Detaillierte Untersuchung zum Gebot der Bruderliebe im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Der Gegenstand der Untersuchung
1.2. Die Vorgehensweise
2. Überblick über verschiedene, in der Forschung vertretene Positionen
2.1. Bultmann: Das Liebesgebot ist im eschatologischen Sinn als „neu“ zu verstehen
2.2. Käsemann: Das johanneische Liebesgebot ist Ausdruck einer Konventikelethik
2.3. Lattke: Das Joh versteht unter Liebe „ Einheit im Wort“
2.4. Segovia: Die joh. Schriften sind verschiedenen Stadien der Geschichte zuzuordnen
2.5. von Wahlde: Die joh. Gebote sind vor dem Hintergrund einer Krise innerhalb der johanneischen Gemeinde zu sehen
2.6. Augenstein: Das Gebot der gegenseitigen Liebe im C.J. ist kein speziell joh. Liebesgebot, sondern eine Interpretation des alttest.. Liebesgebotes von Lev. 19,
2.7. Carson: Das joh. Liebesgebot ist die Ordnung für die neue messianische Gemeinschaft und in seinem Maßstab durch die Liebe Christi bestimmt
3. der alttestamentliche Hintergrund
4. Das Liebesgebot im Frühjudentum
4.1. Qumran
4.2. Testamente der zwölf Patriarchen
5. Der synoptische Befund
6. Exegese: Das Liebesgebot im johannesevangelium
6.1. Joh 13,12-17: Das Beispiel der Fußwaschung
6.1.1 Einleitung: Kontext und historischer Hintergrund von Joh
6.1.2 Joh 13, 12-17: Das Beispiel der Fußwaschung
6.1.3 Joh 13, 34f.: Das neue Gebot, einander zu lieben
6.2. Joh 15,1-17: Das Liebesgebot im Zusammenhang mit der Weinstockrede
6.2.1 Joh 15, 1-11: Die Befähigung des neuen Gebotes
6.3. Joh 17, 20-26 Liebe und Einheit
7. Exegese: Das LIebesgebot in den Johannesbriefen
7.1. 1Joh 2,7-11 : Das alte und neue Gebot der Bruderliebe
7.2. 1Joh 3,11-15 : Das Gegenteil der Bruderliebe: Bruderhass
7.3. 1Joh 3,16-18 : Das Wesen der Bruderliebe
7.4. 1.Joh 3,23: Christusglaube und Bruderliebe
7.5. 1.Joh 4,7-12: Grundlagen der Bruderliebe
7.6. 1.Joh 4,19-21: Gottesliebe und Bruderliebe
7.7. 2Joh 4-6: Liebe und Gebote
8. DAs Liebesgebot im C.J.: Eine Zusammenfassung
9. Traditionsgeschichtliche Einordnung
9.1. Altes Testament
9.2. Frühjudentum
9.3. Neues Testament
10. Die Bedeutung des joh. Gebotes der Bruderliebe für die Gegenwart
11. Bibliographie
11.1. Primärliteratur
11.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
1.1. Der Gegenstand der Untersuchung
Die folgende Untersuchung handelt vom biblischen Gebot der Bruderliebe im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen. Diese Schriften werden im Folgenden unter dem Begriff Corpus Johanneum (C.J.) zusammengefasst.[1] Die dortigen Aussagen zur Liebe stellen aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit zum alttestamentlichen Befund und den Aussagen im übrigen Neuen Testament bereits ein altes Problem in der johanneischen Forschung dar.[2] Wird der Wortstamm –avgap in den Synoptischen Evangelien meist mit plhsi,on („der Nächste“), z.B. Mk 12,31, verbunden oder mit evcqro,j („der Feind“), z.B. Mt 6,44, so ist es eine Besonderheit des C.J. –avgap einerseits mit avllh,lwn in Verbindung zu bringen (Johannesevangelium, Bsp. 15,17), anderseits mit avdelfo,j (1.Joh 4,21). Außerdem formulieren sowohl das Johannesevangelium (Joh 13,34) als auch der 1. und der 2.Johannesbrief ein Liebesgebot evntolh. (1.Joh 2,7), welches als „neu,“ im 1. Johannesbrief auch als „alt“ bezeichnet wird.
Gegenstand der Untersuchung ist es zum einen den Inhalt dieses johanneischen Gebotes der Bruderliebe zu bestimmen. Mit anderen Worten: Es soll untersucht werden, was genau mit der Aufforderung zur Liebe im Corpus Johanneum gemeint ist. Zum anderen soll untersucht werden inwiefern das johanneische Liebesgebot „neu“ und „alt“ ist. Drittens sollen exegetische Ergebnisse für die Gegenwart der Gemeinde Jesu fruchtbar gemacht werden.
Dabei wird von einer historisch-literarischen Hermeneutik ausgegangen, so dass entstehungsgeschichtliche Reflexionen zum C.J. nur bei exegetischer Relevanz Beachtung finden.[3]
1.2. Die Vorgehensweise
Es soll zunächst ein Einblick in die Geschichte der Forschung über das Gebot der Bruderliebe im C.J. gegeben werden.[4]
Im Anschluss daran folgt ein separates Kapitel über den alttestamentlichen Hintergrund des Gebotes der Bruderliebe. Hier wird insbesondere Lev 19,17 f./ 34 untersucht. Nach einer überblicksartigen Untersuchung des Liebesgebots in relevanten Schriften des Frühjudentums sollen die Synoptischen Evangelien ebenfalls relativ knapp behandelt werden. Die Aussagen von Jakobus, Paulus und Petrus werden aus Gründen des sehr begrenzten Umfangs dieser Arbeit keine Beachtung finden.
Es folgt schließlich die Exegese der relevanten Perikopen zuerst im Johannesevangelium, dann in den Johannesbriefen. Obwohl diese beiden Kapitel den Schwerpunkt der Ausführungen darstellen wird in der Exegese nur auf die jeweils relevanten Verse eingegangen. Die übrigen Verse werden nur in einer Kontextanalyse Beachtung finden. Dabei wird mit den Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium begonnen. Stellen außerhalb dieser Reden werden aus Gründen des Umfangs nur dann behandelt, wenn sie direkt zur Fragestellung beitragen.
Es folgt der exegetische Befund des 1. und 2. Johannesbriefs. Auch hier wird die selektive einer sämtliche Kapitel umfassenden Exegese vorgezogen.
Im Anschluss an die Exegese werden die Aussagen zum joh. Liebesgebot traditionsgeschichtlich eingeordnet.
Den Abschluss dieser Arbeit bilden praktisch-theologische Reflexionen. Hier werden exegetische Ergebnisse für die Gegenwart fruchtbar gemacht. Der hohe Stellenwert des Liebesgebotes in der johanneischen Ethik lässt eine ausführliche Bemühung um die gegenwärtige Relevanz der diesbezüglichen Aussagen gerechtfertigt erscheinen.
2. Überblick über verschiedene, in der Forschung vertretene Positionen
2.1. Bultmann: Das Liebesgebot ist im eschatologischen Sinn als „neu“ zu verstehen
Die von Johannes formulierte evntolh. der Bruderliebe ist in diesem Sinne „neu“kaino,j (Joh 13,35), als sie „ein Phänomen der neuen Welt ist, die Jesus heraufgeführt hat.“[5]
„Neu heißt es, weil es das in der neuen, d.h. in der eschatologischen Existenz zur Realisierung kommende Gebot ist (1.Joh 2,8).“[6] Das Adjektiv „neu“ ist somit Wesensmerkmal des in Jesus Christus angebrochenen messianischen Zeitalters. Es ist in negativer Abgrenzung nicht historisch zu verstehen.[7]
Dabei setzt diese Forderung der Bruderliebe das christliche Gebot der Nächstenliebe nicht außer Kraft, sondern ist als das Gesetz des Jüngerkreises des scheidenden Offenbarers zu sehen. Auch beschränkt sich das Gebot nicht nur auf den christlichen Bruder (1. Joh 3,17).[8]
Dieser Jüngerkreis ist keine geschlossene Gruppe, sondern die eschatologische Gemeinde, die nach Joh 15,27 zum Zeugnis berufen ist (marture,w) und somit nach außen offen bleibt.[9]
Die Gemeinde erfüllt ihren Auftrag an der Welt nur dann, wenn sie das Liebesgebot Jesu als Erwiderung der Liebe Jesu erfüllt.[10] Die Erfüllung dieses Gebotes ist entscheidendes Kriterium dafür, dass die Glaubenden Jesu Jünger sind, (Joh 13,35).[11]
2.2. Käsemann, E.: Das johanneische Liebesgebot ist Ausdruck einer Konventikelethik
Für Käsemann bezieht sich das johanneische Gebot der Bruderliebe nicht auf den Mitmenschen als solchen, sondern allein auf denjenigen der zur „Gemeinde unter dem Wort“ gehört oder dazu erwählt ist.[12] Diese Gemeinde versteht er als ein, von der Großkirche abgesondertes häretisches Konventikel mit gnostisierenden Tendenzen. So könne das johanneische Liebesgebot als Ausdruck einer Konventikelethik angesehen werden.
Die Liebe bestehe qualitativ darin, an das Ereignis des Wortes gebunden zu sein:
„So ist für Käsemann die Liebe im Hören des Wortes begründet, wie auch die Verkündigung des Wortes durch Jesus und seine Jünger im Zeichen göttlicher Liebe steht.“[13]
Das Gebot der Bruderliebe habe demzufolge nach Käsemann weniger moralischen Charakter, sondern beziehe sich auf die Gemeinschaft der Jünger Jesu mit ihm, dem gemeinschaftsstiftendem Wort.
2.3. Lattke: Das Joh versteht unter Liebe „ Einheit im Wort“
Eine der Position Käsemanns ähnelnde Position vertritt Lattke.
Er versteht das johanneische Liebesgebot ausschließlich als „reziproke Liebesbeziehung der Jünger.“[14]
Wie sich diese Liebesbeziehungen genauer definieren, drückt er folgendermaßen aus: „ Einander lieben heißt nach Johannes zunächst in der Einheit des Wortes und dadurch im Wort des Lebens und im himmlischen Leben selbst zu bleiben.“[15]
Die Bedeutung der joh. Liebesaussagen sei daher im semantischen Umfeld der mit „Wort“ verwandten Vokabeln anzusiedeln. Neben lo,goj gehöre auch evntolh zu diesem Vokabular und sei dabei als „Auftrag“ zu verstehen.[16]
Ein ethisches, wie auch sexuelles, erotisches oder personpsychologisches Verständnis des Liebesgebotes des Johannesevangelium lehnt Lattke ab.[17]
Eine Verbindung der johanneischen evntolh, zur evntolh, bei den Synoptikern und bei Paulus sieht er ebenfalls als problematisch an.[18]
Zur Frage, in welchem Sinn der Evangelist diese evntolh, als „neu“ bezeichnet sagt er, dass das Attribut kaino,j in Joh 13,34 vermutlich der Abendmahlsparadosis aus 1.Kor 11,25, speziell dem Begriff kainh. diaqh,kh, entstamme und von Johannes als einzelnes Stichwort dieser synoptischen Tradition aufgenommen und verarbeitet worden sei.[19]
2.4. Segovia: Die joh. Schriften sind verschiedenen Stadien der Geschichte zuzuordnen.
Segovia[20] ordnet in seiner Monographie, ausgehend von Jürgen Becker, die johanneischen Schriften verschiedenen Stadien der Geschichte der johanneischen Gemeinde zu. Die Abschiedsreden Joh 15,1-17; 15,18 - 16,15 und das Liebesgebot 13,34 seien erst später in das Johannesevangelium eingefügt worden und spiegelten das gleiche Stadium der Gemeinde wider wie der 1Joh.
Im übrigen Johannesevangelium stehe die gegenseitige Liebe der Jünger nicht im Blickfeld, so dass Segovia keine einheitliche Theologie des Gebotes der Bruderliebe im Joh und in den Johannesbriefen entwerfen kann.[21]
Zur inhaltlichen Bestimmung dieser den genannten Perikopen des Joh und dem 1Joh gemeinsamen Liebesaussagen sagt er, dass die Bruderliebe zur Liebe innerhalb des Adressatenkreises, einer von der Großkirche abgetrennten Sekte mahnen würde. Es gehe genauer darum vor Doketisten und Libertinisten zu warnen, die Gott lieben wollen ohne den Erlösungstod seines Sohnes anzunehmen. Aus dieser Irrlehre folgt seines Erachtens. ein liebloser, unmoralischer dem Bruder nicht helfender Lebenswandel.[22]
2.5. von Wahlde: Die joh. Gebote sind vor dem Hintergrund einer Krise innerhalb der johanneischen Gemeinde zu sehen.
Der Gegenstand der Untersuchung v. Wahldes[23] ist die joh. Konzeption des Gebotes. Er stellt dazu die These von zwei johanneischen Geboten auf: Das erste Gebot sei, auch wenn es nicht so bezeichnet würde, das Halten des Wortes Gottes, das zweite das der gegenseitigen Liebe.
Diese beiden Gebote seien nun von Spiritualisten falsch interpretiert worden. Indem sie das erste Gebot nicht mehr eingehalten und damit die bleibende Bedeutung Christi bestritten hätten, hätten sie gleichzeitig eine ethische Freizügigkeit dem Bruder gegenüber entwickelt.[24]
Inhaltlich beziehe sich das Gebot der gegenseitigen Liebe nur innergemeindlich auf den christlichen Mitbruder.
Beide Gebote hätten die Funktion von sogenannten „Tests“ des rechten Glaubens und der rechten Liebe, um die Gegner zu entlarven.
Durch diese Funktion unterschieden sie sich vom Doppelgebot der Synoptiker, welches der Zusammenfassung des ganzen Gesetzes zu zwei großen Geboten diene.[25]
Die johanneischen Gebote ständen eher den vom Dtn geprägten Gebotsformulierungen nahe.
2.6. Augenstein: Das Gebot der gegenseitigen Liebe im C.J. ist kein speziell joh. Liebesgebot, sondern eine Interpretation des alttest.. Liebesgebotes von Lev. 19,17.
Augenstein[26] sieht das Gebot der gegenseitigen Liebe im Corpus Johanneum als eine Interpretation des alttestamentlichen Liebesgebotes aus Lev 19,17f. Das Johannesevangelium sowie die Johannesbriefe griffen auf dieses Toragebot zurück und interpretierten es als Verzicht auf Hass gegen den Bruder.
Das „alte“ Liebesgebot im 1Joh sei nicht im historischen Sinne als „alt“ zu fassen, sondern Ausdruck der Kontinuität des Willens Gottes. Genau wie der Tora, dem alten Ausdruck des Willens Gottes Gehorsam entgegenzubringen war, so sei dies auch für das Liebesgebot erforderlich.
Genauer gesagt ständen bei diesem Gebot innergemeindliche Vorgänge im Hintergrund. Der in den Verdacht geratene Bruder solle wieder in die Gemeinschaft eingegliedert und Gegenhass vermieden werden.
„Neu“ sei das Liebesgebot insofern, als es das Gebot des Messias für die neue messianische Zeit sei. So „zeigt das Ineinander von Alt und Neu den bleibenden Willen Gottes in der messianischen Zeit, wie er in der Tora niedergelegt ist.“[27]
Inhaltlich sei die Liebe Jesu Grund und Modell der Liebe der Jünger untereinander. Um diese Gemeinschaft der Jünger zu erhalten mahne Johannes zur Liebe. Dabei fielen das Bekenntnis zur Messianität Jesu und das Halten des Liebesgebotes zusammen.
Das Liebesgebot im Joh sei als Bestandteil der Liebesrelationen zwischen dem Vater, dem Sohn und den Jüngern zu sehen. Das Joh interpretiere durch diese Einheit der Liebe zu Gott, dem Vater und Gott, dem Sohn das jüdische und synoptische Doppelgebot der Liebe.
2.7. Carson: Das joh. Liebesgebot ist die Ordnung für die neue messianische Gemeinschaft und in seinem Maßstab durch die Liebe Christi bestimmt
Für Carson besteht die Neuheit dieses Gebotes darin, dass es „ die Marschordnung für die neue, sich versammelnde, messianische Gemeinde, die durch die schon lange beabsichtigte Erlösung von Gott in ihre Existenz gerufen wurde” darstellt.[28] Dieses neue Gebot werde inhaltlich zum einen durch den “standard of Christ and his love just exemplified in the footwashing” bestimmt.
Außerdem sei das Gebot darauf angelegt die Beziehung zwischen Vater und Sohn zu reflektieren, (Joh 8,29/10,18/12,49f./ 15,10).[29] Das Gebot ziele darauf dieselbe Einheit unter den „members of the nascent messianic community“ zu bewirken, welche Jesus und seinen Vater charakterisiert (Joh 17).
3. der alttestamentliche Hintergrund
Dem ausdrücklichsten Liebesgebot des ATs begegnet man in Lev 19,17f./34. Andere Liebesgebote haben Gott zum Objekt, wie z.B. im Sch’ma Jisrael in Deut 6,4-9.[30] Zunächst ist nach dem Kontext dieser Verse zu fragen.
Mathys weist darauf hin, dass die ab Lev 19,11f. aufgeführten Gebote nicht Entscheidungshilfen in Rechtsfällen oder Gerichtssituationen anbieten würden, sondern es sich dabei um Verhaltensmaßregeln bzgl. Vergehen handele, die nicht unmittelbar gerichtlich geahndet werden könnten.[31]
Augenstein bemerkt, dass die Gebote von Lev 19,11 ff. die Solidaritätsforderung in einer Gemeinschaft entfalten würden.[32] Weiter kann gesagt werden, dass das Liebesgebot in Lev 19,18f. zwar nicht alle Gebote aus Lev 19,11ff. zusammenfasst, aber Auskunft darüber gibt, wie man sich dem Nächsten, der schuldig an der eigenen Person geworden ist, verhalten soll.[33]
Es folgt eine Übersetzung von Lev 19,17-18:[34] Du sollst nicht hassen deinen Bruder (xa' / avdelfo,j) in deinem Herzen! Gründlich zurechtweisen sollst du deinen Volksgesellen (tymi[' / plhsi,on)! Und du sollst nicht wegen ihm Verfehlung auf dich laden! Du sollst nicht Rache üben! Und du sollst nicht grollen den Söhnen deines Volkes (^M,[; ynEB.-ta, / toi/j ui`oi/j tou/ laou/ sou)! Und du sollst deinen Nächsten ([;re / to.n plhsi,on) lieben (bh;a; / avgapa,w) wie dich selbst ! Ich bin JHWH.
Wie aus der Kontextanalyse hervorgeht setzt das Liebesgebot eine Situation voraus, in der sich der Nächste an dem Angeredeten vergangen hat.[35] In dieser Situation gebietet nun das Liebesgebot keinen Hass gegenüber dem Bruder zu haben, sondern ihn stattdessen zurechtzuweisen.
anEf' ist dabei nicht besonders auffällig: Der Ausdruck bedeutet allgemein „hassen“ im menschlichen Bereich.[36] Mit dem Akkusativ-Objekt ^yxia'-ta,, (deinen Bruder) ist der israelitische Volksgenosse gemeint.[37] Das Schlüsselwort für die Auslegung dieses Gebotes ist ^b,b'l.Bi[38] (in deinem Herzen). Botterweck-Ringgren[39] gibt folgendes Bedeutungsspektrum : 1.) Der Ausdruck diene als Ortsangabe des Hasses und weise damit auf eine vor-juridische Emotionalität hin. 2.) Das Verbot „im Herzen zu hassen“ könne bewusst als Gegensatz zur juristischen Klärung der Rechtsfragen vor dem öffentlichen Forum des qahal zu sehen sein. 3.) Hiermit sei eine Gefährdung gerechten Richtens gemeint.
Allerdings ist fraglich, ob diese Vorschläge den Ausdruck erschöpfend erklären. M.E. ist bei der Bestimmung des Begriffes weniger vom juristischen Hintergrund auszugehen, sondern von der Verwendungsweise des Wortes in anderen Kontexten. In dieser Weise argumentiert Mathys. Er bemerkt, dass das suffigierte blb häufig mit Verben des Denkens und Redens verwendet würde und in diesem Zusammenhang das Hegen und Verborgenhalten dunkler Pläne wie in Ps 28,3/Hi 1,5 beschreibe.[40]
Stattdessen solle man nach Lev 19 den Bruder zurechtweisen, um nicht seinetwegen Schuld auf sich selbst zu laden.[41] Damit ist der Inhalt des Liebesgebotes als „Verzicht auf Zorn, Rache, Hass und Wiedervergeltung“ zu bestimmen. Positiv gibt es Anweisungen für den Umgang mit dem an der eigenen Person schuldig gewordenen Bruder.[42] So kann das Liebesgebot als eine Art Feindesliebe interpretiert werden.[43]
Die Frage nach dem Gültigkeitsbereich des Liebesgebotes hängt dabei von [;re ab. Dieser Ausdruck bedeutet zwar allgemein „Nächster“[44], wird aber in diesem Zusammenhang speziell verwendet: Mathys weist nach, dass hier der Volksgenosse gemeint ist.[45] Obwohl das Liebesgebot primär die Solidarität unter den Volksgenossen fordert, stellt Lev 19,17f. keine ausgrenzende Ethik dar: „Im Umgang mit dem Fremden wird gerade kein anderes Verhalten verlangt als im Umgang mit dem Volksgenossen.“[46] Auch der [;re begleitende Term xa' lässt diese These nicht zu: Wiederum macht Mathys deutlich, dass die Bruderbezeichnung an das Gemeinschaftsdenken appelliert und nicht der Abgrenzung gegen außen dient. [;re kann dabei in xa' umgewandelt werden.[47]
Weiter ist zu fragen, was mit dem Ausdruck „zu lieben wie sich selbst“ gemeint ist. Zur Bestimmung von ^AmK' iist der Bericht über die Freundschaft zwischen David und Jonathan (1Sam 18-20; 2Sam 1) heranzuziehen:[48] Dort wird gesagt, dass David Jonathan „wie seine eigene Seele liebte. Avp.n:K. wirft dabei Licht auf die Frage, wie ^AmK' verstanden werden könnte. Mathys sagt dazu dass Avp.n:K. bedeutet „jemandem so zugetan sein, so stark an ihm hängen, dass man bereit ist, für sein Leben gleichviel zu tun wie für das eigene, ja es nötigenfalls über dieses zu stellen.“[49] Somit wäre mit ^AmK' ein Maßstab selbstloser, hingabebereiter Liebe ausgedrückt.
Die Wirkungsgeschichte des Liebesgebotes in Lev 19,17ff. ist für das Verständnis desselben zwar von Bedeutung kann jedoch hier nur in einer Zusammenfassung geboten werden. Grundsätzlich konnte das Liebesgebot auf zwei Arten ausgedeutet werden:[50] Zum einen im Sinne einer allgemeinen, globalen Philantrophie, zum anderen zu als Bruder- oder Freundesethik.
Es lässt sich also aus Lev 19,17f.34 festhalten, dass es sich hier um ein Gebot handelt, welches die Solidarität unter den Israeliten fordert, dabei aber nicht exklusiv verstanden sein will, sondern den Fremden miteinbezieht. Inhaltlich geht es neben dem Verzicht auf Hass und Neid gegenüber dem Volksgenossen darum, ihn stattdessen zurechtzuweisen, mehr noch, ihn zu lieben, möglicherweise mit einer selbstaufopfernden Liebe.
4. Das Liebesgebot im Frühjudentum
4.1. Qumran
Im folgenden Abschnitt soll überblicksmäßig untersucht werden, welche Rolle das Liebesgebot in den Schriften von Qumran spielt. Eine erste wichtige Stelle ist in diesem Zusammenhang 1 QS V,25 – VI.[51] Dieser Abschnitt nimmt drei Gebote aus Lev 19,17f. auf und interpretiert sie neu.[52] Enthält Lev 19,17f. nur ein Konfliktregelungsmodell, so entwickelt die Sekte von Qumran nähere Ausführungsbestimmungen.[53] Die Zurechtweisung soll so am selben Tag und auch vor Zeugen erfolgen. Ein Verstoß gegen diese geforderte Form der Zurechtweisung kann dabei mit einer harten Strafe geahndet werden. Dies belegt QS VII 8f.[54] Insgesamt zeigen die Qumrantexte deutlich forensische Züge und unterscheiden sich dadurch von Lev 19,17.[55] Bei den Aufforderungen ist zu beachten, dass sie sich nur auf die Gemeinschaft innerhalb der Sekte beziehen. Gegen Außenstehende muss nicht in dieser Weise verfahren werden. Dies wird durch das Verbot der Zurechtweisung in 1.QS IX, 16f. belegt.[56]
Weiter hat die Forschung in den Schriften eine Einschränkung des Liebesgebotes auf den Glaubensbruder festgestellt.[57] Diese Entdeckung gründet sich auf CD VI, 20f. wo statt xa' der Begriff [;re verwendet wird. Der Begriff xa' schließt an dieser Stelle die Elenden, Armen und Fremden aus.[58]
Desweiteren wird sogar noch der Liebe zum Mitglied der Hass gegen die der Gemeinschaft der Sekte fern stehende Person entgegengestellt, wie aus 1 QS I,9 ff. hervorgeht.[59]
Es ist festzuhalten, dass sich die Qumransekte stark nach außen abgrenzt und für die Gemeinschaft eine „bessere Ethik“ in Anspruch nimmt.[60] Neben diese Binnenmoral tritt eine von Hass geprägte Außenmoral.[61] Die Texte nehmen das Konfliktregelungsmodell aus Lev 19,17f. auf und ergänzen es durch festgelegte Ausführungsbestimmungen, so dass Lev 19,17f. forensische Züge erhält.[62]
4.2. Testamente der zwölf Patriarchen
Da das Liebesgebot bzw. das Thema Liebe in den Test XII eine Rolle spielt sollen diese Texte auch untersucht werden. Dabei kann es lediglich darum gehen - in Analogie zur Fragestellung dieser Arbeit - anhand einiger wichtiger Belegtexte kurz zu skizzieren, was unter dem Begriff der Nächstenliebe verstanden wurde und welcher pragmatische Stellenwert ihm beigemessen wurde.[63]
Es sind zunächst Informationen über Entstehungsgeschichte und Art der Texte der Test XII zu geben. Die Test XII sind eine christliche Schrift aus der 2.Hälfte des 2. Jahrhunderts.[64] Über die Entstehungsgeschichte dieser Texte gibt es in der Forschung zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen anerkannte Erklärungsmodelle. Das Schichtenmodell nimmt eine jüdische Grundschrift an, die überarbeitet wurde. Das zweite Modell geht von einem christlichen Redaktor aus, der die aus dem jüdisch-hellenistischen Bereich stammenden Einzeltestamente, bzw. Traditionen, zusammenfügte und erweiterte.[65] Bei beiden Modellen ist es nicht möglich zwischen Quelle und Bearbeitung zu unterscheiden.
Die Texte der Test XII sind als Unterweisungen der scheidenden Patriarchen an ihre Nachkommen zu verstehen.[66]
Für die 12 Patriarchen gilt, dass man Mitleid gegenüber jedem Menschen haben soll. Am Beispiel Josefs wird deutlich gemacht, dass man auch im Falle erlittenen Unrechts um der Einheit und der Seelenruhe willen Mitleid haben soll. Außerdem hat Gott nur in dem Maße Mitleid mit dem Menschen wie dieser Mitleid einem anderen Menschen gegenüber hat. Das Testament Sebulon 8, 4 macht dies deutlich:
„Auch ihr nun, meine Kinder, habt Mitleid in Erbarmen gegen jeden Menschen, damit auch der Herr aus Mitleid gegen euch Erbarmen mit euch hat, (…) Denn als wir nach Ägypten hinabgekommen waren, da gedachte Joseph nicht des erlittenen Unrechts uns gegenüber, (…). Auf ihn seht ihr auch und gedenkt nicht des erlittenen Unrechts, meine Kinder und liebt einander und denkt nicht ein jeder an die Bosheit seines Bruders, denn dieses trennt die Einheit und reißt jede Verwandtschaft aus einander und beunruhigt die Seele, (…).“[67]
Bei der Bruderliebe geht es darum den „Geist des Neides“ zu entfernen, da dieser zerstörerische Konsequenzen für Leib und Seele mit sich trägt und stattdessen den Bruder aus „gutem Herzen zu lieben“, vgl. Simon 4,7.[68]
Auch findet sich ein Doppelgebot der Liebe in den Schriften. So sollen die Kinder, „den Herrn fürchten und den Nächsten lieben.“[69], vgl. Benjamin 3.
„Denn wer Gott fürchtet und den Nächsten liebt, kann nicht von dem in der Luft hausenden Geiste Beliars getroffen werden, da er von der Furcht Gottes beschirmt wird.“[70]
Bei den Aussagen zur Liebe im Test XII ist zu beachten, dass sich das Gebot der Liebe und das Verbot des Hasses ausschließlich auf Stammesgenossen bezieht, also nicht Heiden oder Volksfeinden gilt.[71] Eine Aufforderung zur allgemeinen Menschenliebe findet sich nicht. Gad 6 macht dies deutlich: „Und nun, meine Kinder, liebt ein jeder seinen Bruder und rottet den Hass aus euren Herzen aus, indem ihr einander liebt in Werk und Wort und Gesinnung der Seele, (…).“[72]
Im biblischen Vergleich ergeben sich folgende Parallelen. Alttestamentlich kann das Liebesgebot in den TestXII als Variation von Lev 19,18 angesehen werden.[73] Gemeinsam ist beiden Geboten der Verzicht auf Hass, der allerdings unterschiedlich ausgedeutet wird.
Eine Diskrepanz besteht außerdem in der Reichweite des Gebotes: Das Liebesgebot in Lev 19,18 schließt den Nichtisraeliten mit ein, wohingegen dieser bei den Patriarchen ausgeschlossen ist. Zwischen dem johanneischen Liebesgebot und dem der Patriarchen ist die Gemeinsamkeit erkennbar, dass beide tatkräftige Liebe fordern. Auch findet das Ziel des Liebesgebotes in den Test XII die Einheit unter den Angeredeten herzustellen, findet eine gewisse Parallele in Joh 17.
5. Der synoptische Befund
Das Gebot der Nächstenliebe taucht in den synoptischen Evangelien zumeist im Zusammenhang mit dem sogenannten Doppelgebot „Gott und den Nächsten zu lieben“ auf. Eine Ausnahme bildet die „Goldene Regel“, die nur von Nächstenliebe handelt, Mt 7,12 und Lk 6,31. Daneben findet sich ein Text in dem das Liebesgebot im Zusammenhang mit Feindeshass steht, so Mt 5,43. Auch in der Geschichte vom reichen Jüngling ist vom Liebesgebot die Rede, vgl. Mt 19,16ff.
An der Art und Weise wie die Synoptiker das Liebesgebot einführen, wird deutlich, dass sie es nicht für eine neue Entdeckung Jesu halten.[74] Bei keinem der Evangelisten wird es spontan von Jesus gelehrt, sondern er formuliert es jeweils als Antwort auf eine Frage. In Mt 22,34-40 steht es im Zusammenhang der Kritik an der jüdischen Liebesübung und wird im Verbund mit dem Gebot der Liebe zu Gott als Doppelgebot gelehrt. Beide Gebote werden dabei mit Schriftzitaten gegeben, woran deutlich wird, dass mit den Geboten nicht erst Jesu Wille, sondern Gottes Wille, der sich im Alten Testament zuerst ausdrückte, proklamiert wird.
Diese Schriftzitate, die den Willen Gottes widerspiegeln entstammen dem alttestamentlichen Gesetz. Genauer wird das Gebot der Liebe zu Gott in den Worten des Sch’ma Jisrael aus Dtn 6,4f. wiedergegeben. Das Gebot der Nächstenliebe hat seinen Ursprung in Lev 19,18. Das Gebot der Gottesliebe bezeichnet Jesus dabei ganz im alttestamentlichen Sinne als das höchste und größte Gebot. Er ordnet ihm aber direkt im nächsten Vers das Gebot der Nächstenliebe zu. An diesen zwei Geboten, so sagt Jesus, „hängt“ das ganze Gesetz und die Propheten.[75]
Das Anliegen des Matthäus bezüglich der Liebesgebote ist demnach ein dreifaches: 1.) Die Liebesaussagen sind als Kritik an der jüdischen Liebesübung zu verstehen. 2.) Matthäus möchte zeigen, dass Jesus damit in Kontinuität zum Alten Testament steht. 3.) Es wird deutlich, wie die Gebote mit dem Gesetz zusammenhängen.
In Lk 10,25-30 ist der Kontext, in dem Jesus das Gebot der Nächstenliebe lehrt, ein anderer als im Matthäusevangelium. Hier nennt ein Gesetzeslehrer selbst das alttestamentliche Doppelgebot auf die Frage Jesu, was er tun müsse um ewiges Leben zu haben, selbst. Jesus antwortet darauf, dass er recht geantwortet habe. So wird deutlich, dass es auch Lukas daran liegt, zu zeigen, dass Jesus kein neues Gebot der Nächstenliebe gibt, sondern in Kontinuität zum Alten Testament steht. Mit Schulz kann ergänzend angemerkt werden, dass Jesus mit diesen Formulierungen des Doppelgebotes somit an der alleinigen Heilsmittlerschaft des Mosegesetzes festhält: „Das Tun des Doppelgebotes, Gott und seinen Nächsten zu lieben, als der Summe und Erfüllung des ganzen Mosegesetzes, wird dem Täter das ewige Leben einbringen.“[76] Auch die Beispielerzählung vom reichen Mann und dem armen Lazarus stellt das Mosegesetz als den einzigen Heilsweg vor (vgl. Lk 16,29 und 31).
Besonderheit des lukanischen Liebesgebotes ist es, dass es durch die anschließende Geschichte vom Samariter ergänzt wird. Hieran werden zwei Dinge deutlich. 1.) Die geforderte Liebe wird durch diese Beispielerzählung als Barmherzigkeit interpretiert.[77] 2.) Mit dem Samariter stellt Jesus einen Menschen, den das damalige Judentum als Apostaten des Jahweglaubens ansah als Modellperson für die von Gott gewollte Nächstenliebe heraus.[78] Damit erkennt Jesus die jüdische Begrenzung des Liebesgebotes nicht an.
In Mk 12,28-31 findet sich eine ähnliche Situation wie in Mt. Hier wird Jesus von einem Schriftgelehrten nach dem ersten Gebot gefragt. Es ist also dem Evangelisten bekannt, dass es bei den Schriftgelehrten eine Tendenz gibt, die Menge der Gebote unter einer Einheit zusammenzufassen. Jesus antwortet aber auch hier mit den beiden Geboten der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Die Liebe zu Gott ist zwar übergeordnet, das wird daran deutlich, dass das Gebot zuerst genannt wird, ist aber der Liebe zum Nächsten (wohl in der Praxis) gleich. „Eine Formel, wie beides zu vereinigen ist, gibt Jesus nicht. Das Gebot stellt nur beide Forderungen nebeneinander.“[79] Am Mk-Evangelium wird so speziell die Zusammengehörigkeit der beiden Gebote deutlich.
Die goldene Regel (Mt 7,12 und Lk 6,31), die ebenfalls die Nächstenliebe zum Thema macht, war schon in der antiken Vulgärethik als regula aurea weit verbreitet.[80] Sie hat ihren Ursprung bereits im Frühjudentum.[81] In Tobit 4,16 begegnet sie in der Form: „Was du nicht willst, was man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“[82] Jesus nun formuliert diese Forderung des Schadensausschlusses erstmals positiv: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut ihr ihnen auch! Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten.“[83] In Lk 6,31 redet Jesus ähnlich: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut ihnen ebenso.“[84] So wird aus der bestehenden negativen Regel eine Aufforderung zur gegenseitigen Bereicherung. Stuhlmacher drückt diesen Gedanken sehr zugespitzt aus: „Es geht ihm (Jesus) nicht nur um die Vermeidung von gegenseitigen Unannehmlichkeiten, (…) sondern um die aktive Zuwendung zum anderen in all dem, was dieser andere braucht.[85]
Weiter wurde die Goldene Regel im Munde Jesu im pharisäisch bestimmten Judentum als sachgemäße Zusammenfassung des ganzen Mosegesetzes gewertet.[86] Dies macht die Geschichte eines Heiden, der als Proselyt zum Judentum übertreten wollte deutlich.[87] Sie ist kurz vor Christi Geburt zu datieren. So wird erkennbar, dass die Goldene Regel schon vor Jesus mit der Absicht des ganzen Mosegesetzes gleichgesetzt wurde.
Jesus geht nun ähnlich vor.[88] In Lk 6,31 wird sie so von Jesus sehr wahrscheinlich als eine summierende Begründung des Gebotes der Feindesliebe überhaupt in Anspruch genommen. In Mt bezeichnet Jesus sie als Summe von „Gesetz und Propheten“ und der Bergpredigt.
Im Liebesgebot in Mt 5,43 interpretiert Jesus das alttestamentliche Gebot den Nächsten zu lieben, Lev 19,18/34 und den Feind zu hassen (Dtn 5,23f.) neu. Er führt mit den Worten evgw. de. le,gw u`mi/n einen neuen Maßstab der Nächstenliebe ein. Ab sofort umgreift sie nun mehr die Feindesliebe. Sie reicht inhaltlich sogar bis zur Fürbitte für die, von denen man verfolgt wird. Damit wird ein starker Unterschied zu den Psalmen – und Essenertexten deutlich:
„Während die eben genannten Psalmen – und Essenertexte zum „Hass“ gegenüber den Verächtern der Tora verpflichten, gilt bei Jesus die Liebe auch den jüdischen Denunzianten und heidnischen Gegnern der „Jesusbewegung.“ Für Jesus selbst ist die Feindesliebe zum „Grundgesetz“ seines eigenen Weges durch die Passion geworden.“[89]
In der Geschichte vom reichen Jüngling (Mt 19,16ff.) steht das Liebesgebot im Zusammenhang mit einem Gespräch über die Bedingungen für den Erhalt ewigen Lebens. Dabei wird es „als Ergänzung des ethischen Dekalogs, als Position zu den negativen Dekaloggeboten“ zu verstehen sein.[90]
[...]
[1] Die Apokalypse des Johannes, die eigentlich auch zum Corpus Johanneum zählt, wird keine Beachtung finden, weil der Umfang dieser Arbeit dies nicht zulässt. Es wird von der Vorausetzung ausgegangen, dass sie demselben Verfasser zuzuordnen sind wie das Johannesevangelium und die Johannesbriefe. Für Argumente einer einheitlichen johanneischen Verfasserschaft der fünf Schriften, siehe D.A. Carson / Moo Douglas J. u.a., An Introduction to the New Testament, Grand Rapids: Zondervan, 1992, S.135; für Argumente gegen eine einheitliche Verfasserschaft siehe: Hartwig Tyen, TRE, Hg. Gerhard Müller, Bd. 17, Berlin: Walter de Gruyter, 1988, S. 186 ff.
[2] Vgl. Jörg Augenstein, Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen, Stuttgart: Kohlhammer, 1993, S. 11 ff.
[3] Literar-, Form- und Redaktionskritik werden innerhalb dieser vom Umfang her begrenzten Arbeit nur bei exegetischer Relevanz Beachtung finden. Die Hermeneutik baut auf dem Schriftverständnis von Gerhard Maier auf, vgl. Gerhard Maier, Biblische Hermeneutik, 1990, 4. Aufl., Wuppertal: Brockhaus, 2003.
[4] Dieser Forschungsüberblick gründet teilweise auf Augenstein, Das Liebesgebot, S. 12 ff.
[5] Rudolf, Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Hg. Ferdinand, Hahn, Bd. 2, Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 1834, 20. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978, S. 405.
[6] Rudolf, Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, 1948, 9. Aufl., Tübingen: J.C.B. Mohr, 1984, S. 434.
[7] Ebd., S. 434.
[8] Ebd., S. 435.
[9] Ebd., S. 435.
[10] Bultmann, Das Evangelium des Johannes, S. 406.
[11] Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, S. 435.
[12] Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen: Mohr & Siebeck, 1966, erwähnt in Augenstein, Das Liebesgebot, S. 14.
[13] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 15.
[14] Michael Lattke, Einheit im Wort, Hg. Wolfgang Richter, Rudolf Schnackenburg, Bd. XLI, STUDIEN ZUM ALTEN UND NEUEN TESTAMENT, München: Köselverlag, 1975, S. 22.
[15] Ebd., S. 170, Anm. 5.
[16] Ebd., S. 212.
[17] Ebd., S. 212 und S. 18.
[18] Ebd., S. 210.
[19] Ebd., S. 216.
[20] Segovia.Love Relation S.23 Liebesgebot auf, vgl dazu auch Augenstein S.18.
[21] Augenstein S.18
[22] F. Fernando Segovia, Love Relationships In The Johannine Tradition, Chico: Scholars Press, 1982. S. 78.
[23] Vgl. dazu auch Augenstein, Das Liebesgebot, S. 19f.
[24] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 19.
[25] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 19.
[26] Vgl. ebd., S. 183.
[27] Ebd., S. 183.
[28] D.A Carson, The Gospel According To John, 1. Aufl., Michigan: Grand Rapids, 1991, S. 485.
[29] Ebd., S. 485.
[30] Andere Stellen, die das Gebot Gott zu lieben beinhalten sind: Deut 10,12; 11,1/13;30,16. Auf diese weiteren Liebesgebote soll in diesen Untersuchungen nicht weiter eingegangen werden. Für weitere Forschung sei auf „Hans-Peter Mathys, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1986“ und „Andreas Nissen, Gott und der Nächste im antiken Judentum: Untersuchungen zum Doppelgebot der Liebe, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 15, Tübingen: Mohr Siebeck, 1974“ verwiesen.
[31] Mathys, Liebe deinen Nächsten, S. 65ff.
[32] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 159.
[33] Mathys, Liebe deinen Nächsten, S.81.
[34] Vgl. Augenstein, Das Liebesgebot, S. 160. Die Angaben in Klammer enthalten dabei die Worte des MT und der LXX.
[35] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 160.
[36] Ludwig Koehler / Walter Baumgartner, Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Lieferung 4, 3. Aufl., Leiden: E.J. Brill, 1990, S. 1248.
[37] Ludwig Koehler / Walter Baumgartner, Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Lieferung 1, 3. Auflage, Leiden: E.J. Brill, 1967, S. 28.
[38] Vgl. Mathys, Liebe deinen Nächsten, S. 64.
[39] H. - J. Fabry, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Hg. G. Johannes Botterweck, Helmer Ringgren, Bd. 4, 1.Aufl, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1984, S. 431.
[40] Vgl Matthys, Liebe deinen Nächsten, S. 64.
[41] Möglich wäre hier auch die Übersetzung „Schuld auf ihn laden“, so Augenstein, Das Liebesgebot, S. 160; eine nähere Diskussion bietet Mathys, Liebe deinen Nächsten, S. 65.
[42] Vgl. Augenstein, Das Liebesgebot, S. 160.
[43] Mathys, Liebe deinen Nächsten, S. 63 ff.
[44] Koehler-Baumgartner, Bd. 4, S. 1170.
[45] Mathys, Liebe deinen Nächsten, S. 38.
[46] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 161.
[47] Mathys, Liebe deinen Nächsten, S. 34 ff.
[48] Vgl. Augenstein, Das Liebesgebot, S. 161.
[49] Matthys, Das Liebesgebot, S. 19.
[50] Vgl. Augenstein, Das Liebesgebot, S. 163 f.
[51] Zitat: „ (…), man soll zurechtweisen, ein jeder seinen Nächsten in Wahrheit und Demut und barmherziger Liebe untereinander. Keiner soll zum anderen sprechen in Zorn oder Murren oder Halsstarrigkeit oder im Eifer gottlosen Geistes. Und er soll ihn nicht hassen in seinem unbeschnittenen Herzen, sondern am selben Tage soll er ihn zurechtweisen, aber nicht soll er seinetwegen Schuld auf sich laden. Ferner soll niemand gegen seinen Nächsten eine Sache vor die Vielen bringen, wenn es nicht vorher zur Zurechtweisung vor Zeugen gekommen ist.“ Übersetzung nach Eduard Lohse, Die Texte aus Qumran: hebräisch und deutsch, mit masoretischer Punktation, Übersetzung, Einführung und Anmerkung, Hg. Eduard Lohse, 2. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971, S. 21.
[52] Augenstein. Das Liebesgebot, S. 165.
[53] Mathys, Liebe deinen Nächsten, S. 121.
[54] Lohse, Die Texte aus Qumran, S. 27.
[55] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 165.
[56] Lohse, Die Texte aus Qumran, S. 35.
[57] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 165.
[58] Klaus Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu, Hg, Günter Bornkamm, Gerhard von Rad, Bd. 40, Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, Neukirchen: Neukirchener Verlag, 1972, S. 120.
[59] Zitat: (…), „und alle Söhne des Lichts zu lieben, jeden nach seinem Los in der Ratsversammlung Gottes, aber alle Söhne der Finsternis zu hassen, jeden nach seiner Verschuldung.“, Lohse, Die Texte aus Qumran, S. 5.
[60] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 166.
[61] Ebd., S. 166.
[62] Mathys, Liebe deinen Nächsten, S. 123.
[63] Dieser Abschnitt basiert auf Thomas Söding, Das Liebesgebot bei Paulus: Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik, NTA 26, Neue Folge, Münster: Aschaffendorff, 1995, S. 56 ff.
[64] Vgl. Augenstein, Das Liebesgebot, S. 166.
[65] Ebd., S. 166 f.
[66] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 167.
[67] Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, Hg. E. Kautzsch, Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, S. 482.
[68] Ebd., Bd. 2, S. 464.
[69] Ebd., Bd. 2, S. 503.
[70] Ebd., Bd. 2, S. 503.
[71] Nissen, Gott und der Nächste im antiken Judentum, S. 232.
[72] Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, Bd. 2, S. 494.
[73] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 169.
[74] Vgl. Lütgert, Wilhelm, Die Liebe im Neuen Testament: Ein Beitrag zur Geschichte des Urchristentums, Leipzig: Deichert, 1905, S. 112 ff.
[75] Walter Bauer, „krema,nnumi“, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6. Aufl., Hg. Kurt Aland / Barbara Aland, Berlin: de Gruyter, 1988, S. 889: “Wie eine Tür in den Angeln, so hängt das ganze AT in diesen beiden Geboten.“
[76] Siegfried Schulz, Neutestamentliche Ethik, Hg. Hans Heinrich Schmidt, Siegfried Schulz, Zürich: Theologischer Verlag, 1987 , S. 92.
[77] Vgl. Augenstein, Das Liebesgebot, S. 171.
[78] Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testamentes, Bd. 1, Grundlegung von Jesus zu Paulus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 99.
[79] Lütgert, Die Liebe im Neuen Testament, S. 114.
[80] Stuhlmacher, Biblische Theologie Bd. 1,.S. 100.
[81] Nissen, Gott und der Nächste im antiken Judentum, S. 391.
[82] Nach Luther 1984.
[83] Nach der rev. Elberfelder Übersetzung 1985.
[84] Nach der rev. Elberfelder Übersetzung 1985.
[85] Stuhlmacher, Biblische Theologie Bd. 1, S. 100.
[86] Vgl. Schulz, Neutestamentliche Ethik, S. 50.
[87] „Ein Heide, der als Proselyt zum Judentum übertreten wollte, kam zu dem berühmten Rabbi Schammai und forderte ihn auf, die ganze Tora zu lehren, solange er auf einem Fuße stehen könne. Schammai jagte diesen Frager fort. Darauf ging er zur Konkurrenz, zu dem nicht minder berühmten Rabbi Hillel, der diese sein Frage nicht nur bejahte, sondern das ganze Mosegesetz in der negativen Fassung der Goldenen Regel zusammenfasste: Was dir nicht lieb ist, das tu nicht deinem Nächsten.“, Schulz, Neutestamentliche Ethik, S. 50.
[88] Vgl. Schulz, Neutestamentliche Ethik, S. 50.
[89] Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testamentes Bd. 1, S. 100.
[90] Augenstein, Das Liebesgebot, S. 172.
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- Daniel Steffen Schwarz (Author), 2005, Das Gebot der Bruderliebe im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187809
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