Der Sport hat heute eine große Bedeutung für die Gesellschaft und ist fester Bestandteil unseres Alltags. Sport ist dabei "weder etwas Natürliches noch etwas Unveränderliches" (Digel & Thiel, 2009, S. 19), er unterliegt einem stetigen Wandel und kann demnach auch nicht unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet werden. Somit werden auch die Akteure des organisierten Sports wie Vereine und Verbände immer öfter mit dem gesellschaftlichen und sozialen Wandel konfrontiert. Der demographische Wandel und seine Konsequenzen führen zu veränderter Sportnachfrage, zukünftig werden immer weniger Kinder- und Jugendliche Sport treiben und dafür mehr Ältere sportlich aktiv sein. Weiter zu beobachten ist eine Differenzierung des Sportsystems, welches sich in vielfältige Organisationsformen mit unterschiedlichen Funktionen und Zielen aufgesplittert hat. Pluralisierungstendenzen führen zum Verlust eines eindeutigen Sportverständnisses, neben den organisierten Wettkampfsport treten zahheiche Sportformen und -arten mit unterschiedliehen Wert- und Handlungsmustern. Der gesamtgesellschaftliche Prozess der Individualisierung führt zu einer immer häufiger werdenden Selbstorganisation im Sport, d. h. Sporttreiben außerhalb von Organisationen ist immer populärer. Zunehmend treten neben dem wettkampforientierten Sport neue Motive und Sinnmuster für das Sporttreiben, wie Körper- und Gesundheitsbewusstsein, Erlebnis, Selbstverwirklichung oder Spaß in den Vordergrund.
Dies drückt sich besonders auch in der wachsenden Anzahl von kommerziellen Anbietern aus, die gesundheits- und ttendsportorientierte Angebote unterbreiten.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Fragestellung und Aufbau der Arbeit
1.2 Methoden
2 Sport und Gesellschaft - Theoretischer Hintergrund
2.1 Gesellschaftliche Bedeutung und Strukturmerkmale des Sports
2.1.1 Sinn und Strukturmerkmale des Sports
2.1.2 Soziale und kulturelle Bedeutung des Sports
2.2 Sportentwicklung als neueres Forschungsfeld
2.2.1 Forschungsstand
2.2.2 Begriffliche Annäherungen
2.2.3 Ansätze der Sportentwicklungsplanung
3.1 Der organisierte Sport in Deutschland
3.1.1 Historische Entwicklung
3.1.2 Sportvereine — Strukturmerkmale, Funktion, Bedeutung
3.1.3 Sportverbände — System, Organisationsstruktur, Aufgaben
3.2 SozialerWandel des Sports
3.2.1 Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung im Sport
3.2.2 Alternative Sportformen, Trendsport und Freizeitsport
3.2.3 Gesundheit als Sinnmusterim Sport
3.2.4 Soziale Disparitäten im Sportverhalten
3.2.5 Integration im und durch Sport
3.2.6 Geschlechterdisparitäten
3.3 Demographischer Wandel
3.4 Kommerzialisierung und Professionalisierung im Sport
3.5 „Trends“ — markante Entwicklungen zur Leitbildbewertung
4.1 Handball heute
4.2 Historische Entwicklungen
4.3 Zur Struktur und Funktion der Sportart Handball
4.3.1 Handball — ein organisierter Wettkampf- und Leistungssport
4.3.2 Nutzergruppen- und Interessentenstruktur
4.3.3 Bewegungsformen, sportliche Handlungen und Training
4.3.4 Akteursbeziehungen — Handball ein Mannschaftssport
4.3.5 Räumliche und zeitliche Struktur
4.3.6 Regeln und Normierung
4.3.7 Struktur des Habitus und des Selbstbildes von Handballern
4.4 Handball als Event- und Trendsport — neuere Entwicklungen
4.4.1 Professionalisierung, Management, Vermarktung, Event
4.4.2 Handball als Trendsport: Beachhandball
5 „Wir nehmen die Zukunft in die Hand“ - Das Leitbild des Deutschen Handballbundes (2008)
5.1 Leitbildentwicklung als Instrument der Sportentwicklung
5.2 Analyse des DHB-Leitbildes
5.2.1 Entstehung des Leitbildes
5.2.2 Aufbau des Leitbildes
5.2.3 Selbstverständnis und Ziele
5.2.4 Relevante Trends der Sportentwicklung im Leitbild
5.3 Handball — ein zukunftsfähiger Sport?
5.3.1 Ergebnisse derLeitbildanalyse
5.3.2 Schlussfolgerungen für die Zukunft: ein „Handballsport für viele“
6 Zukunftsfähigkeit des organisierten Sports - welchen Beitrag kann
Sportwissenschaft leisten?
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
Der Sport hat heute eine große Bedeutung für die Gesellschaft und ist fester Bestandteil unseres Alltags. Sport ist dabei „weder etwas Natürliches noch etwas Unveränderliches“ (Digel & Thiel, 2009, S. 19), er unterliegt einem stetigen Wandel und kann demnach auch nicht unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet werden. Somit werden auch die Akteure des organisierten Sports wie Vereine und Verbände immer öfter mit dem gesellschaftlichen und sozialen Wandel konfrontiert. Der demographische Wandel und seine Konsequenzen führen zu veränderter Sportnachfrage, zukünftig werden immer weniger Kinder- und Jugendliche Sport treiben und dafür mehr Ältere sportlich aktiv sein. Weiter zu beobachten ist eine Differenzierung des Sportsystems, welches sich in vielfältige Organi - sationsformen mit unterschiedlichen Funktionen und Zielen aufgesplittert hat. Pluralisie- rungstendenzen führen zum Verlust eines eindeutigen Sportverständnisses, neben den organisierten Wettkampfsport treten zahlreiche Sportformen und -arten mit unterschiedlichen Wert- und Handlungsmustern. Der gesamtgesellschaftliche Prozess der Individualisierung führt zu einer immer häufiger werdenden Selbstorganisation im Sport, d. h. Sporttreiben außerhalb von Organisationen ist immer populärer. Zunehmend treten neben dem wettkampforientierten Sport neue Motive und Sinnmuster für das Sporttreiben, wie Körper- und Gesundheitsbewusstsein, Erlebnis, Selbstverwirklichung oder Spaß in den Vordergrund. Dies drückt sich besonders auch in der wachsenden Anzahl von kommerziellen Anbietern aus, die gesundheits- und trendsportorientierte Angebote unterbreiten.
Der organisierte Sport mit seinen Vereinen und Verbänden hat somit sein Anbieter- und Definitionsmonopol für den Sport verloren. Institutionalisierte Formen wie Wettkampf und Leistung machen den besonderen Reiz des Sportreibens nicht mehr ausschließlich aus. So stehen Vereine und Verbände in Konkurrenz zu anderen Sportanbietern, aber auch zu anderen Sportarten des organisierten Sports.
Hieraus ergeben sich eine Reihe von Problemen und Herausforderungen, denen sich der organisierte Sport gegenüber sieht. So haben einige Vereine und Verbände mit einem starken Mitgliederrückgang oder mit der Abnahme des ehrenamtlichen Engagements zu kämpfen. Anscheinend entsprechen andere Sportanbieter, z. B. als Dienstleister, den veränderten Bedürfnissen in der Gesellschaft oft besser. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass Vereine und Verbände ihre Sportangebote besser an die gesellschaftlichen Bedürfnisse anpassen, somit die Strukturen ihrer Organisation und auch ihrer Sportart für die Zukunft überdenken müssen.
In der Sportentwicklung und Sportentwicklungsplanung werden häufig Themen rund um die regionale oder kommunale Sportentwicklung behandelt. Hier geht es um Konzepte, wie man in der Zukunft auf strukturelle Veränderungen der Sportnachfrage und -bedarfe auf politischer (auch Vereins- und verbandspolitischer) Ebene reagieren könnte. Die einzelnen Sportarten und ihre spezifischen Gegebenheiten werden dabei oft vernachlässigt. Die sportartspezifische Sportentwicklung wird den Verbänden und Vereinen überlassen. Hier soll die vorliegende Arbeit ansetzen.
Mit der Erstellung von Leitbildern versuchen der DOSB und seine Verbände, die oben be - schriebenen Entwicklungen und Herausforderungen aufzugreifen und ihnen gerecht zu werden: „Will man die Sportentwicklung der nächstenjahre ... nicht sich selbst überlassen, so muss man ihr bestimmte Orientierungen vorgeben. Dazu muss man sowohl die Frage beantworten, wo man jetzt steht, als auch, wohin man will, aber auch woher man kommt“ (Ommo Gruppe zitiert nach Kuhlmann, 2009, S. 56).
1.1 Fragestellung und Aufbau der Arbeit
In dieser Arbeit wird gefragt, inwiefern vor dem Hintergrund des sozialen Wandels gesellschaftliche Transformationsprozesse die Entwicklung des Sports und im Besonderen den organisierten Sport beeinflussen. Dazu sind folgende Teilfragen zu beantworten: Welche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse beeinflussen die Sportentwicklung des organisierten Sports? Welche Ansätze zur Sportentwicklung gibt es und wie wurden diese bisher angewandt? Vor welchen Herausforderungen, aber auch Chancen in der Zukunft steht der organisierte Sport? Welche besonderen Merkmale beinhalten neue, alternative Sportformen, auch im Vergleich zum traditionellen Sport, und wie können daraus zukunftsfähige Implikationen und Handlungsalternativen für die Entwicklung des organisierten Sports gewonnen werden? Um diese Fragen zu beantworten, reicht allgemeines Wissen über den organisierten Sport nicht aus, vielmehr ist sportartspezifisches Wissen erforderlich.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Sportart Handball, die als traditioneller Wettkampfsport besonders den gesellschaftlichen Transformationsprozessen ausgesetzt ist. Daher wird im Hinblick auf den Handballsport gefragt, welche Besonderheiten ein traditioneller Wettkampfsport aufweist. Anhand der sozialen Strukturen im Handballsport soll untersucht werden, inwiefern in dieser Sportart ein traditionelles Sportverständnis dominiert. Dabei spielen auch geschichtlich geprägte Entwicklungen im modernen Handballspiel eine Rolle.
Hier sind folgende Teilfragen zu beantworten: Welche Auswirkungen hat der Verein als zentrale Institution für das Betreiben des Handballsports bzw. warum bevorzugen zunehmend Sportbegeisterte eher andere, z. B. informelle oder individualistische Sportaktivitäten (Nutzer- und Interessentenstruktur, Habitusstruktur)? Gibt es einen handballspezifischen Habitus? Sind die Organisationen des Handballsports (Verbände und Vereine) auf die Zukunft vorbereitet? Anhand einer Analyse des Leitbildes des Deutschen Handballbundes (DHB) soll gefragt werden, wie ein Verband wie der DHB die Situation seiner Sportart einschätzt, die Entwicklung des Handballsports vorantreibt und beeinflussen möchte. Dies soll mit aktuellen Entwicklungen im Sport insgesamt verglichen und bewertet werden. Ab - schließend wird versucht, aus der Analy]se konstruktive Vorschläge für eine zeitgemäße Entwicklung des Handballsports zu erbringen und damit einen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit dieser beliebten (und zukunftsfähigen) Sportart zu leisten.
Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Im Kapitel 2 werden zunächst die gesellschaftliche Bedeutung und die Strukturmerkmale des Sports dargestellt sowie der Forschungsstand zur Sportentwicklung betrachtet. Anschließend werden im Kapitel 3 der gesellschaftliche Wandel und die Tendenzen der Sportentwicklung näher betrachtet. Dabei werden insbesondere die Entwicklung und die Strukturen des organisierten Sports sowie die Auswirkungen des sozialen Wandels in der Gesellschaft auf den Sport behandelt. Im Kapitel 4 erfolgt eine Analyse der spezifischen Strukturen des Handballsports, begleitet durch den Vergleich mit neueren informellen Sportformen. In Kapitel 5 wird das Leitbild des DHB von 2008 genauer untersucht und gefragt, inwiefern dieses als Strategiepapier für die Zukunft — sowohl auf der Ebene der Ziele und Maßnahmen als auch in seinem Erarbeitungsprozess — den gesellschaftlichen Bedingungen allgemein und den spezifischen Bedingungen der Sportart Handball gerecht wird. Im Kapitel 6 werden daraus Schlussfolgerungen für die Zukunftsfähigkeit des organisierten Sports abgeleitet, und es werden Überlegungen angestellt, welchen Beitrag die Sportwissenschaft dazu leisten kann.
1.2 Methoden
Die Arbeit basiert überwiegend auf einem umfassenden Literaturstudium. Bei der Darstellung des gesellschaftlichen und demographischen Wandels sowie der aktuellen Tendenzen der Sportentwicklung wurden die neuere Forschungsliteratur sowie sportwissenschaftliche Quellen (v. a. Sportentwicklungsberichte) genutzt. Ebenso wurden vorliegende Statistiken und empirische Untersuchungen ausgewertet. Bei der sportartspezifischen Untersuchung zum Handball lagen allerdings kaum Untersuchungen vor. Die Einschätzung von Helmut Digel von 1993, der Handballsport habe „versäumt, sich der Erforschung seiner Sportart zu versichern“ (Digel, 1993, S. 22), scheint bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Mielke, 2010) auch heute noch zuzutreffen. Daher wurden auch allgemeine Untersuchungen zu Mannschafts- und Spielsportarten einbezogen. Außerdem waren eigene Beobachtungen aus der langjährigen Mitgliedschaft in einem Handballverein als aktiver Handballer nützlich.1
Bei der Analyse des DHB-Leitbildes wurde die Dokumentenanalyse (Wolff, 2007) genutzt. Schriftliche Dokumente sind danach „institutionalisierte Spuren, das heißt, dass aus ihnen legitimerweise Schlussfolgerungen über Aktivitäten, Absichten und Erwägungen ihrer Verfasser bzw der von ihnen repräsentierten Organisationen gezogen werden können“ (ebd., S. 503). Das Vorgehen ist dabei an einer Studie von Fahrner über den Deutschen TurnerBund (DTB) orientiert, der auch die Entstehung des DTB-Leitbilds untersucht hat und Dokumente von Verbandsentscheidungen, somit auch Leitbilder, als „standardisierte Formen des Verbandsgedächtnisses“ (Fahrner, 2008, S. 107) charakterisiert. Gegenüber Wolff (2007, S. 511), nach dem solche Dokumente Konstruktionen sind und „Sinnlücken“ und „interpretative Rätsel“ enthalten, meint Fahrner: „Eine Konstruktion von Dokumenten erfolgt allerdings immer auf Basis verbandseigener Kriterien, sodass Dokumente gerade deshalb authentische Zeugnisse verbandsspezifischer Realität darstellen“ (Fahrner, 2008, S. 107)
2 Sport und Gesellschaft — Theoretischer Hintergrund
Sportentwicklung betrachtet nicht nur System, Struktur, Figurationen oder ökonomische Rahmenbedingungen, sondern erfasst zudem Veränderungsprozesse und Wandel des Sports (z. B. Sportverhalten, Sportmotive) in historischer, sozialer und kultureller Hinsicht.
2.1 Gesellschaftliche Bedeutung und Strukturmerkmale des Sports
Die Gegenwartsgesellschaft ist durch eine weit reichende und vielfältige Bedeutung des Sports geprägt. Gleichzeitig hat der moderne Sport eine einmalige Erfolgsgeschichte hinter sich (vgl. Weis & Gugutzer, 2008) und in der heutigen Gesellschaft einen Stellenwert wie nie zuvor.
2.1.1 Sinn und Strukturmerkmale des Sports
Wenn nach der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports gefragt wird, sollte man sich gleichzeitig für zwei Aspekte interessieren. Zum einen sollte man nach dem Sinn von etwas fragen (z. B. einer sportiven Handlung für den Einzelnen) und zum anderen sollte nach der Wichtigkeit des Gegenstandes gefragt werden (z. B. des Sports in der modernen Gegenwartsgesellschaft). Für die Sportsoziologie grundlegende Beiträge der Sportphilosophie aus den 1970er und 1980er Jahren beziehen sich diesbezüglich auf folgenden Ausgangspunkt für die Besonderheit des Sports, „wonach sportliche Handlungen gleichzeitig sinn-haft und sinn-los sind“ (Franke, 2008, S. 19). Dieses paradoxe Phänomen findet nach Franke im Beispiel eines 400-Meter-Laufes seine klassische Bildhaftigkeit: Dementsprechend ergibt sich nur für denjenigen Akteur einen Sinn, den Lauf zu vollführen, der „aus einer spielerisch-lustvollen Einstellung, im Wissen um die Paradoxie, freiwillig, unter Beachtung von Fairness-Vorgaben“ handelt (ebd.). Andernfalls könnte der Läufer auch einfach stehen bleiben, da er dort ankommt, wo er losgelaufen ist.
So versuchte man die Sinn-Frage sportlichen Handelns in der Tradition der „Leibesübungen“ in erster Linie durch dichotome Abgrenzungen zu beantworten: Spiel — Arbeit, Lust — Leistung, Spaß — Ernst, freiwillig — fremdbestimmt, fair — unfair usw. (vgl. ebd.). Dies beinhaltet allerdings nur die (Be-) Deutung für die individuelle psychologische Ebene, sprich die Einstellungsfrage der Akteure zum Sport und beantwortet weniger die strukturell-analytische Seite des Sinn-Paradoxons des Sports. Die Antwort nach einer weniger akteurszentrierten und mehr die Spezifika der Bedingungen sportlichen Handelns (Raum, Zeit, Hand- lungsregeln) in den Mittelpunkt rückenden Betrachtung gibt Franke, indem er von einem „ästhetisch-semiotisch konstruierten Bedeutungssystem“ (ebd., S. 22) des (Wettkampf-)Sports spricht, in dem markante Sinndimensionen sportlichen Handelns aus unterschiedlichen Sozialbezügen extrahiert werden und anhand dessen sich fünf wesentliche sozialphilosophische Grundlagen der Sportsoziologie bilden lassen:
Erstens schreibt Franke dem (Wettkampf-)Sport mit seinen besonderen Raum-, Zeit- und Handlungsregeln eine Sonderweltlichkeit zu, welche zu einem Sympathieträger geworden ist. Hierzu vergleicht er die (Sonder-)Welt des (Wettkampf-)Sports mit der aus seiner Sicht ähnlichen Sonderwelt des Theaters und macht dies an zwei Merkmalen fest. Zum einen erfüllt „der Wettkampfsport ... die wesentlichen Bedingungen eines Dramas“, erhält jedoch seine Dramatik nicht über spezifische Inhalte (z. B. Sozialkritik eines Theaterstücks), vielmehr erklärt sich die Dramaturgie über „die Form der durch die Regeln geschaffenen Bedingungen“ (ebd., S. 20). Zum anderen stellt Franke einen eindeutigen Unterschied fest, indem er die Echtheit sportlichen Handelns der Fiktion von Wirklichkeit einer Theateraufführung gegenüberstellt. Durch „die Inhaltsfreiheit bei gleichzeitiger Realitätsgarantie“ (ebd.) ist es den passiven Zuschauern möglich, individuelle Wünsche und Hoffnungen in das formal-dramatische Wettkampfgeschehen einzubringen und somit, wenn auch passiv, zum Teilnehmer zu werden (vgl. ebd., S. 21).
Das zweite grundlegende Strukturmerkmal für den (Wettkampf-)Sport stellt das Sieg-Nieder- lage-Pringip dar. Es erzeugt, so Franke, „eine anschauliche Ordnung“, was sich in einer „klaren Geometrie des Wettbewerbs für eine überschaubare Anzahl von Aktiven“ ausdrückt und eine „relativ eindeutige Wertbestimmung im Wettkampf“ (ebd.) zulässt. Demnach können sich die sportlich Aktiven wie die Zuschauer in archetypischer Weise (Anstrengen — Versagen, Freude — Trauer, Hoffen — Scheitern) mit dem sportlichen Handlungsvollzug identifizieren (vgl. ebd.). So bietet der Sport(-wettkampf) eine Möglichkeit, in der die Akteure ihre individuellen „Lebensdramen ... in das aktuelle Wettkampfgeschehen“ (ebd.) einbringen. In Beziehung zur komplexen Gegenwartsgesellschaft bietet der Sport als „verdichtetes Modell realer Handlungen des eigenen Lebens“ eine „Reduktion von Komplexität“, in dem z. B. aus Zuschauerperspektive die Aktiven stellvertretend erfolgreich für mich handeln oder bei einer Niederlage anders handeln, als ich es getan hätte (vgl. ebd.).
Als drittes, konstitutives Merkmal des (Wettkampf-)Sports nennt Franke die Eeistungs-Er- polgs-Dialektik. Im Gegensatz zur Alltagswelt bietet sich für den Aktiven keine Möglichkeit des „Stellvertreterhandelns“. Vielmehr muss der Sportler seinen Lohn (in diesem Fall den Sieg) für eine „authentische Leistung“ (ebd.) selbst erkämpfen. So ist nach Frankes idealtypischer Vorstellung die Leistung im Wettkampf echt., real (in Abgrenzung bspw. zum Theater) und natürlich (vgl. ebd., S. 22). In Lebenswelten abseits des Sports (z. B. in der Arbeitswelt) ist es dagegen komplizierter, zwischen populärem Erfolg und selbst erbrachter Leistung zu unterscheiden.
Mit der Natürlichkeit von sportlichen Leistungen zeigt Franke das vierte Strukturmerkmal auf. In Abgrenzung zur inszenierten Show basiert der (Wettkampf-)Sport auf dem „Natürlichkeitsversprechen“ als konstitutives Merkmal und als Garant für die „Glaubwürdigkeit des agonalen Wettkampfes“ bei gleichzeitiger „Realitätsgarantie“ (ebd.). Weiterhin ermöglicht das idealtypische Natürlichkeitsversprechen des Sports „die Umsetzung der moralischen Vorstellung von Chancengleichheit ... bei gleichzeitiger individueller Ungleichheit“ der Mitwirkenden. So ist eine „sinnstiftende Identifizierung mit dem Athleten“ nur möglich, wenn „allgemein davon ausgegangen werden kann, ... dass ... die natürlichen Veranlagungen das Handeln bestimmen“ (ebd.). Nach Franke ist die Dopingproblematik nicht nur eine Frage der Gesundheit oder Chancengleichheit, vielmehr wird mit der Einnahme unerlaubter leistungssteigernder Mittel „eine zentrale Strukturbedingung des Systems Wettkampfsport“ (ebd.) zur Diskussion gestellt.2
Schließlich konstruieren sich aus der Sonderwelt des Sports auch ethische Herausforderungen. Die eigene ethische Struktur des Sports ist, so Franke, nur oberflächlich mit dem „Fairplay“ gleichzusetzen (ebd., S. 22). Detaillierter ist die ethische Struktur des (Wettkampf-)Sports gekennzeichnet durch das „Paradoxon aus Gleichheitsgebot und Uberbietungsgebot“. So werden im Sport zum einen durch Regeln das „Postulat der Chancengleichheit“, zum anderen das „Siegpostulat“ aufrechterhalten. So ergeben sich durch Grenz-, Risikoüberschreitungen respektive opportunistisches Verhalten der Akteure (Sportler, Trainer) im und um den Sport herum (Medien und Wirtschaft) „moralische Dilemmata“ (ebd., S. 23).3
2.1.2 Soziale und kulturelle Bedeutung des Sports
Im Hinblick auf die soziale und kulturelle Bedeutung des modernen Sports wurden in der Vergangenheit zwei zentrale Legitimationsmuster und Sinnstiftungsmotive betont: Spaß an Bewegung und Gesundheit. Ersteres hat eine Spielkultur als Form von „Soziabilität“ (Gruppe, Emotionen) hervorgebracht. Als populäres Spiel von bürgerlichen Eliten entstanden, wurde „Sport“ durch Verregelung und Systematisierung („Transformation“) eine Form sozialen Lernens. Eng verbunden mit dem Sport ist zweitens Gesundheit als zivilisationsgeschichtliches Konzept (Kaschuba 1997, S. 237). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Sport zur „Massenkultur“ (Klein 2008a, S. 17) und als Wettkampf- und Zuschauersport zu einem „kulturellen Ereignis“ (ebd., S. 18).
Sport wird ebenfalls als eine Gegenwelt zur Arbeitsgesellschaft verstanden und als „wichtiges Instrument zur Re-Produktion der Arbeitskraft“ erkannt (ebd.). Nach Plessner (1997, S. 57) verbindet der Sport „das Element der Nichtarbeit mit dem Prinzip der Leistung“ und ist ein Ausgleich zur Arbeitswelt („Spielen mit Bällen, Spielen mit Karten, mit Schachfiguren, Spielen mit dem Gleichgewicht, Laufen, Schwimmen, Klettern, Springen usw.“). Plessner betont ebenfalls die soziale Funktion des Sports: „Sport bewahrt ... immer Kontakt“, sonst „hätte er es nie zu der Stellung in der modernen Arbeitsgesellschaft ... bringen können, zu der einzigartigen Popularität“ (ebd., S. 58). Mit dem „Fair play“ und „good loser“ als „Kriterium echter Sportivität“ hat der Sport wiederum dazu beigetragen, die Arbeitswelt zu verändern (ebd., S. 63).
Betrachtet man den Sport, seine Bedeutung und Entwicklung in den letztenjahren, so zeigt sich eine zunehmende Bedeutungsvielfalt für den Einzelnen und die Gesellschaft. Der Sport vereint zahlreiche Botschaften (Fairplay, Chancengleichheit etc.) und Versprechen (Gesundheitsversprechen, Selbstverwirklichung etc.). So zeigt sich auf individueller Ebene der gestiegene Stellenwert des Sports, da dieser als bevorzugtes Handlungsfeld für individuelle Körperformung oder Gesundheitsfürsorge, aber auch für die Selbstdarstellung und die Selbstverwirklichung genutzt wird (Weis & Gugutzer, 2008, S. 8). Belegen lassen sich diese Entwicklungen bspw. anhand überfüllter Fitnessstudios, zahlreichen Joggern im Park und der Popularität so genannter Trendsportarten.
Aus sozialer Perspektive finden sich im Sport neue Formen der Vergemeinschaftung (ebd.). Dies zeigt sich, wenn man an die Gruppe jugendlicher Skater (jugendkulturelle Szenen) auf dem nahe gelegenen Skatepark oder die sich selbst organisierenden Hobbykicker, die sich jeden Samstag im Park treffen, denkt. Weis & Gugutzer heben in diesem Zusammenhang die gestiegene kulturelle Bedeutung des Sports hervor: Eine „Versportung der Alltagskul- tur“ zeigt sich vermehrt darin, dass Symbole, Zeichen und Attribute des Sports in „nichtsportliche Alltagskulturen“ eindringen (ebd., S. 8), was vor allem in den Bereichen Mode und Werbung sichtbar wird.
Zudem ist der Sport „ein wichtiges, kulturübergreifendes Kommunikationsmedium“, welches sich zur Kontaktaufnahme und Verständigung zwischen Kulturen eignet (ebd.). Demzufolge hat der Sport auch eine politische Dimension. Er kann als Katalysator bei politischen Konflikten fungieren, aber auch als Mittel der Propaganda genutzt werden. Dies wird besonders deutlich, wenn sich Politiker oft und gern mit erfolgreichen Spitzenathleten zeigen, um von deren Prestige — z.B. für ihren Wahlkampf — zu profitieren. Die dazugehörenden Bilder und Geschichten liefern und verbreiten die ihrerseits profitierenden Medien. Aus medialer Perspektive ist zu beobachten, dass die Bedeutung der Medien für den Spitzensport, der auch als „konstitutiver Zuschauersport“ (Schimank, 2008, S. 70), „professioneller Showsport“ (Heinemann, 2007, S. 58) oder Mediensport (Mikos, 2008, S. 331; Digel, 2007) bezeichnet wird, enorm gestiegen ist.
Der Spitzensport wäre „ohne eine regelmäßige Berichterstattung ... kaum mehr überlebensfähig“ (Weis & Gugutzer, 2008, S. 8). So haben Fernsehübertragungen von Sportwettkämpfen, allen voran Olympische Spiele4 und Fußball-Weltmeisterschaften, extrem zugenommen, und auch die Fernsehgelder haben enorme Summen erreicht.
Somit wird der Sport „Teil von Unterhaltungsprogrammen“ im Rahmen von Großveranstaltungen und ist häufig als Teil der Medienwelt „in ein kaum übersehbares Netzwerk kommerzieller Interessen“ eingebunden (Heinemann, 2007, S. 58), was als Prozess der fortschreitenden Professionalisierung und Kommerzialisierung des modernen Sports gekennzeichnetwird. Diese Entwicklungen werden auf der einen Seite direkt von z. B. Profisportlern, hauptberuflichen Trainern und Verbänden geprägt. Andererseits werden sie indirekt beeinflusst, z. B. von den Zuschauern an den Fernsehgeräten oder im Stadion, von zahlreichen kommerziellen Anbietern der Unterhaltungsindustrie (Sportrechteagenturen, Eventagenturen, Inhaber von Arenen/Stadien) sowie von Fernsehen und Printmedien. Nicht zuletzt transportieren die großen Sportartikelkonzerne mit Hilfe der Werbewirtschaft ihre kommerziellen Botschaften über Sportler und deren Image, Sportevents und deren emotionale Erlebnisse nicht nur auf nationalen Märkten, sondern vermarkten ihre Produkte global im Medium Fernsehen, was mit einer zunehmenden Globalisierung des Sports (Stamm & Lamprecht, 2008, S. 100) einhergeht. So ist der Sport aus ökonomischer Sicht mittlerweile einer der umsatzstärksten Industriezweige und versorgt mit der Produktion, der Vermarktung und dem Verkauf von Sportartikeln und -gütern eine große Zahl an Freizeit- und Breitensportlern mit Sportmode und innovativen Sportgeräten. Allerdings werden nicht nur im Sportartikelbereich Milliarden umgesetzt. So erfreuen sich im Zuge des wachsenden Stellenwertes von Gesundheit (Burrmann, 2008, S. 371) und des Körpers (Klein, 2008b, S. 257) kommerzielle Anbieter wie Gesundheitseinrichtungen, Fitnessstudios oder Sportdienstleister aus dem Bereich des Sporttourismus zunehmender Beliebtheit und verzeichnen wachsende Umsätze. Sport ist Teil einer Freizeitindustrie und eines Freizeitmarkts geworden.
Schließlich erhält der Sport durch alte und neue Bewegungspraktiken, die in freier Natur ausgeübt werden (z. B. Wassersportarten, Skilaufen, Bergsteigen) und teilweise Züge eines Massentourismus erleben, eine zunehmende (oft in diesem Fall auch negative) ökologische Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist zum einen auf die durch den Sporttourismus verursachten Umweltschäden hinzuweisen, aber auch auf das Problem, Sporträume und -stätten ökologisch, ressourcenschonend und nachhaltig zu planen, zu bauen und zu nutzen (Verch, 2008; zum Sportklettern Herter, 2000).
2.2 Sportentwicklung als neueres Forschungsfeld
Sportentwicklung stellt ein neueres und komplexes Forschungsfeld der Sportwissenschaften dar, sie ist „praktisches Handlungsfeld“ und wird zunehmend „wissenschaftliches Forschungsfeld“ (Balz & Kuhlmann, 2009, S. 10). Im Fokus der sportwissenschaftlichen Auseinandersetzung stehen die Strukturen des Sports bzw. seine Charakteristika (Leistungscode, Organisationsformen) und die Frage, wie diese sich in ihrem Wandel bestimmen und beeinflussen lassen (Balz 2003, S. 8). Dabei hat die Sportwissenschaft die Aufgabe, die Voraussetzungen, Verläufe und Ergebnisse von Sportentwicklung in wissenschaftlicher Diskussion zu bearbeiten. Weiterhin sollen Merkmale und Muster kenntlich gemacht werden, um Veränderungen im und durch Sport besser zu verstehen. In Bezug auf Sportentwicklung erfolgt eine Annäherung über anwendungs- und disziplinspezifische Bezüge. In Anlehnung an Balz (2003, S. 8) wird in Tabelle 1 überblicksartig das Thema Sportentwicklung strukturiert.
Tab.1 Sportentwicklung nach (Balz 2003)
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Balz & Kuhlmann (2009, S. 9) resümieren mit Blick auf die fehlende Verortung des Phänomens Sportentwicklung respektive der Sportentwicklung als Arbeitsbereich der Sportwissenschaft, dass diese selbst noch in der Entwicklung ist und sich erst noch grundlegenden Aufgaben stellen muss.5
2.2.1 Forschungsstand
Nach Balz & Kuhlmann (2009, S. 9) ist die Sportentwicklung ein „weites Feld“, d. h. ein vielschichtiger Forschungsgegenstand der Sportwissenschaft. Sportentwicklung umfasst verschiedene Anwendungsfelder wie Schul- oder Leistungssport, Breiten- und Freizeitsport und vollzieht sich lokal und global unterschiedlich. Sie wird von (verbandlichen, politischen, medialen, kommerziellen u. a.) Interessen beeinflusst, von Akteuren gesteuert, von Aktiven ausgeübt und mitgestaltet. Versucht man die einschlägige Literatur über Sportentwicklung zu ordnen, so zeigt sich eine Vielfalt an sportwissenschaftlicher Literatur, aber auch sportwissenschaftlich gestützter Projekte und Programme (vgl. Balz, 2003, S. 7). Dementsprechend weit gefächert zeigen sich die Themen und die Facetten von Sportentwicklung, wie ein Schwerpunktheft der dvs-Informationen von 2003 zeigt (Balz, 2003; Hübner, 2003; Stache & Verch, 2003; Thiel, 2003; Wopp, 2003).
Hübner und Wulf befassen sich in verschiedenen Beiträgen mit Konzepten, Verfahren und Problemen in der Sport-(stätten)entwicklung, so z. B. mit der Frage, wie in Städten und Gemeinden, die über das Gros der (Kern-)Sportstätten in Deutschland verfügen, die Sportstätteninfrastruktur geplant und entwickelt wird (Hübner, 2003), oder erörtern Strategien und Erfahrungen mit kommunaler Sportstättenentwicklungsplanung in Deutschland (Hübner & Wulf, 2008).
Wopp zeigt Perspektiven der Sportentwicklung auf und diskutiert in diesem Zusammenhang die Anwendung von verschiedenen Prognose- und Planungsverfahren für die Sportentwicklung (Wopp, 2003). Fragen der Sportentwicklungsplanung, vor allem neuerer integrierter Planungsmethoden, greifen Rütten & Ziemainz (2008) auf. Städte, Kommunen und Gemeinden legen zunehmend, nicht zuletzt mit Unterstützung der Sportwissenschaften, ihr Hauptaugenmerk auf Programme und Konzepte, aus denen hervorgeht, wie in der Zukunft durch adäquate Sportstätten- und Sportentwicklungsplanung auf strukturelle Veränderungen der Sportnachfrage bei gleichzeitig geringeren Ressourcen (Hallenkapazitäten etc.) reagiert werden kann. Exemplarisch dafür ist die Sportentwicklungsplanung der Stadt Berlin, die mit dem Entwurf eines umfassenden Leitbildes für die Sportmetropole Berlin das Ziel verfolgt, einen „Sport für Alle“ realisieren zu können (Senat von Berlin, 2009).
Eng mit einer adäquaten Sport(-stätten)entwicklung für die Bevölkerung von Städten und Kommunen verbunden ist die Entwicklung von Sport- und Bewegungsräumen. Hierzu gibt es in den letzten Jahren immer mehr Literatur, in der sich teilweise ein verändertes Sport- Verständnis widerspiegelt (Funke-Wieneke & Klein, 2008; Marschik, Müllner, Penz & Spitaler, 2008). So wird registriert, dass sich sportliche Aktivitäten nicht mehr nur in traditionellen Sport- und Bewegungsräumen (wie z. B. Hallen oder Stadien) vollziehen, sondern vielmehr Räume für sportliche Betätigung vielfältig sind und sich verändern (vgl. Stache & Verch, 2003). Stache & Verch analysieren in diesem Zusammenhang Beispiele der traditionellen, funktionalen Sportarchitektur sowie „Bewegungsräume, in denen sportliche Betätigungen im Sinne einer ,Bewegungskultur’ verstanden werden“ (vgl. Stache & Verch, 2003). Verch (2008) zeigt in seinen Überlegungen zur ökologischen Nachhaltigkeit von Sporträumen Ansätze und Aspekte für eine humanökologische Sportstättenplanung auf.
Zunehmend spielen für die Sportentwicklung auch Fragen des Körpers und der Gesundheit eine Rolle (Schwier, 1998; Gugutzer, 2006; Klein, 2008b; Burrmann, 2008). Auch werden durch die Entwicklungen der fortschreitenden Professionalisierung und der Kommerzialisierung des Sports ökonomische Perspektiven immer bedeutender (Brandmeier & Schi- many, 1998; Meyer & Ahlert, 2000; Lamprecht & Stamm, 2002; Hickel, Troost & Troost, 2004) .
Eine Vielzahl an Literatur befasst sich mit der Steuerung und Entwicklung von Sportvereinen und Verbänden (u. a. Thiel, 2003; Alkemeyer, Rigauer & Sobiech, 2005; Breuer, 2005; Braun & Hansen, 2008; Fahrner, 2008; Thiel & Braun, 2009; Kuhlmann, 2009). Teichler (2003) geht mit Blick auf die Sportentwicklung in Ostdeutschland darauf ein, dass sich Sport regionalspezifisch unterschiedlich entwickelt, und betrachtet u. a. den unterschiedlichen Organisationsgrad in Ost- und Westdeutschland. Eine Studie von Fahrner (2008) untersucht am Beispiel des DTB, wie Sportverbände auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren, und geht dabei auch Fragen der Organisationsstruktur und Leitbilderarbeitung von Verbänden nach, was für die vorliegende Arbeit besonders interessant war.
Die Literatur für die Entwicklung der Sportart Handball ist demgegenüber (noch) relativ übersichtlich.
Die meiste Handballliteratur bezieht sich auf trainings- oder bewegungstheoretische Aspekte (z. B. Trosse, 2008, Brand, 2008) oder Fragen des Sportunterrichts (z. B. Sinning, 2005) . Moegling (2003) thematisiert in einer Studie zur Risikosozialisation im Handball den Umgang mit dem Körper im Handball. Eine neuere Studie widmet sich der Vermarktung des Spitzenhandballs am Beispiel der Frauenhandball-Bundesliga (Mielke, 2010). Mehrere Veröffentlichungen zum Handballsport stammen von Digel (u. a. 1993, 1995), der sich auch kritisch mit der Sportart Handball auseinandersetzt. Schon in einem Band über den DHB-Kongress von 1992 wies er auf die damaligen, zukünftigen und teilweise heute noch aktuellen Probleme der Sportart Handball im Allgemeinen und speziell in der Jugendarbeit hin. In seinem Beitrag „Handball im Wandel — Perspektiven zukünftiger Entwicklungen“ (1995) benennt Digel wiederum die strukturellen und funktionellen Probleme des Handballsports und gibt Anregungen zur Problembewältigung für die Zukunft. Digel kritisiert auch die fehlende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Handballsport. In populärwissenschaftlicher Form greift Eggers (2004) Probleme und Entwicklungen des Handballsports auf, mit einem Überblick zur Geschichte des Handballsports.
Soziologische Abhandlungen zum Handballsport berühren meist nur bestimmte Facetten des Handballsports. Gebauer (2003) setzt sich mit der Habitusbildung in Spielen, darunter auch speziell in der Sportart Handball auseinander. Dies vertiefen Gebauer, Alkemeyer, Bo- schert, Flick & Schmidt (2004), indem der Habitus von Handballern, welcher auf einem traditionellen Sportverständnis (Vereins- und Wettkampfsport) beruht, mit dem von Sportlern in neueren individuellen und informellen Sportformen verglichen wird.
Insgesamt ist einzuschätzen, dass die Sportart Handball in der Forschung vernachlässigt wurde, was im starken Kontrast zu ihrer Bedeutung in Deutschland steht.
2.2.2 Begriffliche Annäherungen
Eine präzise Vorstellung vom Begriff Sportentwicklung und seiner Verwendung zu bekommen, stellt sich aufgrund des facettenreichen Forschungsgegenstandes schwieriger dar, als vielleicht vermutet, da „über Sportentwicklung bislang meist ohne nähere Vergewisserung bzw. Begriffsbestimmung geredet wird“ (Balz & Kuhlmann, 2009, S. 10). Einschlägige Wörterbücher und Lexika der Sportwissenschaft lassen nur vage Vermutungen zu, was Sportentwicklung eigentlich bedeutet und wo diese verwendet wird.
Nach Digel & Thiel gibt es zwei unterschiedliche Möglichkeiten, Entwicklungen der Gesellschaft oder ihrer Teile, also z. B. auch des Sports, zu analysieren. Zum einen kann man „Geschichten“ erzählen, in denen „gesellschaftlicher Wandel als ein fortschreitende lineare und stetige Verknüpfung von Ereignissen, Schwellen und Wendungen konstruiert wird“ (Digel & Thiel, 2009, S. 19). Dieser „beschreibende“ Ansatz hilft anfänglich, Ereignisse erst einmal in einen Zusammenhang zu bringen, somit „ein Phänomen zu konstruieren“ (ebd.), über das geredet wird, und erklärt doch gleichzeitig gesellschaftliche Wandlungsprozesse nicht ausreichend. Demnach lassen sich Entwicklungen im Nachhinein sicher als Folge zwingender Notwendigkeiten beschreiben, jedoch ist dieses beschreibende Vorgehen „nichts anderes als ein „Re-Konstruktion“ von Zufällen und Notwendigkeiten und gleicht „einer kontigente[n] Reduktion von Komplexität“ (ebd.). Trotzdem ist auch für diese Arbeit interessant, wie sich der Sport in einer bestimmten Zeitspanne verändert hat. Balz & Kuhlmann (2009, S. 10; Balz, 2003, S. 7) verstehen Entwicklung als „zeitbezogene Veränderung von etwas“ und damit Sportentwicklung als „Wandelmoderner Rewegungskulturim Zeitverlauf“.
Da gesellschaftliche Veränderungsprozesse meist durch chaotische und instabile Bedingungen gekennzeichnet sind, rückt bei Digel & Thiel (2009) eine zweite Möglichkeit zur Erklärung gesellschaftlicher Entwicklung, somit auch von Entwicklungen im Sport in den Vordergrund. Hier wird nach den Kräften gefragt, welche bestimmte Entwicklungen hervorgebracht haben bzw wird der Frage nachgegangen: „Was steckt dahinter?“, um Prozesse des gesellschaftlichen Wandels zu verstehen (vgl. ebd., 2009, S. 20).
Nähert man sich dem Begriff Sportentwicklung etymologisch an und betrachtet die beiden Teilwörter „Sport“ und „Entwicklung“ separat, so zeigt sich der Begriff „Sport“ als ein aus dem Englischen entlehntes Synonym für „Zerstreuung, Vergnügen, Zeitvertreib, Spiel“ (Drosdowski, 1989, S. 694), mit dem in den 20erjahren des 19. Jahrhunderts eine „umfassende Bezeichnung für alle mit der planmäßigen Körperschulung und der körperlichen Betätigung im Wettkampf und Wettspiel“ gefunden wurde (ebd.).
Der Begriff Entwicklung wird häufig mit Begriffen wie „Entfaltung, Reife, Wachstum oder Fortschritt“ synonym verwendet, umfasst aber auch die Entstehung, Veränderung und auch das Vergehen von etwas. Dies zeigt sich auch besonders häufig, wenn historische Verläufe beschrieben werden. Entwicklung kann allerdings auch als ein aktiver Prozess, z. B. von Organisationen wie Staaten oder Unternehmen, verstanden werden. So wird der Begriff Entwicklung oft in politischen oder ökonomischen Zusammenhängen verwendet. Die Bezeichnung Entwicklungshilfe beschreibt bspw die monetäre und administrative Hilfe von Ländern mit mehr Ressourcen für Staaten der dritten Welt, um deren infrastrukturelle Entwicklung zu unterstützen. Ökonomische Bezüge, die für staatliche Institutionen und auch Sportorganisationen (z. B. Verbände) immer mehr relevant werden, bietet die Organisationsentwicklung von Wirtschaftsunternehmen. Organisationsentwicklung ist ein Konzept zur Entwicklung von Organisationen mit dem Ziel einer aktiven und flexiblen Anpassung an die Herausforderungen einer sich ständig wandelnden Umwelt, um höhere Wirksamkeit von Unternehmen zu erreichen (vgl. Becker & Langosch, 2002, S. 3). Die Entwicklung (von Organisationen) wird in diesem Kontext somit als planmäßiges, prozessuales und langfristiges Verfahren verstanden, welches unter aktiver Beteiligung der Organisationsmitglieder von der Leitung eines Unternehmens gesteuert wird (ebd., S. 4-5).
Hier bieten sich Ansatzpunkte für die Sportentwicklung, die unmittelbar mit der Entwicklung von Institutionen bzw Organisationen verbunden ist (vgl. Balz & Kuhlmann, 2009, S. 9-10; Fahrner, 2008). Exemplarisch hierfür sind Verbände (DOSB), Vereine, Städte und Kommunen oder kommerzielle Anbieter wie Beratungsfirmen, die sich z. B. mit kooperativer Planung und Sportentwicklung oder Sportentwicklung und Sportstättenentwicklung beschäftigen.
2.2.3 Ansätze der Sportentwicklungsplanung
In Deutschland werden unterschiedliche Ansätze zur Sportentwicklungsplanung angewandt. Dabei handelt es sich oft um Konzepte, Verfahren und Methoden zur Sportstättenentwicklung. Nach Hübner (2003, S. 23) können Ansätze zur Sportentwicklungsplanung in die Sportstättenentwicklungsplanung mit einfließen, aber auch separat durchgeführt werden. Um einen Überblick zu bekommen, soll zuerst auf Sportstättenentwicklung eingegangen werden.
Hübner definiert Sportstättenentwicklungsplanung als „systematisches Verfahren ..., bei dem der Bedarf und das Angebot an Sportstätten und Sportgelegenheiten der Bevölkerung ... differenziert erfasst und bilanziert werden“ (ebd., S. 22). So wurde Sport(stätten)entwicklung mit dem Ansatz des „Goldenen Plans für Gesundheit, Spiel und Erholung“ in Westdeutschland durchgeführt, mit dem Ziel des Aufbaus einer Grundversorgung an Kernsportstätten auf der Basis städtebaulicher Richtwerte (vgl. ebd.). Dieser Ansatz mit festen Richtwerten stellte auch die Grundlage für den sog. „Goldenen Plan Ost“ dar, welcher aufgrund des Sanierungs- und Modernisierungsbedarfs in den neuen Bundesländern Anfang der 1990er Jahre eingesetzt wurde. Allerdings entwickelten sich schon in den 1980er Jahren modernere Planungskonzepte. Bei diesen Planungskonzepten wurden Sportverhaltensstudien, d. h. das empirisch ermittelte Sportverhalten und die daraus ersichtliche Sportstättennachfrage, einbezogen, die festgesetzte Richtwerte ersetzten. Neuere Planungsansätze, bspw. die Kooperative Sportentwicklungsplanung, verfolgen das Ziel, „unter Beteiligung von Bürgern, Vereinen, Entscheidungsträgern und Experten Ideen und Maßnahmen zur Sportentwicklung hervorzubringen, die von allen am Planungsprozess Beteiligten mitgetragen werden“ (Rütten & Ziemainz, 2009, S. 108). Über die Planungsschwerpunkte von drei Ansätzen zur Sportentwicklung soll Abbildung 1 Auskunft geben:
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Tab. 1. Planungsschwerpunkte der verschiedenen Ansätze zur Sportentwicklung (nach Rütten & Ziemainz, 2009, S. 107)
Zusammenfassend für diese Ansätze zur Sport(stätten)entwicklung ist festzustellen: Der Ansatz des „Goldenen Plans“ ist durch einfache Bestandserhebung und Bedarfsermittlung gekennzeichnet, wobei problematisch ist, dass dieser Planungsansatz lediglich auf Sportstätten ausgerichtet ist und das Sportverhalten der Bevölkerung nicht einfließt. Auch findet eine Evaluation und Qualitätssicherung keine Berücksichtigung (vgl. Rütten & Ziemainz, 2009, S. 107-108). Verhaltensorientierte Sportstättenentwicklungsplanung basiert auf dem erhobenen Sportverhalten der Bevölkerung, ist allerdings auch in erster Linie auf die Bilanzierung von Sportstättennachfrage und -bedarf ausgerichtet. Die Kooperative Sportent- wicklungsplanung bildet einen intersektoralen Ansatz, welcher „sozial verträglich“ und umsetzungsorientiert sein soll. Allerdings können die Abhängigkeit von den Teilnehmern und die komplexe organisatorische Handhabung zu Problemen führen (ebd.). Weitere Ansätze zur Sport(stätten)entwicklungsplanung haben die Entwicklung von Einzelanlagen und spezifischen Bewegungsräumen oder eine ökologische und humane Gestaltung von Sportstätten zum Ziel (Hübner, 2003, S. 23).
Für die Sportentwicklungsplanung nennt Hübner vier zentrale Teilansätze, welche zum einen die Berichterstattung zum Ziel haben und zum anderen die Modernisierung von Angeboten und Organisationsformen des tradierten Sports auf kommunaler bzw. regionaler Ebene verfolgen (S. 23). So werden mit der Durchführung von Sportverhaltensstudien in Form von Einwohnerbefragungen Daten über das Sport- und Bewegungsverhalten (nach Motiven oder Wünschen) der Bevölkerung erhoben, die die Grundlage für die Sportentwicklung bilden. Eine zukunftsbezogene Planungsmethode stellen Expertenbefragungen dar, die mittels Delphi-Methode zukunftsbezogene Planungsinformationen bereitstellen (vgl. auch Breuer, 2005, S. 93-94). In Ansätzen der Sportentwicklungsplanung mit gesundheitlicher Orientierung für Sportangebote und Sportstrukturen werden Daten zu bestehenden Angeboten und neue Bedarfen erhoben, um daraus gesundheitsorientierte Programme und Strukturen zu entwickeln. Mit Vereins- und Verbandsstudien werden in Befragungen grundlegende Daten zum vereinsbezogenen Sporttreiben erhoben, welche u. a. das Ziel haben, Organisationen und deren Angebote zu modernisieren und weiterzuentwickeln.
Auskunft über die Situation der Vereine geben die Sportentwicklungsberichte. Sie sind eine Weiterentwicklung der Finanz- und Strukturanalysen des deutschen Sports (FISAS), um die Entscheidungsträger im organisierten Sport zeitnah mit politikfeld- und managementrelevanten Informationen zu versorgen und „die Wettbewerbsfähigkeit des organisierten Sports in Zeiten eines dynamischen sozialen Wandels“ zu stärken (Breuer & Wicker 2008, S. 22). In den Sportentwicklungsberichten werden die gleichen Sportvereine alle zwei Jahre zu ihrer Situation befragt. Damit liegen seit dem ersten Sportentwicklungsbericht 2005/2006 erstmals Informationen zur Vereinsentwicklung vor (ebd.).
3 Gesellschaftlicher Wandel und Tendenzen der Sportentwicklung
Allgemein wird in Deutschland von einem sozialen Wandel gesprochen. Dieser bezieht sich auf die Veränderung der Sozialstruktur in ihren „Institutionen, Kulturmustern, zugehörigen sozialen Handlungen und Bewusstseinsinhalten“ (Schäfers, 1995, S. 389). Soziale Strukturen meinen die „(relativ) stabilen Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens“ (ebd.) wie bspw. Rollenverhalten, Organisationsmuster oder soziale Schichtung. Demnach hat das soziale Leben in Gesellschaften eine gewisse stabile Ordnung. Sozialer Wandel bedeutet in diesem Kontext die zumeist „schwierige Veränderung“ dieser Ordnung (ebd.), die sich durch bestimmte innere und äußere Wandlungskräfte auf verschiedenen Ebenen vollzieht. Diese strukturellen Veränderungen können sich auf personaler Ebene (im sozialen Handeln, aber auch in den Einstellungen als Wertewandel), in Organisationen und Gruppen oder auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vollziehen.
3.1 Der organisierte Sport in Deutschland
Da Sport immer noch überwiegend an Institutionen gebunden ist, ist der Wandel der Institutionen und Organisationsstrukturen im Sport als erstes zu betrachten. Dass der organisierte Sport in Deutschland häufig mit dem vereins- und verbandsorganisierten Sport in Deutschland gleichgesetzt wird, ist aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich eine nicht mehr haltbare Verallgemeinerung, die aus dem Definitionsmonopol des DOSB und seiner Untergliederungen (Verbände und Vereine) herrührt. Wenn man über den organisierten Sport und seine Entwicklung in Deutschland schreibt, steht allerdings nicht der Sport an sich im Mittelpunkt einer Analyse. Vielmehr soll hier die Entwicklung von Organisationen, in denen Sport betrieben wird, betrachtet werden.
Organisationen im Sport sind inzwischen vielfältig. So gibt es neben Vereinen und Verbänden zahlreiche weitere Anbieter für Sport (u. a. kommerzielle Anbieter oder Krankenkassen). Für diese Arbeit soll trotzdem dem klassischen Verständnis vom „organisierten Sport“ gefolgt werden. Zum einen, weil sich so der organisierte Sport den neueren Sportformen mit ihren zahlreichen Organisationsformen leichter gegenüberstellen lässt. Zum anderen sind gerade im Hinblick auf die Sportart Handball weitgehend noch immer die traditionellen Organisationsstrukturen (Dachverband, Vereine) typisch. Eine Ausnahme bildet lediglich der Beachhandball. Auch ist es Ziel der Arbeit zu zeigen, dass die traditionellen Vereinsstrukturen nicht überholt sind.
3.1.1 Historische Entwicklung
Die Organisationen des so genannten organisierten Sports sind inzwischen vielfältig. Assoziierte man früher vor allem Vereine und Verbände mit (organisiertem) Sport, können sich Sporttreibende heute auch erwerbwirtschaftlichen Sportanbietern, Organisationen des nichtorganisierten Sports, staatlichen Sportanbietern oder Sportorganisationen in anderen Kontexten (Betriebssport) anschließen. Weiterhin unterscheidet man Organisationen des Sports vor allem nach ihrer Rechtsform (e.V. oder GmbH) bzw zwischen gewinnorientierten und nicht gewinnorientierten Sportorganisationen
Sportvereine sind das Herzstück des organisierten Sports in Deutschland, und das Vereinswesen gilt als die „Wiege“ des heutigen Sportsystems. Möchte man die Besonderheiten des organisierten Sports herausarbeiten, so ist es erforderlich, auf die sozial- und kulturhistorischen Wurzeln des Vereinswesens (vgl. Heinemann, 2007) einzugehen. Diese liegen für Deutschland vor allem im Turnen am Beginn des 19. Jahrhunderts. Hier stand anders als im englischen Sport nicht der Leistungsvergleich im Wettkampf im Vordergrund, vielmehr sollten das Turnen und die Turnvereine eine Erziehungs- und Bildungsfunktion für das Volk übernehmen. Durch Körperertüchtigung und Turnen sollte die Bevölkerung in einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels zu Werten und Traditionen zurückfinden (vgl. ebd.).
Das deutsche Turnen und die Idee, die Gruppe der Turner als Verein zu bezeichnen, waren nach Heinemann (ebd., S. 123-124) durch vier Elemente gekennzeichnet. Erstens bildeten Turnvereine eine „Gesinnungsgemeinschaft“, welche über den Zweck des gemeinsamen Turnens hinausging. So sollten gemeinsame Werte, eine gemeinsame (auch nationale) Gesinnung in der Gemeinschaft gepflegt und gelebt werden. Zweitens erfüllte das Vereinswesen eine identitätsstiftende Funktion, es fungierte in einer Zeit des Umbruchs (Industrialisierung, Modernisierung, neue Lebens- und Arbeitsbedingungen) als „Kitt“ der Gesellschaft. Als beständige soziale Gruppe und somit „Hort“ für ein Gemeinschaftsgefühl sowie Geselligkeit sollte der Verein auch mögliche Identitätsprobleme lösen. Drittens war das Vereinswesen in seinen Anfängen durch seinen multifunktionalen und unpolitischen Charakter geprägt. So waren Vereine — aufgrund der politischen Verhältnisse Mitte des ^.Jahrhunderts — auf der einen Seite Bestandteil national-revolutionärer Bewegungen (Burschen- schäften), aufgrund der politischen Machtverhältnisse waren die Turnvereine allerdings sehr schnell gezwungen, die Flucht in die unpolitische Welt anzutreten. Durch ein enormes Mitgliederwachstum und die Gründung neuer Vereine differenzierte sich die Turnvereinslandschaft aus: Vereine waren nicht mehr nur „organisatorischer Rahmen“ für Turner, sondern entwickelten sich zu „multifunktionalen Freizeit-, Kultur- und Bürgervereinen“ (ebd., S. 125). Das vierte Merkmal von Turnvereinen bzw. auch später des Sports stellt nach Heinemann die Definitionsmacht der Vereine dar. Demnach hatten Turnvereine und Sportvereine nicht nur ein Angebotsmonopol, sondern konnten auch bestimmen, welcher Sport unter welchen Rahmenbedingungen und Regeln betrieben wurde (Definitionsmonopol).
Zusammen ergaben diese vier Sinnkonstruktionen des Vereinswesens die Gegenwelt zu einer anonymen, sich schnell wandelnden und bürokratisch verwalteten, großstädtischen Gesellschaft, in der unmittelbar Erfahrungen gesammelt, eigene Ideen durchgesetzt und persönliche Beziehungen aufgebaut werden konnten (vgl. ebd.). Die skizzierten Entwicklungen der Vereinslandschaft sind Ausdruck des Wunsches nach informellen Kontakten und gemeinschaftlichen Bindungen, Sehnsucht nach kleinen, homogenen Gruppen und Gemeinschaften, in denen neben dem Sport auch Gruppenzugehörigkeit und emotionale Bindung gesucht und gefunden werden. Diese historischen Wurzeln wirken heute noch nach, sie sind fester Bestandteil der Vereinswirklichkeit bzw. ideologische Klammer einer sich immer vielfältiger gestalteten Vereinslandschaft.
Die weitere Entwicklung hin zu Turn- und Sportvereinen war durch die Verschmelzung der Turn- und Sportbewegung gekennzeichnet. Mit der Industrialisierung und dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zwischen England und Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts, wurde eine bis dato nicht gekannte Form der Leibesübung, der englische Sport, nach Deutschland „importiert“. Es kam zu Gründungen von Sport-„Clubs“ nach englischem Vorbild, welche am Anfang in erster Linie wohlhabenden Schichten zugänglich waren. In Ruder-, Segel- und Tennisclubs mit ihrem elitären Clubleben und oft hohen Clubbeiträgen wollten die „sportsmen“ — anders als das Vereinswesen — unter sich sein und hatten das Bedürfnis nach sozialer Abgrenzung (Heinemann, 2007, S. 126). Die Idee des Vereinswesens mit sozialen und nationalen Idealen spielte im englischen Sport eine untergeordnete Rolle.
Trotz einiger unterschiedlicher Auffassungen in der Art und Form körperlicher Bewegung kam es auf verschiedenen Ebenen zu einer Konvergenz von Turnen und Sport. Turnen wurde „versportlicht“, in dem es auch wettkampfmäßig ausgeübt wurde (vgl. ebd., S. 126). Der organisierte Sport ist seitdem gekennzeichnet durch systematische Leistungssteigerung, den Wettkampf nach einheitlichen Regeln und Normen sowie das Streben nach der menschlichen Leistungsgrenze im Sport. Dies wird in der Literatur häufig auch als traditionelles Sportverständnis bezeichnet.
3.1.2 Sportvereine — Strukturmerkmale, Funktion, Bedeutung
Für die praktische Umsetzung des traditionellen Sportverständnisses im sportlichen Alltag sind die Sportvereine zuständig. Der organisierte Vereinssport stellt trotz gesellschaftlichem Wandel (u. a Individualisierung und Pluralisierung) immer noch einen der wichtigsten Anbieter für sportliche Betätigung in Deutschland dar. Sportvereine sind als eingetragene Vereine von ihrer Organisationsstruktur her freiwillige Vereinigungen, die wesentlich über freiwillige Mitgliedschaft, Mitgliedsbeiträge und ehrenamtliche Tätigkeit geprägt sind. Sie erleben zwar in einigen Bereichen — v. a. professionellen Spielsportarten — zunehmend eine Transformation zu Dienstleistungsunternehmen und Anforderungen der Ökonomisierung, Mediatisierung, Kommerzialisierung und Professionalisierung (Fahrner, 2008, S. 27-28). Die sportwissenschaftliche Forschung zeigt jedoch auch, dass Sportvereine den genannten Trends nicht einfach folgen und „ungeachtet gesellschaftlicher Veränderung durchaus stabile Organisationsmuster darstellen und keineswegs zwangsläufig strukturelle Wandlung erfolgt“ (ebd., S. 31).
Die Angebote von Sportvereinen sind in erster Linie für Sportlerinnen und Sportler (Kinder, Jugendliche, Familien) interessant, die regelmäßig trainieren wollen, an Wettkämpfen teilnehmen möchten, Mannschaftsportarten ausüben, für die ihr Sportengagement bezahlbar sein soll oder die eine besondere Jugendförderung erwarten. Vor allem im Preis-Leis- tungs-Verhältnis bietet der Verein einen großen Vorteil. So erheben 50 % der Sportvereine einen monatlichen Mitgliedsbeitrag für Kinder von maximal 3,50 Euro, für jugendliche von maximal 4,50 Euro, für Erwachsene von maximal 7,50 Euro und für Familien von maximal 14 Euro (Breuer & Wicker 2008, S. 3).
Zudem bieten viele Sportvereine in Deutschland unterschiedlichste Sportangebote für breite Bevölkerungsgruppen in jedem Alter an (Tabelle 2).
Auch Leistungssport in Deutschland wäre ohne die Vereine kaum denkbar. 13,7 % der Sportvereine (12.400 Sportvereine bundesweit) engagieren sich im Leistungs- und Hochleistungssport und haben Kaderathleten auf
[...]
1 Der Verfasser spielt seit dem 8. Lebensjahr im Verein Handball.
2 Ähnlich verhält es sich mit dem Problem der Wett- und Spielmanipulation, welche in den letzten Jahren überwiegend im Fußball, aber auch in anderen Sportarten praktiziert und öffentlich wurde.
3 Siehe dazu die aktuellen Diskussionen um Doping und Sportwetten-Manipulation.
4 Von den Olympischen Spielen in Vancouver wurde allein von den Hauptsendern ARD und ZDF ungefähr 320 Stunden berichtet. Zugriff am 11. Mai 2010 unter http://www.dosb.de/fileadmin/olympia/downloads/ PresseheftDruckversion071209 web.pdf.
5 Balz & Kuhlmann wollten im Internet (Google-Suchmaschine) herausfinden, inwieweit der Begriff Sportentwicklung überhaupt gebraucht wird. Die rund 125.000 gefundenen Seiten zum Begriff Sportentwicklung (Zugriff am 18.11.2007) zeigen die häufige Nachfrage und die Breite dessen, was unter Sportentwicklung verstanden wird (ebd.). Obwohl bei der aktuellen Recherche für diese Arbeit nur noch ca. 54.400 Einträge (Zugriff am 12.03.2010) gefunden wurden, zeigt sich einerseits das Paradox, dass der Begriff häufig benutzt wird, aber andererseits keine einheitlichen Termini vorliegen.
- Arbeit zitieren
- Fabian Gruner (Autor:in), 2010, Sportentwicklung in Deutschland: Zur Zukunftsfähigkeit des organisierten Sports anhand des Leitbildes des Deutschen Handballbundes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187526
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