Als Kind mochte ich das Knistern des Fernsehbildschirms, wenn ich ganz nah daran vorbei-ging, wie dünne Haarsträhnen daran kleben blieben und es beim Loslösen derer in den Finger-spitzen kribbelte. Dabei stand ich so direkt vor dem Bild, dass es komplett verschwand, sich in kleine Punkte, schummrige Farbkleckse verwandelte und nicht mehr im Geringsten an das Programm erinnerte, welches gerade lief, aber doch auch eine Art Faszination auf mich aus-übte. Lange genug, mit weit aufgesperrten Augen, vor dem Fernsehschirm stehend, zerlegt sich einem/r das Bild, zumindest an hell unterlegten Stellen, in unzählige, senkrecht verlau-fende Streifen, die in Regenbogenfarben leuchten. Der Genuss dieser Entdeckung währte aber nicht mehr allzu lange, da meine Augen sich bald weigerten, diese Art des Fernsehens zu dul-den.
Nun ist es keine neue Erkenntnis, nichts Überraschendes, dass ein wenig Distanz oft nottut, um klar sehen zu können. Je näher wir uns an etwas dran befinden, egal, ob es sich um Bilder, andere Objekte, Personen, Situationen oder gar das eigene Befinden handelt, desto verzerrter scheint es oft zu sein. So leicht feststellbar, wie als Kind, das zu nah vor dem Fernseher steht, ist dies aber meistens nicht, weil es sich auch nur in den seltensten Fällen um eine physische Nähe handelt, die körperlichen Schmerz verursacht. Dass etwas Abstand hilfreich sein kann, bleibt einem/r oft verschlossen – nicht zuletzt, weil das Nah-Sein, die Involviertheit, eine ge-wisse Einfühlung ganz automatisch da sind. Das trifft auch auf die Wahrnehmung von Filmen zu, denen zumeist ein schematisiertes Formgut zugrundeliegt, das uns durch die permanente Wiederholung von Bekanntem einlullt, hineinzieht und nur mehr ungern herauslässt.
Der Frage, wie Vertrautes so angeblickt werden kann, als hätten wir es noch nie gesehen, wie der erzählerische Mechanismus des Mediums Film zu unterbrechen möglich ist, ging Thomas Ebbrecht in seinem Vortrag „Das Unvertraute im Vertrauten. Der fremdgestellte Blick auf die Vergangenheit im Kino.“ nach, den er ihm Rahmen der Ringvorlesung „(K)ein Ende der Kunst“ gehalten hatte. Ihm gleich werde ich mich in meinem Essay entlang kritischer Ästhetiken, von Überlegungen Brechts, über Adorno und Kracauer, langsam vortasten, bis zu einem expliziten Filmbeispiel Harun Farockis, das sich mit der Shoah und der nationalsozia-listischen Vergangenheit auf ungewöhnliche Art und Weise auseinandersetzt...
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der konventionelle Blick im Kino
- Der fremdgestellte Blick im Kino
- Filmbeispiel: Das Auschwitz-Album
- Conclusio
- Quellen
- Bibliographie
- Filmographie
- Internetquelle
- Bildquelle
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieser Essay befasst sich mit dem fremdgestellten Blick auf Geschichtliches im Kino, wobei er die konventionelle Filmwahrnehmung und ihre Beziehung zur Kulturindustrie in den Vordergrund stellt. Der Essay analysiert, wie ein fremdgestellter Blick, der Vertrautes neu erfahrbar macht, die Wahrnehmung von Geschichte und insbesondere der Shoah im Film beeinflusst.
- Der konventionelle Blick im Kino und seine Verbindung zur Kulturindustrie
- Der fremdgestellte Blick als Mittel der Verfremdung und seine theoretischen Wurzeln bei Brecht, Adorno und Kracauer
- Die Rolle des fremdgestellten Blicks bei der filmischen Auseinandersetzung mit der Shoah
- Die Ästhetisierung des fremdgestellten Blicks und die Ambivalenz zwischen Distanz und Annäherung
- Die Bedeutung von Vorraumdenken und Grenzüberlappungen für das Verständnis des fremdgestellten Blicks
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik ein und beschreibt die persönliche Erfahrung der Autorin mit dem Konzept der Distanz im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Bildern. Sie stellt fest, dass ein wenig Distanz oft notwendig ist, um klar sehen zu können, und dass dies besonders für die Wahrnehmung von Filmen gilt, die uns durch ihre Vertrautheit einlullen und uns nur schwer herauslassen.
Das Kapitel „Der konventionelle Blick im Kino" analysiert die Funktionsweise der Kulturindustrie nach Adorno und Horkheimer, die die Stereotypie als Erfolgsrezept der Kulturindustrie identifizieren. Der Autor argumentiert, dass der Film in diesem Kontext kein erkenntnistheoretisches Potential besitzt, sondern lediglich ein Machtinstrument der Kulturindustrie ist. Er betrachtet den Film als ein Produkt der Kulturindustrie, das auf Wiederholung und Bekanntheit setzt und somit die Möglichkeit zur Störung des Zirkels von Wiederholung und Bekanntheit begrenzt.
Das Kapitel „Der fremdgestellte Blick im Kino" stellt das Brechtsche Konzept der Verfremdung in den Mittelpunkt und erklärt, wie es die Zuschauer in eine kritische und untersuchende Haltung gegenüber den Darstellungsprozessen auf der Bühne bringt. Der Essay beleuchtet die Bedeutung des fremdgestellten Blicks im Film, der uns dabei helfen kann, einen Blick hinter die Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erhaschen.
Das Kapitel „Filmbeispiel: Das Auschwitz-Album" analysiert Harun Farockis Filmessay „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges" und fokussiert auf eine Sequenz, in der das Auschwitz-Album aus einer ungewöhnlichen Perspektive präsentiert wird. Farocki betrachtet das Bild nicht als historische Quelle oder Sammlung von Erinnerungsbildern, sondern als Schnappschuss auf einem Boulevard. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf das Besondere im Allgemeinen und macht uns auf diese Weise die Individualität der Opfer bewusst.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen den fremdgestellten Blick, die Kulturindustrie, die Verfremdung, die filmische Darstellung von Geschichte, insbesondere der Shoah, die Ästhetisierung, das Vorraumdenken und die Grenzüberlappungen. Der Essay analysiert, wie ein fremdgestellter Blick, der Vertrautes neu erfahrbar macht, die Wahrnehmung von Geschichte und insbesondere der Shoah im Film beeinflusst. Er untersucht die Ambivalenz zwischen Distanz und Annäherung, die durch die Ästhetisierung des fremdgestellten Blicks entsteht, und betont die Bedeutung von Vorraumdenken und Grenzüberlappungen für das Verständnis des fremdgestellten Blicks im Film.
- Citar trabajo
- BA Sandra Folie (Autor), 2011, Distanziert. Nah, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189759
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