Am Ende des letzten Jahrhunderts erfuhr der deutsche Literaturbetrieb, der bislang für eine große Qualität seiner Autorschaft stand, eine bis heute viel diskutierte Wendung. Von einer kompletten Neuausrichtung zu sprechen, würde das „Problem“ zwar größer machen als es tatsächlich ist, doch offenbar waren die von einigen, überwiegend jungen Schriftstellern veröffentlichten Prosatexte deutscher Sprache von solcher Andersartigkeit, das eine kontroverse Diskussion in der Literaturkritik auf den Plan gerufen wurde.
Diese für die vorliegende Arbeit grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema Popliteratur – unter welchem Titel genannte Werke seither in differierender Wertung laufen – fußt in essenzieller Weise auf der Ambivalenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Aufgrund des literaturwissenschaftlichen Paradigmas, dass die Bewältigung von Vergangenem seit jeher nicht nur als maßgebliches Kriterium von Literatur angesehen, sondern vor allem auch als von ihr untrennbar erachtet wurde, lässt sich erahnen, weshalb eine Verschiebung hin zur Gegenwartsfixierung in fiktionalen Texten umstritten sein könnte.
Seit den späten 1960er Jahren zunächst im Untergrund, mehr als zwanzig Jahre später allerdings auch mit bisheriger E-Literatur überschneidend und im Feuilleton zunehmend mit Beachtung gewürdigt, rückte die Popliteratur mehr und mehr in den Vordergrund. Gleichsam kamen Schreibweisen auf, die den literarischen Blick auf die Alltagsgegenstände der Gegenwart und oft auch deren massenmediale Ausleuchtung richteten. Thomas Meinecke fungiert mit seiner obenstehenden Aussage zu besagtem Gegenwartsbezug als klassisches Beispiel einer Generation deutscher Autoren, die sich auf ihre Alltagserlebnisse „verlässt“ und sie fundamental in ihre Schreibprozesse einschließt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Literatur meets Pop - Zur Geschichte und Theorie einer Gattung
2.1 Auf dem Weg zur Popliteratur der Gegenwart
2.1.1 Der Ursprung: Dada, Beat und Pop-Art
2.1.2 Die Geburt der Popliteratur in der Postmoderne
2.1.3 Die Rückkehrdes neuen Erzählens
2.2 Diskurs: Was ist „Pop" eigentlich?
2.2.1 Pop als kulturelle Praxis
2.2.2 Das Lebensgefühl Pop
3. Der Bezug zum Jetzt und Hier - Die deutsche Popliteratur der späten 1990er Jahre
3.1 Eine Literaturströmung in der Kritik
3.2 Pop goes Book - Die Verschmelzung von Popkultur und Literatur
3.2.1 Der „neue Archivismus" als Paradigmenwechsel
3.2.2 Pop in Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum
4 Fazit oder: Wo bleibtdas Lebensgefühl?
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Ich glaube, dass es immer noch ein ziemliches Bezugnehmen, ein Sich-Verlassen auf die Gegenwart ist, um das zum Ausdruck zu bringen, was gegenwärtig ist."
Thomas Meinecke auf die Frage: „Was ist-heute - Pop?"1
Am Ende des letzten Jahrhunderts erfuhr der deutsche Literaturbetrieb, der bislang für eine große Qualität seiner Autorschaft stand, eine bis heute viel diskutierte Wendung. Von einer kompletten Neuausrichtung zu sprechen, würde das „Problem" zwar größer machen als es tatsächlich ist, doch offenbar waren die von einigen, überwiegend jungen Schriftstellern veröffentlichten Prosatexte deutscher Sprache von solcher Andersartigkeit, das eine kontroverse Diskussion in der Literaturkritik auf den Plan gerufen wurde.
Diese für die vorliegende Arbeit grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema Popliteratur - unter welchem Titel genannte Werke seither in differierender Wertung laufen - fußt in essenzieller Weise auf der Ambivalenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Aufgrund des literaturwissenschaftlichen Paradigmas, dass die Bewältigung von Vergangenem seit jeher nicht nur als maßgebliches Kriterium von Literatur angesehen, sondern vor allem auch als von ihr untrennbar erachtet wurde, lässt sich erahnen, weshalb eine Verschiebung hin zur Gegenwartsfixierung in fiktionalen Texten umstritten sein könnte. Seit den späten 1960er Jahren zunächst im Untergrund, mehr als zwanzig Jahre später allerdings auch mit bisheriger E-Literatur überschneidend und im Feuilleton zunehmend mit Beachtung gewürdigt, rückte die Popliteratur mehr und mehr in den Vordergrund. Gleichsam kamen Schreibweisen auf, die den literarischen Blick auf die Alltagsgegenstände der Gegenwart und oft auch deren massenmediale Ausleuchtung richteten. Thomas Meinecke fungiert mit seiner obenstehenden Aussage zu besagtem Gegenwartsbezug als klassisches Beispiel einer Generation deutscher Autoren, die sich auf ihre Alltagserlebnisse „verlässt" und sie fundamental in ihre Schreibprozesse einschließt. Umgekehrt verweigert er sich, ebenfalls stellvertretend für wohl die meisten Autoren seiner Zunft, der aus der deutschen
Literaturgeschichte seiner Meinung nach allzu bekannten Erinnerungsarbeit, indem er sie im gleichen Interview als „billige Aufgabe" bezeichnet, die ausgedient habe, weil sie als „Verständigungsliteratur" nur noch vermittelnde Instanz der Alt-gewordenen sei, die sich der gleichen Dinge erinnern.2 Es geht für Meinecke auch darum, erstmals in deutschen Romanen die Gegenwart begreiflich zu machen, was impliziert, wenn nötig „[...] hart an der Grenze zum Modischen entlangzuschreiben [sic]."3
Neben der durchaus vorhandenen, klar abgesteckten Konkurrenz zum, aus Sicht der PopLiteraten veralteten Ideal von „hoher" Literatur, liegt das vorrangig Interessante in den Aussagen Meineckes in der Beantwortung der Frage (siehe Eingangszitat), was denn für ihn „Pop" sei. Es ist an dieser Stelle, wo der Begriff Popliteratur bereits mehrfach gefallen ist, keine Überraschung mehr, dass dieses so bekannte, ja „POPuläre" Wort die zu behandelnde Literaturgattung nicht nur etikettiert, sondern seine zu untersuchende Bedeutung diese Arbeit in besonderem Maße prägen wird.
Der Fokus meiner Ausführungen wird folglich darauf liegen, herauszuarbeiten, was die Begriffe Pop und Popliteratur ausmacht und worin ihre Besonderheiten für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung liegen. Zu diesem Zweck wird zunächst eine alternative Literaturgeschichte ab Mitte des 20. Jahrhunderts erzählt, die in einem chronologischen Überblick das Aufkommen der Popliteratur vom Ursprung bis zu ihrer Wiederkehr nach der Einigung Deutschlands darlegt. In einem zweiten Schritt wird es dann darum gehen, über den hergestellten Bezug zur literarischen Postmoderne den komplexen und uneindeutigen Terminus Pop über theoretische Ansätze zum einen als kulturelle Praxis und zum anderen als individuelles Lebensgefühl zu definieren.
Überhaupt dient die Rede vom „Lebensgefühl" als, wenn auch lange Zeit rein implizierter Leitgedanke dieser Arbeit und insbesondere deren Hauptteil im dritten Kapitel: Dort sollen nämlich die vielfältigen Eigenschaften der Popliteratur zunächst im Allgemeinen, dann anhand des beispielhaft ausgewählten Romans Soloalbum von Benjamin von Stuckrad-Barre, einem der prominentesten Vertreter der Pop-Literaten, herausgearbeitet werden. Am spezifischen Lebensgefühl des Protagonisten soll schließlich das Besondere der Popliteratur veranschaulicht werden, auch, indem es mit den zuvor gewonnenen Erkenntnissen verknüpft wird. Des Weiteren erhält die damit in Zusammenhang stehende Autor- beziehungsweise Erzählerinszenierung und die essenzielle Rolle von Musik eine besondere Aufmerksamkeit.
Die Begriffe „Lebensgefühl" und „Gegenwart" werden dabei implizit als stringent verbundene Einheit mitgeführt und schließlich auf ihre Bedeutung für die zu untersuchende Thematik geprüft.
2. Literatur meets Pop - Zur Geschichte und Theorie einer Gattung
2.1 Auf dem Weg zur Popliteratur der Gegenwart
2.1.1 Der Ursprung: Dada, Beat und Pop-Art
Die Quelle der Gattung Popliteratur, die es in dieser Arbeit zu untersuchen gilt und die Eingang in vielfältige gesellschaftliche sowie literaturwissenschaftliche Diskussionen gefunden hat, ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu suchen. Den Ursprung jener Ideen, die kennzeichnend für die Verknüpfung von populärer Kultur und Literatur wurden, findet man im Dadaismus. Die Künstlerbewegung der Dadaisten stand mit dem Ende des Ersten Weltkriegs als erste für das Aufbrechen der gänzlich hochkulturell geprägten Kunst. Desillusioniert von den Ereignissen des Krieges rebellierten sie gegen die jahrhundertelange Vormachtstellung der bürgerlichen Vorstellungen von Kunst und Literatur und schufen eine Antikunst, die gängige Sprache und Formen zerstören wollte. Mit der Gründung des „Cabaret Voltaire" in Zürich legten junge emigrierte Künstler aus Frankreich, Deutschland und Rumänien den Grundstein für die aufkommende Dada-Bewegung. Sie etablierten in ihren Aufführungen eine Provokation des Publikums, das sich nun exzentrischen
Darstellungsformen wie Zufall, Nihilismus, Destruktion und Nonsens ausgesetzt sah.4 Unmittelbar nach Deutschlands Kapitulation 1918 entstand auch in Berlin eine Dada-Gruppe um prominente Vertreter wie Richard Huelsenbeck, George Grosz oder Franz Jung. Die „Berlin-Dada" stand dabei insbesondere für politische Radikalität und das Ausbreiten des Dadaismus auf eine breitere Öffentlichkeit. So organisierte man 1920 die „Erste Internationale Dada-Messe", auf der unter anderem eine Soldatenfigur mit Schweinskopf Aufsehen erregte und sinnbildlich für die Revolte der Dadaisten stand.5 Über Umwege kam der Dadaismus in dieser Zeit auch nach Übersee und kann als verfrühte Initialzündung der Pop-Art in den USA gelten.6
Dort widersetzten sich zunächst jedoch junge Autoren dem „amerikanischen Traum" und begannen ihre eigenen Ideen von Freiheit und Unabhängigkeit in zornigen Texten zu beschreiben. Dabei gilt Jerome David Salingers Catcher In The Rye (1951) als Ausgangspunkt. Salingers Roman zeichnete sich erstmals durch die Verwendung von Jugendsprache aus, die in Zeiten der Langeweile und des Konformismus einer breiten jungen Leserschaft eine Identifikationsfläche bot.7 Gleichzeitig wurde die Beat-Literatur geboren, in der junge Autoren wie Allen Ginsberg (Howl), William S. Borroughs (Naked Lunch, 1959), Lawrence Ferlinghetti (A Coney Island of the Mind, 1958) und vor allem Jack Kerouac (On the Road, 1957) ab Ende der 1950er Jahre ebenfalls für neue Einflüsse in der Literatur standen. Die Poeten dieser Generation verstanden sich als soziale Außenseiter und verschrieben sich der freizügigen Schilderung von offen ausgelebter Sexualität. Darüber hinaus stellten sie in ihren Romanen rauschhaften Drogenkonsum ebenso wie damit verbundenes Elend dar.8 Besonders durch die zum literarischen Ausdruck geformte Einheit von Prosakunst und alltäglichen Erfahrungen der Subkultur wurden sie zu den Vorboten der Hippie-Bewegung der späten 1960er Jahre. Die Hippies stehen bis heute für die gesellschaftliche Anerkennung der offenen Beschreibung von Drogenerfahrungen und freier Liebe, sei sie hetero-, homo- oder bisexueller Färbung. Zudem leisteten sie durch Massenhappenings ihren gewichtigen Anteil an der Vermischung von Kunst mit Alltagsphänomenen und ihrer Ausbreitung.9 Unterdessen sorgten die Künstler der sogenannten Pop-Art in den USA dafür, dass die Grenzen zwischen Hoch- und Massenkultur immer fließender wurden. Pioniere der Bewegung wie Andy Warhol oder Roy Lichtenstein nahmen sich Alltagsgegenständen (Verpackungen, Nahrungsmittel) oder bildlichen Darstellungen aus der populären Kultur an und transformierten sie beispielsweise durch auffällige Farbgebung oder verfremdende Grafikeffekte zu Collagen oder Skulpturen. In einer bis dahin unbekannten Form des Crossover (Grenzüberschreitung) wurden Erzeugnisse der Massenkultur aus ihrem eigentlichen Kontext herausgelöst, in einem neuen Umfeld der Kunst umcodiert und als eigener Stil etabliert.10 Dieser Neue Realismus, der erst später in Pop-Art umgetauft wurde, stand figurativ für das Aufweichen der gesellschaftliche Ideologie von der „hohen Kunst", indem man das Potenzial der durch zunehmende Bedeutung der Massenmedien wie Film, Fernsehen und Radio immer bedeutsamer werdenden Konsumkultur erkannte.
2.1.2 Die Geburt der Popliteratur in der Postmoderne
Den nächsten wichtigen Schritt zum heutigen Verständnis von Popliteratur unternahm der Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler mit seinem bahnbrechenden Essay Cross the Border - Close the Gap, den er 1968 im Rahmen eines Gastvortrags an der Universität Freiburg vorstellte. Darin rief Fiedler die literarische Postmoderne aus und verwendete als erster den Begriff Popliteratur, den er als Etikett den amerikanischen Autoren der Beat-Generation zuschrieb.11 Er erkannte damit als erster Literaturwissenschaftler die Schließung des Grabens von Hoch- und Subkultur an und plädierte für eine neue Literaturkritik, die dem neuen Lebensbezug junger Autoren offener gegenüber stehen sollte. Die Akzeptanz rebellischer Schilderungen von Sex-, Drogen- und Außenseitererfahrungen als neue literarische Strömung wurde so auf den Weg gebracht.12
Nicht allein durch Fiedlers Vortrag in Freiburg kam der Popliteratur-Begriff nach Deutschland. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte Rolf Dieter Brinkmann als erster deutscher Schriftsteller mit Keiner weiß mehr den ersten Roman, der hierzulande als Pop-Roman gelten durfte. Charakteristisch für den Text, konform zu seinen Vorbildern der Beat-Generation13, waren die Verwendung von offener, direkter Sprache und der Zuwendung zu Artefakten der Waren-, Musik- und Subkultur sowie des starken Gebrauchs pornografischer Stellen.14 Der filmisch-unmittelbare Schreibstil Brinkmanns sollte dabei eine sinnliche Erfahrung von Alltagsgeschehnissen in derLiteratur funktionalisieren.15
Ein weiterer Pionier und Vorläufer der Popliteratur war der Österreicher Peter Handke. Auch er setzte sich in seinen Romanen (Publikumsbeschimpfung 1966, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt 1969) mit Essenzen aus Alltag, Subszenen und dem Konflikt zwischen sozialen Klassen auseinander. Als Vertreter der Neuen Subjektivität kommt ihm eine Schlüsselrolle in den 1960er und 70er Jahren zu.16 Insbesondere sein Widerstand gegen die Gruppe 47, ein Verbund prominentester und bedeutendster deutscher Schriftsteller wie Heinrich Böll, Hans-Magnus Enzensberger oder Günter Grass, begründete sein Einstehen für eine anders geartete Literatur, die seinerzeit höchstens in Grundzügen zu erfassen war. Die bei ihm vorherrschende stark subjektive Färbung von Zeitgeist-Erscheinungen und Lebenseindrücken sollte gerade für die hier behandelte Popliteratur der Gegenwart bei Benjamin von Stuckrad-Barre eine gewichtige Rolle einnehmen.17
Peter Handke steht daher wie kaum ein zweiter für den Beginn einer neuen Autoren-Ära, die sich einer vollkommen neuen Schreibweise zu wandten und deren Referenzpunkte im profanen Alltag lagen.
Einher gehend mit der Studentenbewegung breitete sich der popkulturelle Geist in Deutschland zunehmend aus, wenn auch nur im "Underground". Autoren wie Handke oder auch Jörg Fauser in den frühen 1970er Jahren erreichten noch keine breite Leserschaft und beanspruchten diese auch nicht für sich. Genauso wie sie mit ihren Texten noch für Subkultur und Außenseitertum standen, bedienten sie lediglich ein überschaubares Publikum.18
2.1.3 Die Rückkehr des neuen Erzählens
Gemäß der genannten Analogie bedeutete das Scheitern der Studentenrevolte 1969 gleichsam das Abnehmen der literarischen Aufbruchstimmung in Deutschland im anschließenden Jahrzehnt. Ihre Wiederaufnahme ins Bewusstsein aufstrebender Schreiberlinge erlangte das „neue Erzählen" mit dem Ende des geteilten Deutschlands 1989/90.
Die Wiedervereinigung zwischen Bundesrepublik und DDR erwies sich als prägend und für eine neue Ansammlung aufstrebender Schriftsteller in besonderem Maße inspirierend; Soziologen erkannten früh die Bedeutung des Gefühls einer „Generationszugehörigkeit" für Kunstströmungen jedweder Art. Im hier thematisierten Kontext meint dieses Konzept die Bedeutsamkeit des Mauerfalls für die Generation der zwischen 1965 und etwa 1975 geborenen Jugendlichen, die in einem „neuen" Land zu Hoffnungsträgern auf eine bessere Zukunft avancierten.19
Angetrieben von dem daraus resultierenden neuen Selbstbewusstsein und -Verständnis wurde die deutsche Literatur zwischen 1945 und 1989 in Fachkreisen als „akademisch langweilig" und „hochkulturell arrogant" bewertet. Vielmehr sollte sich die Literatur von sämtlichen ästhetischen Zwängen und Altlasten befreien. Aus diesem Grund forderten Intellektuelle und Autoren wie Maxim Biller und Uwe Wittstock die Rückkehr der Impulse aus amerikanischer Unterhaltungsliteratur, Filmästhetik und Magazinjournalismus.20 Getreu dem Motto „jede Art von Literatur [sei] erlaubt, außer der langweiligen" (Wittstock)21 wurde der Popliteratur der Gegenwart so der Weg geebnet. Maxim Biller wurde deutlicher, als er sich „Romane [wünschte], die man in einem Ruck durchliest. Die man liebt, die man genauso atemlos und gebannt durchlebt wie eine gute Reportage, einen prima Film."22 Er konnte zum Zeitpunkt dieser Aussage 1991 wohl kaum ahnen, wie wörtlich er nur wenige Jahre später von einer Riege aufstrebenderJungautoren genommen werden sollte.
Auch wenn mit Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister drei als Pop-Literaten der 1990er geltende Autoren bereits ein Jahrzehnt früher ihre auch damals schon unkonventionellen Erstlinge veröffentlichten, so taten sie es doch beim von den Kritikern als Teil der akademischen Hochkultur angegriffenen Suhrkamp-Verlag und wurden an der Schwelle zur deutschen Einheit noch übersehen beziehungsweise als Exoten abgestempelt. Die Kritik von Biller, Wittstock und Co hatte demgegenüber weitaus ambitioniertere Ziele, sollte die breite Masse erreichen und zu einem umfassenden Verständnis (vor allem in der Literaturkritik) neuer Schreibweisen anregen.
Die von FAZ-Redakteur Florian Illies vorgenommene, nicht sehr charmante Kategorisierung der Generation Golf23 kann bis heute als treffende Beschreibung der Popliteraten der 1990er Jahre gelten. Demnach schreibt sich diese, in Kapitel 3 genauer zu untersuchende Gruppierung von Autoren eine unpolitische, stark individualisierte Haltung zu, gehört dem Mittelstand an und steht Wohlstand sowie kapitalistischen Tendenzen nicht mehr ablehnend gegenüber.24 Dennoch verwerfen sie gleichzeitig die Ideale und Vorstellungen von der „hohen" Kunst und Literatur, die ihre Eltern noch vertreten haben.25 Da sie in der sich rasant verändernden Welt der Massenmedien aufwachsen, die immer stärkeren Einfluss auf den sozialen Alltag derJugendlichen nehmen, bringen sie als Jungautoren literarische Erzeugnisse hervor, die sich vollkommen der Gewalt der Alltagskultur annehmen und sie damit zum elementaren Gegenstand und wesentlichen Merkmal der Popliteratur machen. Globalisierung, die immer größere Bedeutung des Internets und der wachsende Einfluss von Medien und Wirtschaft sorgten in den letzten Zügen des vergangenen Jahrhunderts außerdem dafür, dass der Buchmarkt einem harten Wettbewerb ausgesetzt war und ein neuerAnspruch der Rentabilität aufkam. Verlage, die vom Scheitern bedroht wurden, setzten folglich immer stärker auf gezielte Vermarktung ihrer Bücher und Autoren mit dem Bestreben, junge Leser zu erreichen.26 Da kam es der Branche gerade recht, dass sich neben dem veränderten Markt und den neuen Bedürfnissen seiner Teilnehmer durch audiovisuelle Errungenschaften auch das Erzählen der neuen Schreiberzunft wandelte.
Es wird als ein wesenhafter Zug der jungen Literatur bereits an dieser Stelle erkennbar, dass sich ihre Themen im Mainstream verorten zu lassen, die nicht, wie noch bei ihren Vorläufern aus Beat-Generation und früher Postmoderne in Deutschland (Rolf Dieter Brinkmann, Jörg Fauser und andere) als Erzeugnisse einer subkulturellen und anti-kapitalistischen Haltung gelten.
2.2 Diskurs: Was ist„Pop" eigentlich?
Bevor im Hauptteil meiner Arbeit in Kapitel 3 der Fokus auf der Charakterisierung der Popliteratur der späten 1990er Jahre und des damit verbundenen Lebensgefühls liegen wird, soll im Folgenden der bislang nur unkommentiert erwähnte Pop-Begriff näher beleuchtet werden.
Der Neue Realismus der bildenden Künste in den USA und Großbritannien wurde schon früh mit dem Label Pop(-Art) versehen. Außerdem sprach Leslie Fiedler im Zuge der Postmoderne erstmalig von Pop als einer neuen Ausformung von Literatur. Aber was genau bedeutet eigentlich dieser Terminus, der als Gattungsbezeichnung von Strömungen der Kunst und Literatur ab Mitte des 20. Jahrhunderts herhält? Was ist Pop?
Dieser Frage gilt es in den nächsten beiden Abschnitten nachzugehen um mithilfe von theoretischen Ansätzen das Fundament einer tiefer gehenden Betrachtung der Popliteratur in dieser Arbeit überhaupt erst legen zu können. Zuerst wird der Begriff dabei als Kulturpraxis vorgestellt, ehe ich ihn mit einem individuellen Lebensgefühl verbinde.
2.2.1 Pop als kulturelle Praxis
Die Bezeichnung Pop ist an sich zunächst wenig aussagekräftig und meint laut Duden die „Gesamtheit von Popkunst, -musik und -literatur".27 Es lässt sich von (engl.) "popular" mit „populär" ins Deutsche übersetzen und bedeutet „volkstümlich, bei der großen Masse beliebt, beim Volk Anklang, Beifall und Zustimmung findend" sowie „gemeinverständlich, volksnah".28 Damit ist man freilich noch nicht schlauer. Den Bezug zur Masse und dem Volk kann man mit Blick auf die sehr „populäre" und beliebte Pop-Art durchaus herstellen, er birgt allerdings auch einen Widerspruch in sich: Schließlich stand Pop-Art als Produkt der Massenkultur in komplettem Gegensatz zum allgemeinen Verständnis von Kunst und Hochkultur. Vielmehr wurde sie als unvollkommen und trivial wahrgenommen.29 Von einer universellen Anerkennung im Volk konnte also keine Rede sein, was verdeutlicht: eine Konsensfindung über Pop ist hier noch nicht möglich.
Also muss man sich dem Problem von einer anderen Seite nähern. Zuvor wurde bereits deutlich, dass die in 2.1 synonym verwendete Bedeutungsweise von Pop und populär (in Bezug auf Massenmedien und -kultur) einem Definitionsversuch von Pop offenbar nicht dienlich ist. So stellt Gabriele Klein fest: „Was populär ist, ist noch lange nicht pop."30 Sie differenziert zwischen populärer Kultur und Popkultur, indem sie letztere als das „[...] Gegenteil einer alltäglichen Kulturpraxis eines Großteils der Bevölkerung" beschreibt.31 Für Klein liegt eine spezifische Leistung von Pop in einer Einheit von Mainstream und Subkultur, die durch eine bestimmte „Lebensweise"32 verbunden werden. Es hat nichts mit Popkultur zu tun, wenn man wie die meisten Tagesschau, Sportschau, Kino, Fahrradausflüge oder Fitnessstudios mag. In Abgrenzung zu diesen Beispielen der lokal gebundenen populären Kultur ist die Popkultur globalisiert und verbindet Kunst und Kommerz. Dabei liegt ihr Ursprung ganz gewiss im Untergrund: Egal ob Beat-Generation, Pop-Art, suburbane Tendenzen in der Musik wie Beat-Musik, Punk (England mit den Epizentren Liverpool und London) oder Hip-Hop (USA; New York, Los Angeles) und Techno (Detroit, Chicago); alle diese Strömungen seit den frühen 1960er Jahren repräsentieren den Alltag von Jugendlichen in seiner ganzen Vielfalt, der zuvor keinen Eingang in die Kunst fand und weiterhin von der breiten Masse als „alternatives Welterleben"33 aufgefasst wurde. In diesem Sinne steht Pop zumindest partiell weiter für Rebellion und Widerstand. Dazu passt, dass sich das „Neue" in der Popmusik gerade auch an besonderen Kompositionstechniken festmachen ließ: Punk definierte sich zum Beispiel darüber, dass musikalisches Handwerk der Bands keine große Rolle spielte, Hip-Hop und Techno standen für eine nie da gewesene Technologisierung der Musik und fragmentarischen Aufbau der Songs.34
Die oben genannte, sinngebende Verknüpfung, (genauer:) die Wandlung von subkultureller Avantgarde zum Mainstream vollzieht sich schließlich in der immer größeren Relevanz der visuellen Medien. Insbesondere die Popmusik hielt im Laufe der Jahrzehnte Einzug in die Massenmedien und wurde, von Zeitschriften, über ihre Bedeutung für Modetrends, hin zu Musikvideos und immenser Präsenz im Internet beispielhaft für die gesellschaftliche Wucht von Pop.
Mit diesem Aspekt werden bereits zwei elementare Grundzüge des Begriffs ersichtlich, die der Pop-Analyst Diedrich Diederichsen in seinem richtungsweisenden Aufsatz „Pop - deskriptiv, normativ, emphatisch"35 treffend zusammenstellt: Zum einen ist Pop als Prinzip des Crossover (wie bereits in der Pop-Art) sowie als dynamischer Prozess zu verstehen, der sich vorhandenen Materials in der Alltagskultur bedient und sie in einen neuen Kontext transformiert. Entscheidend ist, dass bei dieser Umcodierung bisher bestehende Grenzen wie die zwischen sozialen Klassen, hoher und niederer Kultur oder eines bislang allgemein gültigen Kunstgeschmacks überschritten werden.36 Pop bleibt dabei gleichsam in Bewegung, er konstituiert sich in wandelnden Kontexten immer neu und ist abhängig von jeweiligen Zeitgeist-Erscheinungen. Die Dynamik von Pop wird stets von Neuem entfacht, Pop bleibt als kulturelle Praxis flüchtig, was die Erfassung einer festen Theorie - das sei nun festgestellt - praktisch unmöglich macht.
Zum anderen besteht nach Diederichsen ein grundlegendes Charakteristikum in der positiven Haltung, dem Bekennen zur auditiven und visuellen Seite der Kultur. Ein gewichtiges Kriterium von Pop ist folglich seine affirmative Qualität, wie auf Dinge in der Welt zugegriffen wird: Pop konzentriert sich auf die Oberfläche, das Gegenwärtige.37 Dabei können anscheinend alle erdenklichen Gegenstände zu Pop werden. So wie in der Pop-Art Verpackungen, Comicvorlagen oder Fotografien zeitgenössischer Idole Gegenstand der Transformation im obigen Sinne wurden, schlägt auch die Popliteratur die Brücke zur Alltagskultur. Die Funktionalisierung von (Pop-jMusik (wie später im Kapitel 3.2 noch ausführlich gezeigt wird) stellt indes nur eine von vielen Ausformungen dar.
[...]
1 Schumacher, Eckhard: Pop, Literatur. Ein Interview mit Thomas Meinecke, S. 19. Online: http://www.kritische-ausgabe.de/hefte/pop/schumacher.pdf.
2 Vgl. ebd.
3 Ebd.
4 Vgl. Ernst, Popliteratur, S. 10.
5 Vgl. ebd. S. 12.
6 Vgl. ebd. S. 13.
7 Vgl. ebd. S. 14.
8 Vgl. ebd. S. 16 ff.
9 Vgl. ebd. S. 21.
10 Vgl. Djakovic, Literatur im 21. Jahrhundert, S. 70.
11 Vgl. Ernst, Popliteratur, S. 23.
12 Vgl. Djakovic, Literatur im 21. Jahrhundert, S. 71.
13 Brinkmann übersetzte darüber hinaus bedeutende Werke der amerikanischen Beat-Literatur der 1950er und 60er Jahre ins Deutsche und leistete auch damit einen wertvollen Beitrag zur Ausbreitung dieser als Vorläufer der Popliteratur geltenden Romane.
14 Vgl. Ernst, Popliteratur, S. 33 f.
15 Vgl. ebd. S. 35.
16 Vgl. Djakovic, Literatur im 21. Jahrhundert, S. 72.
17 Vgl. ebd. S. 73.
18 Vgl. ebd.
19 Vgl. Ernst, Popliteratur, S. 70.
20 Vgl.ebd.S. 66 f.
21 Zit. n. ebd. S. 67.
22 Zit. n. ebd.
23 So betitelte besagter Florian Illies seine feuilletonistische Gesellschaftsstudie der in den 1980er Jahren aufgewachsenen Generation, die 2000 im Fischer Verlag erschien (für vollständige bibliografische Angabe siehe Literaturverzeichnis).
24 Vgl. Ernst, Popliteratur, S. 71.
25 Vgl. Djakovic, Literatur im 21. Jahrhundert, S. 85.
26 Vgl. ebd. S. 74.
27 [Art.] Pop. In: Duden Universalwörterbuch, S. 1302.
28 [Art.] populär. In: ebd.
29 Vgl.Malecha, Ichbin viele, S. 13.
30 Klein, Pop leben, S. 17. Es fällt auf, dass Gabriele Klein in ihrem Aufsatz „pop" (kleingeschrieben) als Adjektiv in Abgrenzung zu „Pop" als Bezeichnung der zugehörigen Kultur verwendet. Aus Gründen des korrekten Zitierens muss ich es hier bei dieser bisweilen verwirrenden Schreibweise belassen.
31 Ebd.
32 Vgl. ebd. Klein weist an dieser Stelle bereits auf die Bedeutung einer (wie sie es nennt) „Lebensweise" des Pop hin. Das wohl sehr stark bedeutungsähnliche „Lebensgefühl" wird, da ja auch titelgebend für diese Arbeit, ein Hauptbezugspunkt meiner Ausführungen sein: Zunächst in 2.2.2 als Theoriemodell von Pop und später angewandt mit Blick auf die Popliteratur und Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum in 3.2.
33 Ebd. S. 18.
34 Vgl. ebd.
35 Die Abhandlung des Kulturwissenschaftlers und Musikjournalisten Diedrich Diederichsen in besagtem Aufsatz ist gerade deshalb von so großem Wert für eine Erfassung poptheoretischer Muster, weil sie als eine von wenigen wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird und Pop darin, im Gegensatz zu vielen Essays in Magazinen, nicht nur als Zeitgeist-Phänomen beschrieben wird.
36 Vgl. Diederichsen, Pop - deskriptiv, normativ, emphatisch, S. 38 f.
37 Vgl.ebd.S. 39f.
- Quote paper
- Tim Theobald (Author), 2011, Be Here Now. Lebensgefühl in der Popliteratur im "Soloalbum" von Benjamin von Stuckrad-Barre, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187357
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