Ungeachtet ihrer Bedeutung für die Solvenz der Institute werden risikoorientierte Mindesteigenkapitalanforderungen durchaus kritisch diskutiert. Sie stehen, nicht zuletzt durch die jüngste weltweite Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, im Verdacht, die per se prozyklische Tendenz der Bankenbranche zu verstärken. Verschiedene, im Laufe der Ausführungen noch zu erarbeitende Determinanten wirken mit dem Zyklus auf das Eigenkapital der Bank. Dies führt im Abschwung unter Umständen zu einer starken Reduktion der Kapitalbasis, während es unter wirtschaftlich besseren Rahmenbedingungen gegebenenfalls zu einer Überschätzung der tatsächlich vorhandenen Risikodeckungsmasse kommt. Im Kontext dieser Master-Thesis monieren Literatur und Praxis folglich die mit den regulatorischen Kapitalanforderungen einhergehenden Anreize für Institute, in konjunkturellen Boomphasen die Kreditvergabe exzessiv auszuweiten, während in Rezessionsphasen aufgrund steigender Kreditausfälle und höherer Kapitalanforderungen für die bestehenden Risikopositionen eine Neigung zur übermäßig restriktiven Kreditvergabe vorherrscht. Es besteht somit die Gefahr, dass durch das beschriebene Bankverhalten negative Rückkopplungen auf die Realwirtschaft entstehen, etwa wenn es durch angebotsseitige Verknappung der Darlehen zu einer Kreditklemme kommt. Diese Reduzierung der Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen und Haushalte könnte ceteris paribus zu einer Beschleunigung der Abwärtsdynamik beitragen sowie im Allgemeinen aufgrund der Verstärkung der jeweiligen Konjunkturphase dem originären wirtschaftspolitischen Ziel eines stetigen Wachstums entgegenwirken. Der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht sieht in der prozyklischen Tendenz der Marktteilnehmer gar "… einen der stärksten destabilisierenden Einflüsse der Krise …".
Das Ziel der Arbeit ist es daher, neben einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Problemstellung auch den Status quo der Reformbemühungen zu erarbeiten. Insbesondere sollen die vom Baseler Ausschuss vorgestellten Maßnahmen analysiert und im Kern die Frage beantwortet werden, ob es Basel III besser gelingen kann, die Prozyklizität der Mindestkapitalanforderungen zu dämpfen, als dies bisher festzustellen war.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Hintergründe der Prozyklizität von Mindestkapitalanforderungen
2.1 Risikosensitive Bankenregulierung unter Basel II
2.2 Aktuell potenziell prozyklisch wirkende Normen
2.2.1 Determinanten der Rechnungslegungsvorschriften
2.2.2 Determinanten der Bankenaufsicht
2.3 Lässt sich die Existenz der Prozyklizität empirisch belegen?
2.4 Zwischenfazit zu Auswirkungen und Bedeutung der Prozyklizität
3. Maßnahmen zur Dämpfung der Prozyklizität unter Basel III
3.1 Wesentliche Änderungen durch Basel III im Überblick
3.2 Die Maßnahmen des Baseler Ausschusses
3.2.1 Aufbau von Kapitalerhaltungspolstern
3.2.2 Anreize gegen eine exzessive Kreditausweitung
3.2.3 Reform der Risikovorsorge
3.2.4 Verringerung der Prozyklizität des IRB-Ansatzes
3.3 Zwischenfazit hinsichtlich der zu erwartenden Wirkungen
4. Dämpfung der Prozyklizität? - Kritische Würdigung ausgewählter Maßnahmen
4.1 Indikatoren zum Auf- und Abbau des antizyklischen Kapitalpuffers
4.1.1 Das Credit-to-GDP-Gap am Beispiel von Deutschland
4.1.2 Implikationen aus der Analyse bezüglich eines geeigneteren Indikators
4.2 Mögliche Folgen der Implementation der PD-Anpassung des CEBS
4.2.1 Die Auswirkungen am Beispiel eines Kreditportfolios
4.2.2 Begünstigt die PD-Anpassung risikoreichere Geschäfte?
4.3 Zwischenfazit zu den ausgewählten Maßnahmen
5. Schlussbetrachtung
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Eigenkapitaldefinition nach Basel II
Abbildung 2: Fair-Value-Bewertung bestimmt zunehmend bedeutende Bilanzpositionen
Abbildung 3: Anerkannte Sicherheiten im Standard- und IRB-Ansatz
Abbildung 4: Migrationsmatrix - Segment: Private Unternehmen Deutschland
Abbildung 5: Zusammenhang zwischen Veränderung des BIP und der Neukreditvergabe
Abbildung 6: Einschätzung der Kreditvergabebedingungen
Abbildung 7: Bank Lending Survey des Eurosystems
Abbildung 8: Durchschnittliche regulatorische Kapitalquoten deutscher Kreditinstitute
Abbildung 9: Überarbeitung der Eigenkapitaldefinition
Abbildung 10: Die Kennziffern zum Liquiditätsrisiko
Abbildung 11: Leverage Ratios in Abhängigkeit der Rechnungslegungsstandards
Abbildung 12: Idealtypische Funktionsweise des antizyklischen Kapitalpuffers
Abbildung 13: Die beiden Optionen zur PD-Anpassung im Überblick
Abbildung 14: Entwicklung des Eigenkapitalbedarfs von Basel II zu Basel III
Abbildung 15: Antizyklischer Kapitalpuffer in Abhängigkeit des Credit-to-GDP-Gaps
Abbildung 16: Credit-to-GDP-Ratio und Credit-to-GDP-Trend für Deutschland
Abbildung 17: Credit-to-GDP-Gap und antizyklischer Kapitalpuffer für Deutschland
Abbildung 18: Idealtypische Wirkung des CEBS-Puffers über den Konjunkturzyklus
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Veränderung der Eigenkapitalunterlegung durch Ratingmigrationen
Tabelle 2: Kapitalerhaltungspolster und Ausschüttungsbeschränkungen
Tabelle 3: Ausschüttungssperre unter Berücksichtigung des antizyklischen Kapitalpolsters..
Tabelle 4: Beispiel zum Vergleich der Auswirkungen von ILM und ELM
Tabelle 5: Auswirkung der PD-Adjustierung auf die Eigenkapitalunterlegung
Tabelle 6: Risikosensitivität des CEBS-Ansatzes
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Nach einer Phase der Deregulierung von Kreditinstituten seit den 1970er Jahren führte der, als Folge sich anschließender internationaler Liberalisierung, verschärfte Wettbewerb zu einer Erosion der Margen im Finanzsektor.1 Einzelne Bankinsolvenzen, etwa jene der deutschen Herstatt-Bank, sowie regionale Bankenkrisen wie die sogenannte "Savings-and-Loan-Krise", also der Zusammenbruch der amerikanischen Sparkassen,2 kombiniert mit einem fortwährend sinkenden Eigenkapitalniveau der Institute mündeten in erste Überlegungen hinsichtlich in- ternational harmonisierter Vorschriften zur Bankenaufsicht. Im Ergebnis dieser Bemühungen ließen sich eine Reihe bemerkenswerter regulierungspolitischer Initiativen rund um die Fi- nanzbranche beobachten. Die Veröffentlichung des ersten Baseler Akkords, bekannt als Ba- sel I, im Jahr 1988 bildete diesbezüglich den Auftakt.3 Nicht nur in den folgenden Dekaden haben sich - neben einer Vielzahl weiterer Instrumente - die im Rahmen dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Mindestkapitalanforderungen als fester Bestandteil der Regulierung etabliert. Sie wurden von einem zunächst eher undifferenzierten Risikobezug zu einer präzise- ren Einschätzung des eingegangenen Risikos unter Basel II weiterentwickelt.4 Darüber hinaus arbeiteten die Aufsichtsinstanzen kontinuierlich an der Integration weiterer Risikoarten sowie verbesserter Methoden zur Quantifizierung der zu unterlegenden Risiken.
Die Grundidee von Eigenkapitalregimen scheint plausibel. Zum einen wird die Möglichkeit zur Risikoübernahme durch die Kreditinstitute begrenzt, zum anderen sorgt das Kapital für das in der Branche essenzielle Vertrauen.5 Mithin wird die Wahrscheinlichkeit einer Insol- venz reduziert und die Solvabilität der Banken gestärkt.6 Auch hinsichtlich der Frage zur Notwendigkeit regulatorischer Eingriffe herrscht weitgehend Einigkeit. Insbesondere die Hinweise über die immense makroökonomische Bedeutung des Bankensektors, seine latente Anfälligkeit für systemische Risiken und die mit ihnen - etwa über Ansteckungseffekte - verbundenen hohen volkswirtschaftlichen Kosten sowie der notwendige Schutz der Einleger sind in der Literatur als Rechtfertigung staatlicher Regulatoren allgegenwärtig.7 Ausgestattet mit einem ausreichenden Eigenkapitalpolster sollen Banken in die Lage versetzt werden, Ver- luste zu absorbieren, um somit als Puffer zwischen Finanz- und Realwirtschaft zu dienen.8
Ungeachtet ihrer Bedeutung für die Solvenz der Institute werden risikoorientierte Mindestei- genkapitalanforderungen durchaus kritisch diskutiert. Sie stehen, nicht zuletzt durch die jüngste weltweite Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, im Verdacht, die per se prozyklische Tendenz der Bankenbranche zu verstärken.9 Dabei wird eine Variable dann als prozyklisch bezeichnet, wenn sie in einem Konjunkturaufschwung mindestens so stark wächst wie im langfristigen Durchschnitt beziehungsweise in Abschwungphasen entsprechend schrumpft.10 Verschiedene, im Laufe der Ausführungen noch zu erarbeitende Determinanten wirken mit dem Zyklus auf das Eigenkapital der Bank. Dies führt im Abschwung unter Umständen zu einer starken Reduktion der Kapitalbasis, während es unter wirtschaftlich besseren Rahmen- bedingungen gegebenenfalls zu einer Überschätzung der tatsächlich vorhandenen Risikode- ckungsmasse kommt. Im Kontext der Arbeit monieren Literatur und Praxis folglich die mit den regulatorischen Kapitalanforderungen einhergehenden Anreize für Institute, in konjunktu- rellen Boomphasen die Kreditvergabe exzessiv auszuweiten, während in Rezessionsphasen aufgrund steigender Kreditausfälle und höherer Kapitalanforderungen für die bestehenden Risikopositionen eine Neigung zur übermäßig restriktiven Kreditvergabe vorherrscht.11 Es besteht somit die Gefahr, dass durch das beschriebene Bankverhalten negative Rückkopplun- gen auf die Realwirtschaft entstehen, etwa wenn es durch angebotsseitige Verknappung der Darlehen zu einer Kreditklemme kommt.12 Diese Reduzierung der Finanzierungsmöglichkei- ten für Unternehmen und Haushalte könnte ceteris paribus zu einer Beschleunigung der Ab- wärtsdynamik beitragen sowie im Allgemeinen aufgrund der Verstärkung der jeweiligen Kon- junkturphase dem originären wirtschaftspolitischen Ziel eines stetigen Wachstums entgegen- wirken.13 Der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht sieht in der prozyklischen Tendenz der Marktteilnehmer gar "… einen der stärksten destabilisierenden Einflüsse der Krise …"14.
In Anbetracht dieser Einschätzung scheint es folgerichtig, ergänzende Maßnahmen zur Dämp- fung der prozyklischen Dynamik einzuführen. Mit den beiden im Dezember des vergangenen Jahres vorgestellten Rahmenwerken zur zukünftigen Kapital- und Liquiditätsausstattung der Kreditwirtschaft wird Basel II überarbeitet und ergänzt.15 Der Baseler Ausschuss schlägt im Wesentlichen vier Maßnahmen vor, um der Prozyklizität der Richtlinien entgegenzuwirken.16 Gleichwohl sind im Grunde sämtliche der empfohlenen Maßnahmen bisher entweder völlig unerprobt oder nur mit umstrittenem Erfolg in anderen Finanzregimen eingesetzt worden beziehungsweise befinden sich noch in der Prüfungs- und Diskussionsphase.17
Das Ziel der Arbeit ist es daher, neben einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Problemstellung auch den Status quo der Reformbemühungen zu erarbeiten. Insbesondere sollen die vom Baseler Ausschuss vorgestellten Maßnahmen analysiert und im Kern die Frage beantwortet werden, ob es Basel III besser gelingen kann, die Prozyklizität der Mindestkapitalanforderungen zu dämpfen, als dies bisher festzustellen war.
Um zu einem Ergebnis zu gelangen, gliedert sich die Arbeit in drei Teile. Im Mittelpunkt des 2. Kapitels stehen zunächst die relevanten Hintergründe zum Thema. Dazu werden die stärker risikosensitive Bankenregulierung unter Basel II sowie potenziell prozyklisch wirkende Determinanten vorgestellt und der Versuch unternommen, Existenz und Ausmaß der Prozyklizität während der Finanzmarktkrise zu umreißen. Die entsprechenden Maßnahmen des Baseler Ausschusses zur Dämpfung der Prozyklizität sind Gegenstand des 3. Kapitels. Ferner sollen die mit ihnen einhergehenden Erwartungen und gewünschten Wirkungen erläutert werden. An dieser Stelle wird auch ein kurzer Überblick über die generell mit dem neuen Rahmenwerk verbundenen Änderungen ermöglicht. Im darauf folgenden Kapitel 4 werden schließlich - auf Basis einer kritischen Würdigung - zwei ausgewählte Maßnahmen einer tiefer gehenden Analyse unterzogen. Hier bietet sich die Gelegenheit, die Ergebnisse mit den erwarteten Wirkungen der die Prozyklizität dämpfenden Instrumente abzugleichen.
2. Die Hintergründe der Prozyklizität von Mindestkapitalanfor- derungen
Einer der Hauptkritikpunkte an Basel I war der geringe Bezug der Eigenkapitalanforderungen zum tatsächlich eingegangenen Risiko.18 Die pauschale, nahezu risikounabhängige Kapitalun- terlegung schuf Anreize zu regulatorischer Kapitalarbitrage, da größere Risiken nicht zwangs- läufig zu höheren Kapitalanforderungen führten. Außerdem wurden konservativere Ge- schäftsmodelle kaum belohnt.19 Dem durchaus rationalen Verhalten einer Bank, den aufgrund der Kapitalanforderungen begrenzten Hebel ("Leverage-Effekt") durch das Eingehen höherer Risiken zu kompensieren, wurden folglich risikoorientiertere Mindesteigenkapitalanforderun- gen gegenübergestellt.20 Diese risikoadjustierte Bankenregulierung bildet gleichzeitig das Fundament für die im aktuellen Kapitel zu erarbeitenden (theoretischen) Hintergründe zum potenziell prozyklischen Bankverhalten. Nach einer straffen Darstellung ausgewählter Rege- lungen von Basel II folgt die Analyse von möglicherweise den Konjunkturzyklus verstärken- den Normen sowie eine Diskussion zur Existenz der Prozyklizität. Schließlich werden im Un- terkapitel 2.4 die konkreten Auswirkungen und die Bedeutung in der Praxis zusammenge- fasst.
2.1 Risikosensitive Bankenregulierung unter Basel II
Das aktuell gültige internationale Rahmenwerk zur Regulierung der Finanzbranche, nach ei- ner einjährigen Übergangsphase seit Januar 2008 zumindest für alle deutschen Banken ver- pflichtend,21 basiert auf einer Mischung aus konkreten Regeln einerseits und Vorschriften mit Freiräumen andererseits.22 Der noch bis dahin gültige sogenannte Grundsatz I, also die quanti- tativen Mindestkapitalanforderungen, wurde durch die Solvabilitätsverordnung (SolvV) abge- löst und mit der Einführung zweier weiterer "Säulen" ergänzt.23 Diese sollen insbesondere die Interaktion mit der jeweiligen nationalen Aufsicht (Säule 2) sowie dem Kapitalmarkt (Säu- le 3) verstärken.24 Die mit Basel II einhergehende, stärker qualitativ orientierte Regulierung mit ihren prinzipienbasierten Regeln und dem Grundsatz der Proportionalität ist in der Lage, besser die spezifischen Geschäftsmodelle und -risiken der Institute zu berücksichtigen. Gleichwohl ist sie auch das Eingeständnis, dass pauschale und rein quantitative Kapitalanfor- derungen allein nicht ausreichend sein können, um die immer komplexeren Risiken zu erfas- sen und angemessen mit Kapital zu hinterlegen. Das in der zweiten Säule geregelte aufsichts- rechtliche Überprüfungsverfahren soll folglich nicht nur die bloße Erfüllung der Mindestkapi- talanforderungen beurteilen, sondern darüber hinaus sicherstellen, dass diese das Risikoprofil der Bank tatsächlich abbilden.25 Bestimmte Risiken, welche auch unter Basel II nicht mit re- gulatorischem Kapital hinterlegt werden müssen, also bisher keine Aufnahme in Säule 1 fan- den (zum Beispiel Zinsänderungsrisiken im Anlagebuch), sind so dennoch bankintern im Rahmen der Allokation des ökonomischen Kapitals zu berücksichtigen, um Fehlsteuerungs- impulse zu vermeiden. Bereits im September 1997 veröffentlichte der Baseler Ausschuss die sogenannten "Core Principles for Effective Banking Supervision", also die vier Grundprinzi- pien, welche der zweiten Säule zugrunde liegen.26 Die Regelungen der dritten Säule betreffen über die übliche Publizität hinausgehende Offenlegungspflichten. Eine dadurch erreichte hö- here Transparenz, beispielsweise hinsichtlich Risikopositionen, Eigenkapitalstruktur und in- stitutsspezifischer Risikomessverfahren, soll helfen, das Management der Kreditinstitute durch die zu erwartenden Marktreaktionen zu disziplinieren.27 Die Umsetzung der nicht rechtsverbindlichen Empfehlungen des Baseler Ausschusses erfolgte in Deutschland - ausge- hend von entsprechenden EU-Richtlinien - mittels verschiedener Gesetze und Verordnun- gen.28 Entsprechende Regelungen finden sich etwa in der Solvabilitätsverordnung, der Groß- und Millionenkreditverordnung (GroMiKV), dem Kreditwesengesetz (KGW) sowie den Min- destanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk).29
Ungeachtet der Einführung der beschriebenen Bestimmungen zum aufsichtlichen Überprü- fungsprozess und zur Marktdisziplin bilden die Mindestkapitalanforderungen weiterhin den Kern von Basel II. Dies verrät nicht nur ein Blick ins Inhaltsverzeichnis des Rahmenwerkes, in dem jeweils gut 20 Seiten zur qualitativen Regulierung mehr als 160 Seiten zur Säule 1 gegenüberstehen.30 Basel II kennt diverse Formen von Kapital (siehe Abbildung 1, S. 6), wel- che infolge ihrer unterschiedlichen Qualität (Tier 1 bis 3) für verschiedene Situationen einen Verlustpuffer bilden.31 Die Definition des Kapitals sowie der Mindestkapitalkoeffizient, also die Unterlegung der nunmehr risikogewichteten Aktiva mit acht Prozent Eigenkapital, blieben unverändert, während das Kredit- und Marktpreisrisiko um das fortan explizit mit Kapital zu unterlegende operationelle Risiko ergänzt wurden.32 Die bisherigen Schilderungen machen deutlich, dass die Veränderungen weniger den Zähler als vielmehr den Nenner, also die Er- mittlung der Risikopositionen, bei der Berechnung der Eigenkapitalquote betreffen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Eigenkapitaldefinition nach Basel II
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Deutsche Bundesbank (2011a), S. 10.
Eine weitere Neuerung ist die deutliche Spreizung der Mindestkapitalanforderungen - abhän- gig vom jeweiligen Risiko der Einzelposition. Die unter Basel I gültige Klassifizierung von Forderungen mit lediglich fünf Risikogewichten wurde zugunsten eines Wahlrechts zwischen drei grundsätzlichen Möglichkeiten zur Bemessung der Ausfallwahrscheinlichkeit, beispiels- weise über externe oder interne Ratings, abgeschafft.33 Prinzipiell ist dabei zunächst der Kre- ditrisiko-Standardansatz (KSA) einschließlich der Verwendung entsprechender externer Boni- tätseinschätzungen von zurzeit sieben nach der SolvV zugelassenen Ratingagenturen für alle Kreditinstitute verpflichtend.34 Sie können sich jedoch von der Eigenmittelberechnung nach ebenjenem freistellen lassen - sofern sie interne Modelle verwenden und von der Aufsicht in einem gesonderten Verfahren abnehmen lassen. Dieses sieht keine laufende Prüfung, sondern eine einmalige Antragsprüfung sowie die Anzeige sämtlicher Änderungen im Rahmen der sogenannten "Model Change Policy" (MCP) vor.35 Im Zusammenhang mit der Verwendung interner Ratings, also der Nutzung des "Internal Ratings-Based Approach" (IRBA), steht das Bankinstitut wiederum vor der Entscheidung, ausschließlich die jeweilige Ausfallwahrschein- lichkeit (PD) des Kreditnehmers zu schätzen, mithin den IRB-Basisansatz zu nutzen, oder im fortgeschrittenen Ansatz weitere Parameter, etwa die Verlustquote bei Ausfall (LGD) oder die erwartete Höhe der Forderung zum Zeitpunkt des Ausfalls (EAD), selbst zu bestimmen.36 Dessen ungeachtet formuliert die Bundesbank als Verwendungsvoraussetzung für beide IRB- Ansätze verschiedene Mindestanforderungen an bankinterne Ratingsysteme, unter anderem die Pflicht zum jährlichen Neurating sowie eine hinreichende Datenbasis.37 Ferner belohnt Basel II die Verwendung des internen Rating-Ansatzes und die damit verbundene fortwähren- de methodische Auseinandersetzung des Kreditinstitutes mit seinen tatsächlichen Risiken durch eine moderat geringere Eigenkapitalanforderung.38 Die Kernidee von Basel II, die Ka- pitalunterlegung insgesamt risikosensitiver zu gestalten, findet sich im IRB-Ansatz wieder. Durch wesentlich von der individuellen Ausfallwahrscheinlichkeit abhängige Mindestkapital- anforderungen werden gute Bonitäten bevorzugt, während Kreditnehmer mit einer größeren Ausfallwahrscheinlichkeit entweder einen höheren Zinssatz akzeptieren oder von der (mög- licherweise risikoreicheren) Investition Abstand nehmen müssen.39 Auch die verbesserte An- rechenbarkeit von Sicherheiten durch Ausweitung sowohl der Sicherheitenarten als auch der Garantiegeber kann als konsequenter Schritt der Aufsicht, das Rahmenwerk risikosensitiver zu gestalten, interpretiert werden.40
Abschließend lässt sich festhalten, dass Basel II mehr ist als die Ergänzung der bis dato quan- titativen um eine qualitative Risikosteuerung. Es werden den Banken nicht nur größere (me- thodische) Spielräume bei der Messung der eigenen Risiken eingeräumt, sondern beispiels- weise auch die Risikoaktiva neu definiert und die Risikogewichtungsskala verfeinert.41 Der Bundesverband privater Banken sah "… im Sinne der angestrebten Systemstabilität ein kon- sequent risikosensitives Regelwerk, wie es mit Basel II geschaffen wurde, ohne Alternati- ve"42.
2.2 Aktuell potenziell prozyklisch wirkende Normen
Das aktuelle Baseler Rahmenwerk zielt auf eine Verbesserung der Stabilität des Finanzsys- tems durch Erhöhung der Solvabilität des Einzelinstitutes ab (mikroprudenzielle Aufsicht). Vor diesem Hintergrund finden die, aufgrund der im vorangegangenen Unterkapitel darge- stellten risikoadjustierten Kapitalanforderungen, reduzierten Anreize zu übermäßiger Risiko- übernahme in Wissenschaft und Praxis durchaus Anerkennung. Nichtsdestotrotz lässt sich eine kontinuierliche Diskussion beobachten, welche neben den positiven Aspekten auch unin- tendierte Folgen der höheren Risikoorientierung zu erkennen vermag. Diese unerwünschten Nebeneffekte, welche eingangs bereits als prozyklische Wirkungen vorgestellt wurden, gelten nicht zuletzt als Überträger von Risiken auf die Realwirtschaft.43 Im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit, also etwa um die erwarteten Wirkungen von Maßnahmen zur Reduzie- rung der Prozyklizität diskutieren zu können, ist es daher unerlässlich, potenzielle Quellen für die vermuteten Nebeneffekte zu identifizieren. Diese können zweifelsohne kaum abschlie- ßend betrachtet werden. Vielmehr gilt es, sich auf die möglichen Hauptursachen zu konzent- rieren. Da bereits die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag jene in den "… Rechnungs- legungsvorschriften IFRS und in den Basel-II-Eigenkapitalregeln …"44 sieht, soll der Schwerpunkt entsprechend gewählt werden. Zu jedem der beiden Aspekte werden die zwei vermeintlich bedeutendsten Normen herausgestellt.
2.2.1 Determinanten der Rechnungslegungsvorschriften
Unabhängig von der Einschätzung der Bundesregierung sind die Rechnungslegungsvorschrif- ten per se zu berücksichtigen. Bildet doch die Ermittlung des bilanziellen Eigenkapitals einen grundlegenden Schritt bei der Veranschlagung der regulatorischen Eigenmittel.45 Im Kontext der Arbeit sind zwei Aspekte der Rechnungslegung besonders interessant. Zum einen die Bi- lanzierung zu Zeitwerten, also die Fair-Value-Bewertung, und zum anderen das sogenannte "Incurred-Loss-Model" (ILM).
Durch die mit den "International Financial Reporting Standards" (IFRS) einhergehende ver- stärkt marktorientierte Bewertung wesentlicher Bilanzpositionen kommt es zu häufigeren Vermögenswertänderungen in der Bilanz. Dies führt zu einer höheren Volatilität der regulato- rischen Eigenmittel und somit der Risikotragfähigkeit eines Kreditinstitutes.46 Diese Beobach- tung bekommt eine höhere Relevanz insofern, als dass ab 2016 für börsennotierte Banken generell der IFRS-Abschluss zur Ermittlung der Eigenmittel verpflichtend sein wird.47 Gleichwohl ist die Aufsicht bemüht, den Effekt durch Nutzung prudenzieller Filter abzu- schwächen.48
Bereits heute wird die Bewertung zu Marktpreisen für wesentliche Positionen auf beiden Sei- ten der Bilanz genutzt (siehe Abbildung 2). Um den Wert eines Vermögensgegenstandes zu bestimmen, kann bei aktiven Märkten auf tatsächliche Transaktionen, etwa an einer Börse, zurückgegriffen werden.49 Für weniger liquide Positionen sind dagegen bestimmte Bewer- tungsmethoden zu nutzen. Hier setzt bereits erste Kritik an, da es an international einheitli- chem Vorgehen mangelt. Dem Bilanzierenden werden vielmehr zahlreiche Ermessensspiel- räume zugestanden. Bei einem Anteil von circa 95 Prozent der Vermögensgegenstände, für die kein objektiv bestimmbarer Marktpreis vorliegt, ergeben sich daraus in der Praxis be- trächtliche Effekte.50 Ferner kann das, was durch den Fair-Value-Ansatz suggeriert wird, nämlich den Ausweis des fairen objektiven Wertes, durch die Einräumung von umfangreichen Wahlrechten kaum geleistet werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Fair-Value-Bewertung bestimmt zunehmend bedeutende Bilanzpositionen
Quelle: Eigene Darstellung in enger Anlehnung an Pellens et al. (2008), S. 7.
Statt durch die vermeintlich höhere Transparenz des Ansatzes die Eigenkapitalkosten zu sen- ken51 besteht die Gefahr, dass in wirtschaftlich guten Zeiten aufgrund von durch Marktpreis- steigerungen entstehenden, nicht realisierten Buchgewinnen und dem somit höheren bilanziel- len Eigenkapitalausweis, risikoreiche Investments begünstigt werden und es insgesamt zu einer Erhöhung des Leverage kommt. In der Folge könnte eine systematische Aufwärtsspirale, welche lediglich auf buchungstechnischen, also vom Markt noch nicht gezahlten Gewinnen basiert, entstehen.52 Kommt es im Rahmen der normalen Zyklik zu einer Umkehr des Markt- trends, ist die "Fallhöhe" durch die Durchbrechung des Anschaffungskostenprinzips im Ver- gleich beispielsweise zur HGB-Bilanzierung entsprechend höher.53 Die mithin notwendigen Abschreibungen reduzieren die Eigenkapitalbasis und zwingen zum Verkauf von Assets, wel- che einen Teufelskreis von erforderlichen Deleveraging, sinkenden Vergleichspreisen und weiter rückläufiger Risikotragfähigkeit nach sich ziehen können.54 Der Verkauf um jeden Preis, also der sogenannte "Fire-Sale", führt zu weiter sinkenden Marktpreisen und überträgt den Druck auf andere Finanzinstitute.55 Nicht nur wenn ein Verkauf, zum Beispiel infolge von illiquiden Märkten, kaum mehr möglich erscheint, kann die Kreditneuvergabe eingeschränkt werden.
Neben dem Ausweis von Vermögen und Verbindlichkeiten schwankt auch die Bilanzierung von Ausfallrisiken bei Kreditinstituten spürbar mit dem Konjunkturzyklus. Unabhängig vom gewählten Rechnungslegungsstandard, also HGB oder IFRS, orientiert sich diese, basierend auf dem genannten Incurred-Loss-Model, über Einzelwertberichtigungen an tatsächlich einge- tretenen Verlusten.56 Dabei kommt es zu einer gewissen Asymmetrie, da Risikoprämien in der Regel bereits bei Kreditabschluss ertragswirksam erfasst, die (ebenfalls zum Abschlusszeit- punkt erwarteten) Kreditverluste hingegen erst später verbucht werden.57 Hierzu muss ein objektiver Anhaltspunkt für die Wertminderung, also ein Auslösetatbestand, feststellbar sein. Diese Regelung ist freilich interpretationsbedürftig, was folgendes Praxisbeispiel verdeutli- chen soll: Ein Kreditinstitut kann vor der Entscheidung stehen, ob ein objektives Kriterium schon vorliegt, wenn der Darlehensnehmer eines Konsumentenkredites seinen Arbeitsplatz verliert oder erst, wenn er mit den Raten in Verzug gerät.58 Diese scheinbar triviale Frage kann auf Portfolioebene beträchtliche Auswirkungen haben. Ferner kann die Bank die Ermes- sensspielräume zur Ergebnissteuerung nutzen.
Durch den späten Ansatz des ILM am tatsächlich ausgefallenen Einzelkredit werden im Auf- schwung nur sehr wenige Rückstellungen gebildet. Zugleich besteht die Gefahr, dass die in einer zukünftigen Phase des Konjunkturzyklus noch benötigte Risikodeckungsmasse über Dividenden ungerechtfertigt ausgeschüttet wird.59 Im Abschwung konzentrieren sich indes die Verluste. Die erläuterten Regelungen verbieten es der Bank jedoch, dieses zweifelsohne zu erwartende Phänomen im Jahresabschluss vorwegzunehmen. Infolge der bis dato versäumten angemessenen Reservebildung gegen Kreditausfälle kommt es zu einem zwar verspäteten, dafür aber betragsmäßig höheren Wertberichtigungsbedarf.60 Die beschriebenen Zusammen- hänge zeigen, dass das Incurred-Loss-Model zu Fehlanreizen im Kreditgeschäft führt,61 da die aufgrund der fehlenden Vorsorgebildung überdurchschnittlich hohen Verluste erst im Ab- schwung zum Eigenkapitalverzehr führen und somit die Möglichkeit zur Kreditvergabe redu- zieren können.
Die beiden vorgestellten Aspekte der Rechnungslegung sind somit in der Lage, die Volatilität sowohl des Periodenergebnisses als auch der bilanziellen Eigenkapitalbasis zu erhöhen und damit die Auswirkungen von Marktkrisen zumindest zu verschärfen. Es stellt sich mithin die Frage, inwiefern dies mit der eigentlichen Intention der externen Rechnungslegung, also der entscheidungsrelevanten und zukunftsgerichteten Informationsversorgung,62 vereinbar ist.
2.2.2 Determinanten der Bankenaufsicht
Im Rahmen des ersten Baseler Akkords konnten Sicherheiten zur Reduzierung des Adressaus- fallrisikos nur sehr eingeschränkt angerechnet werden.63 Wie im Unterkapitel 2.1 beschrieben, wurde auch dieser Bereich unter dem Gedanken einer höheren Risikosensitivität mit Inkraft- treten der SolvV reformiert. Die lediglich drei Sicherheitenarten unter Basel I, also Bargeld sowie Wertpapiere und Garantien ausgewählter Emittenten und Sicherheitengeber, wurden im Standard- und IRB-Basisansatz um weitere Kategorien ergänzt (siehe Abbildung 3, S. 12).64 Für den fortgeschrittenen IRB-Ansatz wurde die Beschränkung gar gänzlich aufgehoben - sofern das Institut die Werthaltigkeit der Sicherheit belegen kann. Neben einem deutlich aus- geweiteten Kreis berücksichtigungsfähiger Sicherheiten kam es zu Veränderungen in der Me- thodik der Anrechnung. So wird nicht mehr nur das Risikogewicht des Kreditnehmers durch jenes des Garantiegebers ersetzt,65 sondern darüber hinaus der angepasste Wert der Sicherheit vom Forderungsbetrag abgezogen.66 Weiterhin reduzieren Sicherheiten den Nettoverlust bei einem Ausfall - vermindern also den LGD im IRBA,67 was wiederum zu einem geringeren erwarteten (EL) und unerwarteten Verlust (UL) führt und in der Konsequenz zu einer Reduktion der Mindesteigenkapitalanforderungen (ein Rechenbeispiel folgt in Tabelle 1, S. 16 - Erläuterungen dazu weiter unten in diesem Abschnitt).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Anerkannte Sicherheiten im Standard- und IRB-Ansatz
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Deutsche Bundesbank (2004), S. 83.
Sollen die Veränderungen vor dem Hintergrund der Arbeit reflektiert werden, kommt rasch die Frage auf, ob nicht auch der Wert der Sicherheiten mit dem Konjunkturzyklus schwankt, also in einer Rezession erodiert, und so gegebenenfalls über die dann schlechtere Risikoge- wichtung im KSA beziehungsweise einer LGD-Erhöhung im IRB-Ansatz zu einer Verschär- fung der Mindestkapitalanforderungen führt. Sie könnten sich folglich als weiterer - etwa neben der Bonität des Darlehensnehmers - von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängiger Faktor offenbaren.68 Dieses Potenzial können insbesondere die Finanzsicherheiten, wie Ak- tien und Anteile an Investmentfonds, entfalten. In der Literatur werden die Wertverluste von Kreditsicherheiten weniger intensiv diskutiert als die Auswirkungen der Fair-Value- Bewertung. Gründe dafür liegen möglicherweise im Grad der Besicherung. Dieser ist bei- spielsweise im Bereich der Unternehmensfinanzierungen in der Bundesrepublik generell ge- ring. Zudem wird zum Beispiel die hypothekarische Besicherung als nicht unbedeutende Si- cherheitenart nur bedingt von konjunkturellen Aspekten beeinflusst.69 Die Bedeutung der un- ter Basel II stärker anrechenbaren Kreditsicherheiten als zyklische Determinante lässt sich folglich zwar nicht leugnen, ist aber zumindest zu relativieren.
Weniger Zweifel bestehen an den Auswirkungen, welche aus der Wahl des Ratingverfahrens resultieren. Wie zu Beginn des 2. Kapitels erläutert, steht die Bank vor der Entscheidung, zwischen dem Kreditrisiko-Standardansatz (KSA) und einem der beiden auf internen Ratings basierenden Ansätzen (IRBA) zu wählen.70 Da die Grundidee des Baseler Rahmenwerkes die Verknüpfung der regulatorischen Kapitalanforderungen mit dem Ausfallrisiko beinhaltet, kommt der Ausfallwahrscheinlichkeit (PD) und ihrer Veränderung im Zeitablauf eine besondere Bedeutung zu.71 Insofern erscheint es zielführend, zunächst den wesentlichen Unterschied zwischen den internen und externen Ratings herauszustellen.
Die von den zugelassenen Ratingagenturen bereitgestellten externen Ratings sind so konzi- piert, dass sie weniger von konjunkturellen als vielmehr von kreditnehmer- oder branchenspe- zifischen Faktoren beeinflusst werden.72 Sie schwanken dadurch nicht so stark mit dem Kon- junkturzyklus und führen zu stabileren Mindestkapitalanforderungen.73 Weiterhin erlauben sie eine bessere Einschätzung der mittel- bis längerfristigen Risikosituation.74 Der Betrachtungs- horizont der internen Ratings ist ungleich kürzer. Trotz der Nutzung einer mindestens einen Konjunkturzyklus umfassenden Datenhistorie wird die PD stets für die nächste Periode, also ein Jahr, bestimmt.75 Die damit einhergehende deutlich höhere Risikosensitivität erlaubt es dem Kreditinstitut, die aktuelle Qualität des Portfolios präziser einzuschätzen und kann Im- pulse für das interne Risikomanagement liefern.76 Sie führt andererseits zwangsläufig zu einer höheren Volatilität der Bonitätseinschätzungen. Beide Ansätze haben also ihre Vor- und Nachteile, mithin ihre Berechtigung. Aufgrund der beschriebenen Eigenschaften werden ex- terne Ratings auch als "Through-the-Cycle"-Schätzungen (TTC) und interne Ratings als "Point-in-Time"-Schätzungen (PIT) bezeichnet.77 Während bei TTC-Verfahren Schwankun- gen in der Regel über eine Anpassung der Ausfallwahrscheinlichkeit der einzelnen Ratingstu- fen ausgeglichen werden, sind diesen bei PIT-Ratingsystemen feste PDs zugeordnet (soge- nannte "Masterskala", Beispiel im Anhang, S. 74).78 Eine Änderung in der Einschätzung der Rückzahlungswahrscheinlichkeit führt im IRB-Ansatz folglich zu einer Migration des Ein- zelengagements von einer Risikoklasse in eine andere. Der Effekt solcher Migrationen kann mithilfe von Migrationsmatrizen leicht nachvollzogen werden.
Ungeachtet der Unterschiede führen beide Ansätze zu einer stärkeren Inanspruchnahme regu- latorischen Eigenkapitals durch Bonitätsverschlechterungen der Kreditnehmer. Diese sind vor allem in Zeiten ökonomischer Anspannung zu beobachten. Die in einem Abschwung höheren Ausfälle führen zu einer Neubewertung des bestehenden Kreditportfolios. In der Annahme weiter steigender Verluste in der nächsten Periode, migrieren die bestehenden noch nicht aus- gefallenen Engagements in Ratingklassen mit höheren PDs. In der Folge steigen die Kapital- anforderungen für das Bestandsportfolio an, während die tatsächlichen Ausfälle unmittelbar zum Eigenkapitalverzehr führen. Zusätzlich werden neu vergebene Darlehen zwangsläufig schlechteren Ratingstufen zugeordnet.79 Analog verhält es sich unter günstigen Kreditver- gabebedingungen, bei denen die geringen Verluste zu einer niedrigen Schätzung der Ausfall- wahrscheinlichkeit sowohl für die bestehenden als auch die Neuengagements führen. Die sich daraus ergebenden entsprechend niedrigeren Mindestkapitalanforderungen suggerieren das Vorhandensein einer hohen Risikodeckungsmasse und könnten zur exzessiven Ausweitung der Darlehensvergabe führen. Die beschriebenen Auswirkungen sind im IRB-Ansatz, welcher einen substanziellen Teil der Bank-Assets in den meisten Ländern umfasst, größer.80 Gründe liegen in der Tendenz der Institute, im Rahmen der internen Ratings die Ausfallwahrschein- lichkeit in Phasen günstiger konjunktureller Bedingungen zu niedrig anzusetzen.81 Eine An- lehnung der PD-Schätzungen an der aktuellen Situation und nicht etwa an einem Rezessions- Szenario (Downturn-PD) entspricht jedoch durchaus dem bereits erläuterten, stärker risiko- sensitiven Grundgedanken von Basel II. Mithin bleibt festzuhalten, dass der Wahl des Ra- tingansatzes ein direkter Einfluss auf die Volatilität der Mindestkapitalanforderungen zuzu- schreiben ist.82
Um die erläuterten Effekte der PIT-Schätzung im IRB-Ansatz besser nachvollziehen zu kön- nen, sollen sie im Folgenden an einem Praxisbeispiel quantifiziert werden. Dazu wurde ein real existierendes Portfolio mit an private deutsche Unternehmen vergebenen Darlehen aus- gewählt. Die regionale Verteilung der Unternehmenssitze über die Bundesrepublik ist als gleichmäßig einzuschätzen. Alle Engagements, welche bereits im Januar 2009 geratet wurden und 12 Monate später im Januar 2010 ein Re-Rating erhielten, also weder ausgefallen noch zurückgezahlt waren, wurden berücksichtigt (n=3.848). Die in Abbildung 4 dargestellte Mig- rationsmatrix gibt Auskunft über die Veränderungen der Bonitätseinschätzungen. Sich in der dunkelgelben diagonalen Linie wiederfindende Ratings blieben unverändert. Alle Engage- ments rechts davon stellen Verschlechterungen, links davon Verbesserungen hinsichtlich der Ausfallwahrscheinlichkeit dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Migrationsmatrix - Segment: Private Unternehmen Deutschland
Quelle: Eigene Darstellung (Vergrößerung im Anhang, S. 75).
Die Auswertung der Darstellung ergibt, dass sieben von zehn Unternehmen migriert sind, knapp 40 Prozent sogar um mindestens zwei Ratingklassen. Fünf von sieben migrierten Engagements sind in schlechtere Ratingstufen gewandert. Von einer zeitstabilen Einschätzung der Ausfallwahrscheinlichkeiten ist folglich kaum zu sprechen. Welchen konkreten Einfluss hat die Migration der Ratings jedoch auf die Mindestkapitalanforderungen?
Um diesen zu errechnen ist es unumgänglich, bestimmte Annahmen zu treffen. Allein die tatsächliche Ausfallwahrscheinlichkeit für beide Stichtage ist dem Autor bekannt. Sie beträgt 0,80 Prozent (2009) beziehungsweise 1,33 Prozent (2010), ist also binnen Jahresfrist um gut 66 Prozent angestiegen. Hinsichtlich der übrigen für die Berechnung der Eigenkapitalunterle- gung (EKU) nötigen Parameter wurden die aufsichtlichen Vorgaben des IRB-Basisansatzes, also für den LGD 45 Prozent, die Laufzeit 2,5 Jahre und das Konfidenzniveau 99,90 Prozent, übernommen.83 Der EAD wurde für das Rechenbeispiel auf konstant 1 Mrd. Euro gesetzt (Ergebnisse siehe Tabelle 1). Da es dem Kreditinstitut gestattet ist, im Rahmen des fortgeschrittenen IRB-Ansatzes abweichende Annahmen zu treffen, müssen die Rechenergebnisse nicht den tatsächlichen Folgen der Migration entsprechen. Gleichwohl scheinen diese aufgrund der Übernahme realistischer Eingaben zur Demonstration der Effekte geeignet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Veränderung der Eigenkapitalunterlegung durch Ratingmigrationen
Quelle: Eigene Berechnungen (Details zu den Berechnungen und Annahmen im Anhang, S. 76).
Die Berechnungen ergeben eine im Vergleich zu 2009 um knapp 20 Prozent höhere Mindest- kapitalanforderung. Im Gegensatz zum PD-Anstieg (66 Prozent) ist dies freilich ein unterpro- portionales Wachstum, lässt sich jedoch mit der flacher werdenden Risikogewichtungsfunkti- on leicht erklären (siehe Anhang, S. 77).84 Zur veränderten EKU kommen Wertberichtigun- gen für den EL, da die Kapitalanforderungen nur den UL abdecken.85 Weiterhin wurden keine tatsächlichen Ausfälle berücksichtigt, da Migrationsmatrizen nur "lebende" Engagements ab- bilden. Neben der höheren Kapitalunterlegung ist insofern auch mit einer Reduktion der zur Verfügung stehenden Risikodeckungsmasse des Institutes durch die beiden zuletzt genannten Aspekte zu rechnen. Wird das Praxisbeispiel um die zu Beginn des Abschnitts angestellten Überlegungen zur möglichen Erosion der Sicherheitenwerte im Abschwung ergänzt, muss außerdem ein Anstieg der Verlustquote bei Ausfall (LGD) mit einkalkuliert werden. Im Er- gebnis dieses nunmehr fiktiven Szenarios mit einem um zehn Prozentpunkte höheren LGD steigen die Mindestkapitalanforderungen deutlich um gut 46 Prozent an. In Bezug auf den erwarteten Verlust kommt es gar zu einer Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr.
Das Praxisbeispiel unterstreicht die Vermutung, dass die höhere Risikoorientierung der Ratingsysteme im Abschwung zu einem spürbaren Anstieg der Kapitalanforderungen führt.
2.3 Lässt sich die Existenz der Prozyklizität empirisch belegen?
Im letzten Unterkapitel konnten vier wesentliche Determinanten, nämlich die Fair-Value- Bewertung, die Incurred-Loss-Wertberichtigungen und die Ausweitung der anrechenbaren Sicherheiten unter Basel II sowie die Migration der internen Ratings für die mit dem Kon- junkturzyklus schwankenden risikoadjustierten Mindestkapitalanforderungen herausgearbeitet werden. Dagegen blieb bisher unklar, ob diese zyklischen Schwankungen tatsächlich einen (objektiv messbaren) Einfluss auf das Kreditvergabeverhalten haben, also den ihr zugeschrie- benen prozyklischen Effekt entfalten. Die nun folgenden Ausführungen sollen diese Lücke durch eine Diskussion der wissenschaftlichen Literatur sowie eigener empirischer Darstellun- gen schließen.
Nach dem Studium der Literatur lässt sich der Eindruck gewinnen, an der prozyklischen Wir- kung der Mindestkapitalanforderungen könne es kaum einen Zweifel geben. Zugleich ist die Diskussion nicht neu.86 Bereits mit der Einführung von Basel I hat es erste Befürchtungen gegeben, die Eigenmittelbestimmungen könnten die Prozyklizität des Bankverhaltens fördern und zu einer restriktiveren Kreditvergabe, eventuell sogar zu einer Kreditklemme führen.87 Vor dem Hintergrund der Rezessionstendenzen, mit welchen sich einige westliche Industrie- nationen zu Beginn der 1990er Jahre konfrontiert sahen - eine ernst zu nehmende Erwä- gung.88 Mit der Einführung des aktuell gültigen Baseler Akkords und den im Rahmen dessen durchgeführten quantitativen Auswirkungsstudien (QIS) flammte das Thema erneut auf.89 So weisen die Ergebnisse der dritten und fünften quantitativen Auswirkungsstudie durchaus ei- nen von der jeweiligen Konjunkturphase abhängigen Eigenkapitalbedarf aus. Die 2002 in einem schwächeren makroökonomischen Umfeld durchgeführte QIS 3 (reale Veränderung des BIP in Deutschland: 0 Prozent) führte, im Vergleich zu den Basel-I-Regeln, zu leicht stei- genden Kapitalanforderungen.90 Demgegenüber stehen die QIS-5-Ergebnisse aus dem Jahr 2006 (reale Veränderung des BIP in Deutschland: +3,4 Prozent) mit einer Eigenkapitalerspar- nis von durchschnittlich knapp sieben Prozent.91 Die Beobachtungen könnten freilich als Indiz für eine prozyklische Wirkung der risikoadjustierten Kapitalanforderungen interpretiert wer- den - in jedem Fall sind sie ein Beleg dafür, dass das damals neue Rechenwerk zu einem stär- ker mit dem Konjunkturverlauf schwankenden Eigenkapitalbedarf führt. Allein ein Hinweis auf ein möglicherweise verändertes Kreditangebot kann daraus nicht zweifelsfrei abgeleitet werden. Eine frühe Bundesbankstudie vermochte entsprechend keinen eindeutigen Beleg für den Zusammenhang von Kapitalvorschriften und einer restriktiveren Kreditvergabe erkennen, sondern stellte vielmehr die stärkere Differenzierung der Darlehenskonditionen nach der Bonität des Kunden in den Vordergrund.92
Nichtsdestotrotz blieben die Bedenken hinsichtlich der unerwünschten Nebeneffekte nicht unberücksichtigt. So wurden während der Erarbeitung von Basel II eine Reihe von ergänzen- den Maßnahmen eingeführt, um die potenziell prozyklische Wirkung einzuschränken. Diese reichen von der Abflachung der Risikogewichtungsfunktion in Säule 1 über längere Zeitrei- hen für die im Rahmen des IRB-Ansatzes zu schätzenden konjunkturabhängigen Parameter sowie konservativere Annahmen für die Verlustquote bei Ausfall, die sogenannte "Ab- schwung-LGD", bis hin zu Szenarien und Stresstests in Säule 2, mithilfe derer die Kreditinsti- tute ihren Kapitalbedarf infolge des Eintretens bestimmter Ereignisse besser voraussehen sol- len.93 Weiterhin reduzieren Zu- und Abschläge in Form von "Haircuts" Wertschwankungen von angerechneten Sicherheiten.94 Die Europäische Zentralbank (EZB) kommt nach der Wür- digung dieser Maßnahmen sowie einer eigenen empirischen Analyse zu dem Schluss, dass im Vergleich zu früheren Entwürfen nur noch eine wenn überhaupt "… schwache Prozyklizität des 'endgültigen Pakets' der neuen Baseler Eigenkapitalvereinbarung …"95 festzustellen sei.
Die Schilderungen verdeutlichen insgesamt ein Grundproblem der Prozyklizität: Sie lässt sich nur schwer belegen.96 Das österreichische Pendant zur Deutschen Bundesbank, die Österrei- chische Nationalbank, stellte bereits 2003 fest, dass sich der Zusammenhang zwischen Regu- lierung und Kreditvergabe ökonometrisch kaum erfassen lässt.97 Auch der Präsident der Bun- desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), Jochen Sanio, meldete 2010 Zweifel, ob des fehlenden Beweises für die prozyklischen Wirkungen von Mindestkapitalanforderungen, an.98 Zwei Jahre zuvor hatte Hermann Remsperger, zu jener Zeit Vorstandsmitglied der Bun- desbank, die fehlenden Kenntnisse zur, den natürlichen Zyklus der Wirtschaft verstärkenden, Wirkung sowohl des Baseler Rahmenwerkes als auch der Rechnungslegung angemahnt.99 Vor diesem Hintergrund und den beschriebenen, schon mit der Einführung von Basel II durchge- führten, Anpassungen zur Dämpfung der Prozyklizität scheint die Frage gestattet, ob die Exis- tenz ebenjener so unreflektiert übernommen werden darf oder ob es nicht lohnenswert er- scheint, die Argumentation von Befürwortern und Gegnern, ergänzt um eigene Darstellungen, im Folgenden nachzuvollziehen. Dabei kann es, wie noch festzustellen sein wird, weniger darum gehen, selbst das Vorhandensein der prozyklischen Wirkungen belegen zu wollen, als vielmehr darum, den Leser für die Komplexität des Nachweises an sich zu sensibilisieren. Insbesondere wird es interessant sein zu untersuchen, inwiefern es in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise zu einer Verknappung des Kreditangebotes durch Eigenkapitalrestriktionen gekommen ist.
Die wesentlichen, im Verlaufe der bisherigen Arbeit erörterten, Aspekte stellen auf den Zusammenhang zwischen den regulatorischen Mindestkapitalanforderungen und dem Konjunkturzyklus ab, das heißt, in wirtschaftlich günstigen Phasen wird mit einem Absinken, in Abschwüngen und rezessiven Zeiten mit einem Anstieg des Eigenkapitalbedarfs gerechnet. Die Berechtigung dieser Vermutung wurde beispielsweise im Unterkapitel 2.2 demonstriert. Soll dieser Argumentation weiter in Richtung Prozyklizität gefolgt werden, müsste aus dem veränderten Eigenkapitalbedarf auch eine Änderung im Kreditneugeschäft resultieren.100 In letzter Konsequenz wäre demnach eine mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) schwankende Neukreditvergabe zu erwarten (siehe Abbildung 5).
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Abbildung 5: Zusammenhang zwischen Veränderung des BIP und der Neukreditvergabe
Quelle: Eigene Darstellung (Daten: Deutsche Bundesbank und Statistisches Bundesamt, siehe Anhang, S. 78).
Der in der Darstellung visualisierte Effekt lässt sich auch mathematisch belegen. So sprechen sowohl der multiple Korrelationskoeffizient (0,7745) als auch das adjustierte Bestimmtheits- maß (0,5929) für einen positiven Zusammenhang zwischen der Veränderung der Neukredit- vergabe (abhängige Variable) und der Veränderung des realen Bruttoinlandsproduktes (unab- hängige Variable). Um die Gefahr zu reduzieren, dass es sich nur zufällig um eine Stichprobe mit einem relativ starken Zusammenhang handelt, wurde ergänzend der sogenannte "F-Test" durchgeführt. Da es sich bei der vorliegenden Arbeit jedoch um schwerpunktmäßig betriebs- wirtschaftliche Ausführungen handeln soll, sei nur das Ergebnis genannt, nach dem die Be- ziehung der gewählten Variablen mit hoher Wahrscheinlichkeit als nicht zufällig einzustufen ist (die Berechnungen können im Anhang, S. 78 f. nachvollzogen werden). An dieser Stelle ist es erwähnenswert, dass die Korrelationen seit Veröffentlichung von Basel I sowie Einführung von Basel II mit 0,4913 beziehungsweise 0,3302 deutlich unter dem Ergebnis für den gesam- ten in Abbildung 5 dargestellten Zeitraum liegen. Diese Beobachtung ist freilich wegen der ungleich geringeren Datenhistorie zu relativieren, könnte aber zumindest als Ausgangspunkt für weitere Forschungsarbeiten dienen.
Der belegte Zusammenhang ist zwar ein Indiz, allerdings noch kein Beweis für die prozykli- sche Wirkung der risikoorientierten Bankenregulierung.101 Ein Rückgang der Neukredit- vergabe in einem makroökonomisch angespannten Umfeld kann vielfältige Ursachen haben. Zunächst ist davon auszugehen, dass auch die Kreditnachfrage aufgrund der sinkenden Inves- titionstätigkeit von Unternehmen und Haushalten zurückgeht.102 Es besteht folglich die Not- wendigkeit, die Daten von Kreditnachfrage und -angebot zu trennen, was wiederum mit me- thodischen Problemen verbunden ist.103 Hinzu kommt eine gegebenenfalls aus Sicht der Fi- nanzbranche unfreiwillige Kreditausweitung allein durch die Inanspruchnahme von bereits zugesagten Kreditlinien.104 Gelingt es, das Kreditangebot separat zu analysieren, stellt sich ferner die Frage, inwieweit sich ein Angebotsrückgang aus dem ohnehin prozyklischen Bank- verhalten, beispielsweise durch eine krisenbedingt nachvollziehbare Veränderung des Ertrags- und Risikobewusstseins, oder dem Binden von Eigenkapitalrestriktionen ableiten lässt. Muss- ten Kreditinstitute tatsächlich infolge der geschwundenen Risikodeckungsmasse und der feh- lenden Möglichkeit, (Kredit-)Risiken kurzfristig, etwa durch Verbriefungen, abzubauen, die Darlehensvergabe einschränken?105 Wirkt Basel II gar als Katalysator, wäre darüber hinaus ein im Vergleich zur letzten Rezession (2003) deutlich sichtbarer Effekt zu erwarten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Bevor darauf näher eingegangen werden kann, soll zunächst der ge- wählte Indikator zur Einschätzung der angebotsseitigen Entwicklung des Kreditvolumens vorgestellt werden.
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Abbildung 6: Einschätzung der Kreditvergabebedingungen
Quelle: Eigene Darstellung (Daten: Deutsche Bundesbank, ifo-Institut, OECD, siehe Anhang, S. 80).
Der als "ifo-Kredithürde" bezeichnete Kreditmarktindikator wird vom Institut für Wirtschafts- forschung seit 2003 veröffentlicht. Die monatlich durchgeführte Umfrage unter deutschen Unternehmen bittet die Befragten um Beurteilung der aktuellen Bereitschaft der Banken, Kre- dite an Unternehmen zu vergeben.106 Eine der drei zur Verfügung stehenden Antwortkatego- rien schätzt das Kreditangebot als "restriktiv" ein.107 Der Anteil dieser Antwortmöglichkeit am Gesamtergebnis wird als ifo-Kredithürde angegeben. Ein - etwa analog dem Jahr 2010 - bei 33 stehender Indikator bedeutet folglich, dass 33 Prozent der teilnehmenden Unternehmen die Kreditvergabepolitik der Institute als restriktiv einschätzen (Zeitreihen im Anhang, S. 80). Die Bewertung des Restriktionsgrades der Kreditvergabe, also des Kreditangebotes, durch die Nachfrager108 soll im Rahmen der Arbeit als Anhaltspunkt für die Einschätzung der Verände- rungen des Kreditangebotes genutzt werden. Anhand der Daten, insbesondere deren Visuali- sierung in Abbildung 6, lässt sich erwartungsgemäß ein negativer Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes und der Kredithürde erkennen (Korrelation -0,4761). Ein Rückgang der Wirtschaftsleistung führt insofern zu einer, zumindest als solche wahrgenommenen, restriktiveren Kreditpolitik, mithin zu einer Verknappung des Angebotes. Es lässt sich somit festhalten, dass es einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Ent- wicklung und Kreditangebot, bewertet durch die Kreditnachfrager, gibt. Dieser ist jedoch nicht so stark wie die Beziehung zwischen makroökonomischem Umfeld und der Verände- rung des Kreditvolumens im Allgemeinen (vgl. Korrelationen zu Abbildung 5, S. 19 und Ab- bildung 6, S. 21). Dies kann als Beleg für den zum Teil nachfrageinduzierten Rückgang ge- wertet werden.
Unter Berücksichtigung des soeben eingeführten Indikators soll der Vergleich mit der voran- gegangenen Rezession des Jahres 2003 wieder aufgenommen werden. Es wird deutlich, dass einem in etwa vergleichbaren Rückgang der Neukreditvergabe (Zeitreihen im Anhang, S. 78) ein in 2009 deutlich weniger restriktiv eingeschätztes Kreditangebot gegenübersteht (ifo- Kredithürde: 61,27 zu 42,70). Wenn dies allein zur Einschätzung des möglicherweise die Pro- zyklizität verstärkenden aktuellen Baseler Rahmenwerkes herangezogen werden soll, kann dieser Aspekt kaum bestätigt werden. Diese sehr fokussierte Analyse ist jedoch nur bedingt aussagekräftig. Allein die umfangreichen politischen Eingriffe, etwa die Rekapitalisierung ausgewählter Banken sowie Maßnahmen zur Refinanzierung der Finanzbranche, führen zu verzerrenden Effekten und erschweren den direkten Vergleich.109 Zudem handelte es sich 2003 um einen für Deutschland außergewöhnlichen Abschwung im Kreditmarkt.110
Vor dem Hintergrund der krisenbedingten Belastungen der Kreditinstitute wuchs die Besorg- nis, die Finanzbranche könnte ihre eigentliche Aufgabe, also die Kreditversorgung der Wirt- schaft, nicht mehr in ausreichendem Maße erfüllen. Zahlreiche aktuelle - teilweise ökonomet- rische - Studien kommen gleichwohl zu dem Ergebnis, dass die befürchtete Kreditklemme ausgeblieben ist.111 Dennoch wurden fortwährend geeignete Maßnahmen gefordert, um diese etwa in Zukunft zu vermeiden beziehungsweise deren Wirkung einzudämmen.112 Auch die Deutsche Bundesbank räumte schließlich eine leichte Verstärkung der Prozyklizität seit In- krafttreten von Basel II ein.113 Trotz des moderaten Rückganges der Neukreditvergabe sowie des durch die Wirtschaft weniger kritisch eingeschätzten Darlehensangebotes gab es Stim- men, beispielsweise vom wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, welche die Aussetzung von Basel II anmahnten.114 Insofern ist es interessant weiter zu untersuchen, ob sich die bislang festgestellte Angebotsverknappung allein durch konjunkturelle Faktoren erklären lässt oder diese über das zu erwartende Maß hinausgeht. Zu diesem Zweck wird ein weiterer Indikator in Form einer von Bundesbank und EZB seit Ende 2002 gemeinsam durchgeführten Umfrage, der "Bank Lending Survey" (BLS), eingeführt. Ziel der Umfrage ist die Erlangung von Erkenntnissen sowohl über das Kreditvergabeverhalten im Hinblick auf den Konjunkturzyklus als auch über die Kreditmärkte im Allgemeinen. 115 Die Erhebung der qualitativen Fragen wird quartalsweise mit einer Gruppe definierter Banken der Euroländer durchgeführt und anschließend für jedes Land separat veröffentlicht. 116 Für die eigene Analyse wurden ausgewählte Fragen selektiert und deren Ergebnisse im Zeitablauf und vor dem Hintergrund der makroökonomischen Entwicklung in Abbildung 7 dargestellt. In Bezug auf die detaillierte Ergebnisermittlung sowie die ausführliche Fragestellung sei jedoch auf den Anhang, S. 81 verwiesen. Die Darstellung verdeutlicht eine – mit einer sich abkühlenden Wirtschaft einhergehende – Verschärfung der Kreditrichtlinien (graue Linie). Diese lässt sich regelmäßig auf die verschlechterte Risikoeinschätzung (blaue Linie) zurückführen. Weiterhin ist den Refinanzierungsbedingungen (Stichwort: Liquiditätskrise) und bilanziellen Restriktionen, also beispielsweise Kapitalanforderungen, eine, wenn auch etwas geringere, Bedeutung zuzuordnen (orange Linie).
[...]
1 Vgl. Christl (2005), S. 4.
2 Vgl. Curry/Shibut (2000), S. 26.
3 Vgl. Nehring (2006), S. 15.
4 Vgl. Utzerath (2010), S. 26 f.
5 Vgl. Burghof et al. (2009), S. 7; Acharya/Richardson (2009), S. 283 ff.
6 Vgl. Europäische Kommission (2006), S. 4.
7 Vgl. Hartmann-Wendels et al. (2007), S. 83 ff.; Utzerath (2010), S. 9 ff.
8 Vgl. Bergner et al. (2011), S. 263.
9 Vgl. Europäische Zentralbank (2005), S. 59; Bundesverband deutscher Banken (2009), S. 13.
10 Vgl. Utzerath (2010), S. 37 f.
11 Vgl. Rajan (2009), S. 400 f.; Krüger (2010), S. 3.
12 Vgl. Kreditanstalt für Wiederaufbau (2010), S. 2 f.
13 Vgl. Diamond/Rajan (2000), S. 2439; Redak/Tscherteu (2003), S. 64.
14 Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2011), S. 5.
15 Vgl. Gaumert et al. (2011), S. 9.
16 Vgl. Banh et al. (2011), S. 11.
17 Vgl. Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (2010), S. 101 ff.; Banh et al. (2011), S. 13.
18 Vgl. Repullo/Suarez (2008), S. 4.
19 Vgl. Christl (2005), S. 6 f.; Hartmann-Wendels et al. (2007), S. 393 f.
20 Vgl. Utzerath (2010), S. 23.
21 Vgl. Deutsche Bundesbank (2006), S. 87.
22 Vgl. Remsperger (2008), S. 4.
23 Vgl. Deutsche Bundesbank (2006), S. 69.
24 Vgl. Hartmann-Wendels (2003), S. 9 ff.
25 Vgl. Utzerath (2010), S. 28.
26 Vgl. Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2004), S. 181.
27 Vgl. Deutsche Bundesbank (2004), S. 90 f.
28 Vgl. Burghof et al. (2009), S. 13.
29 Vgl. Deutsche Bundesbank (2006), S. 71.
30 Vgl. Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2004).
31 Vgl. Pföstl (2008), S. 92.
32 Vgl. Utzerath (2010), S. 29; Deutsche Bundesbank (2006), S. 84 f.
33 Vgl. Deutsche Bundesbank (2006), S. 70.
34 Vgl. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2011).
35 Vgl. Pluto (2004), S. 3.
36 Vgl. Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2004), S. 54.
37 Vgl. Pluto (2004), S. 4 ff.
38 Vgl. Bietke et al. (2007), S. 18.
39 Vgl. Committee of European Banking Supervisors (2009), S. 10.
40 Vgl. Redak/Tscherteu (2003), S. 68; Deutsche Bundesbank (2006), S. 81 f.
41 Vgl. Christl (2005), S. 7.
42 Burghof et al. (2009), S. 3.
43 Vgl. Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2011), S. 6.
44 CDU/CSU/FDP (2009), S. 53.
45 Vgl. Deutsche Bundesbank (2002a), S. 42; Pellens et al. (2008), S. 13 f.
46 Vgl. Bieg et al. (2008), S. 2545; Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2009), S. 6.
47 Vgl. Bundesverband deutscher Banken (2009), S. 15.
48 Vgl. Remsperger (2008), S. 13.
49 Vgl. Landsman (2006), S. 7; Pellens et al. (2008), S. 10.
50 Vgl. Bieg et al. (2008), S. 2543.
51 Vgl. Pellens et al. (2008), S. 32.
52 Vgl. Pellens et al. (2008), S. 5.
53 Vgl. Bieg et al. (2008), S. 2545.
54 Vgl. Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2011), S. 68.
55 Vgl. Kashyap et al. (2008), S. 13 f.; Diamond/Rajan (2009), S. 3 ff.
56 Vgl. Amely et al. (2009), S. 241; Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2009), S. 6.
57 Vgl. Bundesverband deutscher Banken (2009), S. 14.
58 Vgl. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2009), S. 7.
59 Vgl. Telefoninterview Person 2 (Wirtschaftsberatungsgesellschaft) vom 08.08.2011.
60 Vgl. Amely et al. (2009), S. 242.
61 Vgl. Banh et al. (2011), S. 13.
62 Vgl. Bieg et al. (2008), S. 2546.
63 Vgl. Deutsche Bundesbank (2006), S. 81.
64 Vgl. Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2004), S. 35 ff.
65 Vgl. Redak/Tscherteu (2003), S. 68; Steinbrügge (2008), S. 131.
66 Vgl. Deutsche Bundesbank (2004), S. 83.
67 Vgl. Credit Suisse (2004), S. 8; Grützemacher/Theis (2010), S. 437.
68 Vgl. Hahn (2003), S. 143; Löffler (2005), S. 20.
69 Vgl. Deutsche Bundesbank (2007), S. 6; Sanio (2010), S. 2.
70 Vgl. Sygusch (2010), S. 11.
71 Vgl. Committee of European Banking Supervisors (2009), S. 10.
72 Vgl. Bundesverband deutscher Banken (2009), S. 20.
73 Vgl. Catarineu-Rabell et al. (2003), S. 20.
74 Vgl. Bundesverband deutscher Banken (2009), S. 20.
75 Vgl. Committee of European Banking Supervisors (2009), S. 10.
76 Vgl. Telefoninterviews Person 5 (Landesbank) vom 05.08.2011.
77 Vgl. Sygusch (2010), S. 20.
78 Vgl. Krüger (2010), S. 6.
79 Vgl. Utzerath (2010), S. 42.
80 Vgl. Committee of European Banking Supervisors (2009), S. 2.
81 Vgl. Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2011), S. 6 f.
82 Vgl. Redak/Tscherteu (2003), S. 65; Utzerath (2010), S. 44.
83 Vgl. Baule et al. (2004), S. 736; Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2004).
84 Vgl. Utzerath (2010), S. 31.
85 Vgl. Pluto (2004), S. 9.
86 Vgl. Sharpe (1995) sowie für einen Literaturüberblick Allen/Saunders (2004).
87 Vgl. Sygusch (2010), S. 8 f.
88 Vgl. Redak/Tscherteu (2003), S. 65.
89 Vgl. Banh et al. (2011), S. 11.
90 Vgl. Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2003), S. 3.
91 Vgl. ders. (2006a), S. 1.
92 Vgl. Deutsche Bundesbank (2002b), S. 31.
93 Vgl. Europäische Zentralbank (2005), S. 60; Krüger (2010), S. 3.
94 Vgl. Deutsche Bundesbank (2004), S. 83.
95 Europäische Zentralbank (2005), S. 60.
96 Vgl. Kaserer (2009), S. 70.
97 Vgl. Redak/Tscherteu (2003), S. 70.
98 Vgl. Sanio (2010), S. 4.
99 Vgl. Remsperger (2008), S. 10 f.
100 Vgl. Sygusch (2010), S. 6.
101 Vgl. Utzerath (2010), S. 41.
102 Vgl. Kreditanstalt für Wiederaufbau (2010), S. 2.
103 Vgl. Christl (2005), S. 8.
104 Vgl. Pellens et al. (2008), S. 22.
105 Vgl. Repullo/Suarez (2008), S. 1.
106 Vgl. Kreditanstalt für Wiederaufbau (2010), S. 2.
107 Vgl. Institut für Wirtschaftsforschung (2011b).
108 Vgl. Boss et al. (2010), S. 44.
109 Vgl. zum Beispiel für Sondermaßnahmen in 2010: Europäische Zentralbank (2011), S. 19 ff.
110 Vgl. Institut für Weltwirtschaft (2009), S. 9.
111 Vgl. Deutsche Bundesbank (2009b), S. 17; DIW (2009), S. 730; Reize (2010), S. 22.
112 Vgl. Institut für Weltwirtschaft (2009), S. 14.
113 Vgl. Geers (2009), S. 1.
114 Vgl. Burghof et al. (2009), S. 3.
115 Vgl. Deutsche Bundesbank (2009a), S. 15.
116 Vgl. Europäische Zentralbank (2003), S. 75.
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- Stefan Walther (Author), 2011, Dämpfung der prozyklischen Wirkung von Kapitalanforderungen in Basel III?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187030
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