In der folgenden Arbeit geht es vor allem darum, die philosophischen Grundlagen des (Neo-) Liberalismus zu beleuchten und daraus eine punktgenaue Kritik abzuleiten.
Sie gliedert sich in drei Hauptteile:
Im ersten Teil wird die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften durch Galilei, Kepler und Newton beschreiben. Dabei wird versucht, eine Verbindung zur Lehre Platons aufzuweisen (Galilei unterrichtete an der platonischen Akademie in Florenz) und gleichzeitig einen Kontrast zur aristotelischen Naturphilosophie des ausgehenden Mittelalters herzustellen, um die wesentlichen Elemente der paradigmatischen Veränderungen klarer herauskommen zu lassen. Gegen Ende des Abschnitts wird noch versucht, das Interesse des aufstrebenden Bürgertums an den neuen Naturwissenschaften zu charakterisieren.
Im zweiten, umfangreichsten Teil werden die Grundbegriffe des Empirismus anhand seiner Hauptvertreter dargestellt, weil dieser meiner Meinung nach das Bindeglied zwischen dem neuzeitlichen Aufschwung der Naturwissenschaften und der politischen Ökonomie des (Neo-) Liberalismus bildete. Sowohl in der Erkenntnistheorie, als auch in der Ethik werden die empiristischen Grundsätze genau beschrieben, analysiert und kritisiert.
Im dritten Teil werden diese Grundsätze schließlich der Erkenntnistheorie, Ethik und politische Ökonomie des (Neo-) Liberalismus anhand der zentralen Lehre Adam Smiths gegenübergestellt und Parallelen damit aufgezeigt. Damit wird der abschließenden Kritik der Boden bereitet, welche sich vor allem auf die Gemeinsamkeiten der drei Teilbereiche konzentriert und so zu einem besseren Verständnis der neoliberalen Widersprüche beitragen soll.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die Verwendung des Begriffes „Liberalismus“
III. Der Aufschwung der Naturwissenschaften in der Renaissance
1. Die Naturphilosophie des ausgehenden Mittelalters
2. Galilei, Kepler und Newton
3. Exkurs: Kurzer Abriss der Philosophie Platons
4. Fortsetzung zu Galilei, Kepler und Newton
IV. Der Empirismus
1. Wesentliche Bausteine der empirischen Erkenntnistheorie
a) Alle Erkenntnis müsse auf Erfahrungen zurückgeführt werden
b) Nur empirische Vorstellungen seien unser direktes Erfahrungsobjekt
c) Die Frage nach dem Zustandekommen der empirischen Vorstellungen
ca) Annahme einer vom Wahrnehmenden unabhängigen, materiellen Wirklichkeit
cb) Annahme des Zustandekommens unserer Wahrnehmungen durch Gott
cc) Ablehnung dieser Frage als eines nicht- rationalen Glaubens
d) Die Zergliederung unserer empirischen Vorstellungen in einfache, letzte Elemente
e) Der Mensch als ein Quantum Druck und Stoß
f) Alle Begriffe seien auf die Erfahrung bzw. auf gesellschaftliche Konventionen hin relativ
g) Das reine Denken ist sicherer Erkenntnis fähig, das Wesen der materiellen Wirklichkeit kann hingegen nur hypothetisch erklärt werden
2. Kritik der empiristischen Erkenntnistheorie
3. Wesentliche Bausteine der praktischen Philosophie des Empirismus
a) Alle Werte beruhen grundsätzlich auf Erfahrung
b) Zergliederung von empirisch erfahrbaren Werten in einfache, letzte Elemente
c) Das Problem der Entscheidung: Die Notwendigkeit des Willens in der praktischen Philosophie
d) Bestimmungsfaktoren des Willens
e) Die (metaphysische) Frage nach dem Zustandekommen der Gefühle
ea) Gefühle entstehen durch physikalische Bewegungen der Korpuskeln
eb) Gefühle wurden uns von Gott eingesetzt, damit wir leben können
ec) Ablehnung dieser Frage als eines nicht- rationalen Glaubens
f) Alle Werte und damit Ethik und Moral seien relativ
4. Kritik der empiristischen Ethik
V. Der ökonomische Liberalismus am Beispiel von Adam Smith
1. Die Erkenntnistheorie und Metaphysik Adam Smiths und ihre Parallelen zum Empirismus
2. Die Moralphilosophie Adam Smiths
a) Die Vernunft leite aus den Gefühlserfahrungen allgemeingültige, ethische Werte ab
b) Die (metaphysische) Frage nach dem Zustandekommen der Gefühle
c) Vergleich mit der empiristischen Ethik und Kritik
3. Die Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie Adam Smiths
a) Der Einfluss der Physiokraten
b) Die „natürliche“ Neigung zum Tausch führt zur Arbeitsteilung
c) Der Wettbewerb bestimmt die gesellschaftliche Nützlichkeit ökonomischer Tätigkeiten
d) Die natürliche, gottgewollte Ordnung des Marktes
e) Die Aufgaben des Staates
VI. Abschließende Beurteilung und Kritik
VII. Verwendete Literatur
I. Einleitung
In der folgenden Arbeit geht es vor allem darum, die philosophischen Grundlagen des (Neo-) Liberalismus zu beleuchten und daraus eine punktgenaue Kritik abzuleiten. Sie gliedert sich in drei Hauptteile:
Im ersten Teil wird die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften durch Galilei, Kepler und Newton beschreiben. Dabei wird versucht, eine Verbindung zur Lehre Platons aufzuweisen (Galilei unterrichtete an der platonischen Akademie in Florenz) und gleichzeitig einen Kontrast zur aristotelischen Naturphilosophie des ausgehenden Mittelalters herzustellen, um die wesentlichen Elemente der paradigmatischen Veränderungen klarer herauskommen zu lassen. Gegen Ende des Abschnitts wird noch versucht, das Interesse des aufstrebenden Bürgertums an den neuen Naturwissenschaften zu charakterisieren.
Im zweiten, umfangreichsten Teil werden die Grundbegriffe des Empirismus anhand seiner Hauptvertreter dargestellt, weil dieser meiner Meinung nach das Bindeglied zwischen dem neuzeitlichen Aufschwung der Naturwissenschaften und der politischen Ökonomie des (Neo-) Liberalismus bildete. Sowohl in der Erkenntnistheorie, als auch in der Ethik werden die empiristischen Grundsätze genau beschrieben, analysiert und kritisiert.
Im dritten Teil werden diese Grundsätze schließlich der Erkenntnistheorie, Ethik und politische Ökonomie des (Neo-) Liberalismus anhand der zentralen Lehre Adam Smiths gegenübergestellt und Parallelen damit aufgezeigt. Damit wird der abschließenden Kritik der Boden bereitet, welche sich vor allem auf die Gemeinsamkeiten der drei Teilbereiche konzentriert und so zu einem besseren Verständnis der neoliberalen Widersprüche beitragen soll.
II. Die Verwendung des Begriffes „Liberalismus“
Es stellt eine große Schwierigkeit dar, eine eindeutige Definition des Begriffes „Liberalismus“ anzuführen, weil ihm im Laufe der Geschichte bereits viele verschiedene Bedeutungen belegt wurden. Was in einem Zusammenhang als liberal bezeichnet wurde, war in einem anderen Zusammenhang veraltet konservativ.
Seine etymologischen Wurzeln hat das Wort liberal im Lateinischen „ liberalis “ , „die Freiheit betreffend“, und es trägt Bedeutungen wie „freisinnig“, „vorurteilsfrei“, „freigiebig“, „großzügig“. Im Mittelpunkt des Begriffes steht daher die Betonung der Freiheit des einzelnen Menschen, in der Entfaltung der eigenen Tätigkeit von anderen nicht gehindert zu werden.
Als „Freiheit von etwas“ stellt sie sich damit an die Spitze der Werte, obwohl sie gleichsam jeden Inhalts entbehrt. Als solcherart „ abstrakte Freiheit “ bildete sie deshalb in den Augen von Karl Marlo „ die Zauberformel zum Umsturz aller Throne “ .1 Besonders im 18. Jahrhundert bestand ihr Charakter in ihrer kritischen Energie, die die verknöcherte Welt der Autoritäten der absolutistischen Monarchien und der Kirche angriff.
Damit kann der Freiheitsbegriff aber nicht erschöpft sein. Es ist vielmehr nötig, zu einer Begründung des Wesens der menschlichen Freiheit selbst vorzudringen, um so eine Basis für konkrete Freiheiten zu erhalten. Dieses Wesen der Freiheit muss in der Übertragung der Quelle von Autorität und Gesetz ins innerste Wesen des Individuums bestehen, wodurch jenes erst zum freien Handeln ermächtigt werden kann.2
Grob können dabei zwei Strömungen der Legitimierung von individueller Freiheit unterschieden werden:
a) Freisein bedeutet ein schrankenloses Walten der individuellen, aufgeklärten Vernunft um so zum Fortschritt des Gemeinwesens beitragen können. Das „freie Spiel der vernünftigen Kräfte“ führe zu einem größtmöglichen gesellschaftlichen Fortschritt und einer harmonischen Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen.
b) Wirklich frei sein bedeute, sich allein für die Folgen eigener Handlungen für zuständig zu halten und gleichzeitig das individuelle Gewissen als Richtmaß des eigenen Handelns anzuerkennen. Der Menschen in seiner Unabhängigkeit sieht sich somit dem Gewissen gegenüber, die Unterwerfung unter das Sittengesetz bedeute wahre Freiheit.
Die Folge einer rein negativen, auf das Ausschließen jeder Einmischung anderer und auf die
Legitimierung der Willkür abgestellten Freiheit wäre ein atomischer Abschluss des individuellen Lebens. Dies führt zwangsläufig zu Missbrauch, der sich zur Förderung der Tätigkeit des einen vielleicht als nützlich erweist, derjenigen des anderen aber schade. Ihn zulassen würde heißen, die Wurzeln der menschlichen Freiheit auszurotten. Das Individuum ist aber mehr, weil das Gewissen sich ihm als ein Gesetz darstellt, woraus die Forderung nach einer über die reine Selbstsucht hinausgehenden Organisation des Zusammenlebens entspringt. Der nach der Pflicht handelnde Mensch ist nicht mehr der einzige auf der Welt: ihm gegenüber steht ein „anderer“, in dem sich sein ursprüngliches „Ich“ verdoppelt; und diese erste Beziehung ist die Quelle aller anderen menschlichen Beziehungen.3
Darin besteht der Unterschied zwischen der Auffassung des 18. Jahrhunderts, für die die Freiheit eine von der Natur gegebene Tatsache war (Naturrecht), und derjenigen, die aus der Freiheit eine Entwicklung macht.
Die aufstrebende Industrie- und Handelsbourgoisie bevorzugte jedoch erstere Begründung für eine liberale Gesellschaftsordnung, allein schon deshalb, weil sie sich durch keinerlei Schranken die Entwicklung ihrer Produktivkräfte behindern lassen wollte. Dabei erkannte sie im Laufe der Entwicklung der liberalen Gesellschaftsordnung, dass sie sich damit auch den emanzipatorischen Forderungen des Proletariats entziehen konnte.
Deshalb werde ich mich in der folgenden Darstellung der philosophischen Wurzeln des Liberalismus auf den ersteren Begründungsstrang der Freiheit beschränken und erst in der Kritik, auch des gegenwärtigen Neoliberalismus, die im zweiten Punkt angeführte Konsistenz menschlicher Freiheit ansprechen.
III. Der Aufschwung der Naturwissenschaften in der Renaissance
„ Lange bevor bestimmte Grundanschauungen sich in strenger begrifflicher Deduktion heraussondern und abgrenzen, sind in der wissenschaftlichen Kultur die geistigen Kräfte wirksam, die zu ihnen hinleiten. Auch in diesem gleichsam latenten Zustand gilt es, sie zu erfassen und wiederzuerkennen, wenn wir uns der Stetigkeit der geschichtlichen Arbeit versichern wollen. ( … ) in den Wandlungen ihrer konkreten Welt- und Lebensauffassung müssen wir die Umformung ihrer logischen Grundansicht verfolgen. “4
„ Der Reichtum der philosophischen und wissenschaftlichen R e n a i s s a n c e, der heute noch kaum erschlossen, geschweige bewältigt ist, forderteüberall ein längeres Verweilen; wird doch hier der originale und sichere Grund für alles Folgende gelegt. “5
Vorbereitet wurde die Entwicklung des philosophischen Liberalismus in den Epochen des Humanismus und der Renaissance (franz. „Wiedergeburt“) im 15. und 16.Jahrhundert. Der in dieser Zeit neu entstandene „Geldadel“ der Bankiers- und Handelshäuser (z.B. Medici) wandte sich von den kirchlichen Autoritäten ab und versuchte, eine neue „Diesseitskultur“ zu fördern, eine Hinwendung zum Materiellen. Man stellte die geistige Vorherrschaft der Kirche und ihrer mittelalterlichen Scholastik in Frage und suchte neue Lebenskonzepte aus den wieder entdeckten Werken der Antike zu gewinnen.6
Eine äußere Anregung erhielt diese „Wiedergeburt“ der Antike durch die kirchlichen Unionskonzile in Ferrara und Florenz (1438), zu denen Gelehrte aus Byzanz nach Italien emigrierten und, von Cosimo Medici finanziert, um 1440 die Platonische Akademie in Florenz gründeten. Von Italien her wirkte die Neuaufnahme des Platonismus dann auf ganz Europa, z.B. durch Erasmus von Rotterdam (1467- 1536). In England entwarf der Kanzler Heinrichs VIII., Thomas Morus (1478- 1535), in seiner „Utopia“ (1516) einen Idealstaat nach dem Vorbild der „ Politea “ Platons.7
Die Erklärung dieses Vorgangs liegt nach Egon Friedell darin, dass man nach den antiken
Paradigmen griff, weil man in ihnen ein ähnliches Weltgefühl zu sehen glaubte, wie es in den damaligen Städten Oberitaliens schon latent war. Sie selber wollten rationalistisch, formenklar, diesseitig und skeptisch sein, und gruben zu diesem Zwecke alles aus, was alt war und zu ihrem Lebensgefühl passte. Die Philosophien und Kulturen der Antike wurden dabei weniger verstanden, als für die eigenen Ziele genutzt.
Die Kunst bzw. das Künstliche stand dabei besonders hoch im Ansehen, da man es als Ausdruck des sich selbst erschaffenden Menschen bewertete. Ein grandioser Stilisierungswille durchdrang alle Lebensäußerungen, die würdevoll und formvollendet sein mussten. Der sich selbst durch vollendetes Betragen neu erschaffende Mensch umgab sich mit antiken Plastiken menschlicher Körper, allein deswegen, weil er ihre leere Formenfreude schätzte. In der Philosophie siegte ähnlich wie bei den antiken Sophisten die Eloquenz, welche zur relativistischen, raffinierten Rhetorik abgewertet wurde.8
Im Rückgriff auf antike Bauformen lösten das fürstliche Schloss bzw. die Residenz die Burg als Wohnsitz ab. Darin sollte nun nach Machiavelli (1469- 1527) „der Fürst“ residieren, der im diesseitigen Ringen um Macht, auf welche Art auch immer, einfach nur mehr Macht haben müsse als seine Gegner. Denn weil die Menschen schlecht seien, bleibe nichts übrig, als auch schlecht und notfalls noch schlechter zu sein, um sie zu regieren.
Damit brachte Machiavelli den neuen Willen der Renaissance auf eine Formel. Er betrachtete den Staat als ein Naturphänomen, ein wissenschaftliches Objekt, das beschrieben und zergliedert, dessen Anatomie exakt erforscht werden will. Ebenso wie seine philosophischen Zeitgenossen glaubte er daran, dass der menschliche Geist, wenn er sich von Vorurteilen und Aberglauben befreie und die richtigen Methoden der Forschung einsetze, alle Rätsel der Welt zu enthüllen imstande sei.
Eine Realistik, die nichts mehr wissen wollte von dem, was sein sollte!9
Als eine besondere Tat der Renaissance wurde die Geburt der modernen Naturwissenschaften
gefeiert und meiner Einschätzung nach bildet die Entstehung derselben eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des modernen Liberalismus. Sie verfolgte schließlich auf der Grundlage mathematisch- quantitativer Abstraktion die erklärte Absicht, alle bisherigen „metaphysischen, kirchlichen Autoritäten“ abzustreifen und ein neues Weltbild zu entwickeln.
Die neuen Naturwissenschaftler übernahmen von Platon die Annahme einer bereits vor der menschlichen Wahrnehmung und unabhängig davon bestehenden Realität (Unterscheidung zwischen Realität und Subjektivität). Nicht mehr das „Verständnis“ der Welt unter der lebensweltlichen Voraussetzung der Person war daher der primäre Leitfaden für die Interpretation der Dinge (diese wurde von der neuen Naturwissenschaft als in das Konkrete hinein geheimniste Annahme entwertet), sondern man solle den Menschen als Teil einer mathematisch strukturierten Wirklichkeit betrachten.
Das sinnfälligste Ereignis dafür war wohl die Ablösung des geozentrischen Weltbildes durch Nikolaus Kopernikus (1473- 1543), der in seinem epochalen Werk „ De revolutionibus orbium coelestium “ die Erde zu einem Teil eines Gesamtsystems degradierte, in dem die Sonne den Mittelpunkt bildete. Damit konnte er die Bewegung der Planeten auf einfachere Weise als die bisherige, geozentrische Astronomie beschreiben. Kopernikus betonte, die gewöhnliche sinnliche „Flächenansicht“ der Dinge durch die „Tiefenansicht“ der mathematischen Vernunft ergänzen zu wollen, welche den Sinnen auf allen Ebenen, also auch den himmlischen, als Regel dienen sollte.10 Ptolemäus (87- 165), der antike Begründer der geozentrischen Kosmologie, hatte in seinem „ Almagest “ noch behauptet, dass wir die Entscheidung darüber, was am Himmel als naturgemäß zu gelten habe, nicht in den irdischen Erscheinungen suchen dürften, denn wo ein diametraler Gegensatz bestehe, da könne nicht der gleiche Maßstab des Urteils angelegt werden.11
1. Die Naturphilosophie des ausgehenden Mittelalters
Die christliche, spätmittelalterliche Naturphilosophie berief sich bis dahin auf den „Lebens- und Seinsvollzug des glaubenden Menschen“, d.h. Naturerkenntnis könne nur auf der Basis unseres leibhaftig- wahrnehmenden, und damit glaubenden Weltverhaltens gefasst werden. In der Erfahrung der eigenen Begrenztheit wurzle die Suche nach Erkenntnis und könne sich nur im Vollzug des Individuums einstellen. Es könne daher immer nur die „Mit- Welt“ des Menschen auf ihren Ursprung hin untersucht werden, nicht aber eine von ihrer Gegebenheit für den Menschen losgelöste, objektive, statische Welt.
Dieses Erkenntnismodell baute auf dem jüdisch- christlichen, personal- dialogischen Schöpfungs- und Seinsverständnis auf. Natur wurde gesehen als Schöpfung aus dem Nichts (ohne materiellen Untergrund) durch einen nicht geschaffenen Anderen (=Gott). Der Einzelne würde sich damit als „ins Dasein gerufen“ gewahr, d.h. mit- zu- sein mit Gott, wodurch er erst ganz „Ich“ werden könne („Du bist, weil ich bin.“). Schöpfung wurde also nicht als Ursächlichkeit einer vom Betrachter unabhängigen Welt interpretiert, sondern als Voraussetzung dafür, dass uns die Welt überhaupt begegnen könne. Selbsterfahrung und Welterfahrung waren unmittelbar mit Gott und für Andere.
In seinen Werken zeige sich Gott als Anzuredender und spreche sich in der Worthaftigkeit der Dinge selbst aus („antwortende Wirklichkeit“). In der Naturphilosophie ging es demnach darum, sich zu öffnen für den, der uns weltweit der Ansprechende sei und auf diese „In-an- spruch-nahme“ zu antworten. Dadurch komme erst, was die Schöpfung für den Menschen eigentlich sein könne, in den Blick.12
In diesem Sinne dominierte die aristotelische „Lehre vom Augenschein“ die spätmittelalterliche Naturphilosophie. Der Augenschein zeige uns, dass die Sonne um die endliche, ewig unbewegt, inmitten des Fixsternhimmels schwebende Erde kreise, und am Himmel ganz andere Dinge sein müssten als auf der Erde, denn die irdischen Körper veränderten sich und seien wesenhaft vergänglich, während die himmlischen unveränderlich dieselben blieben und sich obendrein in regelmäßigen Kreisbewegungen um die Erde bewegten (wenn man von den Planeten absehe, deren Bahnen aus regelmäßigen Kreisbewegungen zu erklären die Leistung des Ptolemäus darstellte, aber Aufgabe der mittelalterlichen Astronomie blieb). Die eine, gesamte Welt sei daher zu unterteilen in die Welt „unter dem Monde“, dem „Diesseits“, und die Welt „über dem Monde“, dem „Jenseits“. Im „Diesseits“ gäbe es vier Elemente: Wasser, Feuer, Luft und Erde, die in ihren Ausformungen und Quantitäten ständig variierten, das „Jenseits“ der ewigen Gestirne müsste aber aus einem anderen Stoffe („Äther“) sein, weil es unvergänglich sei und nur noch die reine, gleichmäßig kreisende Ortsbewegung kenne.
Die gesamte Welt sei eine, weil alles, was überhaupt in Bewegung sei, von dem ersten „unbewegten Beweger“ (Gott) bewegt werde. Ohne einen solchen Anfang könne man nämlich Veränderung und Bewegung überhaupt nicht fassen, denn würde man ins Unendliche zurückgehen, dann wäre das ein Ausweichen vor der Wirklichkeit, die immer in ihren Kausalreihen ein Letztes habe und damit auch ein Erstes haben müsse. Gott sei daher ewig als „ das Ma ß der Bewegung in Hinsicht auf das Früher und Später “ ,13 und bedürfe nichts außer seiner selbst. Alles übrige Seiende sei ein „ ens ab alio “, ein „Seiendes aufgrund eines Anderen“, aufeinander abgestimmt und zu einem sinnvollen Ganzen geformt. Es enthalte einen Zweck als Potentialität in sich, der aber erst durch den Akt des Wirklichen ins Dasein treten könne. Sein Entstehen und Vergehen sei also ein „Zu- etwas- hin- geworden- Sein“, zur Ähnlichkeit zu Gott, dem letzten aller Zwecke, im Sinne seiner spezifischen Vervollkommnung. Glück („ eudaimonia “: „richtiger Geist“) liege daher in der vollständigen Betätigung der jeweiligen Wesensnatur.14
2. Galilei, Kepler und Newton
Das Kopernikanische System wurde nun für Galileo Galilei (1564- 1642), den Erfinder der neuzeitlichen Mechanik, und Johannes Kepler (1571- 1630), den Begründer der modernen Astronomie, zum Zentrum und Hebel für deren „revolutionäre“ Einsichten bzw. für deren Kritik an der mittelalterlichen Naturphilosophie. Beide, die in regem Briefkontakt miteinander standen, vertraten die Idee einer einheitlichen Erd- und Himmelsphysik, wofür Kepler exemplarisch formulierte, dass durch die metaphysische Trennung von „Himmel“ und „Erde“ der Astronom zum Rechner erniedrigt und aus der „Gemeinschaft der Philosophen“ ausgeschlossen werde. Dem Ansatz der Rechnung müsse vielmehr ein Gesamtentwurf der „Natur aller Dinge“ durch Vernunftbegriffe vorausgehen, denn nur durch die Verknüpfung von Wahrnehmungen in einem System sei Erfahrung überhaupt möglich, würden Erscheinungen „gerettet“: „ Die Gesetzeserkenntnis liefert uns den einzigen Kompass im Meer der besonderen Tatsachen und der praktischen Einzeldaten, ohne welchen wir blind und steuerlos blieben. “15 Der Begriff, die Idee, sei somit als allgemeines Regulativ absolute Voraussetzung, bevor man unter Berücksichtigung der besonderen Umstände, die die Erfahrung uns anzeige, die Natur untersuchen könne.
In diesem Sinne übernahmen Galilei, Universitätslehrer für Mathematik in Pisa, Padua und an der Platonischen Akademie in Florenz, und Kepler, Universitätsprofessor für Mathematik und Astronomie in Graz, Linz und am Hofe Rudolfs II. in Prag, den platonischen Ansatz, dass die Sinneserfahrung des Menschen von der Idee beherrscht werde.
3. Exkurs: Kurzer Abriss der Philosophie Platons
Platon (427 - 347 v. Chr.) ließ in seinem Dialog „ Philebos “ den Sokrates (469 - 399 v. Chr.) argumentieren , dass erst durch den geistigen Halt der Ideen („ peras “, die Grenze), welche im Wechsel der Erscheinungen ewig und unveränderlich bleiben müssten, das veränderliche Sinnlich- Körperliche („ apeiron “: was ohne fixe Grenze ist, das Unbegrenzte) zur körperlich- geistigen Erfahrung oder Meinung („ meikton “: das Gemischte aus sinnlicher Bewegung und geistiger Ruhe) werde. Erfahrung bestehe also darin, „ etwas als an dieser oder jener Idee teilhabend erkennen “16 zu können. Unter Ideen verstand er dabei Allgemeinbegriffe (Wesensbegriffe) wie Formen, Gattungen, etc., die von mehreren Einzeldingen zusammen ausgesagt werden können.
Diese Allgemeinbegriffe seien nur dem vernünftigen Denken und nicht der sinnlich- körperlichen Wahrnehmung zugänglich; nur der Geist des Menschen könne sie wissen. Weil es sich bei ihnen daher um keine räumlich- zeitlich veränderlichen Gegenstände handeln könne, müssten sie unwandelbar bzw. unvergänglich, also ewig sein. Sie könnten auch nicht nur bloße Namen sein, die unser Denken durch Zusammennehmen gemeinsamer Merkmale der Dinge der Erfahrung bilde, weil sie in prinzipieller Hinsicht der Erfahrung bzw. Meinung als Maßstab bereits vorhergehen müssten (die Eigenschaften der erfahrbaren Dinge ließen sich nur im Lichte allgemeiner Begriffe d.h. geistiger Ideen erklären) und daher eine, von den Bedingungen der räumlichen und zeitlichen Existenz unabhängige, „übersinnliche Ideenwelt“ bilden müssten, die die Welt des wahren Wissens und der allgemeinverbindlichen Objektivitäten sei (= Objektiver Idealismus).17
Platon setzte also der Erfahrung eine „überpositive“, d.h. unabhängig von der räumlich- zeitlichen Welt und unabhängig von unseren Gedanken, objektiv bestehende, ewige „Ideenwelt“ voraus. Sie müsse der Welt der vergänglichen Erfahrungen als Grund übergeordnet sein, weil jene als Begründetes ihre Bestimmtheit nur den Ideen verdanke. Die Ideen seien somit die wahren Muster oder „Urbilder“, nach denen die vergänglichen Erfahrungsgegenstände als „Abbilder“ geformt seien. Letztere würden Schatten an einer Höhlenwand gleichen, welche von dort angeketteten Menschen für die einzige Wahrheit gehalten würden, obwohl sie nur der Widerschein der Welt des Intellegiblen seien, welche erst durch ein „Heraussteigen“ aus der Höhle der sinnlichen Erfahrung „geschaut“ werden könnte („Höhlengleichnis“).18
Mit dieser ontologischen Unterscheidung ging eine bereits angedeutete erkenntnistheoretische Hand in Hand:
Die empirische Wirklichkeit erschien als bloßer Vordergrund, durch den hindurch der Glanz einer höheren Wirklichkeit erst sichtbar werde, wenn der Erkennende die Vernunft soweit wie möglich von den störenden Einflüssen der Sinneswahrnehmungen unabhängig mache. Die reinen Formen als das Wesen der Dinge könnten ja nicht aus gemeinsamen Merkmalen erfahrener Einzelfälle herausabstrahiert werden, sondern müssten der Meinung unbedingt vorhergehen und seien daher nur dem reinen Denken zugänglich. Sie würden unmittelbar „geschaut“, d.h. in rein vernünftiger Weise verstanden, ohne deren „Inkarnation“ in den sinnlichen Erfahrungen heranzuziehen. Zum Beispiel könnte die Idee des Raumes, der Zeit, der Gleichheit und der Verschiedenheit nur unmittelbar eingesehen und nicht aus Erfahrungen gewonnen werden. Die Verhältnisse zwischen den Ideen und deren Gesamtzusammenhang in der „Ideenwelt“ sei mit Hilfe des logisch- begrifflichen, so genannten „dialektischen“ Denkens begreifbar. Dabei handle es sich um die Kunst, im Gespräch zwischen Dialogpartnern rein theoretisch ohne Zuhilfenahme der Anschaulichkeit die Bedeutung von Begriffen, die die Ideen repräsentieren, und deren Beziehungen untereinander zu klären. Dies erfolge durch Analyse und Synthese von Begriffen und sei nur im Dialog möglich (= sokratische Gesprächsführung), um Thesen an ihren Antithesen prüfen zu können.
Die Dialektik sei damit der Inbegriff aller Wissenschaft, weil sie sich mit dem zeitlos gültigen Wissen d.h. dem wahrhaft Seienden beschäftige; wer sie nicht beherrsche, komme nicht an die wahren Seinszusammenhänge heran.
Aufgrund der Struktur der veränderlichen Welt des Erfahrbaren, als Abbild auf die unveränderliche, ewige Ideenwelt bezogen zu sein, folge aber, dass es auch möglich sein müsse, Aussagen über die empirische Welt zu machen. Mit dem Sehsinn als Werkzeug könnten wir dazu die Harmonien und Umläufe des Kosmos auf die Umschwünge des Denkens beziehen und dadurch Anteil an der Richtigkeit des Denkens bekommen. Die Sehkraft sei also ein unentbehrliches Werkzeug für die Vernunfttätigkeit der Seele: „ Hierdurch haben wir den Weg zur Philosophie gefunden. “19 Die Zuordnung der räumlich- zeitlich wahrgenommenen Dinge zu den Ideen in der Erfahrung bleibe aber aufgrund der andauernden Veränderlichkeit der individuellen Wahrnehmungen prinzipiell hypothetisch, d.h. sie könnte sich immer nur auf gemachte Erfahrungen beziehen und durch zukünftige Wahrnehmungen aufgehoben werden. Sie hänge also von der Natur und der momentanen Verfassung des wahrnehmenden Subjekts ab und ändere sich mit dieser. Die Naturwissenschaft, die die Erforschung des körperlichen Seins zum Ziele habe, könne daher nie allgemeine Gewissheit, sondern immer nur einen mehr oder weniger hohen Grad von Wahrscheinlichkeit erreichen. Sie bleibe notwendigerweise ein Glauben und beruhe mehr auf einer Art Überredung durch die relativen Sinne als auf einer vernünftigen, allgemeingültigen Argumentation.20
Die erkenntnistheoretische Quintessenz der Platonischen Ideenlehre lief also auf einen Rationalismus hinaus, denn die Strukturen des vernünftigen Denkens seien von den idealen Zusammenhängen abhängig und könnten mit diesen übereinstimmen. Seine Ideenlehre hatte somit auch die Funktion, die rein vernünftige Erkenntnis als möglich zu erweisen.21 Was Platon damit zu bekämpfen und zu überwinden trachtete, war die Sophistik. Als Grundirrtum erschien ihm der Satz des Protagoras, dass „ der Mensch das Ma ß aller Dinge “ sei und es daher kein objektives Wissen gebe, weil alle Begriffe Erfahrungsbegriffe und alle Urteile empirische Urteile und damit relativ und niemals allgemeingültig sein könnten. Eine solche Lehre könne aber für sich selbst keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, weil sie als Meinung ja kein größeres Recht auf Zustimmung fordern könne als die Meinung anderer. Sie führe sich daher selbst ad absurdum. Die Sophisten stellten sich daher nur als Liebhaber des Wortes („ philologoi “), aber nicht der Weisheit („ philosophoi “) heraus. Die eigentliche Aufgabe der Philosophie beginne erst damit, zu zeigen, dass es ein allgemeines Richtmaß der Erkenntnis geben müsse, und wie man zu ihm gelange. Weil in jedem mit einem Wahrheitsanspruch verbundenen Urteil ein allgemeiner Begriff vorkommen, der unabhängig von den einzelnen Erfahrungen gelten müsse bzw. in dessen Lichte die Erfahrungen erst gemacht werden könnten, könne diese Frage nur befriedigend beantwortet werden, wenn man eine von den Bedingungen der räumlichen und zeitlichen Existenz unabhängige, wahre „Ideenwelt“ voraussetze, die aus reiner Vernunft zu erfassen sei. Logisch früher müsse also das sein, was man denken könne, die Inhalte der „Ideenwelt“, von denen her der Wahrheitsbegriff der stellvertretenden Übereinstimmung erst denkbar sei. Platon gilt deshalb als Begründer des Idealismus.
Ausgehend von der erfahrbaren Welt als Abbild der ewigen Ideenwelt, stellte sich für Platon aber nun die Frage, wie es möglich sei, dass sich die Ideen in den Gegenständen der Erfahrungswelt darstellen? Die Idee und die empirisch erfahrbaren Dinge müssten dafür etwas gemeinsam haben, wenn die Teilhabe begreiflich werden sollte. Dazu müsse aber eine neue Idee angenommen werden, die die beiden aufeinander beziehe und an der die erste Idee und die betreffenden Dinge wieder teilhaben müssten. Dieser neuen Teilhabe müssten aber wieder Ideen zugeordnet werden und so weiter bis ins Unendliche („Problem des dritten Menschen“).22
Als harmonisch geordnetes Abbild erfordere der Kosmos daher die Frage nach einem Verursachenden des „Geordnetseins“. Es müsse daher ein „Verfertiger“, ein göttlicher „Demiurg“ (= Handwerker) angenommen werden, welcher alles regellose Sinnlich- Körperliche nach dem Vorbild der Ideen, die seinem Wirken vorgegeben waren, durch das einheitsvermittelnde Band der Analogie zur Ordnung des Kosmos zusammen gebunden habe. Dieses Band, das dem Kosmos Sein und Werden verleihe, nannte Platon die „Weltseele“; die Anwesenheit des unsichtbaren Seins der Ideenwelt im sichtbaren Seienden der Erfahrungswelt, die der Demiurg dem Weltkörper einpflanzte und diesen danach ausbildete. Sie habe an der Welt der Ideen teil, müsse also ein ursprüngliches Wissen von den Ideen besitzen, aufgrund dessen sie als immaterielles und unsterbliches, ergo lebendiges Prinzip, die Bewegungen des Weltkörpers lenke.
Seinem Vorbild der all- umfassenden, geordneten Ideenwelt entsprechend, schuf der Demiurg den erfahrbaren Kosmos in seiner Ganzheit als ein möglichst vollkommenes, einziges „All- Wesen“. Deshalb wählte er auch für dessen Gestalt die geometrisch vollkommenste, die in sich alle anderen denkbaren Gestalten enthalten könne, die Kugel. Dessen irdische Schale fügte er aus den, schon von Empedokles (483- 423 v. Chr.) als unveränderliche Wurzeln aller Erscheinungen konzipierten, vier Elementgestalten Feuer, Wasser, Erde und Luft in verschiedenen Verhältnissen und Zuständen zusammen. Als „Beschaffenheiten“ müssten diese Elemente zuvor ebenso vom Demiurgen geschaffen worden sein und dürften daher nicht wie ein seiendes „Ding“ aufgefasst werden. Daraus kreierte er dann erst alle Lebewesen (Götter, Menschen, Vögel, Wassertiere, Landtiere und Pflanzen) und alle Dinge.
In der himmlischen Schale, die aus einem fünften Element, Äther bestehe, schuf er die Sterne.
Damit kommen wir zum für unser Thema entscheidenden Punkt der platonischen Naturphilosophie (aus seinem Dialog „ Timaios “), nämlich dass es neben der Ideenwelt noch ein anderes Verursachendes der werdenden Welt geben müsse: Das, was vom Demiurgen im Vorblick auf die Ideen zum erfahrbaren Kosmos geformt werde, also als zuvor Ungeordnetes erst Ordnung und Gestalt aufnehme: das veränderliche „Sinnlich- Körperliche“. Platon nannte es daher „ dech ó menon “, „das Aufnehmende“, welches dem Demiurgen bei der Schaffung des Kosmos ebenso wie die Ideenwelt vorgegeben sein müsse. Als Voraussetzung der Existenz von erfahrbaren Dingen müsse daher neben der Ideenwelt eine dritte ontologische Art angenommen werden, die als „ Amme des Werdens “ „ allem einen Platz bietet, was ein Entstehen hat “ . 23
Zur Erklärung desselben müsse etwas Vernünftiges aufgezeigt werden, das ohne die wirkende Vernunft des Demiurgen bzw. der Ideenwelt zustande komme (= „Notwendigkeit“, „ ananke “). Dieses Notwendig- Vernünftige sei, dass jeder Körper, um Körper sein zu können, einer allgemeinen Raumgesetzlichkeit unterliegen, also einen Raum einnehmen müsse. Die dem Wandel unterworfenen, erfahrbaren Dinge könnten also nur dadurch entstehen, dass das dritte Genos, der Raum („ chora “) die idealen Formen aufnehme!
Nachdem der Demiurg als erstes die vier irdischen Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft und das fünfte, himmlische Element, Äther, geschaffen hatte, müssten diese auch eine räumliche Basis gehabt haben. Zur Herleitung dieser notwendigen räumlichen Beschaffenheit der Elemente sei zunächst vorauszusetzen, dass sie eine Tiefe haben, und diese Tiefe von einer ebenen Fläche umschlossen werden müsse. Aus der Vielzahl solcher Körperformen müssten nun die fünf Körperformen herausgenommen werden, die sich einer Kugel einschreiben lassen, denn nur diese könnten zur Zusammensetzung des Weltkörpers als Baugerüst dienen. Aufgrund der ständigen Bewegung und Veränderlichkeit des Kosmos bzw. der wechselseitigen Vermischung aus den Elementen müssten diese fünf Formen aber auch die Bedingung erfüllen, sich gegenseitig auflösen bzw. wieder auseinander entstehen zu können. Sie müssten daher in sie begrenzende Außenflächen und diese wiederum immer weiter in Dreiecke zerlegt werden bzw. aus diesen zusammengesetzt werden können. Timaios bzw. Platon nahm so das Dreieck als das ursprüngliche, letzte Strukturelement der Notwendigkeit an, im Gegensatz zu Demokrit (460- 371 v. Chr.), welcher die unteilbare Größe des Atoms als letztes Element der Materie ansah.
So würden sich als schönste und harmonischste fünf Körperformen, welche als Basis der Elemente zur Zusammensetzung des kugelförmigen Weltkörpers als Baugerüst dienen könnten, die Formen Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder, Würfel und Pentagondodekaeder ergeben. Sie bildeten als so genannte „Vorzugsgestalten der Räumlichkeit“ den notwendigen Anfang aller in ihrer Mannigfaltigkeit unbegrenzten, sichtbaren Körper, indem sie diese in unendlichen Varianten von Mischungen konstituierten, weshalb sie Timaios auch die fünf „regulären Körper“ nannte. Man müsse sie sich so klein vorstellen, dass jeder Einzelne für sich genommen nicht gesehen werden könne, versammelt könne man aber ihre Masse sehen. Wie könnten diese elementaren Körperformen aber nun ineinander übergehen?
Indem der für die unregelmäßige Veränderlichkeit des Sinnlich- Körperlichen verantwortliche Raum dieses ungeordnet in allen sechs räumlichen Richtungen schüttle, würden die größeren Arten der Formen beim Zusammentreffen mit einem Stärkeren in viele kleine Bestandteile aufgelöst, umher treiben, zu den ihnen gleich gewordenen Formen eilen, bis ihre Teile aufeinander treffend sich wieder miteinander verbinden und die ihnen zukommenden Formen annehmen würden. Wenn sie aber in Dreiecke zermalmt würden, dann entstehe eine einzige Masse, die in das stärkere Element eingehe und dessen einheitliche, aber größere Körperform hervorbringe.
Sowohl die raumgesetzlich- körperliche Beschaffenheit, als auch die Veränderlichkeit der werdenden Welt ließe sich nach Timaios bzw. Platon also durch geometrische Formen erklären. Die Erforschung der räumlichen Zusammensetzung der Körper sei daher Aufgabe des Naturforschers, nicht des Theologen: Mathematik sei zwar eine göttliche Sache, aber man brauche dafür keinen Gott. In diesem Zusammenhang wies Timaios darauf hin, dass das Ganze nur eine Theorie eines Naturforschers sei, welcher selbst Notwendigkeit fehle, denn auch die Ebene der Sinnlichkeit habe nur als bewusste oder gewusste, also in Bezug auf ein Wissendes unterscheidbare Eigenschaften bzw. sei sie selbst. Er ließ daher offen, ob nicht ein von den Göttern geliebter Mensch noch radikal Anfänglicheres wissen könne. So räumte er z.B. bei der Konstruktion der regulären Körper aus besonders ausgezeichneten Dreiecken eine andere Möglichkeit ein. Dabei deutete er auf eine spätere Ableitung voraus, in der man wohl die ungeschriebene, platonische Zahlenlehre wiedererkennen kann, nämlich dass über der Geometrie die Zahlen und insbesondere die Anfänge aller Zahlen, die Eins und die Zwei, die „Dyas“ stehen würden. So könnte sich in Platons ungeschriebener Naturphilosophie eine Arithmetisierung abgezeichnet haben.
Der Demiurg komme erst danach dazu, indem er die mit Notwendigkeit geometrisch vorgeordnete Masse im Hinblick auf die Ideen zum proportional geregelten, werdenden Kosmos gestalte. Die empirisch erfahrbare Welt müsse also eine vom Demiurgen gestaltete Mischung aus „durch Vernunft“ und „durch Notwendigkeit“ sein. Als schönste aller Welten fügte er so den Kosmos aus Weltseele und Weltkörper zusammen.
Die einzige Tätigkeit, die dem Demiurgen von Platon in Bezug auf die Notwendigkeit der Körper zugesprochen wurde, sei sie „überredet“ zu haben, denn die Ordnungsprinzipien, die er im Sinne habe, seien im Bereich der notwendigen Strukturgesetzlichkeiten des Raumes schon entgegenkommenderweise wirksam. Die Notwendigkeit handle also, als ob sie selber Schönheit wollte, wenn sie die regulären Körper, die sich einer Kugel einschreiben lassen und aus den schönsten Dreiecken konstruierbar seien, hervorbringe. Sie leiste gleichsam der Weltordnung durch den Demiurgen Vorschub. Das bedeutete die Redeweise von der „Überredung“ der Notwendigkeit24 und ist die entscheidende ontologische These für das Anliegen der vorliegenden Arbeit, denn sie spielte bei der Entstehung des modernen naturwissenschaftlichen Denkens in der frühen Neuzeit eine wichtige Rolle! Wenn nämlich für den Bereich des „Aufnehmenden“ schon vernünftige, geometrische Gesetze gelten sollen, unabhängig von der Bildung des Kosmos durch den Demiurgen, werden Ideen und „Aufnehmendes“ nicht mehr unterschieden, sondern zu einer geometrisch strukturierten, materiellen Wirklichkeit verschmolzen. So kann der Idealismus Platons in einen Materialismus umschlagen, in dem sich nun die denkend zu erfassende, materielle Wirklichkeit als „Urbild“ und die sinnliche Erfahrung als „Abbild“ gegenüber stehen. Zur Vermittlung dieser beiden werden Begriffe wie „Gott“ oder „Seele“ obsolet: Das Individuum und der Kosmos werden zu Abbildern oder Funktionen materieller Gegebenheiten, die nach mathematisch- geometrischen Gesetzen ablaufen würden und mit Hilfe des mathematischen Denkens erfasst werden könnten.
Hier sehen wir das mechanistische Weltbild der Neuzeit am Horizont aufsteigen!
Bei Platon war diese, erst im späten Dialog „ Timaios “ auftauchende, ontologische und erkenntnistheoretische Wende noch nicht offensichtlich, weil die Notwendigkeit für ihn nur „Mit- Ursache“, niemals aber Ursache der empirischen Welt im eigentlichen Sinne sein konnte. Der Kosmos bzw. das Individuum war bei ihm noch keine bloße Ansammlung physikalischer Bausteine, sondern ein lebendiges Wesen, das Seele und damit Vernunft besitze und erst durch die ordnende Hand des Gottes im Hinblick auf die Ideenwelt so zusammengeordnet wurde, dass er seine Namen verdiene.
In allen Bereichen der Philosophie Platons zeigte sich die Notwendigkeit eines vermittelnden
Dritten, das eine Schlüsselposition einnahm: In seiner Ontologie zogen die Ideenwelt und die Welt des endlichen Kosmos ihre Existenz aus dem „unendlichen, göttlichen Sein“, welches ihnen Ordnung und Einheit verschaffte. In seiner Erkenntnistheorie konnte der Mensch nur durch eine „Seele“ die Differenz von Ideen und Sinnlich- Körperlichem zur Erfahrung bzw. von Ideen und Begriffen zur Erkenntnis vermitteln; sogar die Ebene des Sinnlich- Körperlichen konnte nur in Bezug auf ein Wahrnehmendes sie selbst sein. In seiner Ethik bedingten sich Wertungen und Tugenden gegenseitig und bedurften daher einer neuerlichen Begründung: Gott war in dieser Hinsicht die Idee des Guten und damit Leitbild menschlicher Praxis. Und in seiner Gesellschaftstheorie sollten die drei Stände der Versorgung, der Verteidigung und der herrschenden Denker („Philosophenkönige“) in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden, indem sich die niederen Stände dem höheren unterordneten.
„ Platon ist mit der Denkfigur der Vermittlung einer unmittelbaren Differenz auf die apriorische Form des Denkens selbst gesto ß en, das sich zuerst einmal als Nicht- Inhalt allem Inhalt entgegenzusetzen versucht, dadurch aber in eine unhaltbare Aporetik der Zweiheit gerät, bis es begreift, dass es selbst das Wissende der ganzen unmittelbaren Differenz ist und deren beide Seiten in sich selbst immer schon sowohl auseinander gehalten, als auch miteinander vermittelt und aneinander bestimmt hat. Das Denken kann daher prinzipiell an allem Gedachten unter verschiedensten Begriffen die unmittelbare Differenz von gewusstem Inhalt und Wissen des Inhalts entdecken und dieser Differenz einübergeordnetes Drittes voraussetzen, das es letztlich selbst ist. Ich erinnere beispielsweise an die Differenz von wahrnehmbaren Fakten und begründenden Begriffen im Rahmen der Erfahrung, ( … ) Das Denken setzt sich selbst seinem Inhalt entgegen und wei ß doch beide Seiten in sich, schlie ß t die ganze Differenz in sich ein. Es kann sich aber nur deshalb an seinen Inhalten selbst reflektieren, weil es jeden gedachten Inhalt in Relation auf ein anderes Gedachtes denkt, ihn damit selbst durchdringt und verallgemeinert und ihm doch immer auch vorausgesetzt bleibt. Indem das Denken derart sich selbst an seinen Inhalten konkretisiert, ist es sowohl der gedachte Inhalt als auchüber ihn hinaus, ist sich selbst gegenüber identisch und different zugleich, ( … ) hat die widersprüchliche Form des Selbst- anders- Seins. Ich möchte aber mit Nachdruck darauf hinweisen, dass diese Form des Denkens erst möglich ist, sobald das Denkenüberhaupt denkbaren Inhalt hat, womit zumeist unbeachtete und gerade deshalb ungelöste Probleme verbunden sind, die mit einem idealistischen Ansatz nicht zu lösen sind. Die Dreierstruktur des Denkens ( … ) durchzieht die ganze Philosophiegeschichte. “25
In dieser Selbstverabsolutierung des Denkens ist aber aus platonischer, idealistischer Sicht noch eine Problematik enthalten:
Als absoluter Grund müsse das göttliche Sein nach Platon auch unabhängig von seiner Begründungsfunktion für alles Endliche bestimmt werden, weil sonst nicht nur das Begründete vom Grund, sondern ebenso der Grund vom Begründeten abhängig und daher nicht mehr schlechthin absolut sei. Platon versuchte daher, die Bestimmung des absoluten Grundes unabhängig von seiner Begründungsfunktion für Endliches festzuhalten. Der absolute Grund ohne Relation auf die unmittelbare Differenz von Ruhe und Bewegung war für ihn der Selbstbezug: Der göttliche Geist als ein auf sich selbst gerichteter Erkenntnisprozess noch vor seiner unmittelbaren Differenz in der Endlichkeit, sodass aus ihm alle Endlichkeit und deren Ordnung erst entstehen solle.
Ein Selbstbezug ist aber philosophisch überhaupt nur denkbar, wenn in ihm noch eine Differenz angesetzt wird, nämlich die eines Erkennenden und eines Erkannten: Das aktive Geistige ist immer das Übergeordnete, das dadurch Erkannte das Untergeordnete. So wiederholt sich nun innerhalb des Absoluten seine unzulängliche Kennzeichnung in Relation auf Endliches. Versuchen wir diese Verendlichung abzuwehren, indem wir dem Absoluten als solchem keinerlei interne Differenzierung zubilligen, sondern es als reine Identität fassen, dann fällt es in die völlige Unbestimmtheit zurück und ist als derartige Negation erst wieder auf die Endlichkeit des Negierten angewiesen.
Schon Aristoteles kritisierte daher Platons misslungenen Versuch einer Absolutsetzung des Denkens und zog daraus die Konsequenz, dass Geistiges nur an einer Materie existieren könne, einerseits als deren Form, sodass daraus eine wahrnehmbare körperliche Substanz resultiere, andererseits als teleologisches Bewegungsziel der Tätigkeit dieser Substanz. Der geistige Gott als Zweckursache blieb bei Aristoteles daher auf die Endlichkeit des Kosmos bezogen, was Platon für eine unzureichende Bestimmung des Absoluten gehalten hätte.26
„ Bei Platon stehen wir hingegen vor der unaufhebbaren Problematik eines idealistischen Lösungsversuches, das auf die Absolutsetzung des Denkens hinausläuft, das Platon aber au ß er den Menschen, sogar noch au ß er den Kosmos projiziert,( … ). Da aber das zuhöchst Denkende in uns denkend nicht einholbar ist, können wir es auch nicht als reine Selbstbewegung, absolute Selbstreflexion oder absolute Selbstbestimmung oder Freiheit bestimmen, ohne es zu verendlichen. (...) Denken braucht gerade wegen seiner eigenen Unbestimmtheit immer schon etwas anderes, um selbst etwas zu sein, muss also notwendig endlich bleiben, auch wenn es die gesamte Endlichkeit einschlie ß lich seiner eigenen als solche begreift. (…) Die Begrenztheit auch noch des apriorischen Denkens zeigt sich am schlagendsten an seiner radikalen Differenz zu den unmittelbaren Sinnes- und Gefühlsqualitäten, die wir nur in unserem eigenen Körper erleben und als solche nicht mitteilen oder mit denen anderer Personen vergleichen können. Weil das Denken nur daran Bestimmtheit und Reflexivität gewinnen kann, ist es auf eine ihm nochübergeordnete Instanz in uns angewiesen, die imstande ist, die Verbindung zwischen unserer qualitativen Unmittelbarkeit und unserer Reflexion herzustellen: auf den Willen . Von dieser nicht mehr idealistischen Konstellation aus wäre die philosophische Bestimmung des Menschen vorzunehmen. ( … ) Erst wenn wir uns selbst als reflektierende und wollende Individuen begreifen, können wir um der Praxis willen die philosophische Frage nach dem absoluten Grund neu stellen. “27
4. Fortsetzung zu Galilei, Kepler und Newton
Galilei war mit Sicherheit von Platon bzw. dessen Dialog „ Timaios “ beeinflusst, als er sich von der Naturphilosophie des ausgehenden Mittelalters abzugrenzen versuchte. Besonders verurteilte er deren Primat des Zwecks, das auf dem Bezug aller Lebewesen und Dinge zu Gott aufbaute und diese zu einem sinnvollen Ganzen abgestimmt interpretierte. Jene Ausrichtung, die Lebewesen und Dinge nach ihrem Sinn und ihrer Bedeutung abzuschätzen, verwarf er als ästhetische Phantasien, die durch zufällige Wünsche und empirische Bedürfnisse bedingt seien und ausdrücklich vom Gebiet der wissenschaftlichen Forschung abgesondert werden sollten. So seien z.B. geometrische Formen weder edel noch unedel, weder vollkommen noch unvollkommen, sondern taugten nur besser oder schlechter für gewisse Anwendungen.
Weiters argumentierte er gegen die aristotelisch- substanzielle Weltansicht, dass eine Summierung der möglichst genau erfassten Einzeldinge niemals deren Anwendung auf die Allheit der Fälle begründen könnte. Von allen Zufälligkeiten einer konkret vorliegenden Erfahrung müsse vielmehr abgesehen werden, um die Verknüpfung der Erfahrungen in einem System, in dem jedes Glied durch ein weiter Zurückliegendes bedingt werde, zu bewerkstelligen. Das einzelne Ereignis gewinne daher erst durch den Bezug auf eine übergeordnete, allgemeine Regel jene Festigkeit des Zusammenhangs in der räumlich- zeitlichen Ordnung, kraft welcher es in den Umkreis der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit aufgenommen werden könne.
Ganz deutlich zeigen sich hier die Parallelen zu Platon. Was bei diesem der Vorrang der Ideenwelt vor der Erfahrungswelt war, war bei Galilei der Vorrang des Funktionsbegriffes vor dem Dingbegriff. Vollkommenheit besagte bei Galilei die eindeutige Gesetzlichkeit, gleich wie die platonische Ideenwelt die Welt des wahren Wissens war. Absolut sei allein die Art und Geltung vernünftig erkannter Bedingungssätze, unabhängig davon, ob es in unserer Wahrnehmungswelt Dinge gebe, auf die die vorausgesetzten Bedingungen zutreffen. Im Gegensatz zu Platon sollte aber nach Galilei die Geltung der ideellen Schlussfolgerungen nicht durch ihre Anwendung auf die erfahrbare Welt relativiert werden. Die Zuordnung der räumlich- zeitlich wahrgenommenen Dinge zu den Ideen bleibe daher nicht nur wahrscheinlich, sondern könne ebenso allgemeine Gewissheit erreichen wie z.B. die Mathematik, der widerspruchsfreie Zusammenhang des Besonderen bilde dafür allein das entscheidende Kriterium. Denken und Wahrnehmung würden zwar auf keiner Stufe unserer wissenschaftlichen Erfahrung jemals vollkommen übereinstimmen, aber der Grund dafür sei nicht in einer ontologischen Differenz ihrer beiden „Naturen“ zu suchen, sondern die fortschreitende Aufhebung dieses Gegensatzes mache gerade das Ziel der Erkenntnis aus. Die Geltung einer Idee müsse deshalb immer mit derselben Stringenz feststehen, egal in welchem Stoffe sie sich darstelle, also ob es sich um ideale oder um physische Gegenstände handle. Die Harmonie zwischen dem Gedanken und der körperlichen Wirklichkeit stand Galilei als subjektive Überzeugung fest, nach ihrem Grunde und ihrer Rechtfertigung fragte er nicht. Das Korrelat zum Begriff der gedanklichen Notwendigkeit bildete bei Galilei daher der Begriff der Materie. Sie war ein integrierender Bestandteil seines Begriffssystems, indem sie ihm half, das Gebiet der wahrnehmbaren Objekte mit Hilfe der physikalischen Begriffe zu fixieren. Damit fand der Begriff ein neues Sein. Ideenwelt und „Aufnehmendes“ stellten nicht mehr einen ontologischen Gegensatz dar, der eines Vermittelnden bedürfte, sondern aus der ontologischen Dreiheit von Ideenwelt, „Aufnehmendem“ und werdendem Kosmos bei Platon wurde die Zweiheit einer unabhängig vom Subjekt wirklichen, aber erkennbaren, materiellen Ordnung und den jeweiligen individuellen Erfahrungen derselben. Der Idealismus Platons schlug in einen Materialismus um. Das z.B. von den Aristotelikern beschriebene Entstehen und Vergehen im unmittelbaren Sinnenschein stellte für Galilei bloß eine relative Verschiebung von Teilen innerhalb eines in sich selbst ruhenden, festen Bestandes der Materie dar.
Analog der Entwicklung des Begriffes der Materie wurde von Galilei auch in der Bewegung ein gleich bleibender Grundbestand fixiert. Die Ableitung des Trägheitssatzes in seinen „ discorsi “ kann hierzu als ein Musterbeispiel angesehen werden. Aus dem allgemeinen Gesetz der Erhaltung schloss er dort auf die Beharrung der Bewegung, nicht wie Aristoteles von der Qualität und Beschaffenheit einer vereinzelten Bewegungsform aus. Erst indem er die Frage nach dem Wesen beiseite ließ, erschloss sich ihm so das allgemeine Bewegungsgesetz. Gleiches offenbarte sich in seiner Auffassung des Raumes: Der wirkliche Ort eines Gegenstandes könne niemals durch die unmittelbare Wahrnehmung, sondern erst aufgrund verwickelter Schlussfolgerungen auf die Stellung im Ganzen des Universums bestimmt werden. Der Raum unserer Anschauung wandelte sich in den Raum wissenschaftlicher Konstruktion.28
Damit gestaltete Galilei auch das Ideal des Erkennens im Vergleich zur mittelalterlichen Erkenntnis um: Nicht mehr durch direkte Wahrnehmung, sondern erst durch die Formulierung eines Gesetzes mit Hilfe eines logischen Ideen- und Begriffssystems könne das wahrhafte Sein der materiellen Wirklichkeit als beharrende Einheit erkannt werden. Dazu sollte gegen den Augenschein gedacht werden, denn die sinnlichen Merkmale wie z.B. Farbe, Ton, Geschmack oder Geruch seien nur subjektive Qualitäten, die im empfindenden Körper ihren Bestand hätten und je nach Beschaffenheit des aufnehmenden Organs ständig wechselten. Deren Begriffe könnten daher nicht an eine gedankliche Analyse gebunden werden, sondern seien bloße „Namen“ (vgl. „Nominalismus“).
Galilei lehrte somit, die Ordnung und Gestaltung der Körper in unseren Wahrnehmungen als „unwirklich“ aufzufassen. Sie gehöre nicht dem Gebiet des wahrhaften Seins an, sondern sei eine erborgte und erdichtete Realität, die sich unter der scharf durchgeführten Analyse des Gedankens in Nichts auflösen müsse. Dazu passend verwendete er die, bis in den Atomismus des Epikur bzw. Demokrit zurückgehende, erkenntnistheoretisch wichtige Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten. Als „primäre Qualitäten“ benannte er Bestimmungen, die den Dingen an sich zukommen würden, während Bestimmungen, die im erkennenden Subjekt entstünden, „sekundäre Qualitäten“ hießen.
Die Struktur der materiellen Wirklichkeit, wie sie an sich sei, könne erst dadurch erfasst werden, dass Begriffe rein aus sich selbst heraus zu einer Theorie fortgeführt, d.h. aus mehreren Prämissen logisch hergeleitet würden. Um einen Gegenstand wissenschaftlich zu behandeln, könne man daher von dessen Beschaffenheit, ja sogar von dessen Dasein abstrahieren.
(Die Forderung, den Geist so weit wie möglich von den Sinnen unabhängig zu machen, ist für die gesamte von Platon ausgehende Tradition charakteristisch.)
Erst danach sollten wir uns den Erscheinungen zuwenden und an einer fortschreitenden
Verbesserung der Theorie aufgrund der Erfahrungen in der Praxis arbeiten (= Methodik wissenschaftlicher Erfahrung). In der empirischen Beobachtung müssten sich Wahrnehmung und Vernunft notwendigerweise gegenseitig durchdringen, der Obersatz der Induktion dürfe aber der abgesonderten Einzelbeobachtung nicht gleichwertig zur Seite stehen, sondern müsse ihr als allgemeingültige, begründete Relation übergeordnet sein. Das komplexe empirische Phänomen sei freilich in seiner Gesamtheit für den Begriff nicht direkt fassbar, erst die zerlegende Analyse der Erfahrungen schaffe die Handhabe für dessen Erkenntnis. Diese war daher eine besondere Charakteristik der galileischen naturwissenschaftlichen Vorgangsweise:
„… dass gerade die Zerlegung komplexer Erscheinungen in ihre Teilbedingungen und die isolierte Verfolgung jeder einzelnen dieser Bedingungen es ist, worauf seine wissenschaftliche Genialität beruht. Das Vermögen der Analyse, das Vermögen der rein gedanklichen Sonderung der bestimmenden Momente des konkreten Einzelvorgangs, ist es, was für sein Verfahren charakteristisch ist. Und so wird denn auch hier die ´ Abstraktion ´ in einem neuen fruchtbaren Sinne gebraucht und anerkannt. “29 Eine etwaige Nichtübereinstimmung einer Theorie mit einem konkret erscheinenden Anwendungsfall „ fällt allein dem Rechner zur Last, der die Rechnung nicht richtig anzustellen wei ß“30 und bezeichne daher nur den Ansatz zu neuen Forschungen. Die sukzessive Annäherung an die Wirklichkeit bildete bei Galilei aber keine Schranke des Erkennens, sondern im Gegenteil dessen Stärke. Die Realität werde erkannt, wenn sich die Gesetze, Systeme und Modelle in den Erscheinungen bestätigten.31
Wie bei Platon erschienen nun also auch bei Galilei die empirische Erfahrungen als bloßer Vordergrund, durch den hindurch der Glanz der Wirklichkeit erst sichtbar werde, wenn der Erkennende die Vernunft soweit wie möglich von den störenden Einflüssen der Sinneswahrnehmungen unabhängig mache. Die reinen Formen als das Wesen der Dinge könnten nicht aus gemeinsamen Merkmalen einzelner Erfahrungen herausabstrahiert werden, sondern müssten der Erfahrung unbedingt vorhergehen und seien daher nur dem reinen Denken zugänglich.
Gleich wie Platon im „ Timaios “ fasste Galilei daher die begriffslogische Ableitung der „Körper“ als fundamentalen Anfang jeder Naturphilosophie: Ein „körperliches Ding“ müsse die Merkmale der Begrenzung, der räumlichen Gestalt und der Größe enthalten, ferner müsse man es in seiner örtlichen und zeitlichen Lage sowie nach seinem Bewegungszustand als determiniert ansehen. Dem Begriff des „körperlichen Dinges“ müssten also die Grundkategorien Zahl, Zeit und Raum angehören, ebenso müsse für es das Kausalitätsprinzip und das Trägheitsprinzip gelten.
Aus diesen Überlegungen folgerte er, dass eine naturphilosophische Theorie quantitative Bestimmungen in mathematisch- geometrischer Form aus einander ableiten müsste, um die Realität der Körper bestimmen zu können. Die Bewältigung des Gegenstandes sei daher nur dort verbürgt, wo dieser Gegenstand selbst den Charakter der vollkommenen geometrischen Bestimmbarkeit trage. Das Wesen der Wirklichkeit („primäre Qualitäten“) müsse daher in vom Betrachter unabhängigen mathematischen Beziehungen bestehen. In seinem „ Saggiatore “ („Prüfer mit der Goldwaage“,1623) verglich Galilei dazu die Wirklichkeit mit einem Buch, das in mathematischer Sprache geschrieben sei, wobei die Schriftzeichen Dreiecke, Kreise und andere geometrische Gebilde seien.32
Rufen wir uns dazu noch einmal die Erkenntnistheorie des Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) als Kontrast in Erinnerung: Für diesen und dessen spätmittelalterliche Anhänger existierten Erklärungsgründe des Seins weder für sich allein in einer Art „Parallelwelt“, noch würden sie bloße Begriffe darstellen, sondern wären in ihrer jeweiligen Besonderheit in Raum und Zeit real: „ Die Vernunft ist dem Vollzug nach die Dinge. “33 Der Akt sei also die Wirklichkeit, Sein im Ursinn das konkrete, sinnlich wahrnehmbare Einzelding („erste Substanz“), welchem Baumaterial („Stoff“) und Sinnprinzipien („Formen“) immanent seien. (Die Philosophie der Gegenwart hat diesen Begriff von Erkenntnis u.a. im Existentialismus Heideggers wieder aufgenommen, der von „Vollzugsidentität“ spricht, aus der heraus die Verschiedenheit von Vollziehendem und Vollzogenem erst zum Vorschein kommt. „ Das Wahrsein als Entdeckend- sein ist wiederum ontologisch nur möglich auf dem Grunde des „ In- der- Welt- seins “.)34 Alle Erkenntnis könne daher nur in und aus der konkreten Wahrnehmung der Formen der Dinge heraus gewonnen werden (deshalb die „ Lehre vom Augenschein “ !), die erste Materie (Stoff) an sich sei aber grundsätzlich unerkennbar! Es sei daher auch völlig unnötig, in den natürlichen Dingen Beweise von mathematischer Strenge zu fordern.
Aristoteles kritisierte daher Platons Annahme einer übergeordneten, ewigen Ideenwelt. Sie sei lediglich Gedanke, aus den konkreten Wahrnehmungen der Formen heraus abgezogen, die sich unzulässigerweise anheischig machen würde, unabhängig von unserer raum- zeitlichen Welt zu existieren (Verdoppelung der irdischen Welt). Er zog daraus die Konsequenz, dass Geistiges nur an einer Materie existieren könne, einerseits als deren Form, sodass daraus eine wahrnehmbare körperliche Substanz resultiert, andererseits als das teleologische Bewegungsprinzip, als das Ziel oder der Zweck der Tätigkeit dieser Substanz.35 Daraus ergeben sich jedoch andere philosophische Problematiken, die nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein sollen.
Entgegen dem mittelalterlich- aristotelischem Ansatz, dass der individuelle Mensch den Naturerscheinungen begegnet und diese gleichzeitig systematisch zusammenfasst, sollte im neuzeitlichen Wissenschaftsansatz Galileis nun also der Forscher zuerst seine „Wirklichkeitstheorie“ über die „primären Qualitäten“ der Dinge ideell herleiten und danach alle Erscheinungen auf diesen gemeinsamen Nenner bringen. Die Erfahrungen des Einzelnen werden damit aber nicht mehr in ihrer Individualität anerkannt und bilden auch nicht mehr den Ausgangspunkt jeder Naturtheorie, sondern werden in den „totalitären Rahmen“ mathematischer Ableitungen „eingesperrt“: Systematisierte Erfahrung, einzelne Beobachtung und Experiment standen in einem streng gegliederten, geometrischen Zusammenhang. „ Nicht mehr schlechthin das Einzelding, sondern die Forderung inneren Zusammenhangs und innerer Widerspruchslosigkeit, die der Gedanke stellt, bildet nunmehr das letzte Urbild, an dem wir die ´ Wahrheit ´ unserer Vorstellungen messen. “36 Die Erfahrung ist hier ein streng gegliedertes Ganzes und ein notwendiger Zusammenhang.
Auf diese Weise verschwand aber im Erkenntnisprozess die tragende Rolle der Persönlichkeit des Denkers, welcher seine Welt im Vernehmen der sinnlichen Erscheinungen immer wieder neu konstituiert, zugunsten einer unabhängig vom Denker bestehenden und erkennbaren, geometrisch strukturierten, materiellen Welt. In diesem Fall besteht immer die Gefahr eines Totalitarismus, weil das die Erkenntnis eigentlich erst ermöglichende Ich auf einen Bestandteil der selbständig funktionierenden „Wirklichkeit“ reduziert wird und damit die Abhängigkeit jeder Naturerkenntnis von der individuellen Erscheinungswelt des Wissenden nicht mehr bewusst ist. Die Materie wird zu einer selbständigen Macht, der sich der Einzelne zu unterwerfen hat.
Galilei stand so in seiner Erkenntnistheorie nicht nur mit dem „ Timaios “, sondern auch in gewisser Weise mit der antiken Atomistik des Vorsokratikers Demokrit (ca. 460- 370 v. Chr.) in gedanklicher Verwandtschaft.
Ich möchte hier einige Beispiele für das naturwissenschaftliche Vorgehen Galileis bringen: In Pisa soll er z.B. seinen Studenten die aristotelische Lehrmeinung, nach der die Fallgeschwindigkeit proportional zum Gewicht eines Körpers sei, widerlegt haben, indem er zwei unterschiedlich schwere Gegenstände gleichzeitig vom Schiefen Turm herunterfallen ließ und deren Aufschlagszeit maß. Mit Hilfe sorgfältiger Berechnungen formulierte er daraufhin elementare Gesetze der neuzeitlichen Mechanik (z.B. die Gesetze fallender Körper, der parabolischen Bahn von Geschossen und von Pendelbewegungen). Die Wurfparabel begründete er z.B. mittels der Zerlegung der Geschwindigkeit in die beiden Komponenten von horizontaler und vertikaler Richtung bzw. deren neuerlicher Zusammenfassung. Diese Vereinigung von zwei verschiedenen Bewegungen in ein und demselben Körper galt bis dahin in der mittelalterlich- aristotelischen Metaphysik noch als Widerspruch, weil die Bewegung als Eigenschaft der einzelnen Substanz zu Gott hin gedacht wurde.
In seinem Buch „ Unterredungen und mathematische Demonstrationenüber zwei neue Wissenszweige “ verbesserte Galilei diese Bewegungsstudien bzw. Prinzipien der Mechanik noch und eröffnete damit den Weg zum Gravitationsgesetz Newtons. Jede konkrete Fallbewegung fasste er dabei als ident mit der jeweiligen mathematischen Definition auf. 1609 baute Galilei ein Fernrohr nach, das ein Jahr zuvor in den Niederlanden erfunden worden war, und entdeckte die Sonnenflecken, die Gebirge und Krater auf dem Mond, einzelne Sterne der Milchstraße, die vier größten Jupitermonde und den Saturnring. Diese Beobachtungen standen im Widerspruch zur aristotelischen Auffassung, nach dem im All nur vollkommen kugelförmige Körper existierten. Er veröffentlichte sie 1610 in seiner „ Sternenbotschaft “. Im Dezember 1610 beobachtete er die Phasen der Venus, die für ihn das kopernikanische System bestätigten.
1632 veröffentlichte Galilei schließlich den „ Dialogüber die zwei hauptsächlichsten Weltsysteme “, in dem er die ptolemäische und die kopernikanische Theorie in Bezug auf die Physik der Gezeiten diskutierte und seine Gezeitentheorie, die auf zwei Bewegungen der Erde beruhte und daher nur in Verbindung mit dem Kopernikanischen Modell begründet werden konnte, vorstellte. Gegen zunehmende Vorwürfe, dass der Glaube an eine sich bewegende Erde ketzerisch sei, vertrat er die Meinung, dass sich die Auslegung der Bibel dem gestiegenen Wissensstand anpassen und kein wissenschaftlicher Standpunkt je zum Gegenstand des Glaubens gemacht werden sollte. Die Kirche setzte seinen Lehren aber Widerstand entgegen. 1633 wurde Galilei von der Inquisition gezwungen, der Kopernikanischen Theorie abzuschwören und seine Gezeitentheorie wurde verbrannt.37
Kepler begründete seine idente Auffassung von der mathematisch- geometrischen Naturwissenschaft hingegen mit dem ebenso bei Platon im „ Timaios “ vorkommenden Argument, dass der menschliche Intellekt und die menschlichen Sinne einerseits, und die Dinge der Welt und deren Bewegungen andererseits, von den selben idealen Strukturen abhängen würden und deshalb aufeinander angelegt seien. Die Sinnesorgane würden, unabhängig von den Eigentümlichkeiten des wahrnehmenden Subjekts, in einer Art empfangenden Zustand die Gegenständlichkeit der Objekte aufnehmen, welche daher als echter Anfang des Wissens anerkannt werden müsse. Ihre Entsprechung in der Natur des menschlichen Intellekts würde diese Gegenständlichkeit im Begriff der Größe haben. In den Größen, die dem Geiste eingegraben und mitgegeben seien, seien daher die „Archetypen“ der äußeren Welt enthalten und wenn der menschliche Intellekt die gegenständliche Welt vollkommen begreifen wolle, müsse er sie in einem System von Größen ausdrücken. (Damit meinte Kepler ebenso wie Galilei und Platon aber nicht den abstrakten Begriff der Zahl, sondern die geometrische Gestalt)
Ausgehend von der empirischen Anschauung (!) könnten wir daher das wissenschaftliche „Sein“ der Natur nur fassen, indem wir es, der Form unseres Geistes entsprechend, durch Größenbeziehungen miteinander verknüpfen und einander wechselseitig zuordnen würden, „ denn was könnte einanderähnlicher sein, als das Abbild dem Urbild “ ?38 Die Aufgabe der empirischen Erkenntnis sei es daher, die reinen, mathematisch- geometrisch fassbaren, Grundverhältnisse des empirisch Gegebenen zu beschreiben und zu sichern. Andernfalls sei sie willkürliche Fiktion oder mystische Annahme.
Ein weiteres Ziel der Naturerkenntnis müsse aber sein, Gesetze der empirischen Naturvorgänge aufzustellen, in denen sich deren körperliche Grundbeziehungen darstellen würden (Mechanik). Solcherart Gesetze seien niemals durch direkte Wahrnehmung, sondern nur durch Vernunftbegriffe zu fassen, weshalb es sich bei ihnen um rein geistige Produkte handle. (So entstehe z.B. eine Melodie erst, wenn wir den Tönen eine gewisse Ordnung aufgeprägt denken würden.) Wir müssten sie daher theoretisch ableiten (!) und damit aber hypothetisch aufstellen, um sie nachträglich in ihrer Fruchtbarkeit für die künftige Beobachtung zu bewähren. (Es bleibt bei ihm die Forderung bestehen, dass nur diejenigen Inhalte möglich sind, die sich durch die Anschauung bewähren lassen!)
Dieser naturwissenschaftliche Ansatz Keplers zeigt sich als exemplarisch für einige Vertreter des im nächsten Kapitel ausführlich beschriebenen Empirismus.
Dementsprechend leitete Kepler aus der quantitativen, körperlichen Natur mit Hilfe des Begriffes der magnetischen Anziehungskraft den Kraftbegriff als bewegungserzeugende Ursache ebenso wie die Trägheit als Moment des Widerstandes ab. Damit begründete er einen Begriff von Attraktion, der von allen stofflichen Massen gleichzeitig ausgehen würde und ihm einerseits gestattete, die Körper hinsichtlich ihrer verschiedenen Relationen zu beschreiben, denn in der Erklärung bezüglich ihrer Bewegung muss eine notwendige Beziehung auf ein zweites, äußeres Element enthalten sein, andererseits sie aber innerhalb des Gesamtsystems als individuell abgegrenzte Einheiten zu behaupten.
So kam nun aber keinem Punkte im Universum mehr eine besondere Stellung zu, die alte Zweckbetrachtung der aristotelischen Naturphilosophie, gemäß der ein Ding wegen seiner „Zwecknatur“ zu gottähnlicher Vollkommenheit streben würde, ersetzte Kepler durch eine notwendige Relation der jeweiligen Anziehungskräfte. Er selbst sprach aus, dass er an die Stelle der himmlischen Theologie und Metaphysik des Aristoteles eine neue Physik setze, die eine „Arithmetik der Kräfte“ in sich trage („ Mysterium Cosmographicum “, 1596).39
Er führte aus, dass die Sonne eine Kraft ausübe, die sich mit umgekehrter Entfernung verringere und die Planeten in ihren Umlaufbahnen halte. Zunächst nahm er dabei noch Kreisbahnen an, mit Hilfe der umfangreichen Aufzeichnungen der Planetenbeobachtungen seines dänischen Vorgängers am Hofe Rudolfs. II in Prag, Tycho Brahe („ Tabulae Rudolfinae “), entwickelte er dann aber die Idee von den elliptischen Planetenbahnen und damit seine drei geometrischen Gesetze der Planetenbewegungen („ Harmonices Mundi “, 1619).40
Isaac Newton (1643 - 1727) leitete schließlich aus der galileischen Mechanik seine drei dynamischen „Grundgesetze der Bewegung” mathematisch ab. Diese wandte er auf die Keplerschen Theorien und Beobachtungen der Bahnbewegungen der Planeten an und bewies so das bereits von Kepler vorformulierte Gesetz der universellen Gravitation („ Philosophiae Naturalis Principia Mathematica “, 1687; Körper ziehen sich proportional zu ihrer Masse gegenseitig mit einer Kraft an, die sich umgekehrt zum Quadrat ihres Abstandes verändert).
So erhielt der Begriff der materiellen Wirklichkeit seine neuzeitliche Gestalt.
[...]
1 Brunner 1982, Band 3, S. 799
2 vgl. Hirschberger 1987, S. 55
3 vgl. Ruggiero 1964, S. 336ff
4 Cassirer 1911, Band 1, S. 7f
5 Cassirer 1911, Band 1, Vorrede S. VIII
6 vgl. Schmidt 1982, S. 291
7 vgl. Kinder/ Hilgemann 1966, Band I, S. 212
8 vgl. Friedell 1927- 1931, S. 201- 214
9 vgl. Hirschberger 1987, S. 105ff
10 vgl. Cassirer 1911, Band 1, S. 271 u. S. 345f
11 vgl. Cassirer, 1911, Band 1, S. 374
12 vgl. Wucherer- Huldenfeld, 1988, S. 47- 68
13 zit. nach Hirschberger 1987, S. 47
14 vgl. Hirschberger 1987, S. 35 - 51
15 Cassirer, 1911, Band 1, S. 326
16 zit. nach Röd 1998, S. 131
17 vgl. Zusammenfassung des Dialogs „Theait tos“ in Erler 2007, S. 97-100
18 vgl. Kunzmann,P./ Burkhard, F.- P./Wiedmann, F., 1991, S. 41
19 Platon 2003, 47a
20 vgl. Röd 1998, S. 179 - 185
21 vgl. Störig 1990, S. 160f
22 vgl. Röd 1998, S. 179 - 185 bzw. S. 140 - 142
23 Platon 2003, 52b
24 vgl. Gadamer, H.G., 1974 S. 1- 36
25 Gotz 2007, 18. Dezember
26 vgl. ebd.
27 ebd.
28 vgl. Cassirer 1911, S. 386 - 388 bzw. 394 - 402
29 Cassirer 1911, Band 1, S. 381
30 Dialogo die massimi sistemi; Giornata seconda, Op.I, 224ff., zit. nach Cassirer 1911, Band 1, S. 385
31 vgl. Gadamer 1988, Band 2, S. 14
32 vgl. Cassirer, 1911, Band 1, S. 328 - 377 bzw. S. 383ff
33 Aristoteles, De anima III, 431b; zit. nach Pöltner 1988, S. 113
34 Heidegger, Sein und Zeit, § 44a; zit. nach Pöltner 1988, S. 122
35 vgl. Hirschberger 1987, S. 35- 51 u. S. 86ff
36 Cassirer 1991, Band 1, S. 2
37 vgl. Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2003
38 Kepler, Apologia adversus Rob. de Fluctibus, 1622, zit. nach Cassirer 1911, Band 1, S. 349
39 vgl. Cassirer 1911, Band 1, S. 352- 367
40 vgl. Cassirer, 1911, Band 1, S. 328 - 377
- Citar trabajo
- Udo Martin (Autor), 2011, Neuzeitliche Naturwissenschaft - Empirismus - (Neo)Liberalismus, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187654
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