinderten Sexualität“ bei MmB zu sprechen, wesentlich verhindert oder eingeschränkt durch bestimmte Faktoren ihre Lebenssituation. Faktoren, die Einschränkungen im Bereich Wohnen, Freizeitgestaltung, Mobilität, Arbeit sowie finanzielle Möglichkeiten darstellen können.
4.1 Lebenssituation von MmB
MmB, die auf Hilfe angewiesen sind, leben noch immer häufig in Heimen, separiert von Nichtbehinderten. Diese Einrichtungen befanden sich früher meistens dezentral am Rand eines Orts und bewegen sich nun im Sinne der Normalisierung langsam Richtung Zentrum. Neue Wohnformen, wie das betreute Wohnen, bieten MmB, die auf Hilfe angewiesen sind die Möglichkeit in kleineren Wohngemeinschaften zu leben. Das Leben in den verschiedenen Wohnformen folgt durch feste Betreuungszeiten meist einem geregelten Ablauf und beschränkt somit die Selbstbestimmung.
Ungleiche Machtverhältnisse zwischen Behinderten und Betreuern begünstigen sexuelle Übergriffe auf MmB. Sexueller Missbrauch bezeichnet eine unter Strafe gestellte Handlung an einem Menschen. Exaktes Zahlenmaterial über das Ausmaß der sexualisierten Gewalt gibt es in Deutschland nicht. Nach Angaben der UNO sind Mädchen und Frauen mit Behinderung etwa doppelt so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen wie Mädchen und Frauen ohne Behinderung (vgl. PRO FAMILIA 1997, 13). Experten gehen davon aus, dass Jungen und Männer mit Behinderung generell weniger betroffen sind, aber häufiger als jene ohne Behinderung (vgl. ebd.). Hier schließt sich für mich die Frage an, ob es auch Missbrauch im psychologischen Sinne ist, wenn bei einem Menschen die natürliche sexuelle Entwicklung unterdrückt wird und seine sexuelle Integrität dadurch Schaden nimmt.
Zur Bewertung der Lebenssituation von MmB gehören auch die Mobilität und die Integration in der Freizeit. Für Behinderte ist eine Parallelwelt errichtet worden, die selten Berührungspunkte mit lebensweltlichen Räumen der nichtbehinderten Gesellschaft aufweist. Wer sich nicht trifft, der kann sich auch nicht näher kennenlernen, sich verabreden oder verlieben. Für MmB wie MoB gilt, dass sich ihre Partnersuche auf den Radius ihrer Lebensräume beschränkt. Die Möglichkeit des Internets könnte neue Wege der Partnersuche bedeuten, doch auch sie erfordert in letzter Hinsicht ausreichend kognitive Fähigkeiten, die den Umgang mit Computer und Internet ermöglichen.
Ich werde im Folgenden einige weitere Daten zur Lebenslage behinderte Menschen in Deutschland von der Webseite des statistischen Bundesamtes zitieren:
Junge behinderte Menschen im Alter von 25 bis 44 Jahren leben, nach den Daten des Mikrozensus, häufig unter ganz anderen Umständen als nichtbehinderte Menschen gleichen Alters. Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2004.
Zivilstand
Behinderte Menschen zwischen 25 und 44 Jahren sind häufiger ledig und leben öfter allein als Nichtbehinderte in dieser Altersklasse. Der Anteil der Ledigen unter den behinderten Menschen beträgt in diesem Alter 49%; der entsprechende Anteil bei den Nichtbehinderten 34%. Der Anteil der in privaten Haushalten allein Lebenden bei den 25- bis 44-jährigen behinderten Menschen liegt bei 25%; bei den Nichtbehinderten bei 17%.
Schulabschluss
15% der behinderten Menschen im Alter von 25 bis 44 Jahren hatten keinen Schulabschluss; bei den Nichtbehinderten waren deutlich weniger in diesem Alter (2%) ohne Abschluss. Abitur hatten hingegen 11% der behinderten und 24% der nichtbehinderten Menschen in dieser Altersklasse.
Arbeit
Am Arbeitsmarkt zeigt sich eine geringere Teilhabe der jungen behinderten Menschen: 72% der behinderten Menschen im Alter von 25 bis 44 Jahren waren erwerbstätig oder suchten nach einer Tätigkeit; bei den Nichtbehinderten waren es in diesem Alter 88%. Die behinderten Menschen zwischen 25 und 44 waren auch häufiger erwerbslos. Die Erwerbslosenquote beträgt bei ihnen 14%, die entsprechende Quote bei den Nichtbehinderten 10%.
Verdienst
Junge behinderte Menschen verdienen häufig weniger als Nichtbehinderte: So hatten z. B. bei den 25- bis 44-jährigen behinderten Menschen in 2-Personenhaushalten 36% ein Haushaltsnettoeinkommen von unter 1 700 Euro. Dieser Anteil beträgt bei den Nichtbehinderten hingegen 24%.
Mit zunehmendem Alter nähern sich die Lebensumstände zwischen der Gruppe der behinderten und nichtbehinderten Menschen häufig an. (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT 2004)
Es fällt auf, dass MmB nicht dieselben Chancen zu Teil werden, wie dies bei MoB der Fall ist. Laut SANDFORT sind behinderte Menschen trotz der genannten Einschränkungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen in unserer westlichen Kultur derzeit jedoch so abgesichert wie noch nie in der gesamten Menschheitsgeschichte (SANDFORT 2007, 42).
4.2 Gesellschaftliche Vorurteile
Staatliche oder kirchliche Hilfen in Form von Rehabilitationsmaßnahmen, Unterbringung, Verpflegung und Beschäftigung für MmB haben sich in flächendeckendem Maße erst in den letzten hundert Jahren herausgebildet. Dabei galt besonders denjenigen das Interesse welche „entkrüppelungsfähig“ und damit dem Arbeitsmarkt zuführbar waren. Bei geistig behinderten Menschen beschränkten sich öffentliche Hilfen lange Zeit auf eine bloße Verwahrung bevor man auch ihnen Förderung angedeihen ließ. Die demonstrative Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung konnte bereits einen Grund liefern, den Menschen in eine geschlossene Anstalt wegzuschließen. Man nahm an, dass ihr Sexualtrieb eine Gefahr für die Gesellschaft darstellte. Im Großen und Ganzen formulierten sich drei Vorurteile gegenüber der Sexualität von (geistig-)behinderten Menschen.
1. „Das unschuldige Kind“ – oder die Leugnung und Verdrängung der Sexualität geistigbehinderter Menschen
Von MmgB wird erwartet, dass er in seinem Erscheinungsbild stets das naive, unverdorbene und geschlechtslos „große Kind“ bleibt. Dadurch gerät der geistig behinderte Mensch in eine schwierige psychische Zwangssituation. Will er die für seine Persönlichkeitsentwicklung wichtige soziale Zuwendung seiner Eltern/Betreuer nicht verlieren, muss er sich so verhalten, als wäre er tatsächlich ein unverdorbenes und geschlechtsloses großes Kind.
Aus den bisherigen Veröffentlichungen der Sexualmedizin lässt sich aber sagen: Die körperliche geschlechtsbiologische Reifeentwicklung geistig behinderter Kinder verläuft in den meisten Fällen altersgemäß und unabhängig von intellektuellen Faktoren.
2. „Der Wüstling“ – oder die Dramatisierung und Überbetonung der Sexualität von MmgB
Man sieht in den sexuellen Handlungen Behinderter „nur“ die tierische Befriedigung rein körperlicher Bedürfnisse und setzt voraus, dass MmgB nicht in der Lage sind ihre sexuellen Triebwünsche auf sozial akzeptable Weise in personaler Beziehung zu befriedigen. Hierzu gehört auch die oft geäußerte Warnung vor den „schlafenden Hunden“, die allzu aufgeschlossene Bezugspersonen wecken könnten.
Die Intelligenzminderung schließt für Außenstehende die Unfähigkeit ein die menschliche Sexualität in die eigene Person zu integrieren, sie so zu lenken oder gar zu kompensieren. Daraus erwächst dann die Befürchtung, die Sexualität der geistig behinderten Menschen sei ungeordnet, verselbständige sich und werde aggressiv. Die in ihnen lauernde Energie, einmal angeregt, führe dazu, dass sie als Sexgetriebene maß– und hemmungslos herum wüten und nichtbehinderte Kinder und Frauen bedrohen und gefährden.
Hinter diesen Vorurteilen steckt wohl die Angst vor der Aktualisierung eigener bisher streng unterdrückter und geleugneter Triebimpulse, die nun auf geistig behinderte Menschen projiziert werden. Anders ist die drakonische Härte mit der manche Bezugspersonen reagieren nicht zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ist auch der prophylaktische Eingriff der Sterilisation einzuordnen.
3. „Der klebrig Distanzlose“ – oder die Fehldeutung nicht-sprachlicher Kommunikation von MmgB
Da die meisten MmgB eine eingeschränkte sprachliche Ausdrucksweise haben, wird die non-verbale Kommunikation stärker betont. Wenn sie sich nicht anders mitteilen können, so schmiegen sie sich an ihren Gesprächspartner oder versuchen ihn zu streicheln. Dies führt häufig zu Fehlinterpretationen. Oftmals werden sie als „distanzlos“ und „unbeherrscht“ etikettiert.
Aufgabe ist es über sozial akzeptable Gesten und Körperhaltungen nachzudenken, die es ebenfalls ermöglichen Empfindungen auszudrücken. So wie Sprechende nicht jeden Fremden auf der Straße ansprechen, genauso können geistig behinderte Menschen lernen nicht jeden Fremden zu umarmen (vgl. WALTER 2005 und WALTER 2005a).
Die Vorstellung, dass Menschen mit geistiger Behinderung über keine Triebe verfügen ist ebenso absurd, wie das Vorurteil des distanzlosen Triebtäters. Allerdings sind diese veralteten Vorstellungen vom Sexualverhalten von MmgB in der Gesellschaft noch existent. Es ist schlicht und ergreifend falsch und gleichzeitig Ausdruck einer entfremdeten Welt, in der behindertes Leben weitestgehend institutionalisiert und isoliert und damit fernab der wahrnehmbaren Gesellschaft stattfindet. Sexualität war noch vor einem halben Jahrhundert ein Thema, welches kaum öffentliche Darstellung fand. Es war aber nur eine Frage der Zeit, dass nach der sexuellen Revolution der Nichtbehinderten sich auch Behinderte organisieren würden (auch durch die Mithilfe moderner Kommunikationsmethoden des Internets) und ihre Rechte und Bedürfnisse in Anbetracht ihrer Sexualität demonstrieren. Dabei bleiben MmgB oftmals außen vor, da ihnen der Zugang zu den Schaltzentralen politischer und gesellschaftlicher Meinungsmache verwehrt ist. So sind es vor allem MmkB, die für die Sexualität behinderter Menschen Pionierarbeit leisten müssen.
Sollte das Bemühen der Entkriminalisierung bzw. Enttabuisierung der Sexualität behinderter Menschen gelingen, so würde dies auch Auswirkungen auf das kulturelle Verständnis von Sexualität generell mit sich bringen. Sandfort führt als Beispiel die Frauenbewegung ins Feld, welche in den vergangenen Jahrzehnten das Verständnis von Sexualität radikal verändert hat. Dadurch sei Sexualität insgesamt weiblicher geworden, weg von der ausschließlichen Orientierung am Penis und dem männlichen Orgasmus, hin zu mehr Zärtlichkeit und Ausdauer(vgl. SANDFORT 2007, 42).
Somit könnte die enge Verbindung von Sexualität und den Merkmalen Gesundheit, Jugend und Attraktivität gelockert werden. Dazu Sandfort:
Nach wie vor geblieben ist allerdings eine enge Verbindung von “gutem Sex“ mit einem gesunden und jungen Körper. (vgl. ebd.) Unsere Gesellschaft wird allerdings immer älter und auch Senioren wollen auf Sexualität nicht verzichten sobald sie die 60 überschritten haben. Sex unter Senioren ist somit genauso ein Tabuthema. Die sexuelle Befreiung behinderter Menschen könnte damit gesamtgesellschaftlich zu einer größeren Toleranz führen und das kulturelle Verständnis von Sexualität von seiner zwanghaften Orientierung auf den Körper befreien. (vgl. ebd.)
Für Menschen mit Behinderungen, welche nicht dem gängigen (Schönheits-)Ideal entsprechen, kann die gelebte Diskrepanz zum idealtypischen Soll-Zustand beängstigende Folgen ihrer sozialen und psychischen Entwicklung nach sich ziehen. Die Entwicklung eines positiven Körpergefühls ist für die Betroffenen so nur schwer möglich.
Besonders MmkB begreifen ihren Körper als unzulänglich. Krankengymnastik und andere Therapien tragen unter anderem dazu bei, dass körperlich behinderten Menschen der eigene Körper fremd bleibt. Die therapeutische Orientierung am Defizit kann zu einer Verinnerlichung führen, dass etwas an ihrem Körper nicht in Ordnung und deswegen auch nicht zeigenswert ist. Seit der Geburt, in der Schule, bei den Ärzten, im sozialen Umfeld oder bei der Arbeit, ist ihr körperliches Defizit Thema. Es wird ausgeglichen, verbessert, rumgezerrt und bemängelt. Der behinderte Mensch übernimmt die Einstellungen seiner Umwelt, er betrachtet seinen Körper mit der Zeit als seinen Feind, der seine Freiheit und Selbstbestimmung unterdrückt und ihn in seiner Persönlichkeit einschränkt. Zur Sexualität gehört allerdings ein positives Selbstbild inklusive dem eigenen Körper zu haben. Ansonsten kann es schwierig und nur unter schamvollen Überwindungen zu einem intimen Kontakt kommen. Sandfort betont die Wichtigkeit eines aufrechten Selbstbild von MmB:
Wenn wir uns allerdings selber peinlich sind, dann passen wir in keine Welt, nicht mal in unsere eigene (Sandfort 2007, 44).
4.3 Vom Recht auf Sexualität
Geht es um das Recht jedes Menschen seine eigene Sexualität zu entfalten, wird oft und auch irreführend vom „Recht auf Sexualität“ gesprochen. Es gibt zwar ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, abgeleitet aus Artikel 3 des Grundgesetzes und dem Antidiskriminierungsparagraphen[5], daraus lässt sich jedoch nicht das Recht auf die Sicherstellung praktischer sexueller Handlungen ableiten. In den „Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte“ der Vereinten Nationen von 1993 wird unter anderem das Recht von Menschen mit Behinderung auf freie Entfaltung sexueller Beziehungen festgeschrieben.[6] Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert allen Bürgern und Bürgerinnen ein Recht auf Selbstbestimmung. Durch das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX), das seit 2001 gilt, ist die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft als Ziel aller Rehabilitationsbemühungen gesetzlich verankert worden. (vgl. PRO FAMILIA 1997, 4)
[...]
[1] Als sogenannte Amelos oder Amelotatisten werden Menschen beschrieben, die sich sexuell von MmkB angezogen fühlen. Im englischsprachigen Raum heißen sie „Devotees“ (engl. Für Verehrer). Amelos oder Devotees/Devos sind die umgangssprachlichen Begriffe für die Beschreibung einer Menschengruppe die sich besonders durch körperlich versehrte Menschen mit amputierten Gliedmaßen oder Stümpfen angezogen fühlt. (vgl. ANGELIQUE 2010)
[2] Leider gestattet es mir der Umfang dieser Arbeit nicht die Informationen aus den Erfahrungsberichten von Kunden und sexuellen Dienstleistern, welche man im Internet en masse findet, in meine Arbeit aufzunehmen. Das Internet böte eine schier unermessliche Fundgrube für weitere Forschungen im Bereich käufliche Liebe und Behinderung.
[3] In Deutschland ist die Präimplantationsdiagnostik mit Bezug auf das Embryonenschutzgesetz verboten, weil eine präimplantive genetische Diagnose impliziert, dass der entsprechende Embryo nicht in die Gebärmutter übertragen und somit verworfen wird, was dem Sinn eines Schutzgesetzes widerspricht. Bedenkt man, dass ein Embryo, welcher sich schon in der Eizelle eingenistet hat, untersucht und abgetrieben werden darf, kommt man zum Schluss, dass diesem offiziell weniger Schutz angedeiht, als einem noch nicht eingenisteten Embryo. (vgl. WIKIPEDIA PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK 2010)
[4] Im Allgemeinen identifizieren Bevölkerungsumfragen zwischen einem und zehn Prozent der Bevölkerung als lesbisch oder schwul. Allerdings ist anzunehmen, dass Umfragen durch die soziale Stigmatisierung der Homosexualität und die damit einhergehende Tendenz zum Verschweigen eher nach unten als nach oben verfälscht sind. (WIKIPEDIA HOMOSEXUALITÄT 2010)
[5] Artikel 3 des Grundgesetz:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (Quelle: Juristischer Informationsdienst, http://dejure.org/gesetze/GG/3.html)
[6] Bestimmung 9. Familienleben und freie Entfaltung der Persönlichkeit
Die Staaten sollen die volle Teilhabe Behinderter am Familienleben fördern. Sie sollen ihr Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit fördern und sicherstellen, dass Behinderte hinsichtlich ihrer sexuellen Beziehungen, der Ehe und der Elternschaft nicht durch Rechtsvorschriften diskriminiert werden.
2. Behinderten soll die Möglichkeit der Erfahrung ihrer Sexualität, sexueller Beziehungen sowie der Elternschaft nicht
vorenthalten werden. Da Behinderte Schwierigkeiten haben können einen Ehepartner zu finden und eine Familie zu gründen, sollen die Staaten eine entsprechende Beratung fördern. Behinderte müssen gleichen Zugang wie andere zu
Familienplanungsmethoden sowie zu behindertengerechten Informationen über Sexualität haben. (UNO RESOLUTION 1993)
- Quote paper
- Julian Borghardt (Author), 2010, Sexualität und Behinderung. Schwerpunkt Sexualassistenz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189924
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