Tagtäglich wird in den Medien mehr oder weniger schamlos über die eigene Sexualität, oder die Sexualität anderer Menschen berichtet und geurteilt. Die Fernsehprogramme senden fast rund um die Uhr, auf verschiedenen Sendern ?Talk Shows?, Reportagen, Werbung, ?Promi- News? und Serien mit verschiedenen sexuellen Inhalten. In den ?Talk Shows? wird ?schamlos? über sehr intime Angelegen-heiten diskutiert. Die ?Promi- News?/ Serien, verbreiten die Welt der schönen und idealen Körpermaße/Beziehungen. In den Reportagen wird häufig über neue Hormonpräparate für die Schönheit berichtet. Sexuelle Themen werden hierbei sehr tabulos ausgesprochen bzw. behandelt. Doch ist dies auch im Bereich der sexuellen Aufklärung der Fall? Findet die sexuelle Aufklärung genauso offen und ohne Schamgrenzen statt? Die Fachliteratur ist sich hierüber einig, beim Thema ?Sexualpädagogik? gibt es diese offene/ tabulose Sprache leider nicht. Besonders wenn diese Sexualpädagogik, Bildungsangebote für Menschen mit einer geistigen Behinderung organisiert. Wenn diese zwei Themen zusammentreffen, ?Sexualität? und ?geistige Behinderung?, stößt dies bei vielen Menschen in der Gesellschaft auf Unverständnis. Was hierbei häufig unbeachtet bleibt ist, dass die sexuelle Aufklärung nicht nur den Umgang mit dem eigenen Körper in Bezug auf Genitalität fördert, sondern das sie auch eine bedeutende Wirkung auf die Körperwahrnehmung und das Wohlbefinden hat. Für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist diese Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und eventuellen behinderungsbedingten Einschränkungen sehr wichtig. Sie fördert unter anderem die realistische Selbsteinschätzung und Selbstbestimmung. Dieser Aspekt wird in der Behindertenpädagogik erst seit einigen Jahren beachtet und gefördert. In den letzten Jahren entwickelten sich, durch engagierte Fachleute, eine Vielzahl von Angeboten, unter anderem zu den Themen: Körperwahrnehmung, Selbstbestimmung, Partnerschaft usw.. Allerdings werden diese Angebote noch nicht überall akzeptiert bzw. angenommen. Viele Menschen (darunter auch Mitarbeiter in Institutionen der Behindertenhilfe) verbinden diese Angebote immer noch mit einer Vielzahl von sozialen Vorurteilen und Mythen, die aus der Zeit repressiven Sexualpädagogik stammen.
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG
I. BEGRIFFSBESTIMMUNGEN
1.Definition der Sexualität
2. Definition Sexualpädagogik
2.1. Sexualpädagogische Vermittlungssysteme
2.2. Sexualpädagogische Zielsetzungen
2.3. Sexualpädagogik und Profession
3. Definition „Geistige Behinderung“
II. LIEBE PARTNERSCHAFT UND SEXUALITÄT VON MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG
1. Liebe, Partnerschaft und Sexualität von Menschen mit einer geistigen Behinderung
1.2. Rechtliche Rahmenbedingungen
1.2.1. Die rechtliche Definition sexueller Handlungen
1.2.2. Das Recht der Gleichachtung und der Schutz der Selbstbestimmung
1.2.3. Das zu schützende Recht anderer Menschen
1.3. Partnerschaft und Kinderwunsch
1.4. Sexualpädagogische Bildungsangebote für Menschen mit geistiger Behinderung
1.4.1. Sexualassistenz als Teilbereich der Sexualpädagogik
2. Barrieren bei der Verwirklichung von Liebe, Partnerschaft und Sexualität
2.1. Die Anhängigkeit von Bezugspersonen
2.1.1. Überbehütung durch Eltern
2.1.2. Fehlende Rückzugsmöglichkeiten
2.1.3. Fehlende Kontaktmöglichkeiten
2.1.4. Anforderungen an die Beziehungen von Menschen mit einer geistigen Behinderung
2.2. Soziale Vorurteile und Mythen
2.2.1. „Der klebrige Distanzlose“
2.2.2. „Der sexuell triebgesteuerte Wüstling“
2.2.3. „Das unschuldige neutrogene Kind“
III. MITARBEITERSCHULUNG ZUR SEXUALPÄDAGOGIK IN DER ARBEIT MIT GEISTIG BEHINDERTEN MENSCHEN
1. Vorstellung ausgewählter Konzepte
1.1. AWO: Liebe(r) selbstbestimmt- Praxisleitfaden für die psychosoziale Beratung und sexualpädagogische Arbeit für Menschen mit Behinderung
1.1.1. Inhalt und Schwerpunkte des Praxisleitfaden
1.2. Fachhochschule Merseburg: Berufsbegleitender Studiengang- Sexualpädagogik und Familienplanung
1.2.1. Studienverlauf und Inhalte des Studienganges: Sexualpädagogik und Familienplanung
1.3. BZgA: Rahmencurriculum- Sexualpädagogische Kompetenz
2. Entwurf einer Fortbildung für Mitarbeiter im Bereich der Erwachsenenbildung für Menschen mit einer geistigen Behinderung
2.1.Lernziele der Fortbildung
2.2. Fortbildungsblöcke
2.2.1.Mitarbeiterschulung Block 1 Thema: Was ist eigentlich Sexualität?
2.2.2.Mitarbeiterschulung Block 2 Thema: Sexualpädagogik und Normen und Werte!?
2.2.3. Mitarbeiterschulung Block 3 Thema: Körper- und Sexualaufklärung
2.2.4.Mitarbeiterschulung Block 4 Thema: Kinderwunsch, Hochzeit und rechtliche Rahmenbedingungen
2.2.5. Mitarbeiterschulung Block 5 Thema: Wie veranstalte ich sexualpädagogische Bildungsangebote?
2.2.6.Mitarbeiterschulung Block 6 Thema: Abschluss, Praxisreflexion
IV. RESÜMEE
LITERATURVERZEICHNIS
Einleitung
Tagtäglich wird in den Medien mehr oder weniger „schamlos“ über die eigene Sexualität, oder die Sexualität anderer Menschen berichtet und geurteilt. Die Fernsehprogramme senden fast rund um die Uhr, auf verschiedenen Sendern „Talk Shows“, Reportagen, Werbung, „Promi- News“ und Serien mit verschiedenen sexuellen Inhalten. In den „Talk Shows“ wird “schamlos” über sehr intime Angelegen- heiten diskutiert. Die „Promi- News“/ Serien, verbreiten die Welt der schönen und idealen Körpermaße/Beziehungen. In den Reportagen wird häufig über neue Hormonpräparate für die Schönheit berichtet. Sexuelle Themen werden hierbei sehr tabulos ausgesprochen bzw. behandelt. Doch ist dies auch im Bereich der sexuellen Aufklärung der Fall? Findet die sexuelle Aufklärung genauso offen und ohne Schamgrenzen statt? Die Fachliteratur ist sich hierüber einig, beim Thema „Sexualpädagogik“ gibt es diese offene/ tabulose Sprache leider nicht. Besonders wenn diese Sexualpädagogik, Bildungsangebote für Menschen mit einer geistigen Behinderung organisiert. Wenn diese zwei Themen zusammentreffen, „Sexualität“ und „geistige Behinderung“, stößt dies bei vielen Menschen in der Gesellschaft auf Unverständnis. Was hierbei häufig unbeachtet bleibt ist, dass die sexuelle Aufklärung nicht nur den Umgang mit dem eigenen Körper in Bezug auf Genitalität fördert, sondern das sie auch eine bedeutende Wirkung auf die Körperwahrnehmung und das Wohlbefinden hat. Für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist diese Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und eventuellen behinderungsbedingten Einschränkungen sehr wichtig. Sie fördert unter anderem die realistische Selbsteinschätzung und Selbstbestimmung. Dieser Aspekt wird in der Behindertenpädagogik erst seit einigen Jahren beachtet und gefördert. In den letzten Jahren entwickelten sich, durch engagierte Fachleute, eine Vielzahl von Angeboten, unter anderem zu den Themen: Körperwahrnehmung, Selbstbestimmung, Partnerschaft usw.. Allerdings werden diese Angebote noch nicht überall akzeptiert bzw. angenommen. Viele Menschen (darunter auch Mitarbeiter in Institutionen der Behindertenhilfe) verbinden diese Angebote immer noch mit einer Vielzahl von sozialen Vorurteilen und Mythen, die aus der Zeit repressiven Sexualpädagogik stammen. Hierzu gehören z.B. die folgenden Aussagen: „Schlafende Hunde, sollten nicht geweckt werden“ und „Menschen mit einer geistigen Behinderung haben keine „Sexualität“, da sie ihr Leben lang auf dem Entwicklungsstand eines Kindes verbleiben“. Diese Aussagen „behindern“ die sexuelle Aufklärung von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung erheblich und führen zu einer be-/verhinderten Sexualität. Um sexualpädagogische Bildungsangebote für Menschen mit einer geistigen Behinderung anbieten zu können, muss es Mitarbeiter geben, die sich in diesem Bereich fortgebildet haben. Sie müssen über wichtiges Hintergrundwissen und Methoden, zur einfachen Verdeutlichung von oftmals komplexen körperlichen Vorgängen verfügen. Gibt es jedoch genügend Fortbildungsangebote für Mitarbeiter bzw. welche Themenschwerpunkte sind hierbei besonders wichtig? In der Fachliteratur gibt es hauptsächlich Publikationen für den Themenbereich: Menschen mit einer geistigen Behinderung und sexualpädagogische Bildungsangebote. In diesen wird allerdings häufig nur auf den Inhalt von diesen Angeboten eingegangen und verschiedene Methoden vorgestellt. Zum Bereich Mitarbeiterschulung finden wir hierbei meistens nur einen Verweis, dass diese Angebote erforderlich sind. (vgl. KIECHLE/ WIEDMAIER 1998; LEUE- KÄDING 2004; WÜLLENWEBER 2004). Deshalb möchte ich in meiner Diplomarbeit diesen Bereich der sexualpädagogischen Bildungsangebote für Mitarbeiter in Einrichtungen für Erwachsene mit einer geistigen Behinderung näher erläutern und im Anschluss meinen eigenen Entwurf einer Mitarbeiterschulung vorstellen.
Zu Anfang ist es wichtig die Grundbegriffe zu definieren und näher zu erläutern. In Kapitel I. werden die grundlegenden Begriffe für den Bereich der sexual- pädagogischen Bildungsangebote im Bereich der Erwachsenenbildung für Menschen mit einer geistigen Behinderung näher erläutert. Sexualität (Kap. I., 1) und Sexual- pädagogik (Kap. I., 2) sind zwei sehr komplexe Themenbereiche. Die Definition der Sexualität darf nicht nur auf die reine Genitalität und die Reproduktionsfunktion beschränkt werden. Sie steht des weiteren unter einer Vielzahl gesellschaftlicher Einwirkungen (Normen, Werte, Einstellungen) und eine klare Definition ist für das weitere Verständnis meiner Diplomarbeit sehr wichtig. Die Sexualpädagogik muss dieser Komplexität der Thematik „Sexualität“, deshalb im Folgenden gerecht werden und die Ergebnisse der anderen Wissenschaftsdisziplinen (z.B. Soziologie) miteinbeziehen. Dieses ist für eine ganzheitliche Betrachtung der Thematik sehr wichtig und wird in Kapitel I. 2 verdeutlicht. Der Punkt 3, dient der Definition des Begriffs „geistige Behinderung“. Was wird unter dem Begriff der „geistigen Behinderung“ verstanden und wie wirkt sich dieses Verständnis auf den Umgang mit Menschen „die als geistig behindert bezeichnet werden“ aus?
Nachdem die Grundbegriffe definiert wurden, werde ich im Anschluss auf die Lebenswelt von Menschen mit einer geistigen Behinderung eingehen. Hierbei werde ich mich allerdings auf den Bereich der Partnerschaft und Sexualität begrenzen, da eine weitere Ausführung den Rahmen meiner Diplomarbeit überschreiten würde. Im Kapitel II. werde ich demzufolge den Themenbereich: Liebe, Partnerschaft und Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung, vorstellen. Was für einen Stellenwert hat die Sexualität in ihrem Leben? Wie gehen sie mit einer Partnerschaft und der Liebe um? Ist die Genitalität wirklich so wichtig für eine glückliche Beziehung? Und wo besteht Aufklärungsbedarf? Haben Menschen mit einer geistigen Behinderung überhaupt das Bedürfnis über diese Themen zu sprechen? All diese Fragestellungen werden ich in diesem Kapitel näher erläutern. Des weiteren ist es wichtig die Möglichkeiten, wie z.B. die Sexualassistenz, in diesen Bereich mit einzubeziehen. Die Sexualassistenz ist in der aktuellen Fachdiskussion ein wichtiges und sehr kontrovers diskutiertes Thema, deshalb wird sie unter Punkt 1.4.1. gesondert erläutert. Außerdem müssen im Umgang mit der Sexualität und auch die selbstbestimmte Gestaltung dieser und die rechtlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Diese werden unter Punkt 1.2 kurz zusammengefasst. Im Punkt 1.3 geht es um die Partnerschaft, Heirats- und Kinderwünsche von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Hier werden neue Entwicklungen wie die „beschützte Ehe“ und die „begleitete Elternschaft“ aufgezeigt, die jedoch im Rahmen meiner Diplomarbeit nicht im vollen Umfang (besonderst im Bezug auf die rechtlichen Rahmenbedingungen) erläutert kann. Jedoch besteht an diesem Punkt auch weiterhin viel Bedarf an unterstützenden Begleitpersonen, die in diesem Bereich begleitend tätig werden können. Allerdings kann dies nur umgesetzt werden, wenn es für die Unterstützer geeignete Informationsangebote gibt. Aufgrund der wenigen Ergebnisse zum momentanen Zeitpunkt (kaum empirische belegte Studien, Modellprojekte etc.) wird dieser Bereich lediglich zur Bedeutung des Weiterbildungsbedarfs und Forschungsbedarfs dargestellt.
Es gibt zum heutigen Zeitpunkt immer noch sehr viele Barrieren und Vorurteile gegenüber der Sexualität von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Diese werden in Punkt 2 erläutert und sollen den Ansatzpunkt der im Anschluss entwickelten Fortbildung darstellen. Um den Umgang mit dem Thema Sexualität und geistiger Behinderung zu verändern ist es meines Erachtens zum Anfang sehr wichtig, dass bei den grundlegenden Einstellungen (und den daraus resultierenden Handlungen) angesetzt wird. Welche Defizite und Vorurteile bestimmen das Handeln? Welche Vorurteile und Barrieren gibt es überhaupt in diesem Bereich? Sind uns diese in unserer täglichen Arbeit überhaupt bewusst? Wie bedeutsam ist die Bewusstmachung dieser Barrieren und Vorurteile? Aufgrund dieser Fragestellungen werden, die in der Fachliteratur am häufigsten erwähnten Barrieren aufzeigen und ihre mögliche Wirkung auf das Handeln der betroffenen Person näher erläutern.
Im Kapitel III. werden zum Abschluss meiner Diplomarbeit drei verschiedene bereits bestehende Fortbildungsangebote vorgestellt. Hierbei habe ich darauf geachtet, dass diese jeweils verschiedene Bildungsbereiche (Eigenarbeit, Fortbildung und Studium) ansprechen. Jeder Mensch sollte sich meines Erachtens die Möglichkeit der Weiterbildung selbstständig aus einer Vielfalt von Angeboten wählen können und nicht nur auf eine Möglichkeit des Wissenserwerbs angewiesen sein. Aus diesen drei exemplarisch vorgestellten Angeboten habe ich unter Punkt 2 meine eigene Halbjahresfortbildung entwickelt. Grundlage für die Themenwahl bildet das Kapitel II Punkt 2.. Diese Fortbildung soll eine Grundlagenweiterbildung darstellen, auf der im späteren Verlauf eventuell weiter aufgebaut werden könnte. Die Grundlagenweiterbildung soll den Teilnehmern bei der Weiterentwicklung und persönlichen Reflexion ihrer eigenen Einstellungen zu dem Themenbereich „Sexualität und geistige Behinderung“ behilflich sein. Erst nachdem die eigene Sexualität und die eigenen Normen/ Werte reflektiert und bewusst wahrgenommen worden sind, können auch die aufbauenden Themenbereiche (Kinderwunsch, Hochzeit, Veranstaltung eigener Angebote), die sich speziell auf den Umgang mit den Menschen mit einer geistigen Behinderung beziehen, professionell behandelt werden. Um den Rahmen meiner Diplomarbeit nicht zu überschreiten haben ich bei dem Entwurf der Fortbildung, nur die ersten zwei Wochenendblöcke exemplarisch ausführlich dargestellt. Die vier weiteren Fortbildungsblöcke sind in einer Tabelle, die einen Überblick gibt, dargestellt. Zum Abschluss meiner Diplomarbeit möchte ich mit einem Resümee über den Verlauf meiner Diplomarbeit und einer möglichen Zukunftsperspektive für den Themenbereiche der sexualpädagogischen Bildungsangebote für Mitarbeiter in Einrichtungen der Behindertenhilfe abschließen.
I. Begriffsbestimmungen
1.Definition der Sexualität
>>Sexualität ist, was wir daraus machen. Eine teure oder eine billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdrückung), ein kurzweiliger Zeitvertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse oder das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form von Zärtlichkeit, eine Art der Regression, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung.<< (Offit 1979, S.16) “ (OFFIT zitiert von SIELERT 2005, S.37).
An diesem Zitat, von OFFIT in SIELERT, wird die Vielfältigkeit des Begriffs „Sexualität“ deutlich. In Deutschland existierte nachweislich bis in das 17. Jahrhundert eine überaus reichhaltige Sprache über sexuelle Zusammenhänge, die es erlaubte über „ das Sexuelle im Sinne genitaler Lust in vielfältigen Beziehungen des Menschen “ zu sprechen und zu schreiben. Dies wurde von einem belgischen Sexualforscher sowohl für den flämischen wie auch für den deutschen Sprachraum nachgewiesen. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff „Sexualität“ auf das sich in dieser Zeit durchsetzende, eingeengte Verständnis „ der Funktion des Sexuellen auf das Fortpflanzungsgeschehen “ übertragen. (vgl. ebd., S. 39; SIELERT et al.2.1993, S.14). Ursprünglich stammt der Begriff „Sexualität“ aus der Biologie und wies hier auf das Vorhandensein männlicher und weiblicher Organismen hin1. Der Begriff „Sexualität“ entstammt dem lateinischen Secare (schneiden/ trennen) und Sectus (Trennung/ Unterscheidung), aus ihnen wurde das Wort Sexus aus dem im 20. Jahrhundert das Wort Sex/ Sexualität entstand und im Zusammenhang mit der Erotik verwendet wurde. (vgl. ebd.; SIELERT 2005, S.39).
Seit den 70er Jahren (unter dem Einfluss der 68er Bewegung) wurde das Thema „Sexualität“ in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen (Medizin, Psychologie, Sexologie u.a.) kontrovers diskutiert. Aufgrund dieser vielseitigen Einflüsse besteht bis heute jedoch noch keine einheitliche Definition. (vgl. LEUE- KÄDING 2004, S.29). Jede Wissenschaftsdisziplin setzt hierbei ihre eigenen Schwerpunkte, die Medizin z.B. auf die Reproduktionsfunktion und die organischen Vorgänge wie die Hormonproduktion.
Einen weiteren Grund für das Fehlen einer einheitlichen Definition nennt SIELERT: Sexualität zu definieren, macht einige Mühe. Sexualität umfasst zu viel und zu Widersprüchliches, ist weitgehend dem Irrationalen und Unbewussten verhaftet. (SIELERT 2005, S.37).
Weitere Gründe belegt LEUE- KÄDING durch Zitate von FRÖHLICH und nennt hier unter anderem, dass der Wissenschaftszweig der Sexualität erst 100 Jahre existiert und das aufgrund der Vielzahl der bisher erschienen Publikationen und der vorherrschenden Strukturlosigkeit und Unübersichtlichkeit, eine einheitliche Definition noch nicht möglich war. („ Fröhlich 1999a, 140- 142 “ zitiert von LEUE- KÄDING 2004, S.29f.). Um das Thema „Sexualität“ zu behandeln, müssen die Ergebnisse aus den verschiedenen Wissenschaftszweigen berücksichtigt werden. BURKERT et al. nennt zu diesem Zweck die Wissenschaften: Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Anthropologie, Medizin, Theologie und Sexologie. Des Weiteren schreibt er, dass diese Ergebnisse in der praktizierten Sexualpädagogik wenig Beachtung bekommen und diese sich vorwiegend auf die biologische Wissensvermittlung begrenzt (besonders im Bereich der Schulsexualaufklärung). (vgl. BURKERT et al. 1970, S.8). Neben dem oben bereits erläuterten „Stand der wissenschaftlichen Kenntnisse“ müssen des weiteren die „ Wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse “ berücksichtigt werden. Diese haben u.a. einen sehr großen Einfluss auf die Bewertung der Sexualität durch die Gesellschaft. Zu den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen im Nachstehenden ein Beispiel zur Verdeutlichung von SCHMIDT:
In der frühen Industrialisierungsphase westlicher Gesellschaften mussten alle erwirtschafteten Ü berschüsse zum Aufbau der Wirtschaft, zur Gewinnmaximierung, möglichst wieder investiert werden; Konsum und Bedürfnisbefriedigung wurden aufgeschoben. Eine Verzichtsmoral war die Folge, sie betraf keineswegs nur sexuelle, sondern alle sinnlichen und regressiven Bedürfnisse. Der Körper wurde diszipliniert und damit verplanbar für disziplinierte Arbeit. (SCHMIDT IN: PRO FAMILIA 2001, S.157; vgl. KIECHLE/ WIEDMAIER 1998, S.11).
Diese Verzichtsmoral hatte bedeutende Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Wertungen und Moralvorstellungen. Die „Sexualität“ galt in dieser Zeit als „Kräfte zehrend“ und sollte sich negativ auf die „disziplinierte Arbeit“ auswirken und wurde somit von der öffentlichen Meinung negativ besetzt. KIECHLE und WIEDMAIER schreiben hierzu:
In dieser Zeit entstand “ (außerdem) „ die kleinbürgerliche und system begünstigende Vorstellung, dass Sexualität nur innerhalb der Ehe vollzogen werden darf, was zu einer extrem sexualfeindlichen Erziehung führte. Die aus dieser Erziehung entstandene negative Einstellung verfestigte sichüber die Generationen. (ebd., S.11f.).
Menschen (bzw. Eltern), die unter diesen repressiven Bedingungen aufwuchsen, bewerten zweifelsohne die „Sexualität“ anders als Kinder und Jugendliche „ die heute unter sexualisierten Umweltbedingungen und einem sexualfreundlichen Elternhaus aufwachsen. “ (vgl. SIELERT 2005, S.54).
Die Sexualität steht immer unter den gesellschaftlichen Einflüssen und ist daher eine gesellschaftliche Kategorie. SIELERT schreibt hierzu: „ Das natürliche Moment am Sexuellen lässt sich vom gesellschaftlichen nicht trennen. “ (ebd., S.42). SIGUSCH schreibt aus sozialwissenschaftlicher Sichtweise der Sexualität: „ Der Mensch ist von Natur aus gesellschaftlich, und seine Sexualität ist es auch “ (SIGUSCH IN: PRO FAMILIA 2001, S. 144). Die gesellschaftlichen Ansichten prägen somit die individuelle Ebene und das Sexualverhalten, wie auch die Sichtweise der Funktion in derselben Weise. Diese meist im unbewussten verinnerlichten Normen und Werte der Gesellschaft beeinflussen unbewusst und der direkten Kontrolle entzogen die psychischen Vorgänge. Zu den psychischen Vorgängen, die die menschliche Sexualität beeinflussen, gehören unter anderem die Sinneseindrücke, die sexuelle Wünsche erwecken. Persönliche Einstellungen und das Gewissen steuern die sexuellen Triebe, Wünsche und Gefühle, die sexuelle Handlungen begleiten. Die psychischen Vorgänge und die organischen Vorgänge beeinflussen sich wechselseitig. (vgl. BURKERT et al. 1970, S.12). Mit organischen Vorgängen sind hier unter anderem die Hormonproduktion (z.B. die Menstruation) oder die Beschleunigung der Herzfrequenz bei sexueller Erregung gemeint. (vgl. ebd., S.11). Die psychischen und organischen Vorgänge beeinflussen das Sexualverhalten. Mit dem Sexualverhalten ist hier nicht nur der Geschlechtsverkehr gemeint, sondern unter anderem auch Masturbation, Kuscheln, Streicheln, Tragen reizvoller Kleidung u.a.. (vgl. ebd., S.12). Im Anhang (Abb.1: Die Komplexität der Sexualität) befindet sich ein Schaubild das die Komplexität des Themas (wie soeben erläutert) verdeutlicht. Dieses Schaubild muss jedoch meines Erachtens durch die Dreiteilung von SPORKEN ergänzt werden. WALTER schreibt hierzu:
Der holländische Medizinethiker Sporken hat den Bedeutungsinhalt des Begriffes „ Sexualität “ in einem Drei- Stufen- Schema erfasst: Sexualität meint nach Sporken 1) „ das ganze Gebiet von Verhaltenweisen in den allgemein- menschlichen Beziehungen (im sog. koedukativen Alltag), 2) im Mittelbereich von Zärtlichkeit, Sensualität, Erotik und 3) in der Genitalsexualität “ (Sporken, 1974, 159). (SPORKEN zitiert von WALTER IN: WALTER [Hrsg.]6.2005, S.34).
Ich möchte den Begriff „Sexualität“ in den folgenden Ausführungen differenzieren. Der Begriff „Sexualität“ umfasst die ersten zwei Stufen des Drei- Stufen- Systems von SPORKEN und der Begriff „Genitalität“ bezieht sich ausschließlich auf den sexuellen Akt (Koitus wie auch Masturbation), also die dritte Stufe der Dreiteilung. Diese Differenzierung ist durchaus wichtig, da Sexualität viel mehr ist, als nur Genitalität, auch für Menschen mit geistiger Behinderung steht die Sexualität (anfassen, kuscheln, sich geborgen fühlen...) meistens im Vordergrund einer Partnerschaft. (ausführlich s. Kap. II. , 1). Sexualität ist ein Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit (von der Geburt bis in das Greisenalter) und lässt sich nicht nur auf die Genitalität und Reproduktion reduzieren. Lust, Befriedigung, Partnerschaft stehen eng mit ihr in Verbindung. Sexualität ist ein soziales Verhalten bzw. beeinflusst dieses, schon das Kind lernt Bewertungen, Vorschriften und Verbote in der Gesellschaft zu den Themen „Sexualität“ und „sexuelles Verhalten“.
2. Definition Sexualpädagogik
Im vorangegangen Kapitel habe ich bereits aufgezeigt, dass sich die Sexualität nicht auf die Fortpflanzungs- und Körperfunktionen begrenzen lässt. Aufgrund dessen darf sich die praktizierte Sexualpädagogik nicht nur auf die Aufklärung über die körperlichen Sexualorgane und die Fortpflanzungsfunktion begrenzen. PRO FAMILIA 2 schreibt zu ihrem Verständnis von Sexualpädagogik:
Sexualpädagogik ist mehr als Aufklärung. Menschen werden als sexuell empfindende Wesen geboren. Sie haben und benötigen von klein auf körperbezogene, lust- und liebevolle Erfahrungen mit anderen Menschen. Sexualität begleitet den Menschen im Sinne einer schöpferischen Lebensenergie von Anfang an- und ist damit weit mehr als genitales Erleben, das umgangsprachlich oft mit Sexualität (Sex) gleichgesetzt wird. (PRO FAMILIA 2002, S.12).
Demzufolge muss Sexualpädagogik die Aspekte der anderen Wissenschaften (Psychologie, Sexologie, Theologie, u.a.) berücksichtigen. SIELERT führt hierzu folgende Kernbereiche der sexualpädagogischen Tätigkeit auf, die sich auf die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen beziehen:
Körper- und Sexualaufklärung
Ethik, Moral und Wertorientierung Persönlichkeitslernen
Sprechenüber Sexuelles Sexualerziehung
Sexuelle Orientierungen
Sexualität im Spannungsfeld der Kulturen Sexualität und Behinderung
Sexualität und Gewalt (SIELERT 2005, S.26f.).
Diese von SIELERT so genannten „ Kernbereiche sexualpädagogischer Tätigkeit “ werden, je nach dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand, in einem unterschiedlichen Maße für die angewandte Sexualpädagogik bedeutsam. (vgl. ebd., S.26). Zur Verdeutlichung: Meine Diplomarbeit hat den Schwerpunkt: „Sexualität und Behinderung“ (Sonderpädagogik) die anderen Kernbereiche werden jedoch unter diesem Schwerpunkt in verschiedener Ausprägung mit berücksichtigt, da dieses Thema nicht ohne z.B. die Körper- und Sexualaufklärung (Biologie/ Medizin) behandelt werden kann.
Die Sexualpädagogik ist ein Teilgebiet der Pädagogik, dass sich mit der Theorie und Praxis der Geschlechtserziehung und der sexuellen Aufklärung befasst. (vgl. DUDEN [Fremdwörterbuch]7.2001, S.910 Sexualpädagogik). Durch ein Zitat von SIELERT kann diese Definition in Bezug auf die Wissenschaftlichkeit der Sexualpädagogik ergänzt werden:
Sexualpädagogik ist eine Aspektdisziplin der Pädagogik, welche sowohl die sexuelle Sozialisation als auch die intentionale erzieherische Einflussnahme auf die Sexualität von Menschen erforscht und wissenschaftlich reflektiert. (SIELERT 2005, S.15).
Die Pädagogik als Erziehungswissenschaft wird jedoch häufig nur mit „zu erziehenden“ Kindern und Jugendlichen in Verbindung gebracht. Die Sexualpädagogik (wie auch die allgemeine Pädagogik) sollte sich nicht nur auf diesen Bereich begrenzen. Hierzu schreibt SIELERT:
Da sich Pädagogik in neuerem Verständnis auf alle Lebensphasen bezieht, kann auch die Lebenswelt von Erwachsenen und alten Menschen zum Gegenstandbereich der Sexualpädagogik gerechnet werden. Angemessener sind die Begriffe Sexual- Andragogik und Sexual- Gerontagogik, die sich angesichts der geringen Beachtung sexueller Entwicklung in diesen Lebensphasen und einer zu geringen Theorieentwicklung jedoch (noch) nicht durchgesetzt haben. (ebd.).
Zum erleichterten Verständnis werde ich jedoch, den Begriff der Sexualpädagogik weiter verwenden, da sich die im Anschluss in Kapitel III. vorgestellten Angebote nicht nur auf den andragogischen Bereich begrenzen lassen. Sie können in leicht abgewandelter Form auch für u.a. Jugendliche angewendet werden.
2.1. Sexualpädagogische Vermittlungssysteme
Die Sexualpädagogik beinhaltet folgende Vermittlungssysteme3, die sich sowohl ergänzen wie auch ineinander übergehende Aufgabenbereiche aufweisen: Sexualaufklärung, Sexualerziehung, Sexualberatung und Sexualtherapie. Die Sexualaufklärung bezieht sich häufig nur auf ein einmaliges Informationsgespräch über Fakten und Zusammenhänge der menschlichen Sexualität. SIELERT schreibt, dass sie mehr oder weniger zielgruppenorientiert ist. (vgl. ebd., S.15f.). Meines Erachtens ist die häufigste Sexualaufklärung das einmalige kurz gehaltene Aufklärungsgespräch der Eltern mit dem Kind. Viele Eltern sind hierbei durch eine repressive4 Sexualerziehung geprägt, wollen dieses Gespräch „schnellstmöglich hinter sich bringen“ und hoffen dabei, dass ihre Kinder durch andere Quellen aufgeklärt werden. (Schule, „Bravo“, Freunde).
Die Sexualerziehung bezieht sich auf die kontinuierliche Einflussnahme (durch
Erziehungspersonen) auf die Entwicklung von der frühen Kindheit an. Sie umfasst sowohl die Sauberkeitserziehung wie auch die Entwicklung sexueller Ausdrucks- und Verhaltensformen. (vgl. ebd., S.15f.). KLUGE schreibt im Zusammenhang zur Sexualerziehung von „bewusst gelenkten Lernprozessen“:
Im Mittelpunkt des erzieherischen, d.h. zielorientierten, Handelns stehen die Einstellungen und Verhaltensweisen, Gefühle und Einsichten des Zu- Erziehenden. Mit Sexualerziehung bezeichnet man also das gesamte Feld der geplanten Förderung der Sexualität eines Menschen auf allen Altersstufen, das sich als einen Teilbereich der gesamterzieherischen Bemühungen begreift: Familie, Ersatzfamilie, Kindertagesstätte, Kindergarten, Schule u.a. (KLUGE 1998, S.16).
SIELERT hingegen bezieht auch die unbewusste Einflussnahme auf die sexuelle Sozialisation in die Sexualerziehung mit ein. SIELERT schreibt hierzu, dass die sexuelle Sozialisation oder >>Sexualisation<< auch unabhängig von der Sexualerziehung stattfindet, so z.B. durch unbedachte alltägliche Selbstverständlichkeiten, mediale Einflüsse und positiv oder negativ empfundene Irritationen der sexuellen Identität im Laufe der persönlichen Entwicklung. (SIELERT 2005, S.15f.).
Durch mediale Einflüsse können Fragen entstehen, ohne auf die Sexualerziehung abzuzielen, sie jedoch trotzdem beeinflussen. Dies ist häufig bei den prägenden Normen und Werten durch die Eltern zu beobachten. Zur Verdeutlichung: „Warum wollen die beiden heiraten?“ - „Weil sie ein Kind bekommen,“ oder „weil sie sich lieben“. Hier ist sehr deutlich die Einstellung der Eltern zu erkennen. Bei der Aussage eins, gehört die Geburt eines Kindes in die eheliche Gemeinschaft und die Schwangerschaft ist somit eine „Verpflichtung“ zum Heiraten. Aussage zwei hingegen ist wesentlich neutraler und die Liebe steht im Vordergrund der Hochzeit.
Wenn im weiteren Verlauf der Entwicklung Probleme im Bereich der Sexualität entstehen (z.B. durch eine ungewollte Schwangerschaft), gibt es die Sexualberatung. Die Sexualberatung wird von Institutionen wie z.B. Pro Familia angeboten. Sie findet meist punktuell auf Konflikte und Krisen bezogen statt und unterstützt Lern- und Entwicklungsprozesse in „nicht- direktiven5 “ Einzel- oder Gruppengesprächen. (vgl. ebd.).
Die Sexualtherapie wird von speziell ausgebildeten Medizinern angeboten (Sexualmediziner, Sexualpsychologen u.a.) und behandelt u.a. sexuelle Funktionsstörungen. KLUGE definiert die Sexualtherapie wie folgt:
Behandlung von pathologischem Sexualverhalten, sexuellen Funktionsstörungen u.a. durch Mediziner (Gynäkologen, Andrologen), insbesondere Sexualmediziner, Sexualpsychologen, Psychoanalytiker und Therapeuten. Die meisten Sexualstörungen bei den zu behandelnden Männern und Frauen lassen sich auf psychosoziale Ursachen zurückführen. Hier muss dann auch die Diagnostik ansetzen und die Therapie au ß er psychoanalytischen Verfahren entsprechende Konzepte (z.B. Individual-, Paar- , Gruppen-, Familien-, Körpertherapie) berücksichtigen. Neben den therapeutischen Ma ß nahmen steht ebenso die Beratung im Vordergrund. (KLUGE 1998, S.16).
Am Beispiel der Sexualtherapie ist des Weiteren zu erkennen, dass die Vermittlungssysteme nicht nur aufeinander aufbauen sondern auch eng miteinander verbunden sind. So beinhaltet die Sexualtherapie auch die Sexualberatung.6
2.2. Sexualpädagogische Zielsetzungen
Nach langer Zeit der Tabuisierung der Sexualität und der repressiven Sexualpädagogik, hat sich Ende des 20. Jahrhunderts und bis heute, Anfang des 21. Jahrhunderts die emanzipatorische7 und sexualitätsbejahende Sexualpädagogik durchgesetzt. Die Sexualpädagogik wird heute noch von vielen Geheimnissen und gesellschaftlichen Tabus (z.B. Sexualität im Alter) umgeben oder sie beschränkt sich lediglich auf biologische Wissensvermittlung, dass „ dass geschlechtliche Zusammensein Befriedigung und Lustgefühle verschafft, wird selten erwähnt.“ (vgl. BURKERT ET AL. 1970, S.11). Diese Aussage von BURKERT ET AL. aus dem Jahr 1970 trifft heute auch noch zu, besonders wenn es sich um die familiäre Sexualaufklärung handelt. Viele Eltern sind heute noch von der eher repressiven „Gefahrenabwehr- pädagogik“ geprägt und können deshalb nicht offen mit ihren Kindern über dieses Thema sprechen. Bei der sog. „Gefahrenabwehrpädagogik“ stehen die „Schattenseiten der Sexualität“, wie Gewalt, AIDS, Abhängigkeit und Angst im Vordergrund. Sie soll die Kinder vor den möglichen Gefahren, die die sich entwickelnde Sexualität für sie haben könnte, beschützen. Sie wirkt oftmals eher abschreckend, bzw. stellt die Sexualität als etwas sehr Negatives da. (vgl. SIELERT 2005, S.13ff.). Hierzu schreibt SIELERT wie folgt:
Gegen die tendenzielle Ü berschattung des Sexuellen mit Gewaltaspekten im populären pädagogischen Empfinden setzt eine sexualfreundliche Sexualpädagogik die Sensibilisierung der Sinne und Sinnlichkeit als Thema für die theoretische und praktische Arbeit. Das Thema umfasst die Reflexion und Kultivierung von Körperlichkeit, der sinnlichen Ausstrahlung, der Wechselwirkung von Selbst- und Fremdwahrnehmung, der Balance von Selbstwertgefühl, Ich- Ideal undäu ß erer Erscheinung sowie die aktive Gestaltung der Selbstpräsentation. (ebd., S.27f.).
Die „negativen Schattenseiten“ der Sexualität müssen in der heutigen Sexualpädagogik weiterhin thematisiert werden und sollten eine Auseinandersetzung mit ihnen anregen. Sie dürfen jedoch nicht Hauptbestandteil der Sexualpädagogik sein. (vgl. PRO FAMILIA 2002, S.13). Die „emanzipatorische“ sexualitätsbejahende Sexualpädagogik soll
ein positives gesellschaftliches Klima (..) schaffen bzw. (..) erhalten, in dem offenüber Sexualität geredet werden kann und in dem eine Unterstützung für die Träger der Sexualaufklärung gegeben ist. Die Aufklärung beinhaltet zunächst eine umfassende Wissensvermittlung- insbesondereüber Verhütungsmethoden und Verhütungsmittel. Aufklärung darf sich aber nicht auf die sachliche Information beschränken, sie muss vielmehr die Beziehungen zwischen Menschen thematisieren und die ethischen Komponenten aufgreifen. Sie soll zum Handeln motivieren und auch die Kompetenzen (u.a.
Wahrnehmungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Handlungsfähigkeit) von Menschen fördern und entwickeln, damit diese lustund verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität in möglichst vielen Aspekten und Folgen umgehen können. (BZGA 1994, S.14).
Bei dieser Vermittlung ist ein zielgruppenorientierter „ Medienmix “ sehr wichtig. Sexualpädagogik nur auf reine Theorievermittlung zu begrenzen, ist hierbei wenig erfolgreich. Die Vermittlung muss ansprechend und leicht verständlich gestaltet werden, und sie sollte zur weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik anregen. (vgl. ebd.). Die BZGA schreibt hierzu weiter:
Im Bereich der Massenmedien sind wegen ihrer gro ß en Reichweite in erster Linie die audiovisuellen Medien (TV- und Kinospots, Videos, Filme etc.) und die Printmedien (Anzeigen, Broschüren etc.) zum Einsatz zu bringen. (ebd.).
Sexualpädagogik sollte keinesfalls nur auf einen Aufklärungsabend oder eine zwei stündige Schuleinheit begrenzt werden. Sie sollte mit der Sexualerziehung in der Kindheit (u.a. im Kindergarten) beginnen. Auch im weiteren Verlauf des Lebens sollte die Sexualaufklärung andauern. (vgl. KLUGE 1998, S.12).
2.3. Sexualpädagogik und Profession
Sexualpädagogen arbeiten in vielen verschiedenen Institutionen unter öffentlicher oder freier Trägerschaft. Zu ihnen gehören unter anderem Sexual- und Schwangerschaftsberatungsstellen, Beratungsstellen mit sexualitätsrelevanten Themen wie die Jugend-, Familien- und Lebensberatung, Gesundheitsämter, in der Mädchen-/Frauen- und Jungen-/ Männerarbeit und Aus- und Fortbildungseinrichtungen zur Schulung von Multiplikatoren. (vgl. SIELERT 2005, S.29f.).
In den Praxisfeldern der Sozialen Arbeit überschneidet sich oftmals die erzieherische Arbeit mit der Sexualberatung bzw. Sexualerziehung (z.B. Heimerziehung), wobei die sexualpädagogische Arbeit hier häufig nicht als diese verstanden wird. (vgl. ebd., S.31). Hierbei bleibt jedoch die Frage unbeantwortet, inwieweit die dort tätigen Sozialarbeiter im Bereich der Sexualpädagogik ausgebildet sind, ob die Sexualpädagogik ein Bestandteil ihres Studiums war, oder ob die Fachkenntnisse durch Schulungen erworben wurden. Hierzu SIELERT:
Die Ausbildung in Sexualpädagogik und pädagogischer Sexualberatung erfolgt selten integriert in die sozialpädagogische oder pädagogische Erstausbildung. In der erzieherischen und sozialen Praxis sind jedoch vielfältig veröffentlichte sexualpädagogisch relevante Probleme vorhanden. (ebd., S.36).
PRO FAMILIA äußert sich zu diesem fehlenden einheitlichen Studienschwerpunkt in den sozialen Tätigkeitsbereichen wie folgt:
pro familia hält es für notwendig, dass Sexualpädagogik zu einem integralen Bestandteil des Erziehungs- und Bildungswesens wird. Dies schlie ß t eine entsprechende Aus- und Weiterbildung von ErzieherInnen, LehrerInnen und SozialpädagogInnen ein und bedeutet, dass das Thema Sexualpädagogik in den Lehrplänen deröffentlichen Bildungseinrichtungen angemessen berücksichtigt wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass darüber hinaus auch sexualpädagogische Angebote au ß erhalb der Schule- etwa in Jugendfreizeiteinrichtungen- unerlässlich sind. (PRO FAMILIA 2002, S.8).
Noch vor wenigen Jahren (1993) bezeichnete SIELERT die Sexualpädagogik als “ ein Betätigungsfeld für Hobbyisten ” . Hierzu möchte ich folgendes Zitat aus dem Bereich der Jugendarbeit, von SIELERT zur Verdeutlichung einfügen:
Die meisten MitarbeiterInnen weichen dem Thema Sexualität aus, vermeiden das offene Gespräch, hätten am liebsten, da ß die Jugendlichen ihre sexuellen Empfindungen und Bedürfnisse vor der Tür des Jugendheims ablegen. Zumindest gilt das für jene Aspekte, die für den Ablauf der pädagogischen Arbeit als störend definiert werden. Diese Aussage triff auf die gro ß e Mehrheit zu und soll nicht die wenigen entmutigen, die ihre Energie in gute sexualpädagogische Arbeit stecken. Die gibt es tatsächlich auch, aber es sind Einzelkämpfer in einem gr öß erem Zusammenhang von Angst und Desinteresse. (SIELERT ET AL.2.1993, S.27).
Er schreibt in diesem Zusammenhang von den Ängsten der Mitarbeiter, sich diesem Themenbereich zu nähern. Diese Ängste entstehen hauptsächlich durch die große Ich- Nähe von sexualitätsrelevanten Themen, die von jedem Menschen der in diesem Bereich arbeitet reflektiert werden muss. (Wie erlebe ich meine eigene Sexualität, wo sind meine Grenzen, wie drücke ich mich sprachlich aus und wirke damit auf andere?). (vgl. LEUE- KÄDING 2004, S.29). Zum anderen könnte hier auch die Medienbericht- erstattung und die Reaktionen des Umfelds eine große Rolle spielen. (Wie reagieren die Eltern auf mich, wenn ich Veranstaltungen zum Thema „Sexualität“ für ihre Kinder organisiere?). Zum Abbau der Ängste und inneren und äußeren Barrieren empfiehlt SIELERT folgendes:
Wenn sich dagegen durch Qualifizierung der Informationsstand verbessert, wenn Ä ngste zugegeben, wenn Erfahrungen ausgetauscht, wenn vor allem didaktische Anregungen vermittelt werden, wächst der Mut zur sexualpädagogischen Arbeit und gelten dieäu ß eren Bedingungen plötzlich nicht mehr als unüberwindbar. Vor allem durch fachkundige Unterstützung von au ß en werden einzelne MitarbeiterInnen oder kleine Teams ermutigt, die vorhandenen Spielräume auszunutzen undäu ß ere Grenzen zu erweitern. (SIELERT ET AL.2.1993, 27f.).
Die Fachliteratur schreibt zum Bedarf an qualifizierten Fachkräften einheitlich, dass es in diesem Bereich häufig an diesen fehlt, um Angebote zu organisieren. (vgl. ebd.; SIELERT 2005, S.36). SIELERT nennt zum Abschluss folgende Möglichkeiten zur Veränderung der momentanen Situation durch eine (Zusatz-) Qualifikation zum Sexualpädagogen:
An wenigen Fachhochschulen und Universitäten sind neuerdings kleinere Bausteine (so z.B. an der Universität Kiel), sehr selten ein sexualpädagogischer Schwerpunkt (wie z.B. an der Fachhochschule Merseburg und der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern [CH]) studierbar. Meist handelt es sich um berufsbegleitende Weiterbildungen an darauf spezialisierten Instituten wie z.B. die Ausbildung zum Sexualpädagogen und zur Sexualpädagogin am bundesweit arbeitenden Institut für Sexualpädagogik mit seinem Sitz in Dortmund oder bei Pro Familia. (ebd.).
3. Definition „ Geistige Behinderung “
Der Begriff der „geistigen Behinderung“ unterliegt dem allgemeinen beständigen gesellschaftlichen Wandel8, d.h. er ist sowohl zeit- als auch kulturabhängig. (vgl. FELKENDORFF IN: CLOERKES [Hrsg.] 2003, S.30). Bis heute gibt es in Deutschland keine einheitliche für alle Bereiche (Wissenschaft, Behindertenpädagogik u.a.) anwendbare Definition, allenfalls eine weithin gebräuchliche Beschreibung. (vgl. KIECHLE/ WIEDMAIER 1998, S.18). SUHRWEIER begründet dieses Fehlen einer einheitlichen Definition wie folgt:
Je nach dem spezifischen Zugriff verschiedener Wissenschaftsdisziplinen stehen die psychischen Folgen körperlicher Schäden (z.B. in der Psychiatrie und Pädiatrie) oder mehr die beeinflussenden und verursachenden Lebensbedingungen (z.B. in der Psychologie und Soziologie) im Vordergrund der Betrachtung. Beide Ansätze sind in der Diagnostik und Therapie miteinander zu vereinen, wobei der Umweltaspekt eine führende Rolle einzunehmen hat (biopsychosozialer Ansatz). (SUHRWEIER 1999, S.16).
In der Vergangenheit waren viele Definitionen und Klassifikationen aus der medizinisch- defektorientierten Sicht einseitig geprägt, und die geistige Behinderung war eine Konsequenz aus einem genetischen Defizit heraus. Im weiteren Verlauf der Entwicklung rückten politische und soziologische Sichtweisen der zu erforschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen Menschen mit geistiger Behinderung leben, in den Mittelpunkt der Wissenschaft. Sie untersuchten die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die den Begriff der „geistigen Behinderung“ prägten. (vgl. KNIEL/ WINDISCH 2005, S.16f.).
Behinderung ist demzufolge nicht in erster Linie in der Person begründet, sondern Ergebnis von Normen und Werten, Barrieren und Zuschreibungen im gesellschaftlichen System und in der sozialen Umwelt. (ebd., S.16)
Die Gesellschaft prägt den Begriff der „Behinderung“ besonders dadurch, dass sie ihn als eine „Abweichung von der Norm“ ansieht. Menschen mit einer geistigen Behinderung werden hierbei oftmals auf ihre Auffälligkeiten/ Abweichung reduziert. SCHILDMANN schreibt hierzu:
Auch die Kategorie Behinderung (...) steht in einem binären Anordnungsverhältnis. Ihren Gegenpol bildet die „ Normalität “ , eine gesellschaftliche Macht- und Diskursstrategie, die sich im 19. Jahrhundert etablierte und strukturell eine soziale Orientierung der Menschen an der gesellschaftlichen Mitte, dem sozialen Durchschnitt bezweckt und einfordert. (SCHILDMANN IN: WÜLLENWEBER [Hrsg.] 2004, S.37f.).
Die Abweichung von der Durchschnittsnorm wird an den, vom Menschen erbrachten Leistungen, gemessen. Diese nichterbrachten Leistungen beziehen sich hauptsächlich auf die Erwerbsarbeit, was geschichtliche Gründe hat, wie SCHILDMANN im folgenden erläutert:
Behinderung als eine mögliche Form der Abweichung von der Normalität wird also gemessen an einer Leistungsminderung im Zusammenhang mit gesundheitlichen Schädigungen und/ oder intellektuellen Einschränkungen. Die formalen Kriterien für die Festlegung einer Behinderung, im Sinne des Gesetzes „ Schwerbehinderung “ genannt, orientierten sich im 20. Jahrhundert (bis 1974) zum einen an den Problemen kriegsbeschädigter Männer, zum anderen an männlichen Erwerbstätigen (vgl. Schildmann 2000a). In dem Begriff der Minderung der Erwerbsfähigkeit, der bis 1985 die Definition von Schwerbeschädigung (ab 1974 Schwerbehinderung) bestimmte, wurde der Zusammenhang zur (industriellen) erwerbsarbeitsbezogenen Leistungsminderung deutlich. (ebd., S.39).
Auch heute wird der Begriff „Behinderung“ von der Gesellschaft9 noch defektorientiert mit einer Leistungsminderung verbunden. Die Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen werden in dieser Schlussfolgerung häufig übersehen. Durch die defektorientierte Sichtweise, die zur Stigmatisierung der als „geistig behindert“ bezeichneten Menschen führt, wird der Begriff „geistig Behinderter“ seit längerem, besonders in der Behindertenpädagogik, kontrovers diskutiert. Menschen die als „geistig behindert“ bezeichnet werden, wehren sich gegen diesen Begriff. Die People- First- Bewegung ist eine Bewegung von Menschen mit einer geistigen Behinderung, die nicht als „geistig Behinderte“ bezeichnet werden wollen.
„ People First “ - der Begriff verweist auf das Anliegen von Menschen mit geistiger Behinderung, zuerst als Person gesehen zu werden und die eigenen Vorstellungen und Wünsche selbst zu vertreten. (KNIEL/ WINDISCH 2005, S.9).
KNIEL und WINDISCH schreiben hierzu weiter:
Die auch in Deutschland sich ausbreitende Kritik an dem Begriff „ geistige Behinderung “ beinhaltet, dass dessen unspezifischer Charakter und geringe analytische Differenzierungsfähigkeit dazu führt, den Menschen in seiner Gesundheit mit dem Phänomen der geistigen Behinderung zu identifizieren. Die Etikettierung von Personen mit dem Stempel „ geistige Behinderung “ führt pauschalierend zur Legitimation einer lebenslangen Einschränkung der Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und individuellen Entwicklung sowie zu einer umfassenden „ Abhängigkeit und Hilfebedürftigkeit “ (Wendeler/ Godde 1989, 311). Dadurch wird ein angemessener Umgang mit bestehenden Problemen eher behindert als gefördert (Feuser 1996, Schinner/ Rottmann 1997, Heiden 1997, Osbahr 2000). (ebd., S.18).
Deshalb sollten wir uns im weiteren Verlauf nicht der normorientierten Sichtweise anschließen. Das heißt auch das wir uns von ihren Schemata, Modellen und Maßstäben befreien. Im Vordergrund sollten dafür die Entwicklungsmöglichkeiten und die Lernausgangslage der Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung stehen. (vgl. SUHRWEIER 1999, S.12f.). Das heißt: Alle Angebote für Menschen mit einer geistigen Behinderung sollten sich an der individuellen Ausgangslage orientieren und an diesem Punkt die Weiterentwicklung des Individuums fördern. SUHRWEIER schreibt hierzu wie folgt:
Die Betrachtung und Bewertung von Verhaltensweisen geistig Behinderter sollten nicht (nur) von den Mängeln, den Defiziten, den Ausfällen, sondern vielmehr von der Gesamtpersönlichkeit, von den vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgehen und Entwicklungsmöglichkeiten gedanklich offen halten, denn die geistige Behinderung ist kein gleichbleibendes, konstantes Erscheinungsbild, es ist (auch) von der Dynamik wechselnder Lebensumstände abhängig. (ebd., S.17).
Diese Aussage spiegelt außerdem die Relativität der Behinderung wieder. Eine geistige Behinderung ist kein gleichbleibendes konstantes Erscheinungsbild, sie kann z.B. eine zeitliche Dimension betreffen, wie unter anderem die Lernbehinderung während der Schulzeit10. Des Weiteren sagt der festgestellte Grad der Behinderung wenig darüber aus, wie sehr der Mensch von seiner Behinderung betroffen ist. Dies kann von einem Lebensbereich zum anderen variieren. Eine blinde Frau hat einen Grad der Behinderung von 100%, ist jedoch in ihrem Beruf als Telefonistin keineswegs durch ihre Behinderung eingeschränkt. Geht es dagegen um die Teilhabe am öffentlichen Leben durch Freizeitaktivitäten, ist sie aufgrund ihrer Behinderung auf Hilfen angewiesen. (vgl. CLOERKES 1997, S.8).
Die medizinisch- juristische Feststellung von Mängeln besagt nämlich nichtsüber die Auswirkungen auf die Lebensgestaltung des betreffenden Individuums. (ebd., S.4).
Die in der Fachliteratur am häufigsten verwendete Definition der „geistigen Behinderung“, ist die dreigeteilte Definition der Weltgesundheitsorganisation (im Folgenden kurz: WHO). Sie verknüpft die vorangegangen Ausführungen mit einander und unterteilt die „geistige Behinderung“ wie folgt:
1. Impairment (deutsch: Schädigung): eine Störung, die die physische und/oder psychischen Ebene betrifft11. (z.B. genetisch Trisomie 21).
Aus ihr entsteht die:
2. Activity (deutsch: Aktivität. Früher: Disability, deutsch: Behinderung): die eine Störung auf der personalen Ebene auslöst. Die Behinderung ist hier die Bedeutung der Schädigung für den betroffenen Menschen. (z.B. das Angewiesen sein auf Assistenz in der Freizeitgestaltung der blinden Telefonistin).
Aus der individuellen Behinderung entsteht die:
3. Participation (deutsch: Partizipation/ Teilhabe. Früher: Handicap Benachteiligung): mögliche Konsequenzen auf der sozialen Ebene12 durch die Reaktion der Gesellschaft. (z.B. eine Ausgrenzung aufgrund eines andersartigen Aussehens). (vgl. u.a. CLOERKES 1997, S.5; KNIEL/WINDISCH 2005, S.16).
Des Weiteren ist die geistige Behinderung gemäß der Definition der WHO durch eine unterdurchschnittliche allgemeine Intelligenz gekennzeichnet, welche die Fähigkeit zur selbstständigen Lebensbewältigung einschränkt. Die WHO unterteilt die geistige Behinderung anhand des Intelligenzquotienten in vier Schwerestufen. In der Fachliteratur werden jedoch die drei Klassen der mittelgradigen, der schweren und der schwersten geistigen Behinderung oftmals zu einer schweren geistigen Behinderung zusammengefasst. Sie werden von der leichten geistigen Behinderung und von der Lernbehinderung, die im Grenzbereich liegt (IQ 70-84), unterschieden. (vgl. STEINHAUSEN IN: HÄßLER/ FEGERT 2000, S.9f.).
STEINHAUSEN verdeutlicht diese Aufteilung anhand folgender Tabelle:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Steinhausen IN: Häßler/ Fegert 2000, S.10).
Die letzte Spalte gibt die Anteile der Menschen mit Behinderungen an, die von dem jeweiligen Ausprägungsgrad der Behinderung betroffen sind.
Die Klassifikation durch die Einstufung der Intelligenzmessung gerät jedoch zunehmend in die Kritik, da sie sehr ungenau ist (besonders in schweren Fällen) und sie außerdem den Betroffenen ein Leben lang stigmatisiert. (vgl. KNIEL/ WINDISCH 2005, S.17). KNIEL und WINDISCH schreiben hierzu weiter:
Damit wird in keiner Weise die bei jedem Menschen grundsätzlich vorhandene Entwicklungsfähigkeit, die wesentlich von dem Einfluss und den Stimuli der sozialen Umwelt und den individuellen Fördermöglichkeiten abhängig ist, berücksichtigt... “ (KNIEL/ WINDISCH 2005, S.17).
Nach wie vor „ ist “ jedoch
in Deutschland (...) die Intelligenzminderung als zentrales Kriterium für geistige Behinderung und zur Klassifikation der betroffenen Personen nach unterschiedlichen Schweregraden vorherrschend Kennzeichnend für geistige Behinderung ist in dieser Perspektive eine Intelligenzminderung, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Lernentwicklung von Menschen wesentlich hinter dem altergem äß erwartbaren Niveau zurückbleibt. (KNIEL/ WINDISCH 2005, S.17).
Dem weiteren Verlauf meiner Arbeit möchte ich ein mehrdimensionales Behinderungs- verständnis zugrunde legen, mit dem Schwerpunkt des interaktionistischem Paradigmas (soziale Erwartungshaltungen als Ursache). Hierzu schreibt BLEIDICK wie folgt:
Das interaktionistische Paradigma. Behinderung ist kein vorgegebener Zustand, sondern beruht auf der Zuschreibung von Erwartungshaltungen durch die anderen. Der Mensch mit einer Behinderung ist >>in unerwünschter Weise anders<< (Goffman 1967, 11), er weicht von wie auch immer bestimmbaren Normen ab. Die Behinderung ist im wesentlichen das Resultat sozialer Reaktionen. Der behinderte Mensch wird typisiert, etikettiert, stigmatisiert, kontrolliert. Behindertsein ist von daher ein Zwangsstatus. (BLEIDICK zitiert IN: CLOERKES 1997, S.9).
Das mehrdimensionale Behinderungsverständnis (das ich als Grundlage für meine Diplomarbeit wähle) entspricht meines Erachtens der dialogischen Haltung wie sie von SUHRWEIER in der Abbildung 5 im Anhang dargestellt wird. Die „geistige Behinderung“ sollte hierbei, als ein sich beständig ändernder Prozess (z.B. durch wechselnde Lebensumstände) begriffen werden, der sich auf verschiedenen Ebenen (organisch/ personell und sozial) auswirken kann. Sie ist eine aus der (noch) defektorientierten Gesellschaft heraus entstandene Abweichung von der Norm, die mit sozialen Reaktionen (z.B. Stigmatisierungen) einher geht. Diesen sozialen Reaktionen sollte entgegen gewirkt werden, und somit sollte eine größere Akzeptanz der menschlichen Vielfalt gefordert und gefördert werden. Die Defektorientierung gilt es zu vermeiden. Vielmehr sollte an den vorhandenen individuellen Fördermöglichkeiten sollte angesetzt werden. Jede Andersartigkeit, und damit auch die Abweichung von der gesellschaftlichen Norm, gilt als menschliche Vielfalt, die akzeptiert und angenommen werden muss.
Die dialogische Haltung ist besonderst wichtig im Umgang mit Menschen mit Behinderungen und ihrer Sexualität, um ihnen eine möglichst selbstständige und selbstbestimmte Verwirklichung zu ermöglichen.
[...]
1 Noch 1865 wird in einem Fremdwörterbuch angegeben: Sexualsystem: lat.-griech.: die Geschlechtsordnung oder Einteilung der Pflanzen nach Geschlechtsteilen von Linne’. (SIELERT et al. 1993, S.14).
2 PRO FAMILIA ist die deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V.. Sie gehört national, wie europaweit zu den bedeutensten nichtstaatlichen Dienstleistern in diesem Bereich. Sie wurde 1952 in Kassel gegründet. Ihre Dienstleistungen sind geprägt durch „ ein humanistisches Menschenbild, in dessen Mittelpunkt die Freiheit des Menschen in eigener Verantwortung und das Leitbild sozialer Gerechtigkeit stehen “ . (vgl. PRO FAMILIA 2002, S.4f.)
3 Im Anhang befindet sich eine Gegenüberstellung der verschiedenen Aufgabenbereiche der Vermittlungssysteme, die z.B. im ersten Fortbildungsblock als Arbeitsblatt weiter verwendet werden kann. (Abb. 2 Vermittlungssysteme).
4 die repressive Sexualpädagogik ist geprägt von einer lustfeindlichen Sexualmoral die versucht „alle sexuellen Antriebe und Neigungen pauschal zu unterdrücken.“ (KERSCHER 1974, S.72; vgl. KLUGE [Hrsg.] 1/1984, S.24f.)
5 Der Berater gibt dem Klienten keine „Ratschläge, Ermahnungen, Erklärungen und Interpretationen“ sondern verhilft ihm durch das spezielle Beziehungsangebot und das wiederspiegeln seines Problems zu einem besserem Verständnis seiner selbst und daraus folgenden Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Der Klient löst durch ein tieferes Eingehen auf sein Problem, dieses, durch die Hilfe des Beraters, und findet eigene Wege zu Bewältigung. (vgl. WEINBERGER9.2004, S.22).
6 Im Anhang befindet sich unter Abb. 3 (Vermittlungssysteme und andere Einflussfaktoren) ein weiteres ein weiteres Arbeitsblatt, dass den Einfluss der Vermittlungssysteme verdeutlicht und zudem die gesellschaftlichen Aspekte berücksichtigt.
7 Emanzipatorische Sexualerziehung bedeutet hier, die Erziehung zu einem autonomen, annehmenden und reflektierenden, ich- starkem Individuum. (vgl. KERSCHER 1974, S.72f.)
8 „Wie jede Wissenschaftsdisziplin, so bedarf auch die Behindertenforschung einer ständigen Reflexion ihrer terminologischen Grundlagen. Denn es steht außer Frage, dass diese sich wandeln können und auch beständig wandeln sollten, beispielsweise dann, wenn ein bestimmter Begriff oder das ihm zu Grunde liegende theoretische Konstrukt sich als nicht brauchbar, schädlich oder gar verwerflich erwiesen haben. Wer bestritte, dass die in Wissenschaft und Forschung einst üblichen Bezeichnungen bestimmter Gruppen von Menschen als „Krüppel“, „Idioten“, „Debile“, „Irre“ oder „Schwachsinnige“ jede Legitimität verloren haben, der setzte sich in der heutigen Zeit selbst dem Verdacht aus, psychisch deviant zu sein. Auch ist keineswegs auszuschließen, dass diejenigen Begriffe, die heute allgemein auf größte Zustimmung treffen, eines nicht allzu fernen Tages geächtet sein werden.“ (FELKENDORFF IN: CLOERKES [Hrsg.] 2003, S.30).
9 nach HENSLE (HENSLE 1982, S.20 zitiert IN: CLOERKES 1997, S.10) gesellschaftstheoretisches Paradigma, siehe Anhang Abb. 4 (vier konkurrierende Paradigmen).
10 nach HENSLE (HENSLE 1982, S.20 zitiert IN: CLOERKES 1997, S.10) systemtheoretisches Paradigma, siehe Anhang Abb. 4 (vier konkurrierende Paradigmen).
11 nach HENSLE (HENSLE 1982, S.20 zitiert IN: CLOERKES 1997, S.10): personorientiertes Paradigma, siehe Anhang Abb. 4 (vier konkurrierende Paradigmen).
12 nach HENSLE (ebd.):gesellschaftstheoretisches Paradigma, siehe Anhang Abb. 4 (vier konkurrierende Paradigmen).
- Arbeit zitieren
- Dipl. Sozialarbeiterin /-pädagogin Yvonne Wassmann (Autor:in), 2007, Sexualpädagogische Bildungsangebote in der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186623
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