Mit zunehmendem technischen und medizinischen Fortschritt sind in den vergangenen
Jahrzehnten neue Möglichkeiten der Heilung von Krankheiten entstanden. Die
durchschnittliche Lebensdauer konnte dadurch deutlich verlängert werden und insbesondere
im hohen Alter bedeutet eine schwere Krankheit nicht mehr zwangsläufig den Tod. Die
Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass teilweise Patienten unter den lebensverlängernden
Maßnahmen leiden und Monate, wenn nicht sogar Jahre, nur mit Hilfe medizinischer Mittel
weiterleben, wobei die Lebensqualität dabei sehr gering sein kann. Eine Antwort auf die
Frage, ob derartige medizinische Maßnahmen oder deren Beendigung moralisch zu
rechtfertigen sind, ist nicht nach objektiven Maßstäben zu beantworten, sondern eine höchst
subjektive. Die moralische Bewertung der Sterbehilfe divergiert dementsprechend auch stark
innerhalb der Bevölkerung: Argumente, die auf der einen Seite als human beurteilt werden,
können von anderen als unmenschlich und grausam verurteilt werden (vgl. jjc/dpa/ddp 2008).
Die Debatten über das Thema wurden folglich in den letzten Jahren kontrovers geführt.
Mit der Überlegung des Einsatzes sterbeunterstützender Maßnahmen kann jeder in Berührung
kommen. Sei es als Angehöriger, der sich Gedanken über das Leid einer ihm nahestehenden
Person macht, oder als direkt Betroffener. Spätestens im hohen Alter überlegen sich die
meisten Menschen, wie das Lebensende gestaltet werden soll. Es ist also wahrscheinlich, dass
man sich im Laufe des Lebens über die Art und Weise des Ablebens – und damit über
Sterbehilfe – Gedanken machen muss. Und selbst wenn man sich nie direkt in einer kritischen
medizinischen Situation befand, ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema in Form einer
Patientenverfügung üblich. Spätestens beim Verfassen einer solchen Erklärung muss dann
eine Einstellung zur Sterbehilfe gefunden werden. Die Einflussfaktoren über die
Entscheidungen, ob sterbeunterstützende Maßnahmen befürwortet oder abgelehnt werden,
sind sehr vielfältig. Doch welche sind es genau und welchen Einfluss haben diese Faktoren?
Welche Rolle spielen soziodemographische Merkmale wie Alter, Geschlecht oder
Religionszugehörigkeit? Auch untersuchungswürdig ist die Bewertung der unterschiedlichen
Formen der Sterbehilfe wie aktiver und passiver Sterbehilfe sowie des assistierten Suizids.[...]
Inhalt
Vorwort
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theorien und Hypothesen
2.1 Kurzdarstellung der relevanten Theorien
2.2 Hypothesenentwicklung und -darstellung
2.2.1 Hypothesen zur Soziodemograp hie
2.2.2 Hypothesen zur Werteinstellung
2.3 Indikatoren und Operationalisierung
2.4 Entwicklung der Merkmale und Ausprägungen für Vignetten
2.4.1 Design der Vignetten
2.4.2 Erstellung der Vignetten: Methode
3. Datenerhebung und -aufbereitung
3.1 Aufbereitung des Datensatzes
3.2 Rekodierung
3.3 Beschreibung der Stichprobe
4. Univariate Analysen der Zielvariablen
4.1 Analyse der Sterbehilfevariablen
4.1.1 Verteilung der Zustimmungswerte zur Sterbehilfe
4.1.2 Zusammenhänge innerhalb der Sterbehilfevariablen
4.2 Verteilung der Zustimmungswerte der Patientenverfügung
4.3 Univariate Analysen der unabhängigen Variablen zur Sterbehilfe
5. Analyse des Werteinstruments
5.1 Korrelation der Schwartz Wertetypen
5.2 Vergleich Studentenstichprobe zu Respondi-Befragung
5.2.1 Faktoranalyse innerhalb des Werteschemas
5.2.2 Reliabilitätsanalyse der vier angenommenen Wertetypen
6. Bivariate Zusammenhangsanalyse
6.1 Werteeinfluss auf Sterbehilfeformen
6.2 Einfluss soziodemographischer Merkmale auf Sterbehilfe
7. Regressionsanalyse
7.1 Analysemethode
7.2 Empirische Resultate
7.3 Vignettenanalyse
7.3.1 Einflussstärke der Dimensionen
7.4 Interpretation der Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Erklärung zur selbstständigen Anfertigung des LFP-Abschlussberichts
Anhang
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Wertetypen nach Schwartz
Tabelle 2: Korrelationen zwischen den abhängigen Variablen
Tabelle 3: Korrelationen zwischen den Schwartz-Werten der Respondi-Befragung
Tabelle 4: Korrelationen zwischen den Werten der Schwartz et al. Studierendenstichprobe
Tabelle 5: Rotierte Komponentenmatrix
Tabelle 6: Reliabilitätsstatistik;; Index „individualistische Werteeinstellung“
Tabelle 7: Reliabilitätsstatistik;; Index „traditionelle Werteeinstellung“
Tabelle 8: Reliabilitätsstatistik;; Index „hedonistische Werteeinstellung“
Tabelle 9: Reliabilitätsstatistik;; Index „universalistische Werteeinstellung“
Tabelle 10: Dimensionseinfluss
Tabelle 11: Einflussfaktoren
Tabelle 12: Hypothesenprüfung
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Kausalmodell
Abbildung 2: Messmodell
Abbildung 3: Likertskalen
Abbildung 4: Vignettenmodell
Abbildung 5: Verteilung der Zustimmungswerte zur passiven Sterbehilfe
Abbildung 6: Verteilung der Zustimmungswerte zur aktiven Sterbehilfe
Abbildung 7: Verteilung der Zustimmungswerte zum assistierten Selbstmord
Abbildung 8: Verteilung der Zustimmungswerte zum Suizid
Abbildung 9: Boxplot der Sterbehilfevariablen
Abbildung 10: Zustimmungswerte der Patientenverfügung (Item B)
Abbildung 11: Zustimmungswerte der Patientenverfügung (Item C)
Abbildung 12: Zustimmungswerte der Patientenverfügung (Item D)
Abbildung 13: Zustimmungswerte der Patientenverfügung (Item E)
Abbildung 14: Boxplot Sterbehilfe und Geschlecht
Abbildung 15: Kurvendiagramm Sterbehilfe nach Alterskategorien
Abbildung 16: Balkendiagramm passive Sterbehilfe
Abbildung 17: Balkendiagramm aktive Sterbehilfe
Abbildung 18: Balkendiagramm assistierter Selbstmord
Abbildung 19: Balkendiagramm Selbstmord
Abbildung 20: Wahlabsicht
Abbildung 21: Beziehungsstruktur der PVQ-Wertetypen
Abbildung 22: Beziehungsstruktur der Faktoranalyse
Abbildung 23: Kausalmodelle mit standardisierten Koeffizienten
1. Einleitung
Mit zunehmendem technischen und medizinischen Fortschritt sind in den vergangenen Jahrzehnten neue Möglichkeiten der Heilung von Krankheiten entstanden. Die durchschnittliche Lebensdauer konnte dadurch deutlich verlängert werden und insbesondere im hohen Alter bedeutet eine schwere Krankheit nicht mehr zwangsläufig den Tod. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass teilweise Patienten unter den lebensverlängernden Maßnahmen leiden und Monate, wenn nicht sogar Jahre, nur mit Hilfe medizinischer Mittel weiterleben, wobei die Lebensqualität dabei sehr gering sein kann. Eine Antwort auf die Frage, ob derartige medizinische Maßnahmen oder deren Beendigung moralisch zu rechtfertigen sind, ist nicht nach objektiven Maßstäben zu beantworten, sondern eine höchst subjektive. Die moralische Bewertung der Sterbehilfe divergiert dementsprechend auch stark innerhalb der Bevölkerung: Argumente, die auf der einen Seite als human beurteilt werden, können von anderen als unmenschlich und grausam verurteilt werden (vgl. jjc/dpa/ddp 2008). Die Debatten über das Thema wurden folglich in den letzten Jahren kontrovers geführt.
Mit der Überlegung des Einsatzes sterbeunterstützender Maßnahmen kann jeder in Berührung kommen. Sei es als Angehöriger, der sich Gedanken über das Leid einer ihm nahestehenden Person macht, oder als direkt Betroffener[1]. Spätestens im hohen Alter überlegen sich die meisten Menschen, wie das Lebensende gestaltet werden soll. Es ist also wahrscheinlich, dass man sich im Laufe des Lebens über die Art und Weise des Ablebens – und damit über Sterbehilfe – Gedanken machen muss. Und selbst wenn man sich nie direkt in einer kritischen medizinischen Situation befand, ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema in Form einer Patientenverfügung üblich. Spätestens beim Verfassen einer solchen Erklärung muss dann eine Einstellung zur Sterbehilfe gefunden werden. Die Einflussfaktoren über die Entscheidungen, ob sterbeunterstützende Maßnahmen befürwortet oder abgelehnt werden, sind sehr vielfältig. Doch welche sind es genau und welchen Einfluss haben diese Faktoren? Welche Rolle spielen soziodemographische Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit? Auch untersuchungswürdig ist die Bewertung der unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe wie aktiver und passiver Sterbehilfe sowie des assistierten Suizids. Denn im Gegensatz zur passiven muss das medizinische Personal bei der aktiven Sterbehilfe zur Beendigung des Lebens mehr Maßnahmen anwenden, als nur das Abschalten der Geräte. Die aktive Sterbehilfe ist wie der assistierte Suizid dadurch viel weiteichender und unterliegt
anderen gesetzlichen Grundlagen.
Kurzum: In der vorliegenden Arbeit sollen keine moralischen Fragen beantwortet werden. Stattdessen soll untersucht werden, welche moralischen Einstellungen existieren und welche Effekte auf sie wirken.
A k t u e ll e r Forschungsstand
In und von den Medien durchgeführte Meinungsumfragen zur Haltung gegenüber der Sterbehilfe (aktive wie passive) zeigten in der Vergangenheit ein recht eindeutiges Bild: Zustimmung. In vielen Befragungen befürworteten mehr als 70% der Befragten die Sterbehilfe (vgl. Welt Online 2005; Kamann 2009).
Mehrere Umfragen zeichneten dabei allerdings ein ungenaues Bild der Realität und
entsprachen nicht den qualitativen Maßstäben einer aussagekräftigen und repräsentativen Befragung. So dienten viele Umfragen zur Sterbehilfe, die ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden, dem Zweck, diese Öffentlichkeit nach dem Gusto der Auftraggeber zu beeinflussen: Das Ergebnis einer Befragung der Organisation „Christdemokraten für das Leben“ (CDL), die sich für Hospize und Palliativmedizin einsetzt, zeigte beispielsweise, dass nur 35% der Bevölkerung (aktive) Sterbehilfe befürworteten (vgl. Christdemokraten für das Leben e.V.) . Auffällig sind im Vergleich dazu auch diese Ergebnisse: Das Institut Allensbach erhob 2008 eine Zustimmung von 58% für aktive und 72% für passive Sterbehilfe (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2008). Zwar fokussierte diese Studie die Zustimmung zur Sterbehilfe recht genau in Bezug auf entsprechende soziodemographische Merkmale, aber die Umfrage wurde in einer Zeit hoher Medienaufmerksamkeit des Themas geführt und wies einige unglückliche Frageformulierungen (z.B. „[…]Sind Sie für oder gegen die aktive Sterbehilfe?“) auf (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2008). Das Medienecho dieser Umfrage war groß (vgl. RP Online 2008; Welt Online 2008) und betrachtete dabei vor allem die Widersprüche zwischen dem in der Umfrage gemessenen deutschen Meinungsbild und der von Ärzten und Kirchen vertretenen offiziellen Haltung zur aktiven Sterbehilfe: So waren laut der Studie mehr als die Hälfte der befragten Katholiken und Protestanten für die aktive beziehungsweise passive Sterbehilfe, obwohl zumindest die aktive Sterbehilfe von beiden Kirchen kategorisch abgelehnt wird (vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche).
Eine Folgerung daraus lautet, dass die Erfassung des Meinungsbildes über Sterbehilfe
erheblich differenziert werden muss, um die verzerrende Wirkung von Frageeffekten und subjektiven Implikationen in der Umfrage zu vermeiden. Eine solche Umsetzung findet sich in der von Helou et al. im Jahr 2000 durchgeführten Vignettenanalyse mit
Situationsbeschreibungen, Entscheidungsgesichtspunkten und Meinungen zu Sterbehilfe-
Argumenten, auf die sich aufgrund der guten Ausschöpfung der Ergebnisse auch diese Arbeit bezogen hat (vgl. Helou et al. 2000). Die relativ hohe Rücklaufquote von ungefähr 89% und die Erkenntnis, dass die Einstellung zur Sterbehilfe beim Befragten von vielen Faktoren abhängt, spricht für die gewählte Methodik der Vignettenanalyse (vgl. Helou et al. 2000, S. 308). Insbesondere das Ausschalten des Effektes der „sozialen Erwünschtheit“ und die Möglichkeit, „die Einflussgewichte komplexer Ursachenkonstel ationen zu ermitteln“ (Diekmann 2005, S. 348), spielt bei der Frage nach der Einstellung zur Sterbehilfe eine wichtige Rolle und empfiehlt die Nutzung dieses Designs bei ähnlichen Studien.
Dennoch deckt auch die Arbeit von Helou et al. nicht alle Bereiche ab, die erforschungswert
wären. So wurde in dieser Befragung nur nach aktiver Sterbehilfe gefragt, ohne diese genau zu definieren. Zudem wurde nicht erwähnt, dass es die Möglichkeit der palliativmedizinischen Sterbebegleitung als Alternative gibt und auch die Situationsbeschreibungen könnten ausdifferenzierter sein sowie in einigen Details verbessert werden, um klarere Ergebnisse zu erhalten.
Im Zuge der Diskussion um mögliche Verbesserungen der Umfragemethodik stieß die Arbeitsgruppe um Helou auch das Problem an, dass die Ergebnisse öffentlicher Umfragen zum Thema Sterbehilfe nicht instrumentalisiert werden dürften und ein verantwortungsbewusster Umgang mit den Erkenntnissen angezeigt ist (vgl. Helou et al. 2000, S. 314). So wurde denn auch in vielen Studien der Versuch unternommen, nur definierte Bevölkerungsteile, die in die Debatte beziehungsweise den Prozess um die Sterbehilfe-Kontroverse eingebunden waren, zu ihren Einstellungen zu befragen. Hohe Wellen schlug dabei die Umfrage unter Ärzten von TNS Healthcare, die im Auftrag des Spiegels 2008 durchgeführt wurde (vgl. Spiegel Online 2008). Sie zeigte, dass mehr als ein Drittel der befragten Mediziner passive Sterbehilfe durchführen würden (16% für aktive Sterbehilfe).
In einer älteren Studie wurden 2003 die Einstellungen zu Sterbehilfe, Patientenverfügungen und Stellvertreterentscheidungen von Vormundschaftsrichterinnen und -richtern unter anderem mittels Vignettenanalyse erhoben (vgl. Simon et al. 2003). Hier zeigte sich eine sehr hohe Zustimmung von mehr als 90% zu passiver Sterbehilfe für Fälle, in denen der Patient die Durchführung wünschte.
Es zeigt sich, dass insbesondere die Methodik der Fragestellung und die Stichprobenauswahl entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse in der Erforschung moralischer Einstellungen wie der Sterbehilfe hat.
Die vorliegende Arbeit ist in insgesamt sieben Abschnitte eingeteilt. Nach der Einleitung folgt
der Theorie- und Hypothesenteil. Hier werden die relevanten Theorien kurz vorgestellt und
die Hypothesenentwicklung sowie die Operationalisierung und Indikatoren der Erhebung dargestel t. Im dritten Abschnitt („Datenerhebung und -aufbereitung“) geht es um die Aufbereitung des Datensatzes. Im vierten Abschnitt werden die univariaten Variablen analysiert und im fünften Abschnitt findet die Analyse des eingesetzten Werteinstrumentes statt. Die bivariate Zusammenhangsanalyse folgt in Abschnitt sechs und im siebten Abschnitt wird die Regressionsanalyse durchgeführt und die Ergebnisse werden interpretiert.
2. Theorien und Hypothesen
2.1 Kurzdarstellung der relevanten Theorien
F orschung von moralischen Einstellungen
Eine grundlegende Fragestellung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist methodischer Natur. Da Wertehaltungen und Einstellungen zu verschiedenen Formen der Sterbehilfe untersucht werden, musste ein möglichst valides Instrument gefunden werden, mit dem die Haltung und Einstellung gemessen werden kann. Problematisch an einer direkten Frage ist, dass die tatsächliche eigene Meinung nicht reflektiert wird. Eine tiefere Befassung des Themas findet damit nicht zwangsläufig statt. Auch können schwierige Fragen nicht pauschal beantwortet werden, da die Haltung dazu von vielen Umständen abhängig ist. Bei der tiefgehenden Überprüfung der Einstellung zur Sterbehilfe müssen also die wichtigsten Variablen im Zusammenspiel mit der Bewertung der verschiedenen Formen der Sterbehilfe eine Rolle spielen. Möglich ist dies in einer Situationsbeschreibung, die zur Beurteilung vorgelegt wird. Diese Situationsbeschreibungen werden in der Umfrageforschung Vignetten genannt. Peter H. Rossi entwickelte diese 1951, die Idee stammt ursprünglich von Paul F. Lazarsfeld (vgl. Dülmer 2001).
Vignetten sind eine Kombination einer bestimmen Anzahl an Merkmalsausprägungen, die dem Befragten als zu beurteilenden Fall vorgelegt werden. Auf diese Weise werden nicht nur einzelne Items abgefragt, sondern „einzelne Merkmalsausprägungen experimentel vari ert“ (Auspurg et al. 2009b, S. 1). Das Vignettendesign kombiniert „die Vorteile der Umfrageforschung mit denen experimenteller Designs“ (Auspurg et al. 2009b, S. 1). Dadurch lässt sich der Einfluss der einzelnen Merkmale auf die Entscheidung des Befragten zurückführen, indem aus einem unterschiedlichen Antwortverhalten innerhalb der Vignetten rückwirkend die Relevanz der einzelnen Merkmalsausprägungen errechnet wird (vgl. Auspurg et al. 2009b, S. 1; Diekmann 2005, S. 346). Es können zudem unterschiedliche Gründe für die Bewertung der Sterbehilfe herausgefunden werden, selbst wenn die eigentliche Bewertung identisch ist (vgl. Dülmer 2001, S. 2).
W e r t e d e f i n i t i on
Ein weiterer Ansatz dieser Arbeit befasst sich mit der Frage, auf welcher Grundlage individuelles Handeln und subjektive Vorstellung fußt. Um Erklärungsmuster sowohl für Einstellungen einzelner als auch für das Zusammenhalten ganzer Gesellschaften zu finden, bedienen sich Sozialpsychologie und Sozialwissenschaften vermehrt Werten beziehungsweise Wertvorstellungen, welche als Orientierungsfunktion für das Individuum dienen und aus denen klar ableitbare Handlungen resultieren sollen (vgl. Duncker 1998, S. 15–17).
„Darauf aufbauend haben ‚geteilte‘ Werte die Funktion, subjektiv handelnde Individuen in ein Gesellschafts- oder Organisationskollektiv zu integrieren. Werte bilden somit den Analysegegenstand, anhand dessen geklärt werden kann, warum Individuen handeln, wie sie handeln, und wie diese Handlungen zu bestimmten gesel schaftlichen Transformationsprozessen führen.“ (Groddeck 2011, S. 39).
Trotz der interdisziplinären Verbreitung der Werteforschung scheint es – von der Vielzahl an Wertedefinitionen ausgehend – nicht gelungen zu sein, eine allgemeingültige Definition des Wertebegriffs zu formulieren. Als Minimalkonsens bildete sich eine Abgrenzung zum Normbegriff heraus, wonach Werte „diejenigen Zustände des gesel schaftlichen Lebens darstellen, die als e rs t r e benswert gelten. Normen hingegen sind Verhaltensweisen, die mehr oder weniger als v e r pflichtend gelten.“ ( jjc/dpa/ddp 2008, S. 18)
Als zentrale Funktionen von Werten gelten in der Sozialpsychologie folgende Annahmen. (Witte 1989):
Es existiert eine geringe Anzahl zentraler Werte, die das alltägliche Bewerten entsprechend sozialisierter Individuen bestimmen (Anpassungsfunktion)
Die individuelle Wichtigkeitsbeurteilung dieser zentralen Werte bezeichnet man als Werthaltung (Funktion der Identitätswahrung)
Abhängig von der individuellen Werthaltung werden bestimmte Regeln zur Bildung einer Erwartung aus gespeicherten Informationen herangezogen (Bewertungsfunktion)
Abhängig von der individuellen Werthaltung wird die Abweichung von der Erwartung verschieden bewertet (Orientierungsfunktion)
Abhängig von der individuellen Werthaltung wird eine Handlung ausgewählt, welche die Identität wahrt (Selbstdarstellungsfunktion)
Shalom H. Schwartz identifiziert ergänzend noch weitere Eigenschaften, die Werten grundsätzlich zugesprochen werden; so könne man sie in ihrer subjektiv empfundenen Relevanz rangordnen und behalten in der Regel unabhängig von aktuellen Gegebenheiten ihre Orientierungsfunktion bei (vgl. Schwartz 2003, S. 262). Darüber hinaus dienen gewisse Wertvorstel ungen nach Schwartz auch als Ausdrucksform für „motivational goals“ (Schwartz 2003, S. 297), also individuellen Zielsetzungenen, die aus dem abstrakten Konstrukt des Wertebegriffs ableitbar sind.
Anknüpfend an die dargelegten Annahmen der Forschung soll geprüft werden, ob die Werthaltung einzelner Personen – im Rahmen der Thematik Sterbehilfe – sowohl das eigene Handeln und Verhalten beeinflusst als auch eine Reflexions- und Bewertungsbasis für das Handeln und Verhalten anderer darstellt.
2.2 Hypothesenentwicklung und -darstellung
2.2.1 Hypothesen zur Soziodemographie
Die folgenden Hypothesen, die sich auf die soziodemographischen Merkmale der Befragten beziehen, orientieren sich in ihrer Wirkungsrichtung an Ergebnissen einer Allensbach- Umfrage von 2008 (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2008).
A l t e r
Je älter die Befragten sind, desto größer ist die Zustimmung von passiver beziehungsweise die Ablehnung von aktiver Sterbehilfe. Jüngere Menschen befürworten beides eher.
Diese im Folgenden als G e nerationshypothese bezeichnete Annahme stützt sich auf die Allensbach-Umfrage und wird damit begründet, dass ältere Menschen größere Erfahrung mit Krankheit oder Tod haben und daher der aktiven Sterbehilfe distanzierter begegnen. Passive Sterbehilfe wird stark mit Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gleichgesetzt und somit auch von Älteren befürwortet (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2008).
G e s c h l e c h t
Bei der Zustimmung beziehungsweise Ablehnung von Sterbehilfe gibt es keinen geschlechterspezifischen Effekt.
Es wird vermutet, dass die Einstellung gegenüber der Sterbehilfe eher von implementierten Werten der Einzelperson abhängt, sodass sich kein signifikanter Unterschied zwischen Männern und Frauen hinsichtlich ihrer Meinung zeigen sollte. Diese These wird in den weiteren Analysen als G e nderhypothese bezeichnet.
R e li gion
a) Je höher die Kirchgangshäufigkeit der Befragten ist, desto eher lehnen sie die Sterbehilfe ab.
b) Katholiken lehnen die Sterbehilfe eher ab als Protestanten.
c) Die Befürwortung der Sterbehilfe ist bei Mitgliedern der katholischen oder evangelischen Religionsgemeinschaft geringer als bei jenen, die keiner oder einer anderen Glaubensrichtung angehören.
Bei der formulierten R e li giositätshypothese ist davon auszugehen, dass sich religiöse Befragte von der offiziellen Haltung ihrer Religionsgemeinschaft leiten lassen und die Sterbehilfe eher ablehnen. Dass Protestanten dabei liberaler sind als Katholiken, geht auf Ergebnisse der Allensbach-Umfrage zurück. Personen, die weder katholisch noch evangelisch sind beziehungsweise keinen religiösen Lebensstil führen, besitzen weniger Zwänge, Vorgaben oder Implementierungen seitens einer übergeordneten Institution wie der Kirche. Daher ist damit zu rechnen, dass diese der Sterbehilfe positiver gegenüber stehen (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2008).
2.2.2 Hypothesen zur Werteinstellung Portraits Value Questionnaire
Einen bedeutenden Beitrag zur empirischen Werteforschung leistete Shalom H. Schwartz mit der Entwicklung eines auf dem Werte-Inventar Milton Rokeachs basierenden theoretischen Model s. Mit dem „Schwartz Value Survey“ (SVS) wurde ein Instrument entwickelt, dass auf Grundlage von 57 Einzelwerten eine Identifizierung von zehn grundlegenden Wertetypen ermöglicht (vgl. Schwartz 2007, S. 263–264). Trotz empirisch erbrachter Belege für die Validität der Theorie menschlicher Werte, stellten sich mit dem hohen Komplexitätsgrad und der überdurchschnittlichen Bearbeitungszeit des SVS Schwachpunkte heraus, welche es galt, durch Entwicklung eines neuen Messinstrumentes zu beseitigen. Darüber hinaus sollte die Frage geklärt werden, ob sich die postulierten Wertetypen auch über eine vom SVS
abweichende Erhebung bestätigen lassen (vgl. Schwartz 2007, S. 263). Als Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses entstand eine 40 beziehungsweise 21 Items umfassende Batterie, die anhand kurzer verbaler Portraits verschiedener Persönlichkeiten eine indirekte Messung von Werthaltungen ermöglicht. Das sogenannte „Portraits Value Questionnaire“ (PVQ) beschreibt dabei „Ziele, Erwartungen oder Wünsche einer Person, die implizit auf die Wichtigkeit eines einzelnen Wertetyps hinweisen“ (Schwartz 2007, S. 263). Durch den individuellen Abgleich der Befragten mit den beschriebenen Charakteren und der damit vermiedenen direkten Abfrage zentraler Werthaltungen soll eine Fokussierung auf die zentralen Aspekte erreicht werden, während gleichzeitig eine Verzerrung durch ein sozial erwünschtes Antwortverhalten möglichst gering gehalten wird. Besondere Relevanz für die Überprüfung eines Werteeinflusses auf die Einstellung zu bestimmten Untersuchungsfeldern erlangt das Modell von Shalom H. Schwartz zudem, da die Theorie eine Wechselwirkung zwischen den Wertetypen postuliert: „So geht Schwartz davon aus, dass die Handlungsorientierung an einem Wertetyp Konsequenzen hat, die mit der Handlungsorientierung an einem anderen Wertetypen entweder in Konflikt stehen oder übereinstimmen“ (Schwartz 2007, S. 262). So ließe sich, im Falle eines Einflusses der Werthaltung auf das Analysefeld, eine klare Abgrenzung innerhalb der identifizierten Gruppen erkennen, welche die Erklärleistung der Ergebnisse steigert.
Tabelle 1: Wertetypen nach Schwartz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Q uelle: Schwartz 2007, S. 262.
Bei der Übersetzung der vermuteten Wechselwirkung zwischen individuellen Werteeinstellungen und der Thematik der Sterbehilfe in überprüfbare Hypothesen dient im Folgenden die grundsätzliche Beziehungsstruktur des PVQ: Diese wird jedoch nicht deckungsgleich übernommen, da bei einer Wertegruppierung ein von den Ergebnissen Shalom H. Schwartz abweichender Zusammenhang vermutet wird. Die zu definierenden Bereiche sind t r aditionelle Werte, i ndividualistische Werte, hedonistische Werte sowie postmaterialistische Werte. Diese orientieren sich sinnhaft sowohl an der von Schwartz et al. vorgenommenen Beschreibung der zehn Wertetypen (Tabelle 1) als auch an den gängigen Klassifikationsmustern der Wertewandelforschung (vgl. bspw. Duncker 1998).
W e r t e h ypothese І – traditionelle Werteeinstellung
Je größer die Wichtigkeit der traditionellen Werte Tradition, Sicherheit und Konformität eingestuft werden, desto geringer ist die Zustimmung zu jeglicher Form der Sterbehilfe.
Die in dieser Wertegruppe verorteten Grundsätze sind von starker konservativer Prägung und tendenziell auf eine Rückbesinnung zu bewährten Mustern ausgerichtet. Dementsprechend wird vermutet, dass diese Werthaltung die Einstellung zur Sterbehilfe negativ beeinflusst, da zum einen der Eingriff in das Leben eines Menschen wesentliche traditionelle Prinzipien
verletzt und zum anderen die enge Verwurzelung dieser Wertegruppierung mit Institutionen wie Glaubensgemeinschaften oder der hohe Stellenwert der Familie in der Regel eine Befürwortung lebensbeendender Maßnahmen hemmen.
W e r t e h ypothese ІІ – individualistische Werteeinstellung
Je größer die Wichtigkeit individualistischer Werte wie Macht, Leistung und Selbstbestimmung eingestuft werden, desto größer ist die Zustimmung zu jeglicher Form der Sterbehilfe.
Zukunftsorientiertes und ein auf das Individuum zentrierte Verhalten ist die grundsätzliche Losung der sich in dieser Werthaltung befindlichen Einstellungen. Hintergrund der Überlegung einer positiven Bewertung der Sterbehilfe ist die Annahme, dass eine durch schwere Krankheit oder körperliche Leiden bedingte Beeinträchtigungen zentraler Motive eines von individuellen Wertvorstellungen geprägten Personenkreises die subjektiv empfundene Lebensqualität schwinden lässt.
W e r t e h ypothese ІІІ – hedonistische Werteeinstellung
Je größer die Wichtigkeit der Werte Hedonismus und Stimulation eingestuft werden, desto größer ist die Zustimmung zu jeglicher Form der Sterbehilfe.
Die hedonistischen Werte implizieren ein aufregendes und vielseitiges Leben sowie eine aktive und impulsive Lebensführung. Körperliche Unversehrtheit und eine intakte Gesundheit sind dabei Grundvoraussetzungen für eine hedonistische Lebensführung. Eine positive Einstellung gegenüber der Sterbehilfe lässt sich dahingehend von dieser Wertegruppierung ableiten, da durch Krankheit beziehungsweise Einschränkungen jeglicher Form ein auf Mobilität beruhender und unterhaltungsorientierter Lebensstil starke Einschnitte erfahren würde. Eine daraus resultierende geminderte Lebensqualität könnte eine positive Haltung gegenüber der Sterbehilfe erklären.
W e r t e h ypothese ІV – universalistische Werteeinstellung
Je größer die Wichtigkeit universalistischer Werte wie Universalismus und Benevolenz eingestuft werden, desto geringer ist die Zustimmung zur Sterbehilfe.
Universalistische Werte setzen einen starken Fokus auf eine Mehrung des Allgemeinwohls sowie auf eine Weiterentwicklung der Gesellschaft; der Gegenwart wird weniger Relevanz als den zu erreichenden Idealen eingeräumt. Sterbehilfe ist dahingehend eher konträr zu dieser Wertegruppe zu sehen, da bei einer solchen Handlung nicht der gesellschaftliche Rückhalt eingefordert wird, sondern persönliche Belange maßgebend sind. Personen mit universalistischer Werteeinstellung dürften daher der Sterbehilfe eher negativ gegenüberstehen, da andere Optionen wie Seelsorge, Pflege oder die Palliativmedizin als erstrebenswerter erachtet werden. Das folgende Kausalmodell gibt eine Übersicht über die zu prüfenden Hypothesen.
Abbildung 1: Kausalmodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A nmerkung: Ein negativer Zusammenhang wird mit einem „-" Zeichen dargestellt und ein positiver Zusammenhang mit
e i nem „+" Zeichen.
2.3 Indikatoren und Operationalisierung
In der Erhebung werden nicht nur die relevanten Items zur Sterbehilfe, sondern auch zur Thematik der Organspende abgefragt. Im Folgenden wird die Operationalisierung der für die Hypothesenprüfung und sonstiger relevanter Variablen dargestellt.
S oziodemographische Merkmale
Die soziodemographischen Merkmale werden hauptsächlich durch konkrete Abfragen operationalisiert.
Für die aufgestellten Hypothesen relevant ist die Itembatterie, welche den Befragten moralisch urteilen lässt. Durch eine moralische Bewertung kann indirekt herausgefunden werden, welche Haltung eine Person zu einem Aspekt hat. Daher beinhalten diese Fragen die
entscheidenden abhängigen Variablen. Abgefragt wird neben Items der Gruppe
„Organspende“ die Meinung zu den Sachverhalten „aktive Sterbehilfe (Arzt verabreicht auf Patientenwunsch ein tödliches Mittel)“, „assistierter Selbstmord (Arzt stellt auf Patientenwunsch tödliches Mittel zur Selbsteinnahme bereit)“, „passive Sterbehilfe (lebensverlängernde Maßnahmen einstellen/unterlassen)“ und „Selbstmord“. Die Abstufung erfolgt in einer 7-stufigen Likertskala („ist nie zu rechtfertigen“ bis „ist immer zu rechtfertigen“) sowie einer Ausweichmöglichkeit („weiß nicht“). Die Validität ist durch den Indikator „moralisches Urteil“ nicht vollständig gegeben, sofern das Antwortverhalten auf die eigene Haltung des Befragten bezogen werden soll. Sie gibt aber sinnvolle Rückschlüsse, die durch Vignetten ergänzt werden. Der Vorteil dieser einfachen Messung ist die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, die eine Wiederholung und damit eine Messung der Reliabilität leicht ermöglicht.
Die Operationalisierung der unabhängigen Variablen geschieht ebenfalls hauptsächlich durch konkrete Items. Die Erhebung der Religion erfolgt durch eine direkte Frage nach der Konfession und einer Auswahlmöglichkeit aus den acht geläufigsten Religionsgemeinschaften. Zusätzlich kann die Angabe gemacht werden, keiner oder einer anderen Religion angehörig zu sein. Die neutrale Antwortmöglichkeit „keine Angabe“ ist ebenfalls möglich. Die Religiosität wird durch eine 7-stufige Likertskala gemessen, die direkt fragt, für wie religiös man sich hält („sehr religiös“ bis „nicht religiös“). Zusätzlich besteht eine Ausweichmöglichkeit in der Antwortmöglichkeit „weiß nicht“. Eine derartige Abfrage ist sinnvoll, da Religiosität ein relativer Begriff ist, der je nach Religion anders definiert werden kann. Um objektive Werte zu haben, wird in einem weiteren Schritt abgefragt, wie oft der Befragungsteilnehmer, abgesehen von besonderen Anlässen wie Hochzeiten und Beerdigungen, einen Gottesdienst besucht. Damit sich alle Gläubigen angesprochen fühlen, werden explizit die gängigen Gotteshäuser aufgelistet (Kirche, Moschee, Synagoge, Tempel). Es existieren insgesamt acht Antwortmöglichkeiten („täglich“ über „häufiger als einmal in der Woche“ und „nur an besonderen Feiertagen“ bis „nie“) sowie die Ausweichmöglichkeiten
„weiß nicht“ und „keine Angabe“. Ergänzt wird die Abfrage mit der Spiritualität, also ob
„eine innere Verbindung zu einer Wirklichkeit jenseits der materiellen Existenz“ gefühlt wird. Dies wird ebenfalls mit einer 7-stufigen Likertskala sowie einer Ausweichmöglichkeit abgefragt. Mit diesen drei Items sollen valide Ergebnisse über die religiöse Haltung der Befragten erreicht werden, die zudem leicht reproduzierbar sind.
Die politische Orientierung wird mit einer klassischen „Sonntagsfrage“, die die Wahlabsicht abfragt, sowie in einer Links-Rechts-Selbsteinstufung erhoben. Die Kombination dieser beiden Erhebungsmethoden sorgt für relativ valide Ergebnisse, auch wenn nicht jeder
Einzelfall erfasst werden kann. Ein liberalerer Nichtwähler kann sich beispielsweise schwer in der Links-Rechts-Selbsteinstufung einordnen und wird dadurch nicht bei der Abfrage nach der Wahlabsicht erfasst. Diese Einzelfälle könnten durch andere Erhebungsmethoden aufgefangen werden soll (vgl. von Hayek 1971, S. 482–483), die aber zu umfassend und zeitintensiv wären.
Direkt abgefragt werden die soziodemographischen Merkmale Geschlecht und Schulabschluss („noch Schüler“ bis „Promotion /Universität“). Über al e Items kann so ein möglichst breites Spektrum abgedeckt werden, dem sich alle Teilnehmer einordnen können.
Bei der Erfassung zur Einstellung gegenüber dem Einsatz von Patientenverfügung wurden vier verschiedene Einstellungen abgefragt. Das Erste stellt die Frage, ob es Ärztinnen und Ärzten erlaubt sein soll, „die letztgültige Entscheidung darüber zu treffen, was richtig ist, selbst wenn dies dem widerspricht, was die Patientenverfügung über den Willen der Person sagt“. Die Antwortmöglichkeiten reichen von „auf gar keinen Fall erlaubt“ über „eher nicht erlaubt“ und „eher erlaubt“ bis „auf jeden Fall erlaubt“. Das zweite Item überprüft, ob die befragten Personen Ärzte dazu verpflichten würden, die Patientenverfügung zu erfüllen („Ärztinnen und Ärzte verpflichten, die Vorgaben einer Patientenverfügung umzusetzen“). Hier reichen die Antwortmöglichkeiten von „auf jeden Fall verpflichtend“ bis „auf keinen Fall verpflichtend“. Bei der konkreten Nachfrage, ob das Gesetz Ärzten vorschreiben soll,
„Patienten nach den Anweisungen der Patientenverfügung zu behandeln“, reichen die Antwortmöglichkeiten wieder von „auf gar keinen Fall erlaubt“ bis „auf jeden Fall erlaubt“, genauso wie beim letzten Item. Dieses fragt schließlich nach dem Einfluss der engsten Verwandten, ob „Patienten nach den Anweisungen der Patientenverfügung zu behandeln [sind], auch dann, wenn enge Verwandte diese nicht wollen“.
Für die Operationalisierung des Werteansatzes wurde auf das von Shalom H. Schwartz für das European Social Survey konzipierte PVQ zurückgegriffen. Dieses Instrument besteht aus kurzen verbalen Portraits, welche verschiedene Ziele, Hoffnungen oder Wünsche einzelner Personen beschreiben. Jedes Portrait beinhaltet einen von zehn postulierten Wertetypen.
Die Befragten werden gebeten, für jede beschriebene Person eine Einschätzung auf einer 6- stufigen Likertskala anzugeben, wie ähnlich oder unähnlich sie der vorgestellten Persönlichkeit sind. Der Aufbau der Portraits folgt dabei einer grundsätzlichen Struktur:
“Most items of the scale consist of two parts: a sentence mentioning the importance of a value and a second sentence indicating what a person likes or wants to do. The importance statements are indeed clear value statements. The second sentence presents a feeling or a behavioral intention” (Schwartz 2003, S. 301).
Diese Werteabfrage wurde dabei je nach Geschlecht des Befragten sprachlich angepasst. Dadurch soll es möglich sein, zehn Wertetypen über die in diesem Fragebogen verwendete –
21 Items umfassende – Version des PVQ innerhalb von fünf bis sechs Minuten abzufragen
Abbildung 2: Messmodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(vgl. Schwartz 2003, S. 274).
Das Messmodell soll einen Überblick über die in dieser Arbeit relevanten unabhängigen und abhängigen Variablen liefern.
Die abhängigen Variablen sind die moralischen Rechtfertigungsitems „aktive Sterbehilfe“,
„assistierter Selbstmord“, „passive Sterbehilfe“ und „Selbstmord “.
2.4 Entwicklung der Merkmale und Ausprägungen für Vignetten
Das eingesetzte Vignettendesign (auch faktorielles Survey genannt) unterliegt bei der Untersuchung zur Sterbehilfe der Annahme, dass die Haltung zur Sterbehilfe grundsätzlich schwer pauschal befürwortend oder ablehnend bewertet werden kann, da die Umstände, in der eine Durchführung der Sterbehilfe denkbar ist, sehr unterschiedlich sind. Durch das vorliegende faktorielle Survey soll herausgefunden werden, welche Aspekte dazu führen, dass eine Person die Beendigung lebenserhaltener Maßnahmen beziehungsweise die Sterbehilfe ablehnt oder befürwortet. Die Vignetten haben zugleich den Vorteil, dass der Gebrauch der Schlagwörter „aktive“ und „passive Sterbehilfe“ durch eine umschreibende Formulierung vermieden werden kann, was wichtig ist, da diese Begriffe bereits eine wertende Konnotation für die befragten Personen besitzen können.
2.4.1 Design der Vignetten
Die Vignetten bestehen aus den Dimensionen „Alter“, „Diagnose“, „Willensäußerung des Patienten“, „Willensäußerung der Angehörigen“ und „Haltung des Arztes“. Die Anzahl der Dimensionen ist damit unterhalb der gängigen Obergrenze von sieben Ausprägungen (vgl. Auspurg et al. 2009b, S. 65). Der Befragte hat auf Basis der Vignetten ein Urteil darüber zu fällen, welche Maßnahmen aus seiner Sicht durchgeführt beziehungsweise nicht durchgeführt werden sollen. Je nach Vignettenmerkmal stehen die Antwortskalen passive Sterbehilfe („Lebenserhaltende Maßnahmen beenden“), aktive Lebensverlängerungsmaßnahme („Potentiel lebensrettende Operationen in jedem Fall durchführen“), aktive Sterbehilfe („Leben mit Hilfe medizinischer Mittel durch einen Arzt beenden“) oder assistierter Suizid („Bereitstel ung eines tödlichen Medikaments zur Selbsteinnahme“) zur Auswahl. Die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten sind abhängig davon, ob sie im Kontext mit der Vignette realistisch sind. So ist beispielsweise in Fällen, in denen keine lebenserhaltenen Maßnahmen vonnöten sind, eine Beendigung derselben unmöglich und die Antwortmöglichkeit „Lebenserhaltende Maßnahmen beenden“ steht nicht als Option zur Auswahl. Grundsätzlich existieren zwei Antwortmöglichkeiten, was bei faktoriellen Surveys durchaus üblich ist (vgl. Auspurg et al. 2009a, S. 188), allerdings in bisherigen Untersuchungen zur Sterbehilfe nicht angewandt wurde (vgl. (Dülmer 2001; Auspurg et al. 2009a).
Die Bewertung der Antwortkategorien erfolgt in 5-stufigen Likertskalen, die von vollständiger Zustimmung („Stimme voll und ganz zu“) bis zu vollständiger Ablehnung („Stimme überhaupt nicht zu“) reicht. Durch die fünf Skalen wird denjenigen, die sich nicht eindeutig entscheiden konnten oder wollten, die Möglichkeit geboten, dies kenntlich zu machen. Dadurch existiert eine neutrale Antwortmöglichkeit, damit Meinungslose oder Unentschiedene erkannt werden können und diese sich nicht zwangsläufig für eine Antwortkategorie entscheiden müssen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Likertskalen
Die oben genannten Merkmale wurden gewählt, da von diesen anzunehmen ist, dass sie die Haltung zur Sterbehilfe beeinflussen. Das Alter des Patienten hat mit j ung („26 Jahre alt“) und alt („81 Jahre alt“) zwei sich deutlich voneinander unterscheidende Ausprägung, um einen potentiellen Einfluss des Alters auf die Befragten extrahieren zu können. Aus diesem Grund wurde auch von einer weiteren Ausdifferenzierung dieses Merkmals abgesehen.
Das zweite Merkmal „Diagnose“ besitzt die vier Ausprägungen Lähmung („nach einem Unfal halsabwärts gelähmt und sitzt im Rollstuhl“), kritische Krebserkrankung („hat Darmkrebs, leidet unter starken Schmerzen und muss sich mehreren kritischen Operationen unterziehen, um eine Überlebenschance zu haben“), Koma („liegt nach einem Unfal im Koma“) und Palliativfall („eine Heilung ist ausgeschlossen und eine medizinische Behandlung lindert nur noch die Symptome“). Diese vier Ausprägungen sollen realistische Optionen darstellen, in denen eine Sterbehilfe in Frage kommen könnte und stellen zugleich aktuelle juristische Grenzen der Anwendung der Sterbehilfe dar (vgl. Simon 2010; Prof. Dr. Winfried 2011). Auch sind alle Ausprägungen in Kombination mit beiden Alterskategorien denkbar. In der Ausprägung L ähmung ist eine Abhängigkeit von lebenserhaltenen Maßnahmen unlogisch, weshalb hier die Antwortmöglichkeit „passive Sterbehilfe“ mit
„assistierter Suizid“ ersetzt wurde. Die Ausprägung wurde gewählt, da diese einen Extremfall darstellt und herausgefunden werden soll, ob Personen Sterbehilfe beziehungsweise den assistierten Suizid befürworten, wenn keine unmittelbare beziehungsweise potentielle Lebensgefahr besteht. Die Ausprägung k r i t i s c he Krebserkrankung wurde ausgewählt, da hier
– anders als im P alliativfall – eine Überlebenschance besteht, der Patient dafür allerdings
einen langwierigen und möglicherweise schmerzhaften Behandlungsprozess in Kauf nehmen müsste. Interessant ist das Merkmal der k r i t i s c hen Krebserkrankung im Hinblick auf die
Einstellungen jener, die die Sterbehilfe tendenziell befürworten, auch deshalb, da hier ein medizinischer Eingriff nicht nur lebensverlängernd, sondern prinzipiell heilend wirken könnte. Die Antwortmöglichkeit passive Sterbehilfe wird aus logischen Gründen in diesem Fall durch aktive Lebensverlängerungsmaßnahme ersetzt. Die zweite Antwortskala ist aktive Sterbehilfe, da nur so das Leiden vorzeitig beendet werden kann. Als dritte mögliche Ausprägung der Dimension „Diagnose“ wurde K oma ausgewählt, da sich in dieser Situation der Patient in keiner Weise äußern kann und so die eigene Patientenverfügung oder auch der Wille Verwandter beziehungsweise des Arztes wichtiger werden könnten. Für diese Ausprägung sind sowohl die Antwortkategorien aktive Sterbehilfe als auch passive Sterbehilfe möglich, was eine direkte Gegenüberstellung der beiden Sterbehilfemethoden ermöglicht. Die Ausprägung P alliativfall setzt im Gegensatz zum K oma voraus, dass der Patient nur noch eine geringe Lebenserwartung hat. Aus einer unterschiedlichen Bewertung kann daher geschlossen werden, dass es für die Befragten relevant ist, ob ein Patient möglicherweise wieder aufwacht oder in absehbarer Zeit sterben wird. Ein weiterer Unterschied ist, dass der Patient im P alliativfall die Umgebung und die eigene Situation wahrnehmen und sich selber äußern kann.
Das dritte Merkmal „Wil ensäußerung des Patienten“ dient dazu herauszufinden, ob der Befragte unabhängig von seiner eigenen Haltung dem individuellen Wunsch des Patienten entspricht, oder ob andere Einflüsse wichtiger als die individuelle Haltung der Betroffenen sind. Um dies zu untersuchen, wurden die Ausprägungen w e i t e r l e ben und nicht weiterleben verwendet, wobei die Äußerung des Wunsches unabhängig von der Art und Weise der Artikulation ist. Daher gibt es, je nachdem ob der Patient dazu in der Lage ist oder nicht, eine Formulierung in Bezug auf einen verbal geäußerten Wil en („der Patient äußert den Willen, weiterleben zu wollen“ beziehungsweise „der Patient äußert den Wil en, nicht weiterleben zu wollen“) und eine in Bezug auf eine Patientenverfügung („in einer vorher erstel ten Patientenverfügung hat der Patient festgelegt, weiterleben zu wollen“ beziehungsweise „in einer vorher erstellten Patientenverfügung hat der Patient festgelegt, nicht weiterleben zu wollen“).
Mit dem vierten Merkmal „Wil ensäußerung der Angehörigen“ soll untersucht werden, inwieweit die Meinung dieser die Haltung zur Zulässigkeit der Sterbehilfe beeinflusst. In der Formulierung wird, sofern vorhanden, stets Bezug auf die Meinung des Patienten genommen, damit eine einfache Lesbarkeit der Vignetten garantiert werden kann. Das Merkmal besitzt die Ausprägungen k e i ne Angehörige („es gibt keine Angehörigen“), konforme Meinung („die Angehörigen wünschen sich dies ebenfal s“), nonkonforme Meinung („die Angehörigen
wünschen das Gegenteil“), dissonante Meinung („die Angehörigen sind sich uneinig darüber, ob diesem Wunsch entsprochen werden soll“). Neben den oben genannten Begründungen wurde dieses Merkmal ausgewählt, um festzustellen, wie hoch der Einfluss der Angehörigen im Vergleich zum Einfluss anderer Faktoren ist. Es soll also die Frage beantwortet werden, ob der behandelnde Arzt, der Patient (in Form einer Patientenverfügung oder verbal) oder Angehörige einen größeren Einfluss auf die Haltung zur Sterbehilfe haben. Mit der Ausprägung k e i ne Angehörige soll gezielt das Augenmerk auf das Arzt-Patient-Verhältnis gelenkt werden. Auch kann diese Ausprägung bei den befragten Personen eine andere Einstellung hervorrufen, sofern diese den Lebenswert an dem Vorhandensein von Angehörigen festmachen. Mit der k onformen Meinung soll herausgefunden werden, ob die gleichgerichtete Willensrichtung von Patient und Angehörigen die Argumentation des Arztes überstimmen kann oder nicht. Die Ausprägung nonkonforme Meinung wurde aus den gleichen Beweggründen gewählt. Mit der dissonanten Meinung wird hingegen wieder der Einfluss der Angehörigen abgeschwächt, da sie nicht mit einer Stimme sprechen und sich uneins sind. Der Befragte erkennt jedoch, dass Angehörige anwesend sind und sich um den Patienten sorgen. Insgesamt soll also der Einfluss der Angehörigen gemessen werden. Durch die Wahl der Ausprägungen beeinflusst diese Dimension aber auch andere und es wird ein Gesamtbild der Lebenssituation des Patienten gezeichnet.
Abbildung 4: Vignettenmodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das letzte Merkmal ist die „Haltung des Arztes“, mit der neben den bereits genannten Aspekten hauptsächlich die Obrigkeitshörigkeit untersucht werden soll. Wiegt die Meinung des Arztes schwerer als der Wunsch des Patienten? Um dies zu untersuchen, wurden drei
Ausprägungen
ausgewählt. Die Befürwortung aktiver Sterbehilfe („der behandelnde Arzt befürwortet die
Injektion eines tödlichen Mittels“), die Ablehnung aktiver Sterbehilfe („der behandelnde Arzt
lehnt die Injektion eines tödlichen Mittels ab“) und die generelle Ablehnung der Sterbehilfe
(„der behandelnde Arzt lehnt Sterbehilfe ab“).
Damit sind alle Haltungen zur Sterbehilfe abgedeckt. Interessant wird dieses Merkmal aber erst im Zusammenhang mit dem Willen des Patienten und der Angehörigen, wenn untersucht werden kann, ob beziehungsweise wie sich beispielsweise verschiedene Ansichten zwischen Arzt und Patienten sowie Arzt und Angehörigen auf die Einstellung zur Sterbehilfe auswirken.
2.4.2 Erstellung der Vignetten: Methode
Berechnete man das kartesianische Produkt der Ausprägungen aller Dimensionen, ließen sich so 576 Vignetten bilden. Diese Grundgesamtheit bezeichnet man als Vignettenuniversum, welches jedoch auch Fälle beinhaltet, die sachlogisch nicht möglich sind, und für die vollständige Beantwortung durch einzelne Befragte zu groß ist. Um die befragten Personen nicht zu überfordern, musste aus dem gesamten Vignettenuniversum eine kleine Anzahl an Vignetten ausgesucht werden, die sowohl auswertbare Ergebnisse liefern, als auch das Vignettenuniversum möglichst effizient repräsentieren. Basierend auf den oben genannten Merkmalen, die in den Vignetten benutzt werden sollten, wurde ein D-effizientes Design zur Erstellung der finalen Vignetten gewählt. Dieses ist insbesondere bei kleinen Stichproben dem Zufallsverfahren der Stichprobenziehung überlegen und basiert auf der systematischen Zusammenstellung der Vignetten mit dem expliziten Ziel, möglichst alle Kombinationen gleichmäßig abzudecken. Am Ende steht so in der Regel ein maximal effizientes Design, welches sich durch die Unkorreliertheit der einzelnen Dimensionen bei gleichzeitig größtmöglicher Varianz der Dimensionen auszeichnet. Dies ist wiederum die Voraussetzung dafür, die Effekte einzelner Dimensionen unabhängig voneinander modellgestützt schätzen zu können (vgl. Sauer et al. 2011). Unlogische oder unplausible Fälle wurden zuvor aus der Grundgesamtheit ausgeschlossen, bevor im nächsten Schritt mit Hilfe der Software SAS die Quotenauswahl umgesetzt wurde. Mit einem D-Effizienzwert von 95,4279 und einer Standardabweichung von 0,9107 wurde die Anzahl der Vignetten letztendlich auf 16 begrenzt.
Schließlich wurden die Vignetten geschlechterspezifisch formuliert. Das heißt, dass männliche Befragte nur Vignetten mit männliche Patienten und weibliche Befragte nur Fälle mit weiblichen Patienten vorgelegt bekamen. So soll eine höhere Identifikation mit den geschilderten Fällen erreicht werden, was letztlich zu valideren Ergebnissen führen soll. Aus
Gründen der einfacheren Lesbarkeit wurden zudem Füllwörter eingesetzt oder die Sätze sinnbehaltend umformuliert.
Die so zusammengestellten Vignetten wurden sodann den Befragten vorgelegt, wobei zur Vermeidung von Reihenfolgeeffekten die Reihung der einzelnen Vignetten pro Befragten randomisiert wurde (Anhang Vig).
3. Datenerhebung und -aufbereitung
Das eingesetzte Sample wurde aus einem kommerziellen Online-Access-Panel der respondi AG gewonnen. Die Grundgesamtheit soll bei der Erhebung der Bevölkerung der Bundesrepublik nahe kommen, was mit dem Einsatz eines Onlinepanels allerdings nicht gewährleistet werden kann, weshalb eine Repräsentativität der Bevölkerung mit Internetzugang (Internetbevölkerung) angestrebt wird. Respondi verspricht dieses Qualitätsmerkmal bieten zu können, indem die Teilnehmer des Panels durch Online- und Offline-Rekrutierungsmethoden gewonnen worden sind und so die Internetbevölkerung abbilden (vgl. Respondi AG 2011b). Respondi übernahm also die Selektion der Stichprobe, weshalb der Arbeitsschritt, die Stichprobe aus der Grundgesamtheit zu ziehen, entfiel. Der Panelanbieter verspricht, dass die Stichprobe der Repräsentativität nahe kommt, allerdings zeigen einige Ergebnisse der Erhebung, dass diese nur im Ansatz erreicht werden konnte. Grundsätzlich hat ein derartiges kommerzielles Panel den Vorteil, dass die Teilnehmer regelmäßig an ähnlichen Befragungen teilnehmen, weshalb sie bereits die Abläufe kennen und wissen, was sie erwartet. Auch verspricht das Unternehmen, dass Befragungshäufigkeit und -frequenz ausgewogen sind (vgl. Respondi AG 2011a, 2011b). Dies kann die Abbrecherquote minimieren. Ein weiterer Aspekt des Respondipanels ist, dass die Teilnehmer nicht nur (monetär) entlohnt werden, sondern auch die intrinsische Motivation angesprochen wird (vgl. Respondi AG 2011a). Die befragten Personen erhalten für jede Teilnahme an einer Erhebung Punkte, die diese für Gutscheine einlösen können (vgl. Respondi AG 2011b). Dadurch soll eine hohe Rücklaufquote erreicht werden, allerdings besteht die Gefahr einer halbherzigen Beantwortung des Fragebogens durch die Teilnehmer, nur um an das Ende der Befragung zu gelangen und die versprochenen einlösbaren Punkte zu erhalten. In der Aufbereitung des Datensatzes konnten derartige Fälle ausfindig gemacht und von der Analyse ausgeschlossen werden. Letztlich bleibt ein potentielles Problem von Panels, dass die Befragten sich zu sehr an die Abläufe gewöhnt haben und dies auf das Antwortverhalten zurückfallen könnte.
Das eingesetzte Panel bestand aus 1353 Personen, von denen 1307 Personen teilgenommen haben, was einer Ausschöpfungsquote von 96,6% entspricht. Tatsächlich haben insgesamt 80% der Befragten den Fragebogen beendet. Verglichen mit der Annahme der Respondi AG, dass „die durchschnittliche Teilnahmequote bei einer Umfrage mit 5 Feldtagen […] bei 60 % [liegt]“ (vgl. Respondi AG 2011b), kann von einer hohen Motivation der Teilnehmer ausgegangen werden. Alle Teilnehmer wurden auf einer Gabelungsseite zufällig einer von fünf Themengruppen zugeordnet. Ein Problem dieser Methode ist, dass dadurch nicht mehr die Repräsentativität für die einzelnen Themengruppen garantiert werden kann, da die Teilnehmerzahl relativ gering ist. Insgesamt haben 262 Respondenten an der gemeinsamen Erhebung der Gruppen zur Sterbehilfe sowie der Organspende teilgenommen, von denen bereits 14 Personen auf der Startseite die Befragung abbrachen. Im weiteren Verlauf mussten bei den Vignetten zur Thematik der Sterbehilfe weitere 10 Abbrüche verzeichnet werden. Angesichts der Komplexität und einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit von knapp 27 Minuten, ist diese Zahl jedoch als verhältnismäßig einzustufen.
3.1 Aufbereitung des Datensatzes
Bei der Bereinigung des Datensatzes erfolgte zunächst die Identifizierung von für die Analyse nicht zu verwertenden Fällen. Neben dem Ausschluss von vorzeitig beendeten, von der durchschnittlichen Bearbeitungszeit stark abweichenden oder im Antwortverhalten einseitigen Befragungen, wurde besonderes Augenmerk auf die vollständige Beantwortung der 21 Items des PVQ gelegt. Eine vollständige Beantwortung dieser Batterie ist wichtig, da fehlende Werte bei diesen Variablen zu starken Verzerrungen bei der Überprüfung der zuvor formulierten Wertehypothesen führen würden. Insgesamt 17 Fälle mussten aufgrund unvollständiger Beantwortung der besagten Fragebatterie von der Analyse ausgeschlossen werden. Darüber hinaus wurde eine Befragung aus der Datenmaske entfernt, bei der ein Teilnehmer das eigene Alter mit fünf Jahren bezifferte.
3.2 Rekodierung
Nach der ersten Überarbeitung des Datenmaterials konnte mit den Rekodierungsarbeiten begonnen werden. Zunächst wurden bei den Items zur moralischen Rechtfertigung der aktiven und passiven Sterbehilfe, des assistierten Selbstmordes sowie des Selbstmordes die fehlenden Werte rekodiert. Diese dienten in den nachfolgenden Analysen als abhängige Variable. Dieselbe Operation musste auch bei der Itembatterie zur Patientenverfügung durchgeführt werden, da in beiden Fällen die bereits vorhandene Kodierung fehlerhaft war. Bei der Abfrage
zum höchsten erreichten Schulabschluss erfolgte eine Verschiebung einer Antwort innerhalb
der möglichen Kategorien: So wurde in diesem speziellen Fall von der offenen
Antwortkategorie „ein anderer Schulabschluss“ gebrauch gemacht, dort jedoch die Angabe
„Fachhochschule“ getätigt. Diese Angabe wurde mit den anderen Daten der Kategorie
„Fachhochschulreife“ zusammengeführt. Des Weiteren wurde für spätere Analysen die Variable Bildung so kodiert, dass die Merkmalsausprägungen „noch Schüler“ und „anderer Schulabschluss“ als fehlende Werte gerechnet werden. Aufgrund zu geringer Fal zahlen musste darüber hinaus bei der Variable „Gottesdienst“ eine Zusammenfassung der Kategorien 1-3 (täglicher Kirchgang, mehrmals in der Woche und einmal in der Woche) sowie der Kategorien 6-8 (Kirchgang nur an besonderen Feiertagen, seltener beziehungsweise nie) erfolgen.
Im weiteren Verlauf der Rekodierungen wurde eine Umkodierung der ordinal skalierten Variablen „Wahlabsicht“ und „Konfession“ in Dummy-Variablen vorgenommen. Auch bei der Variable „Geschlecht“ wurde eine solche metrisch skalierte Hilfsvariable erststellt.
Im nächsten Schritt erfolgte die Rekodierung der in den 32 Vignetten eingesetzten, 5-stufigen Likertskalen. Über alle Vignetten wurden die Labels so angepasst, dass ein hoher Wert in der Analyse auch für eine hohe Zustimmung zu der abgefragten Art der Sterbehilfe steht. Die so durchgeführte Spiegelung einiger Likertskalen wurde auch bei den Abfragen zur Thematik der Patientenverfügung vorgenommen, sodass auch bei diesen Items ein positiver Wert als Zustimmung zu interpretieren ist.
Als letzten Arbeitsschritt bei der Überarbeitung des Vignettendatensatzes wurde eine Rekodierung der doppelten Skalen der Vignetten 13, 14 und 15 vorgenommen. Diese sollten planmäßig nach den Ergebnissen des zuvor durchgeführten Pre-Tests nicht mehr verwendet werden, da dieser gezeigt hatte, dass die zweite Skala keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt und die Befragten auf die entgegengesetzt gerichtete Antwortmöglichkeit auch spiegelverkehrt antworteten; konkret wurde bei einer Befürwortung beziehungsweise Ablehnung der Aussage „Lebensverlängerte Maßnahmen beenden“, die Antwortoption
„Lebensverlängernde Maßnahmen beibehalten“ in nahezu al en Fäl en mit entgegengesetzter
Stärke abgelehnt beziehungsweise befürwortet. Um jedoch die irrtümlich vorhandene dritte Skala bei drei Vignetten mit männlicher Fallformulierung nicht aus den weiteren Analysen auszuschließen und vereinzelt vorhandene Abweichungen der Antwortmöglichkeiten nicht unbeachtet zu lassen, wurde die erste Skala gespiegelt, sodass ein hoher Wert einer starken Zustimmung beziehungsweise ein niedriger Wert einer starken Ablehnung entspricht. Sodann wurde aus beiden Skalen der jeweilige Mittelwert in einer neuen Zielvariable errechnet.
Als Grundlage für weitere Analysen wurde als abschließende Operation die durchschnittliche Antworttendenz aller Befragten für die 21 Werte-Items errechnet. Dazu wurde der mittlere Abstimmungswert MRAT für jedes Item der Werte-Batterie erzeugt. Über diesen Abstimmungswert konnte dann eine Zentrierung der individuellen Antworttendenz erfolgen, sodass für jeden Respondenten ein persönliches Skalenniveau unterstellt werden kann.
3.3 Beschreibung der Stichprobe
Nach der Bereinigung sowie Rekodierung konnten schließlich noch die Daten von 174 Befragten verwendet werden, was einer Netto-Ausschöpfung von 66,4% entspricht. Insgesamt kann diese Quote als hoch bewertet werden, auch wenn die absolute Anzahl an zu analysierenden Erhebungsdaten relativ niedrig ausfällt. Dennoch kann festgehalten werden, dass eine Überforderung der Teilnehmer durch die Komplexität des Erhebungsdesigns in der Regel ausgeblieben zu sein scheint, was allerdings auch durch den Einsatz eines kommerziellen Panels erklärbar sein kann. Zahlreiche positive Kommentare, welche im Anschluss an die Befragung abgegeben werden konnten, belegen zudem, dass die Respondenten eher froh über die Komplexität des Designs waren, als dass es sie grundsätzlich abgeschreckt hätte. Offensichtlich sind andere Befragungen in diesem Panel von deutlich niedrigerem Komplexitätsgrad.
4. Univariate Analysen der Zielvariablen
4.1 Analyse der Sterbehilfevariablen
In der univariaten Analyse der Sterbehilfen-Variablen wird die konkrete Akzeptanz der Sterbehilfe untersucht, die die Respondenten direkt angegeben haben.
4.1.1 Verteilung der Zustimmungs werte zur Sterbehilfe
Grundsätzlich zeigen sich über alle Items zur moralischen Rechtfertigung der abgefragten Arten der Sterbehilfe hohe Zustimmungswerte.
P assive Sterbehilfe
So ist für 42% der befragten Personen die passive Sterbehilfe immer zu rechtfertigen (Abbildung 5). Insgesamt sind es 72% der Respondenten, die eher in diese Richtung tendieren. Für den neutralen Mittelwert
Abbildung 5: Verteilung der Zustimmungswerte zur passiven Sterbehilfe
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
M = 5,45 (SD = 1,38); Datensatz: Leben und Werte_END1.
entscheiden sich noch 14%, weshalb nur weitere 14% der passiven Sterbehilfe eher ablehnend
gegenüber stehen. Dass diese immer abzulehnen sei, geben lediglich 7% der Befragten an (Anhang AV1). Der Mittelwert liegt in der Skala von 1 (nie zu rechtfertigen) bis 7 (i mm e r zu rechtfertigen) bei 5,45 und die Standardabweichung bei 1,38 (Anhang AV5).
A k t i ve Sterbehilfe
Bei der aktiven Sterbehilfe (Abbildung
6) verschiebt sich das Meinungsbild erwartungsgemäß in eine vorsichtigere Haltung. Dennoch wird auch diese von noch mehr als der Hälfte (53%)
Abbildung 6: Verteilung der Zustimmungswerte zur aktiven Sterbehilfe
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
M = 4,59 (SD = 1,94); Datensatz: Leben und Werte_END1.
der Befragten als gerechtfertigt betrachtet. Neutral verhalten sich ganze 22%, was zeigen
kann, dass sich viele der Befragten darüber unschlüssig sind, wie sie die aktive Sterbehilfe einschätzen sollen. Ablehnend äußern sich hier weniger als ein Viertel der Respondenten (Anhang AV2). Dass diese nie zu rechtfertigen sei, befindet noch ein gutes Zehntel. Der Mittelwert liegt bei 4,58 und die Standardabweichung bei 1,94 (Anhang AV5).
A ss i s t i e r t e r Selbstmord
Auffällig ist, dass den assistierten Suizid (Abbildung 7) mehr Befragungsteilnehmer rechtfertigen als dies bei der aktiven Sterbehilfe der Fall ist. Insgesamt 59% sprechen sich für eine
Abbildung 7: Verteilung der Zustimmungswerte zum assistierten Selbstmord
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
MD = 4,8 (SD= 2,13); Datensatz: Leben und Werte_END1.
Rechtfertigung dieser Art der Sterbehilfe aus. Stark ausgeprägt ist mit 32% auch hier die Zahl derjenigen, die den assistierten Suizid immer als gerechtfertigt ansehen. Ablehnend verhält sich – ähnlich wie bei der aktiven Sterbehilfe – mit 26% ein gutes Viertel der Befragten (Anhang AV3). Der Mittelwert liegt bei 4,81 und die Standardabweichung bei 2,13 (Anhang AV5).
S e l b s t m ord
Bemerkenswert ist das Ergebnis des
assistierten Suizids,
wenn man sich die Zahlen des nicht assistierten Suizids
anschaut (Anhang AV4). Hier überwiegen mit 55% eindeutig diejenigen, die diesen als
Abbildung 8: Verteilung der Zustimmungswerte zum Suizid
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
M = 3,2 (SD = 1,95); Datensatz: Leben und Werte_END1.
nicht gerechtfertigt ansehen (Anhang AV4). Der Mittelwert liegt bei 3,28 und die
Standardabweichung bei 1,95 (Anhang AV5).
[...]
[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir auf die Nennung der männlichen und weiblichen Form verzichtet. Es sind selbstverständlich immer beide Geschlechter gemeint .
- Arbeit zitieren
- Sebastian Hülperath (Autor:in), Markus Frosien (Autor:in), Sebastian Broch (Autor:in), 2011, Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Werteeinstellungen und der Haltung zu den verschiedenen Formen der Sterbehilfe?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187217
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