Neue Informations- und Kommunikationstechnologien bieten ein breites Spektrum computer-vermittelten Lernens. Die Rolle des Dozenten verschiebt sich dabei von der traditionellen Wissensvermittlung hin zu Informationscoaching, Moderation und Betreuung der virtuellen Lernprozesse. Virtuelle Seminare gleichen noch häufig einem Informationspool multimedial aufbereiteten Materials, mit dem sich die einzelnen Teilnehmer beschäftigen, um es passiv zu rezipieren. Um also den Studierenden aktive und selbstgesteuerte Lernprozesse in virtuellen Lernumgebungen zu ermöglichen kommt einer angemessenen instruktionalen Unterstützung eine herausragende Bedeutung zu. In dieser Hinsicht wird dem Online-Tutor für Prozesse netzbasierter Wissensvermittlung eine entscheidende Rolle zugeschrieben (Nistor & Mandl, 1997), da sich Teilnehmer virtueller Seminare i.d.R. stark an dem Lehrenden orientieren und die kommunikativen Prozesse zwischen Lehrendem und Lerner sowohl der Wissensvermittlung als auch motivationaler Unterstützung dienen. Aus diesem Grund besteht für Online-Tutoren über das fachliche Wissen hinaus die Aufgabe eines persönlichen Engagements hinsichtlich des Lehrmaterials und einer empathischen Einstellung für die Studierenden, um dadurch die Akzeptanz für strukturierte Lernvorgaben und Hilfsangebote zu erhöhen (Geyken, Mandl & Reiter, 1995; Salmon, 2005).
Inhaltsverzeichnis
1 Problemstellung und Ziel der Arbeit
2 Lernen im virtuellen Seminar
2.1 Potentiale des virtuellen Lernens
2.2 Begriffsbestimmung - virtuelles Seminar
2.3 Didaktisch-methodische Gestaltung virtueller Seminare
2.3.1 Konstruktivistische Lernphilo Sophie
2.3.2 Problemorientierte Gestaltungsprinzipien
2.3.3 Gestaltungsprinzipien virtueller Lernumgebungen
2.4 Charakteristika des Lernens in virtuellen Seminaren
2.4.1 Selbstgesteuertes Lernen
2.4.2 Kooperatives Lernen
2.4.3 Probleme des selbstgesteuerten und kooperativen Lernens
3 Tutorielle Unterstützung im virtuellen Seminar
3.1 Dimensionen instruktionaler Unterstützung durch den Online-Tutor
3.1.1 Motivationale Aspekte
3.1.2 Soziale Aspekte
3.1.3 Kognitive Aspekte
3.2 Aufgaben des Tutors
3.2.1 Voraussetzungen herstellen
3.2.2 Motivationale Förderung und Unterstützung
3.2.3 Soziale Förderung und Unterstützung
3.2.4 Kognitive Förderung und Unterstützung
3.3 Basiskompetenzen des Tutors
3.3.1 Persönlichkeitskompetenz
3.3.2 Medien- und technische Kompetenz
3.3.3 Methodisch-didaktische Kompetenz
3.3.4 Sozialkompetenz
3.3.5 Fachkompetenz
4 Das 5-Stufen-Modell und E-tivities
4.1.1 Zugang und Motivation
4.1.2 Online-Sozialisation
4.1.3 Informationsaustausch
4.1.4 Wissenskonstruktion
4.1.5 Entwicklung
5 Beschreibung des Online-Seminars: „Entwicklung und Implementation virtueller Lehr-Lernumgebungen“
5.1 Rahmenbedingungen des Seminars
5.2 Ziele und Inhalte des Seminars
5.3 Der Seminarablauf
5.4 Die pädagogisch-psychologische Gestaltung der virtuellen Lernumgebung
5.5 Die technische Realisierung der virtuellen Lernumgebung
6 Fragestellungen
7 Vorgehen zur Analyse des Online-Seminars: „Entwicklung und Implementation virtueller Lehr-Lernumgebungen“
7.1 Stichprobe und Datenerhebung
7.2 Datenauswertung
7.2.1 Herstellung von Voraussetzungen
7.2.2 Motivationale Förderung und Unterstützung
7.2.3 Soziale Förderung und Unterstützung
7.2.4 Kognitive Förderung und Unterstützung
8 Ergebnisse
8.1 Fragestellung 1: Tutorielle Maßnahmen zur Herstellung von Voraussetzungen
8.2 Fragestellung 2: Tutorielle Maßnahmen zur motivationalen Förderung und Unterstützung
8.3 Fragestellung 3: Tutorielle Maßnahmen zur sozialen Förderung und Unterstützung
8.4 Fragestellung 4: Tutorielle Maßnahmen zur kognitiven Förderung und Unterstützung
9 Zusammenfassung und Diskussion
9.1 Tutorielle Maßnahmen zur Unterstützung von Lernenden in OnlineSeminaren
9.2 Ausblick
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang I: E-Mails des Online-Tutors
1 Problemstellung und Ziel der Arbeit
Problemstellung
Neue Informations- und Kommunikationstechnologien bieten ein breites Spektrum computervermittelten Lernens. Aufgrund der virtuellen Vernetzung lassen sich Lernformen realisieren, welche die Gefahr des isolierten Lernens hinsichtlich virtueller Lernumgebungen überwinden, indem erweiterte Möglichkeiten der Kommunikation und Kooperation mit anderen Lernenden sowie dem Lehrenden zur Verfügung stehen. Kommunikation stellt sich aber nicht allein dadurch ein, dass die technischen Voraussetzungen gegeben sind (Kerres, 2001). Die neuen Technologien ermöglichen zwar eine Verbesserung der Lehr-Lernsituation an Hochschulen (Orts- und Zeitunabhängigkeit des Lernens und Unterrichtens, höhere Qualität der Lehre, etc.), jedoch stellt der Einsatz computervermittelter Lernumgebungen auch hohe Anforderungen an Studierende und Dozenten. Die Rolle des Dozenten verschiebt sich dabei von der traditionellen Wissensvermittlung hin zu Informationscoaching (Orientierung schaffen), Moderation (Kommunikation steuern) und Betreuung (motivieren und Isolation entgegenwirken) der virtuellen Lernprozesse. Von den Studierenden werden hingegen deutlich mehr Eigenverantwortung hinsichtlich Aktivität, Selbststeuerung und Kontrolle ihrer Lernprozesse verlangt. Aufgrund spezifischer Defizite hypertextbasierter Lernumgebungen wie Orientierungsverlust (lost in hyperspace), Schwierigkeiten beim Auffinden von relevanten Informationen, Verunsicherung des Nutzers durch Angebotsfülle und Unübersichtlichkeit sollten Lernende nicht einfach zusammengesetzt und sich selbst überlassen werden (Tergan, 2003). In herkömmlichen Präsenzveranstaltungen bewährte Lernformen können hierbei nicht direkt auf virtuelle Lernszenarien angewandt werden, da eine Übertragung traditioneller Didaktik auf virtuelle LehrLernszenarien nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der Lehre führt.
Virtuelle Seminare (an den Hochschulen und in Weiterbildungsmaßnahmen) gleichen noch häufig einem Informationspool multimedial aufbereiteten Materials, mit dem sich die einzelnen Teilnehmer beschäftigen, um es passiv zu rezipieren. Um also den Studierenden aktive und selbstgesteuerte Lernprozesse in virtuellen Lernumgebungen zu ermöglichen kommt einer angemessenen instruktionalen Unterstützung eine herausragende Bedeutung zu. In dieser Hinsicht wird dem Online-Tutor für Prozesse netzbasierter Wissensvermittlung eine entscheidende Rolle zugeschrieben (Nistor & Mandl, 1997), da sich Teilnehmer virtueller Seminare i.d.R. stark an dem Lehrenden orientieren und die kommunikativen Prozesse zwischen Lehrendem und Lerner sowohl der Wissensvermittlung als auch motivationaler Unterstützung dienen. Aus diesem Grund besteht für Online-Tutoren über das fachliche Wissen hinaus die Aufgabe eines persönlichen Engagements hinsichtlich des Lehrmaterials und einer empathi- schen Einstellung für die Studierenden, um dadurch die Akzeptanz für strukturierte Lernvorgaben und Hilfsangebote zu erhöhen (Geyken, Mandl & Reiter, 1995; Salmon, 2005). Hieraus wird ersichtlich, dass Betreuung im Telelernen ein zentrales Thema der Didaktik computerunterstützten Lernens darstellt. Insbesondere betrifft dies die (Neu-) Definition der wesentlichen Aufgaben und Kompetenzen eines Online-Tutors (Reglin, 1997). Diese lässt sich sowohl auf Basis theoretischer Überlegungen als auch empirisch anhand von Evaluationen zum Selbstverständnis von Tele-Tutoren ableiten (Rautenstrauch, 2001a; Ulmer & Bahl, 2002).
Der übereinstimmende Konsens hierbei bezieht sich auf die Auffassung des Lehrenden als „learning facilitator“ bzw. Lernberater (Kerres, 2001). Ausgehend von einer konstruktivistisch geprägten Didaktik und der mediumspezifischen Besonderheiten des Online-Lernens lassen sich für Tele-Tutoren hinsichtlich ihrer Betreuungsaufgaben komplexe und differenzierte Rollen identifizieren, die sowohl pädagogische als auch soziale, organisatorische und technische Bereiche umfassen (Berge, 2000). Jedoch gibt es bis jetzt nur wenig systematische Studien hinsichtlich der komplexen Aufgabenfelder und tutoriellen Maßnahmen in virtuellen Seminaren. Auch liegen bislang wenig konkrete Hinweise aus der Literatur vor , welche Einzel- und Gruppenprozesse in virtuellen Veranstaltungen gefördert werden sollten (Schnurer, 2005). Es besteht also diesbezüglich noch ein umfassender Forschungsbedarf, um tutorielle Unterstützung in virtuellen Seminaren zu optimieren (Zawacki-Richter, 2001).
Ziel dieser Arbeit
Ausgehend von den Problemen beim virtuellen Lernen ist es das Ziel dieser Arbeit theoriegeleitet tutorielle Kompetenzen und Aufgaben zu beschreiben. Hierzu wird das Online-Seminar: „Entwicklung und Implementation virtueller Lehr-Lernumgebungen“ untersucht, das im Sommersemester 2007 an der VHB/LMU durchgeführt wurde. Dabei wurden anhand der theoretischen Vorüberlegungen Kategorien tutorieller Unterstützung entwickelt und anschließend auf das untersuchte virtuelle Seminar angewendet. So konnte der Frage nachgegangen werden, inwieweit die bisherigen theoretischen und empirischen Forschungsbefünde bezüglich tutorieller Unterstützung (Berge, 1995; Rautenstrauch, 2001a; Ulmer & Bahl, 2002) sich im Rahmen des untersuchten Seminars bestätigen lassen.
Aufbau der Arbeit
Diese Arbeit gliedert sich in zwei Haupteile, wobei im ersten Teil (2.-4. Kapitel) zum einen das Lernen in virtuellen Seminaren hinsichtlich spezifischer Potentiale, methodischdidaktischer Gestaltung und Charakteristika selbstgesteuerten und kooperativen Lernens ausführlich dargestellt wird (2. Kapitel). Zum anderen wird die tutorielle Unterstützung in virtuellen Seminaren anhand der Aufgabenbereiche eines Online-Tutors näher bestimmt, wobei hierzu die Dimensionen instruktionaler Unterstützung (motivational, sozial und kognitiv) zugrunde gelegt werden. Ferner erfolgt eine Beschreibung der Basiskompetenzen eines Online- Tutors, die für eine effektive Betreuung virtuellen Lernens erforderlich sind (3. Kapitel). Schließlich wird anhand der Beschreibung des 5-Stufen-Modells und der E-tivities nach Salmon (2005) der Verlauf eines Online-Seminars prozeßhaft dargestellt (4. Kapitel).
Im zweiten Hauptteil (5.-9. Kapitel) wird zuerst das Online-Seminar: „Entwicklung und Implementation virtueller Lehr-Lernumgebungen“ eingehend beschrieben (5. Kapitel), bevor einige zentrale Fragestellungen zur Untersuchung des Seminars formuliert werden (6. Kapitel). Im Anschluss daran folgt eine Erläuterung der Vorgehensweise zur Analyse des untersuchten Online-Seminars. Hierbei werden entsprechend der Dimensionen instruktionaler Unterstützung (motivational, sozial, kognitiv) Kategorien zur tutoriellen Unterstützung entwickelt (7. Kapitel), um diese im Ergebnisteil (8. Kapitel) durch Anwendung auf das virtuelle Seminar näher zu veranschaulichen und dadurch die Bedeutung der tutoriellen Unterstützungsmaßnahmen zu erfassen. Zum Abschluss werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund der theoretischen Ausführungen diskutiert (9. Kapitel).
2 Lernen im virtuellen Seminar
2.1 Potentiale des virtuellen Lernens
Die Potentiale neuer Medien liegen in der Gestaltung von virtuellen Lernumgebungen, die vielfältige Möglichkeiten für neue Lehr-Lernformen bieten. Online-Lernen zeichnet sich gegenüber traditionellen Formen des Lehrens und Lernens bezüglich der räumlich und zeitlich unabhängigen Kommunikationsbedingungen, Flexibilisierung, Interaktivität und anschaulichen Präsentation von Lerninhalten aus. Darüber hinaus besteht sowohl die Möglichkeit zur Individualisierung von Lernprozessen als auch zu neuen Kooperationsformen (Fischer & Mandl, 2002; Euler, 2005).
Örtlich verteilte Lerngemeinschaften ermöglichen neue Formen der sozialen Vernetzung, während die zeitliche Unabhängigkeit eine Innovation gegenüber dem konventionell simultanen und unmittelbaren Lernen bedeutet (Hesse, Mandl, Reinmann-Rothmeier & Ballstaedt, 2000).
Durch die Interaktivität (z.B. Navigations - Hypertext, Simulationsprogramme, Feedbacksysteme, Tests zur Selbstkontrolle, etc.) virtueller Lernumgebungen lassen sich vor allem kognitive Lernprozesse individuell fördern, wodurch zum einen eine differenzierte Berücksichtigung unterschiedlicher Kompetenzniveaus und zum anderen eine Neuorganisation von Wissensstrukturen (conceptual change) ermöglicht wird (Fischer & Mandl, 2002; Tergan, 2003; Euler, 2005).
Durch die vielfältigen und realitätsnahen Präsentationsformen (z.B. Audio-, Videosequenzen, etc.) lassen sich authentische und multiperspektivische Kontexte optimal veranschaulichen. Außerdem vermag beispielsweise die Mischung unterschiedlicher Zeichensysteme (z.B. Hypertext, Audio, Video) Lerner mit geringerem Vorwissen deutlich in ihren virtuellen Lernprozessen zu unterstützen (Fischer & Mandl, 2002). Nach Mayer (1999) lässt sich besonders durch die gleichzeitige Vermittlung von Bild und Text der Transfer des präsentierten Lernmaterials optimieren (contiguity principles). Die Bereitstellung gesprochener Sprache (z.B. Ex- perten-fnterviews, Anweisungen, etc.) zeichnet sich gegenüber textbasierter Vermittlung der Inhalte dadurch aus, dass die visuelle Aufmerksamkeit nicht aufgespaltet wird und dadurch mehr Verarbeitungskapazität für den fnhalt zur Verfügung steht. Offene hypermediale Lernumgebungen ermöglichen flexible Formen des selbstgesteuerten Lernens, in denen der Lerner hinsichtlich der Ziel-, Inhaltsauswahl, Lerngeschwindigkeit und Lernorganisation seinen Lernprozess eigenverantwortlich gestalten kann (Simons, 1992; Euler, 2005).
Vor allem aber bezüglich kollaborativen und kooperativen Lernens weisen virtuelle Lernumgebungen ein hohes Innovationspotential auf (Dillenbourg, Baker et al., 1996). Die intensive Teamarbeit kann sowohl asynchron als auch synchron erfolgen, was sich gerade bei problemorientierten Aufgabenstellungen aufgrund ihrer Komplexität als Vorteil für die gemeinsame Wissenskonstruktion erweist (Hasanbegovic, 2005; Euler, 2005). So ließ sich in hypertextbasierten, asynchronen Lernszenarien eine deutlich höhere Diskursbeteiligung gegenüber traditionellen Settings feststellen (Hsi & Hoadley, 1997). Gerade die sogenannte „dosierte Anonymität“ virtueller Lernumgebungen motiviert sonst eher schüchterne bzw. zurückhaltende Teilnehmer bisweilen zu erhöhtem Engagement, da die Möglichkeit sich zu blamieren nicht so schwer ins Gewicht fällt (Euler, 2005).
Überdies ließ sich für die Verwendung problemorientierter Lernsoftware eine intrinsisch motivierte Bearbeitung domänespezifischer Fälle nachweisen (Gräsel et al, 1994). Bei angemessener didaktischer Strukturierung in Form multipler Kontexte lässt sich ein hoher Anwendungsbezug herstellen, der die Flexibilität und den Transfer des Gelernten sicherstellt. Die sozialen Lernformen des kooperativen Lernens und Problemlösens fördern schließlich auch eine zunehmende Enkulturation im Lernprozess (Hasanbegovic, 2005). Vor allem ist das virtuelle Lernen für den anwendungsbezogenen Erwerb von Medienkompetenz geeignet, wobei die Prozesse in virtuellen Lernszenarien sowohl das Medium als auch das Ziel darstellen (Rautenstrauch, 2001a). Damit die Potenziale von virtuellen Lernangebotenjedoch zum Tragen kommen, müssen lernrelevante Kontexte virtueller Lernumgebungen - wie z.B. individueller Lernkontext, Anwendungskontext, pädagogischer Kontext und technologischer Kontext - berücksichtigt werden (Tergan, Hron & Mandl, 1992).
Multi - und hypermediales Lernen bietet sich insbesondere auch für höherwertige Wissensmanagementprozesse an, wobei die technischen Tools sowohl eine Repräsentation komplexer und vernetzter Informationen als auch die konstruktive und selbstgesteuerte Erschließung von Wissensressourcen begünstigen. Dabei eignen sich die neuen Informations - und Kommunikationsmedien hervorragend dazu, den Anforderungen anspruchsvoller Lern- und Arbeitsprozesse durch kooperative Wissenskommunikation zu begegnen (Reinmann - Rothmeier & Mandl, 2000; Tergan, 2003).
Durch die vielfältigen Unterstützungspotentiale beim virtuellen Lernen, die den Studierenden anhand zahlreicher „Werkzeuge“ ein weitgehend selbständiges Erarbeiten neuen Wissens ermöglichen, wandelt sich auch die Rolle des Lehrers vom klassischen informationsvermittelnden Dozenten zu einem Lernberater. Diese neue Rolle zeichnet sich vor allem durch Anregung, Coaching und Unterstützung selbständiger und sozialer Lernprozesse aus (Reinmann - Rothmeier, Mandl, 1994). Dabei lässt sich gerade innerhalb einer multimedialen Lernumgebung das Prinzip der Adaptivität (d.h. eine minimal notwendige Unterstützung, welche auf die proximalen Entwicklungsmöglichkeiten abzielt) optimal realisieren (vgl. Vygotsky, 1974; Brown, Ellery & Campione, 1998).
Weiterhin bestehen durch den immensen Datenpool des Internets hinsichtlich des lebenslangen Lernens ganz neue Chancen für einen eigenverantwortlichen Wissenserwerb (Reinmann- Rothmeier & Mandl, 2001). Für die Bildungsanbieter bestechen virtuelle Lernumgebungen schließlich durch die schnelle und preiswerte Aktualisierbarkeit ihrer Informations- und Wis- sensmodule (Euler, 2005).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Mehrwert des Lernens mit neuen Medien sich nur realisieren lässt, wenn die Möglichkeiten neuer Lehr-Lernformen ausgeschöpft und einer pädagogisch-didaktischen Gestaltung netzbasierter Lernumgebungen Rechnung getragen wird (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001).
2.2 Begriffsbestimmung - virtuelles Seminar
Ein virtuelles Seminar lässt sich nach Friedrich & Hesse (2001) dadurch kennzeichnen, dass es von einer Bildungsinstitution angeboten wird, die sich an eine bestimmte Zielgruppe wendet, um innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens Lernenden über den intensiven Austausch mit Dozenten den Erwerb und die Auseinandersetzung mit Wissen zu ermöglichen.
Strukturell lassen sich virtuelle Seminare hinsichtlich folgender Kennzeichen differenzieren (Schnurer, 2005):
- Grad der Virtualisierung
- Grad der strukturierten Informationsvermittlung
- Art der Kommunikation
Unter Virtualität wird die Tatsache verstanden, dass Lehrende und Lernende orts- und zeitunabhängig über einen Computer gemeinsam kommunizieren können (Döring, 2002). Rein virtuelle Seminare zeichnen sich demnach dadurch aus, dass sich die Lernprozesse ausschließlich computerunterstützt vollziehen und keine gleichzeitige physische Präsenz von Dozenten und Lernenden erforderlich ist. Blended-Learning-Seminare weisen durch die Mischung von Präsenzphasen und virtuellen Phasen eine unterschiedliche Ausprägung an Virtualität auf. Bei reinen Präsenzseminaren besteht eine gleichzeitige physische Präsenz des Dozenten und Lernenden und es existiert demnach auch kein durch einen Computer „simulierter“ Lernraum. Insofern lässt sich diesbezüglich auch nicht von einem virtuell vermittelten Lernprozess sprechen (Schnurer, 2005).
Der Grad der strukturierten Informationsvermittlung ist abhängig von den didaktischen Leitbildern und Zielen des Lernens. Eine hoch strukturierte Informationsvermittlung bietet sich in virtuellen Seminaren für Formen des individuellen Lernens an, um den Lernenden eine Einführung zu einer Problemstellung zu ermöglichen. Auf diese Weise lässt sich optimal Grundlagenwissen vermitteln, das die Lernenden dann auch beispielsweise zur Lösung von komplexen Aufgabenstellungen in kooperativen Lernformen verwenden können. Bei niedrig strukturierter Informationsvermittlung hingegen werden den Lernenden nur geringe Informationen z.B. in Form von Hypertexten bzw. Links gegeben, damit die Lernenden zu der betreffenden Aufgabenstellung selbständig recherchieren und sich die Problemstellung erschließen können (Schnurer, 2005). Dies empfiehlt sich besonders bei problemorientierten Aufgaben (Zumbach, 2003).
Die Art der virtuellen Kommunikation vollzieht sich über verschiedene Kanäle und unterschiedliche zeitliche Parameter. Hinsichtlich der zeitlichen Parameter können Synchronie und Asynchronie unterschieden werden (Stegbauer, 2001). Bei synchroner Kommunikation stehen die Lernenden zeitgleich miteinander in Verbindung. Dies ähnelt dem Face-to- Face Kontakt und wird in virtuellen Lernszenarien z.B. über Internet-Relay-Chats (Paech- ter, 2003) oder Videokonferenzen (Bruhn, 2000) realisiert. Asynchrone Kommunikation verläuft hingegen zeitverzögert und wesentlich langsamer. Hierbei kommen vor allem Forensysteme für Formen kooperativen Lernens zur Anwendung, wobei die Beiträge von einzelnen Lernenden für alle anderen transparent sind und jederzeit kommentiert bzw. erweitert werden können. Dadurch bestehen optimale Voraussetzungen für eine komplexe Wissenskonstruktion in Lerngruppen, was sich insbesondere für den Bereich der Hochschule bzw. des Wissensmanagements eignet (Schnurer, 2005; Tergan, 2003).
Die für virtuelle Seminare zur Verfügung stehenden Kanäle für die Interaktion sind auditive Medien, audiovisuelle Elemente und textbasierte Kommunikationsmöglichkeiten. Auditive Elemente können dabei sowohl zur synchronen Kommunikation als auch zur Präsentation von Information (z.B. Audio-Files) verwendet werden. Jedoch lassen sich über auditive Präsentationen zwar paraverbale, aber keine nonverbalen Informationen (z.B. Gestik, Mimik) übermitteln. Um diesem Defizit zu begegnen werden Video/Audio- Übertragungen für Filmsequenzen/Lehrclips bzw. für Videokonferenzen eingesetzt. Videokonferenzen können sich sehr positiv auf hohe Gruppen- und Einzelleistungen auswirken (Bruhn, 2000; Ertl, 2003). Doch die asynchrone textbasierte Kommunikation findet im Rahmen von virtuellen Hochschulseminaren bei weitem am häufigsten Anwendung. Insbesondere für wissenschaftliches Erarbeiten komplexer Themen und für längere Entscheidungsprozesse innerhalb von Lerngruppen hat sie sich als äußerst effektiv erwiesen (Schulmeister, 2001). Die Teilnehmer können die Beiträge der einzelnen Studierenden reflektieren, ohne besonderen Zeitdruck kommentieren und eigene elaborierte Statements liefern (Friedrich, Sesnick & Trebing, 2006).
Bisherige Forschungsergebnisse scheinen jedoch nicht den Schluss zuzulassen, dass eine der oben genannten strukturellen Komponenten per se den Lernprozess positiv bzw. negativ beeinflussen könnte. Eine Förderung von virtuellen Lernprozessen erfolgt demnach eher über die didaktische Gestaltung eines Online-Seminars (Schnurer, 2005), was im Folgenden etwas näher beschrieben wird.
2.3 Didaktisch-methodische Gestaltung virtueller Seminare
Um die viel versprechenden Potenziale neuer Medien bezüglich der Förderung und Unterstützung virtueller Lernprozesse umzusetzen, bedarf es eines angemessenen didaktischen Designs (Kerres, 2001; Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001; Schnurer, 2005). Die pädagogischdidaktische Förderung von Lernprozessen erfolgt zum einen direkt über instruktionale Unterstützung und zum anderen indirekt über die Gestaltung der Lernumgebung. Als wesentliche und kritische Bedingung für die Qualität von computerunterstütztem Lernen in virtuellen Lehr-Lernszenarien werden sowohl tutorielle Unterstützung (Salmon, 2005) als auch eine angemessen gestaltete virtuelle Lernumgebung (Euler, 2005) angesehen.
Im Zusammenhang mit dem Einsatz neuer Medien zur Gestaltung von Lernumgebungen ist die aktive Rolle des Lernenden zunehmend in den Vordergrund gerückt. Jedoch bleibt in Abhängigkeit von den Lernvoraussetzungen und dem Lerngegenstand immer ein gewisses Maß an Instruktion erforderlich (Gräsel, 1997).
2.3.1 Konstruktivistische Lernphilosophie
Ein naiv-technizistisches Verständnis von Wissen, wonach Informationen substanziell von einem Sender zu einem Empfänger transportiert werden (Shannon & Weaver, 1976), erscheint hinsichtlich der kontextgebunden Vermittlung und Rekonstruktion von Wissen im Sinne konstruktivistischer Annahmen als unzureichend. Wissen entsteht demnach nicht durch eine abbildhafte Übertragung von einer Person zur anderen, sondern wird durch aktive und individuelle Konstruktionsprozesse der Lernenden in Auseinandersetzung mit der Umwelt aufgebaut. Dabei tritt die Rolle des Lehrenden als Wissensvermittler zugunsten eines Lernberaters in den Hintergrund. Vielmehr steht der Lernende im Mittelpunkt des Lehr-Lerngeschehens (Gerstenmaier & Mandl, 1994).
Zur didaktischen Gestaltung von virtuellen Lernumgebungen ist es zunächst vorteilhaft, auf sechs zentrale konstruktivistische Merkmale des Lernprozesses zu fokussieren (Reinmann- Rothmeier, Mandl, 2001):
- Lernen als aktiver Konstruktionsprozess. Der Lernprozess zeichnet sich durch aktives und eigenverantwortliches Lernen aus, wodurch neues Wissen aufgebaut wird.
- Lernen als konstruktiver Prozess. Neues Wissen wird durch die aktive Modifizierung bestehender Wissensstrukturen und unter Berücksichtigung gegebenen Vorwissens aufgebaut.
- Lernen als emotionaler Prozess. Positive Emotionen wie Neugier, Freude bis hin zu Flow-Erleben sind wesentlich für die Entwicklung neuen Wissens. Als nachteilig für den Lernprozess lassen sich Angst und Stress ausmachen.
- Lernen als selbst gesteuerter Prozess. Effektive Lernorganisation und Lernkoordination stellen die wichtigen Voraussetzungen eines selbstgesteuerten Lernprozesses dar.
- Lernen als sozialer Prozess. Lernen erfolgt stets über eine soziale Lernform, innerhalb derer sich kommunikative und kooperative Lernprozesse vollziehen.
- Lernen als situativer Prozess. Der Aufbau neuen Wissens ist stets kontext- und situationsabhängig, da Wissen stets in einem spezifischen Umfeld und in einer spezifischen Situation erworben wird.
Ausgehend von einer konstruktivistischen Lernphilosophie empfiehlt sich eine problemorientierte Gestaltung von Lernumgebungen, deren grundlegende Prinzipien im Folgenden näher beschrieben werden.
2.3.2 Problemorientierte Gestaltungsprinzipien
Reinmann-Rothmeier & Mandl (2001) heben besonders die Bedeutung einer integrativen Lehr-Lernauffassung hervor, der sowohl kognitivistische als auch konstruktivistische Annahmen zugrunde liegen. Dabei wird auf eine Balance von Instruktion und Konstruktion Wert gelegt (Linn, 1990). Diese beruht auf der Einsicht, dass Lernen zwar sozialer und kognitiver Unterstützung bedarf, aber eine eigene Wissenskonstruktion des Lerners nur über selbständige Aktivitäten zu erreichen ist. Dabei übernimmt der Lehrende in Abhängigkeit vom Bedarf der Lernenden verschiedene Rollen.
Beim problemorientiertem Lernen (Problem-based-Learning) werden ausgehend von den Vorkenntnissen und dem Informationsbedarf der Lernenden die Lernziele definiert, bevor das Problem schließlich durch das Bearbeiten in Kleingruppen mit Hilfe tutorieller Unterstützung gelöst wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Gestaltung problemorientierter Lernumgebungen (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001a)
Problemorientierte Lehr-Lern-Modelle zeichnen sich durch authentische (realitätsnahe) und offene Aufgabenstellungen aus, die beispielsweise durch Simulationen, Planspiele oder Fallbeispiele umgesetzt werden. Dabei dienen eine komplexe und realitätsnahe Ausgangssituation bzw. ein entsprechendes Fallbeispiel als narrativer Anker, der im Zentrum des Lehrens und Lernens steht. Als eine besonders herausragende Umsetzung problemorientierten Lernens lässt sich das „Lernen in Lernzyklen“ nach Schwartz, Lin, Brophy & Bransford (1999) bezeichnen, bei dem das Ziel des projektorientierten Lernens in Zyklen mit zunehmenden Schwierigkeitsgraden erarbeitet wird.
2.3.3 Gestaltungsprinzipien virtueller Lernumgebungen
Aufgrund empirischer Ergebnisse bei der Gestaltung von Lernumgebungen (Cognition and Technology Group at Vanderbilt, 1991; Spiro, Coulson, Feltovich & Anderson, 1988; Collins, Brown & Newman, 1989) fokussieren Reinmann-Rothmeier & Mandl (2001) auf folgende gemäßigt konstruktivistische Gestaltungsprinzipien, auf denen problemorientiertes Lernen basiert (Bransford, Brown & Cocking, 1999; Jonassen & Land, 2000; Koschmann, 1994):
Authentizität und Anwendungsbezug
Lernende sollten bei der Lösung ihrer Aufgaben möglichst mit realen Problemen und authentischen Situationen konfrontiert werden. Durch das persönliche Interesse der Lernenden wird die intrinsische Motivation erhöht und ein praktischer Anwendungsbezug ermöglicht (Schank, 1994; Zumbach, 2006).
In virtueller Lernumgebung können authentische Aufgabenstellungen z.B. darin bestehen, dass sich die Lernenden mit Hilfe der neuen Medien sich Informationen im Internet erschließen, die sie sonst nur auf eine äußerst umständliche Weise beziehen könnten (Guthrie & Mosenthal, 1987). Auch Simulationen, Fallbeispiele und entsprechende Transferfälle eignen sich für eine praxisnahe Präsentation und anwendungsorientierte Vertiefung von Problemen (Seu- fert & Seufert, 1998).
Multiple Kontexte und Perspektiven
Aufgabenstellungen sollten möglichst in multiple Kontexte einbettet werden, um durch unterschiedliche Anwendungssituationen eine Fixierung des Wissens auf einen bestimmten Kontext zu verhindern. Durch unterschiedliche Anwendungsbedingungen werden bei den Lernenden multiple Perspektiven evoziert, was den Transfer des erworbenen Wissens sicherstellt.
Die Dekontextualisierung des Wissens ermöglicht eine flexible Übertragung von Einsichten und vermeidet von vornherein sogenanntes „träges Wissen“ (Renkl, 1994; Mandl, Gruber &
Renkl, 2002). Die technischen Möglichkeiten virtueller Lernumgebungen bieten sich in besonderer Weise dazu an, Lernenden die verschiedenen Aspekte eines Themas zu veranschaulichen und somit den Transfer des Wissens zu ermöglichen (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001).
Soziale Lernarrangements
Zum Aufbau sozialer Kompetenzen trägt ganz wesentlich das kooperative Lernen und Problemlösen sowie die Entwicklung von Lern- und Praxisgemeinschaften bei (Lave & Wenger, 1991). Über das soziale Lernarrangement werden im Rahmen komplexer Aufgabenbearbeitung zugleich auch kognitive Kompetenzen geschult (Scardamalia & Bereiter, 1992).
Damit beim kooperativen Lösen problemorientierter Aufgabenstellungen die kommunikativen und koordinativen Prozesse zielführend ablaufen, bedarf es bewusster instruktionaler Unterstützung. Nur so lassen sich die nachteiligen kommunikativen Eingangsvoraussetzungen - wie z.B. eingeschränkte soziale Hinweisreize - zum Positiven wenden (Reinmann - Rothmeier & Mandl, 2000).
Informations- und Konstruktionsangebot
Multimediale Präsentations- (z.B. Audio- und Videoclips, Präsentationsfolien, Hypertext) als auch Interaktionsformen (z.B. Forum, Chat, Whiteboard, Email, etc.) eignen sich besonders, eine aktive Lernhaltung bei den Lernenden hervorzurufen (Euler, 2005). Der durch aktives Lernen erzielte motivationale Effekt bleibt jedoch nur erhalten, solange sich die Lernenden nicht durch allzu unstrukturierte bzw. technisch zu anspruchsvolle Gestaltung der Lernumgebung überfordert fühlen. Andernfalls würde die kognitive Verarbeitungskapazität zu Lasten der inhaltlichen Auseinandersetzung beansprucht. Eine überschaubare Struktur und eine leichte Bedienbarkeit der virtuellen Lernumgebung sichern positive Effekte hinsichtlich der Lernmotivation (Mc Alpine & Weston, 1994).
Instruktionale Anleitung und Unterstützung
Um optimal zu lernen benötigt jeder Lernende in Abhängigkeit von bereits vorhandenem Vorwissen und Kompetenzen ein gewisses Maß an instruktionaler Unterstützung, (Renkl, 1996; Gräsel, 1997). Zumal Lernende in virtuellen Lernumgebungen erhöhten Anforderungen ausgesetzt sind. Insbesondere beim netzbasierten selbstgesteuerten bzw. kooperativen Lernen mit komplexen Aufgabenstellungen empfiehlt sich eine adaptive Unterstützung seitens eines
Lemberaters, um auf die individuellen Bedürfnisse und Problemlagen der Lernenden angemessen eingehen zu können (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001).
2.4 Charakteristika des Lernens in virtuellen Seminaren
Problemorientierte Online-Lernumgebungen eignen sich insbesondere für selbstgesteuerte und kooperative Lernformen. Aus diesem Grund werden im Folgenden das selbstgesteuerte und kooperative Lernen etwas näher beschrieben (Dohmen 1999; Hesse, Garsoffky & Hron, 1997; Slavin, 1983).
2.4.1 Selbstgesteuertes Lernen
Aufgrund der vielfältigen Unterstützungspotenziale der neuen Medien, kommt dem selbstgesteuerten Lernen in Online-Seminaren eine große Bedeutung zu. Nach Weinert (1982) zeichnet sich selbstgesteuertes Lernen dadurch aus, dass der Lernende selber über Lernziele, Lernstrategien, Lernort, Lernzeit, Lernhilfen und Lernkontrolle entscheidet. Hierin unterscheidet es sich auch vom fremdgesteuerten Lernen, bei dem der Lernende nicht selber über Lernziele, - strategien, etc. bestimmen kann. In der Prasxis gibt esjedoch keine reinen Formen der Selbst- bzw. Fremdsteuerung, da beispielsweise die Aufnahme und Verarbeitung von Lehrinhalten stets dem Lernenden überlassen bleibt und selbst ein Autodidakt sich „fremder“ Lehrmaterialien bedient. Somit lässt sich das selbstgesteuerte Lernen eher auf einem Kontinuum zwischen der Fähigkeit das eigene Lernen selbständig zu steuern und dem Bedarf nach externer Steuerung einordnen (Simons, 1992). Die Autonomie der Lernenden wird dabei nicht durch die Inanspruchnahme der inhaltlichen bzw. didaktischen Kompetenz von Lehrpersonen eingeschränkt (Prenzel, 1993). Vielmehr muss die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen oft erst erworben werden, weshalb die Lernenden zunächst instruktionaler Fremdsteuerung bedürfen (Flothow, 1992).
Vor allem hinsichtlich virtueller Lernprozesse kommt dem selbstgesteuerten Lernen eine wesentliche Bedeutung zu, wobei nach Kopp & Mandl (2006) folgende vier Aspekte von zentraler Bedeutung sind (vgl. Mandl & Geier, 2004):
- Vorbereitung des Lernens: Das Setzen von Zielen steht im Zentrum der Vorbereitung des Lernprozesses, wobei vor allem selbstbestimmte Ziele eine intrinsische Motivation des Lerners fördern. Das Ausmaß an Autonomie des Lernenden hinsichtlich seiner Zielwahl bzw. die Übereinstimmung mit extern vorgegebenen Zielen bestimmt auch die graduelle Ausprägung seiner lernrelevanten Motivation (Deci & Ryan, 1993).
- Steuerung des Lernprozesses: Die bewusste Steuerung des eigenen Lernprozesses mittels kognitiver, emotionaler und motivationaler Lernstrategien lässt sich als selbstgesteuertes Lernen bezeichnen. Die Verwendung von Lernstrategien und das Aktivieren des Vorwissens werden als entscheidende kognitive Komponenten selbstgesteuerter Lernprozesse aufgefasst. Als kognitive Lernstrategien lassen sich hier Wiederho- lungs-, Elaborations-, Organisationsstrategien und Selbstevaluation nennen. (Kopp & Mandl, 2006). Motivations- und Emotionsstrategien beeinflussen hingegen den Lernprozesse eher indirekt, indem sie sich auf die Anstrengungsbereitschaft, die Aufgabenwahl und die spezifische Verwendung kognitiver und metakognitiver Lernstrategien auswirken (Mandl & Friedrich, 2006). Zur Umsetzung eines eigenverantwortlichen und zielführenden Lernprozesses bedient sich der Lernende angemessener Lernmaterialien und nimmt gegebenenfalls Unterstützung durch eine Lehrperson in Anspruch (Mandl & Geier, 2004).
- Organisation des Lernens: Einem effektiven Lernprozess liegt stets eine vorausschauende und umfassende Organisation zu Grunde. Die Selbststeuerung bezieht sich hier sowohl auf Zeit, Ort, Dauer und Hilfsmittel des Lernprozesses als auch auf die Art, wie diese verwendet werden und ob alleine oder kooperativ gelernt wird. Hierzu ist es nicht erforderlich, dass der Lernende über jede zur Disposition stehende Wahlmöglichkeit selbst entscheidet. Bisweilen wirkt sich eine vorgegebene organisatorische Strukturierung förderlich auf die Steuerung lernrelevanter Prozesse aus (Mandl & Geier, 2004).
- Koordination des Lernens: Als Voraussetzung für selbstgesteuertes Lernen ist eine individuelle Vereinbarung der lernrelevanten Aktivitäten mit anderweitigen Interessen des Lernenden anzusehen. Zur Vermeidung von lernhinderlichen Interessenkonflikten dienen daher spezielle Handlungs-, Lern- und Kontrollstrategien, wobei hier in erster Linie Informationsverarbeitungsstrategien (Elaboration, Organisation, Wiederholung), Metastrategien (selbstreflexive Kontrolle der Informationsverarbeitung) und Ressourcenstrategien (Selbstmanagement hinsichtlich Einsatz von Medien; Zeitmanagement) zur Verfügung stehen (Mandl & Geier, 2004; Carell, 2006).
Beim selbstgesteuerten Lernen müssen vom Lernenden zum einen Entscheidungen bezüglich Lernzielen, Inhalten und Lernressourcen getroffen werden. Zum anderen verlangt selbstgesteuertes Lernen Entscheidungen zu zeitlichen und methodischen Aspekten sowie zur Überprüfung der Lernzielerreichung. Der einzelne Lernende muss also selbstständig seine Lernbedürfnisse feststellen und angemessene Lernstrategien wählen (Weinert, 1982).
2.4.2 Kooperatives Lernen
Als kooperatives Lernen wird eine Form des Wissenserwerbs bezeichnet, bei der zwei oder mehr Lernende gemeinsam interagieren (Dillenbourg, 1999). Die Gruppe sollte dabei klein genug für eine aktive Partizipation aller am Lernprozess Beteiligten sein (Cohen, 1994). Kooperatives Lernen dient neben dem Erwerb von Faktenwissen auch der Entwicklung sozialer und kommunikativer Kompetenzen (Neber, 1998; Salomon & Perkins, 1998). Das spezifische Charakteristikum kooperativen Lernens besteht dabei vor allem in der gemeinsamen Wissenskonstruktion, die sich im Zuge des kollektiven Lernprozesses herausbildet (Dillenbourg, 1999). Darüber hinaus lässt sich durch kooperative Lernformen der individuelle Lernerfolg (Cohan & Lotan, 1995) und die Leistungsbereitschaft bzw. Lernmotivation (Slavin, 1995) erhöhen. Zahlreiche Studien haben die Vorteile des kooperativen Lernens erwiesen (Springer, Stanne & Donovan, 1998). Jedoch können Lernende nicht einfach zusammengesetzt werden, wenn effektive Lernprozesse erreicht werden sollen (Resnick, 1991). Vor allem selbstgesteuertes kooperatives Lernen unterliegt spezifischen Bedingungen hinsichtlich der Lernerebene, der Strukturierung der Interaktion, der Gruppenaufgabe und der Anreizstruktur des organisatorischen Rahmens (Mandl & Renkl, 1995).
Bedingungenfür selbstgesteuertes Lernen
Lernerebene
- Die Motivation der Lernenden stellt eine entscheidende Voraussetzung für das Ausfahren von Lernhandlungen dar. Insbesondere die intrinsische Motivation ist von herausregender Bedeutung, um aus persönlichem Interesse und eigenverantwortlich zulernen. Nach Deci & Ryan (1993) lässt sich intrinsische Motivation aus der Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse wie soziale Eingebundenheit, Kompetenz und Autonomie herleiten. Vor allem Kompetenz und Autonomie stellen wesentliche Bedingungen selbstgesteuerten Lernens dar, die über den gesamten Verlauf eines Lernprozesses gegeben sein sollten, um dessen Kontinuität zu gewährleisten.
- Als kognitive Voraussetzungen für Prozesse selbstgesteuerten Lernens gelten Vorwissen und Lernstrategien. Vorwissen setzt sich dabei aus den domänespezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten einer Person zusammen (Renkl, 1996). Dies bildet die Basis für weitere, darauf aufbauendeWissenserwerbsprozesse. Lernstrategien beziehen sich auf Informationsverarbeitungs-, Regulationsstrategien und Strategien hinsichtlich eines effektiven Ressourcenmanagements (Wild, 2000). Informationsverarbeitungsstrategien lassen sich hierbei als kognitive Kompetenzen auffasen, während Regulations- und Ressourcenstrategien als meta-kognitive Kompetenzen anzusehen sind.
- Die Fähigkeiten zur Kooperation umfasst die gemeinsame Aushandlung von Rollen, Normen und Zielen. Zu einer effektiven Teamarbeit gehört die Bereitschaft der Lernenden Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. Dies setzt die Akzeptanz von normativen Grundregeln voraus (Salmon, 2005). Hierzu zählt auch die gegenseitige Unterstützung durch konstruktives Feedback und die Fähigkeit mit gruppeninternen Konflikten angemessen umgehen zu können (Goleman, 2002).
- Medienkompetenz bezeichnet einerseits das technisches „Know-how“ (Handhabung und Bedienung) und andererseits das kritische Verständnis für den Umgang mit neuen Medien (Baacke, 1999). Es beinhaltet zudem das Bewusstsein für Möglichkeiten und Grenzen des virtuellen Lernens (Busch & Mayer, 2002).
Strukturierung der Interaktion:
Aufgrund des eingeschränkten sozialen Kontextes beim Lernen mit neuen Medien, bedarf es einer Strukturierung der Interaktion. Dazu eignet sich der Computer als mediales Unterstützungsinstrument optimal. Zudem bietet der Computer über Multimedia, Hypermedia und Hypertext auch äußerst günstige Möglichkeiten zur Repräsentation inhaltlicher Zusammenhänge (Kopp & Mandl, 2002).
So haben sich u.a. Mapping - Tools (graphische Unterstützung), Simulationen (Vereinfachung des Verstehens) und Tabellen (mit Leerzeilen zum Ausfällen) als wirksame Instrumente zur Konzentration auf lernrelevante Prozesse erwiesen (Kopp & Mandl, 2006). Ebenso ließen sich für vorgegebene Wissensschemata mit inhaltsbezogenen Informationen positive Effekte bei der Unterstützung der Aufgabenbearbeitung nachweisen (Ertl, 2003). Durch eine transparente inhaltliche Gliederung und Veranschaulichung wird der Lernende von der Aufgabe der Organisation bzw. persönlichen Repräsentation des Wissens entlastet und behält dadurch mehr energetische Ressourcen für den eigentlichen Verstehensprozess (Kopp & Mandl, 2006).
Zur Förderung der Interaktion werden neben den oben beschriebenen indirekten Unterstützungsmaßnahmen vor allem auch direkte Strukturierungsmaßnahmen angewendet, die darauf abzielen den Koordinationsaufwand der Lernenden durch eine Beschränkung auf vorgegebene Interaktionsmuster (z.B. chat - Tools) zu verringern (McKinlay, Procter; Masting, Woodburn & Arnott, 1994) und eine elaborierte Verarbeitung der Lerninhalte zu begünstigen (O'Donnell & Dansereau, 1992). Um Rollen oder Verarbeitungsstrategien zu trainieren, bieten sich hier Methoden wie scripted cooperation (O'Donnell & Dansereau, 1992) oder reciprocal teaching (Palinscar & Brown, 1984) an, deren lernförderliche Auswirkungen in zahlreichen empirischen Studien belegt werden konnten (Bruhn, 2000).
Aufgabe
Aufgaben für kooperatives Lernen sollten nach Möglichkeit ausreichend komplex und vielschichtig gestaltet sein, damit überhaupt eine Notwendigkeit zur Kooperation besteht. Es ist nötig, dass sie das Interesse der Lernenden wecken, um engagiertes und motiviertes Lernen herauszufordern (Renkl & Mandl, 1995). Eine Gruppenaufgabe sollte sich dabei möglichst als eine natürliche Gruppenaufgabe darstellen. Hierbei spielt die positive Interdependenz der Lernenden hinsichtlich ihrer Ziele und Ressourcen eine fundamentale Rolle. Zielinterdependenz bedeutet hier, dass die individuellen Ziele der Lernenden nur über die gemeinsame Orientierung an einem Gruppenziel erreicht werden können. Ressourceninterdependenz kann am besten durch instrumenter und funktionale Abhängigkeit der Studierenden voneinander erreicht werden. Die gegenseitige Abhängigkeit erfordert einen kooperativen Austausch und eine gute Zusammenarbeit, um die Aufgabenstellung erfolgreich lösen zu können (Johnson & Johnson, 1989; Cohen, 1993).
Anreizstruktur
Nach Slavin (1996) sind extrinsische Anreize und Belohnungen eine wesentliche Bedingung für selbstgesteuertes kooperatives Lernen. Dazu sind in erster Linie Zielvorgaben erforderlich, die den individuellen Lerner und die Gruppe in eine verbindliche Beziehung zueinander setzen (Slavin, 1996). Als besonders günstig hat sich nach Slavin (1989) vor allem eine individuelle Verantwortlichkeit jedes Gruppenmitgliedes bei der Aufgabenlösung erwiesen, damit schließlich die Leistung jedes Einzelnen auch separat bewertet werden kann.
Effektives kooperatives Lernen
Ein effektives kooperatives Lernen lässt sich nach Mandl & Krause (2001) vor allem kommunikativer Strategien, teamorientierter Werthaltungen und prosozialen Verhaltens, Strategien zur Interaktion als auch Strategien zum Konfliktmanagement unterstützen. Diese sollen im Folgenden etwas eingehender beschrieben werden:
Kommunikative Strategien: Aufgrund eingeschränkter sozialer (nonverbaler und paraverbaler) Hinweisreize bestehen erschwerte Bedingungen für kooperative Lernprozesse. Aus diesem Grund ist es für die Lernenden von Vorteil bestimmte Gesprächstechniken wie z.B. Paraphra- sieren und Zusammenfassen, bewusstes Nachfragen, Feedback und aktives Zuhören anzuwenden. Hierzu sind im Sinne von Carl Rogers (1994) eine unvoreingenommene und empa- thische Grundhaltung gegenüber den Mitlernenden erforderlich.
Strategien zur Interaktion zielen auf eine Strukturierung und damit eine Verringerung des gruppeninternen Koordinationsaufwandes. Dabei führt eine Sequenzierung bzw. Beschränkung auf zielführende Interaktionsprozesse der Studierenden dazu, dass weniger Aufmerksamkeit für die erforderliche Koordination der Gruppe verloren geht (Bruhn, 2000). Außerdem dient das gemeinsames Erstellen von Gruppenregeln einer ansprechenden Arbeitsatmosphäre (gegenseitiger Respekt, gemeinsame Absprachen und Vereinbarungen) einer ausgewogenen Zusammenarbeit (gleichmäßige Arbeitsteilung, Unstimmigkeiten klären, konstruktive Kritik) und einer qualitativ niveauvollen Kooperation (gleichmäßige Zeitinvestition, Verantwortungsbewusstsein fur die Gruppe) (Reinmann-Rothmeier, Nistor, & Mandl, 2001).
Teamorientierte Werthaltungen und prosoziales Verhalten beziehen sich auf eine positive Wertschätzung, Empathie und Authentizität gegenüber allen Gruppenmitgliedern, um die Lernprozesse solidarisch, verantwortungsbewusst und in gegenseitigem Respekt zu gestalten (Rogers, 1994). Eine positive Gruppenatmosphäre stellt eine der wesentlichen Voraussetzungen für Engagement und Lernbereitschaft hinsichtlich der Aufgabenbearbeitung dar.
Strategien zum Konfliktmanagement beziehen sich auf eine emotionale Selbstkontrolle, offenes Kommunizieren und auf Strategien zur Identifikation und aktiven Bewältigung von Problemlagen (Staehle, 1999; Berkel, 1999). Durch eine angemessene Moderation bzw. Mediation lassen sich beispielsweise deeskalierende Konflikte entschärfen (Glasl, 1994), wobei es geraten sein kann einen komplexen Konflikt in verschiedene Teilaspekte aufzuteilen, um auf differenzierte Weise zu einer Gesamtlösung zu gelangen. Hierbei erscheint es häufig sinnvoll zwischen Aufgaben- und Beziehungskonflikten zu unterscheiden (Rüttinger, 1977). So wirkten aufgabenbezogene Konflikte beispielsweise in Gruppen, die unstrukturierte und komplexe Aufgabenstellungen zu lösen hatten, durchaus positiv, solange sie sich noch konstruktiv bewältigen ließen (Jehn, 1995). Hier muss also strategisch vorgegangen werden, um eine Eskalation bzw. Überstrapazierung der Beteiligten zu vermeiden und das positive Potenzial von Konflikten, das sich in erhöhter Kreativität, Innovationsbereitschaft und einer sensibleren Selbstwahrnehmung äußert, zu unterstützen (Deutsch, 1976; Staehle, 1999). Bei Beziehungskonflikten erwies es sichjedoch als sinnvoll, die interpersonalen Probleme nicht offen auszuagieren (Murnighan & Conlon, 1991).
2.4.3 Probleme des selbstgesteuerten und kooperativen Lernens
Probleme des selbstgesteuerten Lernens
Die beschriebenen Prozesse und Bedingungen des selbstgesteuerten Lernens in hypermedialen Lernumgebungen liegen normalerweise nicht in einer vollkommenen und umfassenden Weise vor. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass sich ein optimaler selbstgesteuerter Lernprozess nur in Ausnahmefallen von allein entwickelt (Tergan, 1997). Häufig sind Phänomene wie Desorientierung und kognitive Überlastung bei den Studierenden anzutreffen, was die hohen Abbrecherquoten in webbasierten Seminaren deutlich zeigen (Astleitner, 2000). Sobald eine Fremdsteuerung hinsichtlich der Lernwege, Lernziele und Lernkontrolle nicht mehr gegeben ist, werden die Studierenden auf sich selbst und i.d.R. kaum ausgebildete Selbstlernkompetenzen zurückgeworfen (Rautenstrauch, 2001a). Häufig verwenden Lernende in virtueller Lernumgebung falsche Lernstrategien, indem sie entweder maßlos „Datensammeln“ oder sich in Details verlieren. So fehlt ihnen schließlich der Überblick und die Möglichkeit zu einer ganzheitlichen Analyse (Frau, Miodoro & Pedemonte, 1992). Deshalb profitieren vor allem Studierende mit bereits ausgeprägten Selbstlernkompetenzen von hypermedialen Lernszenarien (Dillon & Gabbard, 1998). Von herausragender Bedeutung für selbstgesteuerte kooperative Lernprozesse sind besonders eine gruppeninterne Abstimmung und Koordination der Aufgaben. Bei dieser als „grounding“ bezeichneten Steuerung der Kommunikation lernen die Studierenden zunächst gruppenintern optimale Lernstrategien zu entwickeln, bevor sie diese dann auch für spätere individuelle Selbststeuerungsprozesse verwenden können (Fischer, Bruhn, Gräsel & Mandl, 2000). Neben den oben genannten Problemen fällt vielen Lernenden beim selbstgesteuerten Lernen auch das Zeitmanagement schwer, da viele von ihnen oft nicht in der Lage sind, die erforderliche zeitliche Investition abzuschätzen bzw. sich die notwendige Zeit für das Lernpensum vorzuhalten (Rautenstrauch, 2001a).
Probleme des kooperativen Lernens
Nach Reinmann-Rothmeier & Mandl (2002) bestehen Schwierigkeiten beim virtuellen kooperativen Lernen zum einen aufgrund der technischen Komplexität (Hardware- und Softwareprobleme), zum anderen als Folge defizitärer Wissensteilung bzw. eingeschränkter sozialer Hinweisreize.
Von technischer Seite her fehlt den Lernenden bisweilen noch die erforderliche Medienkompetenz, um mit den virtuellen Kommunikationswerkzeugen in angemessener Weise umzugehen. Dies führt nicht selten zu Akzeptanzproblemen bei den Lernenden, die eine evtl. schon bestehende Hemmschwelle gegenüber einer multimedialen Lernumgebung noch verstärkt. Eine bei netzbasiertem Lernen deutlicher ausgeprägte Anonymität der Studierenden untereinander verstärkt den Eindruck des Isoliert-Seins, wodurch schließlich eine aktive Partizipation erschwert wird. In der Folge entstehen bei virtuellen Seminaren Phänomene wie z.B. Lurking bzw. ein relativ hoher „Drop-Out“, sofern keine hinreichende tutorielle Betreuung der kooperativen Lernprozesse gewährleistet wird. Bis jetzt ist jedoch die Frage nach dem adäquaten Einsatz technischer Tools noch nicht vollständig geklärt. Hier kann zwischen verständnisfördernden (z.B. visuell bzw. auditiv) und die Schwierigkeiten netzbasierter Lernumgebung kompensierenden (z.B. Video) Tools unterschieden werden. Über den Nutzen innovativer Technik entscheidet letztlich eine auf die Zielgruppe und Lerninhalte abgestimmte Anwendung (Reinmann-Rothmeier-Mandl, 2002; Euler, 2005).
In virtuellen Lerngemeinschaften besteht in noch höherem Maße als unter Face-to-Face Bedingungen das Problem ungeteilten Wissens. Daher werden in virtuellen Diskussionsforen überwiegend mehrheitsfähige Positionen eingebracht, so dass das Phänomen des „group think“ leichter entsteht. Doch gerade dadurch werden möglicherweise Positionen von Minderheiten vernachlässigt, die für eine anregende Diskussionsatmosphäre und schließlich ein qualitativ höherwertiges Gruppenergebnis notwendig sind. Solange aber konträre Argumente verglichen und abgewogen werden müssen, sind alle Teilnehmer automatisch zu einer eingehenden Reflexion aufgefordert und alternative Lösungen werden eher in Betracht gezogen (Friedrich, Sesnick & Trebing, 2006).
Ein weiteres Problem besteht im Fehlen sozialer Hinweisreize, was insbesondere für kollabo- rative Lernprozesse nachteilige Konsequenzen hervorruft. Durch die erhöhte Anonymität verlieren normative Umgangsregeln an Verbindlichkeit, so dass eher unkontrollierte Gefühlsäußerungen (flaming) auftreten können, die möglicherweise nur durch ungeschicktes Formulieren und daraus resultierenden Missverständnissen hervorgerufen wurden. Außerdem wird die Bildung eines Gruppenkonsenses durch die eingeschränkten Feedbackpotentiale deutlich erschwert, so dass sich Entscheidungsprozesse verlangsamen (Kiesler & Sproull, 1992). Jedoch gelten die für virtuelles Gruppenlernen angeführten Schwierigkeiten vor allem für Ad-hoc- Gruppen und treten bei stabileren Lerngemeinschaften i.A. nicht in gleicher Weise auf (Walther, 1994).
Aus den beschriebenen Problemen des selbstgesteuerten und kooperativen Lernens in virtuellen Lernumgebungen geht die Notwendigkeit einer instruktionalen Unterstützung hervor. Darauf soll im nächsten Kapitel näher eingegangen werden.
3 Tutorielle Unterstützung im virtuellen Seminar
Aus den beschriebenen Problemen beim virtuellen Lernen geht eindeutig die Notwendigkeit einer instruktionalen Unterstützung hervor. Um Studierende in computerunterstützten Seminaren adäquat zu fordern, wird in der Forschung eine persönliche tutorielle Unterstützung empfohlen (Salmon, 2005; Zawacki-Richter, 2001). Dies bietet gegenüber intelligent tutoriel- len Systemen, sprich automatischen Feedbacksystemen vor allem den Vorzug einer auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden angepassten Betreuung und kompensiert zudem den Mangel an sozialer Präsenz in virtueller Lernumgebung. Im Folgenden werden die wesentlichen Dimensionen instruktionaler Unterstützung durch einen Online-Tutor näher beschrieben.
3.1 Dimensionen instruktionaler Unterstützung durch den Online-Tutor
Für ein tieferes Verständnis einer angemessenen tutoriellen Untetrstützung in einem virtuellen Seminar bedarf es zunächst einer eingehenden Untersuchung der wesentlichen Aspekte von Lernprozessen, die sich in computerunterstützten Lernszenarien vollziehen. Dabei spielen in Anlehnung anNistor, Schnurer & Mandl (2005) motivationale, soziale und kognitive Aspekte eine zentrale Rolle hinsichtlich einer Charakterisierung von Lernprozessen in virtuellen Seminaren.
3.1.1 Motivationale Aspekte
Ein wesentliches Problem beim virtuellen Lernen besteht in der Förderung und Aufrechterhaltung der Motivation, da es sich gezeigt hat, dass das Engagement der Teilnehmer im Verlauf von computergestützten Seminaren nachlässt. Insbesondere die intrinsische Motivation korreliert positiv mit der Lernleistung und mit elaborierten Verarbeitungsstrategien. Jedoch setzt sie ein hohes Maß an Selbstbestimmung voraus (Schiefele & Schreyer, 1994). Auch bei extrinsisch motivierten Lernenden steht die Lernleistung in enger Verbindung zum subjektiv erlebten Ausmaß an Selbstbestimmung. Je weniger Kontrolle während des Lernprozesses empfunden wird, desto besser gestaltet sich das Lernergebnis (Prenzel, 1996, 2001).
Das Ausmaß an Lernmotivation wird demnach als entscheidende Voraussetzung und Einflussgröße für die Qualität von virtuellen Lernprozessen erachtet (Astleitner, 2002). Dabei lässt sich die Intensität der Lernmotivation aus drei lernerrelevanten Aspekten ableiten: Erfah- rung von Selbstwirksamkeit, Kompetenzerleben und soziale Einbindung (Deci & Ryan, 1993).
Selbstwirksamkeit beruht auf der Überzeugung in einer bestimmten Situation die angemessene Leistung zu erbringen. Diese Einstellung bezüglich eigener Fähigkeiten beeinflusst sowohl Wahrnehmung als auch Motivation und Leistung. Darüber hinaus wirkt sich Selbstwirksamkeitserwartung noch auf die Aufgabenwahl und Persistenz bei schwierigen Aufgabenstellungen aus (Zimbardo, 1983). Und schließlich begünstigt eine optimistische Erwartungshaltung die Verwendung elaborierter Lernstrategien (Pintrich & DeGroot, 1990).
Unterstützen lässt sich die Selbstwirksamkeitserwartung durch Erfolge im Lernprozess, da die unmittelbare Erfahrung einer erfolgreichen Aufgabenbewältigung die Kompetenzerwartung verstärkt. Dazu eignen sich in besonderer Weise nicht zu komplexe Aufgaben und solche, die an das Vorwissen bzw. die Begabung der Studierenden angepasst sind. Auch durch die Beobachtung eines kompetenten Modells und die entsprechende Übernahme der modellierten Verhaltensweise können die Studierenden zu einer erhöhten Selbstwirksamkeit gelangen. Außerdem helfen natürlich der kontinuierliche Zuspruch seitens des Lehrenden. Dieser Zuspruch formuliert sich über informatives Feedback bezüglich dem Erreichen von Teilzielen und dadurch soll die Studierenden in einer positiven Selbstwirksamkeitserwartung hinsichtlich des weiteren Verlauf des Lernprozesses bestärken (Bandura, 1977; Bandura, 1997). Als Kompetenzerleben werden hingegen Gefühle bezeichnet, welche eine Person in Situationen erfährt, in denen sie sich ihrer eigenen Fähigkeiten bewusst wird bzw. sich von anderen Personen diesbezüglich bestätigt und anerkannt sieht (Deci & Ryan, 1993). Dabei schließt informierendes Feedback durchaus nicht kritische Anmerkungen zu defizitärem Wissen aus. Jedoch sollten dabei Formulierungen gewählt werden, die einen selbstwertdienlichen Attribu- ierungsprozess bei den Lernenden unterstützen. Dies lässt sich beispielsweise durch emotional positives Feedback erreichen, wobei Fehler als Chance zum Lernen angesehen und Misserfolge auf veränderbare Bedingungen - wie z.B. investierte Zeit, Anstrengung - zurückgeführt werden (Prenzel, 1995; Prenzel, 1997).
Auch in bezug auf das Kompetenzerleben von Lernenden verhelfen angemessene und präzise formulierte Lernziele zu einer erleichterten Orientierung der Studierenden, wodurch sie ihre eigenen zeitlichen und kognitiven Ressourcen effektiver auf das erforderliche Lernpensum abstimmen können und dadurch eher das Gefühl von Erfolgserlebnissen erfahren. Auf diese Weise ist auch mögliche Langeweile durch Unterforderung bzw. Frustration durch Überforderung von vornherein vermeidbar. Darüber hinaus stellt eine geeignete Passung von strukturierten Lerninhalten und Lernerniveau nach Cikszenmihalyi (1985) eine wesentliche Voraus- Setzung für das Flow - Erleben dar. Hierbei ist es wichtig, den Lernenden gewisse Freiheitsgrade und Autonomie zuzugestehen, da ein selbstbestimmt motiviertes Lernen als Katalysator für kreative und engagierte Lernprozesse anzusehen ist.
Das Gefühl sozialer Einbindung von Seminarteilnehmern (z.B. erlebt als „Wir-Gefühl“) gehört nach Deci & Ryan (1993) ebenso wie die Selbstwirksamkeit und das Kompetenzerleben zu den psychologischen Grundbedürfnissen, die für intrinsische und extrinsische Motivation gleichermaßen bedeutsam sind. Dabei entsteht das Gefühl sozialer Zugehörigkeit im Wesentlichen über Kommunikationsprozesse, deren spezifische Qualität ausschlaggebend für ein integratives Lernklima ist (Döring, 1990; Heidbrink, 2000). Aufgrund verminderter sozialer Kontextinformationen über die Mitlernenden in computerbasierter Kommunikation besteht ein erhöhter Bedarf die Gruppenkohäsion zu fördern, um ein Nachlassen der Lernmotivation und ein mögliches Abbrechen des Lernprozesses (Drop - Out) zu verhindern. Dem kann durch identitätsstiftende Prozesse - wie z.B. durch Bildung von Kleingruppen, informelles Kennenlernen der Gruppenmitglieder, gemeinsame Verpflichtungen und kollektive Normen entgegen gewirkt werden. Vor allem empfiehlt sich innerhalb kooperativer bzw. kollaborati- ver Lernformen die Entwicklung eines gemeinsamen Bedeutungshintergrundes (Grounding), um einen möglichst engagierten Lernprozess zu gewährleisten (Dillenbourg & Traum, 1996). Hinsichtlich kooperativer Lernformen erweist sich hierbei eine klare Rollenverteilung als vorteilhaft, um die gruppeninternen Verantwortlichkeiten transparent zu machen und eine relativ gleichmäßige Partizipation und Leistungsbereitschaft zu erreichen. Andernfalls würden engagierte Seminarteilnehmer sich leicht ausgenutzt fühlen und demoralisiert werden (Döring, 1999). Prosoziales Verhalten und „Teamgeist“sind daher in virtuellen Lernszenarien von tragender Bedeutung, um dem bekannten Phänomen des isolierten Lernens und einem daraus resultierenden Motivationsmangel zu begegnen (Renkl & Mandl, 1995).
3.1.2 Soziale Aspekte
Nach dem konstruktivistischen Lehr-Lernparadigma ist Lernen a priori als ein sozialer und kooperativer Prozess anzusehen, innerhalb dessen nicht nur soziale und kommunikative Fertigkeiten erfordert, sondern auch erworben werden können. Dies ist besonders aus pädagogisch-psychologischer Perspektive von Bedeutung und wird deshalb auch bei der Erforschung sozialer Potentiale des virtuellen Lernens zunehmend berücksichtigt (Desel & Tippe, 2001; Utz, 1999).
Soziale Aspekte von Lernprozessen lassen sich-neben dem oben (3.1.1.) beschriebenen Aspekt der sozialen Einbindung - hinsichtlich Kommunikation, Koordination und Aushandlung von Wissen differenzieren (Reinmann - Rothmeier & Mandl, 1999; Arnold, 2003).
Soziale Aushandelungsprozesse stellen prinzipiell die Basis für den Erwerb einer gemeinsamen Wissenskonstruktion dar. Dies geschieht sowohl zwischen Lehrendem und Lernenden als auch unter den Lernenden selber. Als Katalysator für neue Aushandlungsprozesse können Externalisierungen des erarbeiteten Wissens in Form von Visualisierungen und Artefakten zu einer bewussten Identifikation mit der Gruppe und dadurch zu einer nachhaltigen Gruppenkohäsion verhelfen (Fischer, Bruhn, Gräsel & Mandl, 1998). Aufgrund einer immensen unstrukturierten und ungefilterten Datenmenge kann es leicht zu einer Überlastung der Verarbeitungsressourcen bei den Studierenden kommen, so dass dadurch nicht ausreichend energetische Ressourcen für eine effektive Koordination der Gruppenprozesse verbleiben (Berge, 1995; Salmon, 2005)
In dieser Hinsicht spielt die soziale Identifikation der Gruppenmitglieder mit den eigenen Artefakten (Präsentationen) eine wichtige Rolle, da sie als Vorbedingung für Engagement und Leistungsbereitschaft innerhalb sozialer Lernprozesse gilt. Sozialformen des Lernens bieten optimale Voraussetzungen zum Lernen am Modell und Lernen durch Beobachtung, so dass neben dem inhaltlichen Lerngegenstand zugleich Methoden und Arbeitstechniken erworben werden (Bandura, 1997; Steiner, 2001). Vor allem Formen des sozialen Lernens wie z.B. Partnerarbeit bzw. reziprokes Lernen (Tandem) bieten sich für Lernprozesse in virtuellen Gruppen an (Ballin & Brater, 1996). Darüber hinaus ermöglichen kooperative Lernformen den Erwerb von Sozialkompetenzen wie Teamfähigkeit, prosoziales Verhalten und Empathie (Desel & Tippe, 2001). Sogenannte „gute“ Gruppen zeichnen sich nach Witte & Engelhardt (1998) vor allem durch Gleichstellung ihrer Mitglieder, gegenseitige Rücksichtsnahme und Konfliktvermeidung aus. Eine offene und zugleich normengeleitete Arbeitsatmosphäre stellen die sozialen Voraussetzungen für positive Emotionen während eines Lernprozesses dar (Go- leman, 2002).
Die Koordination innerhalb einer Gruppe ist jedoch in virtuellen Lernumgebungen aufgrund eingeschränkter sozialer Hinweisreize (nonverbal und paraverbal) erschwert. Aus diesem Grund besteht leicht die Gefahr einer allzu enthemmten bzw. unkontrollierten Kommunikation, was dem Phänomen des „flaming“ Vorschub leistet (Walther, Anderson & Park, 1994; Weisband, 1992). Außerdem trägt eine mediumspezifische Anonymität zu einer mangelnden Transparenz von Identitätsmerkmalen bei (Hesse, Garsoffky & Hron, 1997). .Wegen dieser Anonymität kommt es in virtuellen Lernszenarien auch eher zu sozialem „Trittbrett-Fahren“.
Andererseits treten speziell beim virtuellen Lernen in größeren Gruppen Probleme wie der „Free-Rider-Effekt“ (einer prescht vor und übernimmt die meiste Arbeit) oder der „Matthäus-Effekt“ (die Guten profitieren am meisten, die Schwachen am wenigsten) auf. Die aufgeführten Probleme des virtuellen Lernens in Gruppen entstehen z.T. durch eine unzureichende Koordination der Gruppen und können die Gruppenkohäsion ernsthaft gefährden (Döring, 2003).
In diesem Zusammenhang ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass die soziale Informationsverarbeitung im Rahmen netzbasierter Kommunikation sich gegenüber Face-to-Face Kommunikation als langsamer erweist. Dies kann auf die verringerten sozialen Hinweisreize und fehlende soziale Kontextinformationen zu den anderen Lernenden zurückgeführt werden (Rautenstrauch, 2001a). Für Kommunikationsprozesse in virtuellen Seminaren lässt sich daraus die Notwendigkeit ableiten, dass es längerer Zeit des Zusammenarbeitens bedarf, um nachhaltige und produktive Lernprozesse in Gang zu setzen (Walther, 2000).
3.1.3 Kognitive Aspekte
Im Zusammenhang mit kognitiven Lernprozessen sind nach gemäßigt konstruktivistischer Ansicht sowohl die Aktivierung von Vorwissen als wichtigste kognitive Ressource als auch die Integration des neuen Wissens in bereits vorhandene Wissensbestände wesentlich. Der Aufbau neuer kognitiver Strukturen erfolgt dabei über Elaborationsvorgänge, bei denen neue Informationen in Abhängigkeit von vorhandenen differenzierten Wissensstrukturen zu dem neu aufzubauendem Wissen verknüpft werden (Mandl, Hron & Friedrich, 1986; Steiner, 2001). Kognitive Lernprozesse gelten aber auch als besonders wichtig für den Erwerb von Problemlösungskompetenzen, da zur Lösung komplexer Aufgaben insbesondere metakognitive Prozesse wie z.B. Selbststeuerung, Reflexion und Selbsteinschätzung erforderlich sind. Kognitive Lernprozesse werden nicht als getrennt vom Handeln verstanden, sondern stellen vielmehr einen integrativen Bestandteil eines Handlungsablaufes dar (Gerstenmaier & Mandl, 1994). Bezüglich kognitiver Lernprozesse in kooperativen Formen spielt vor allem die Interaktion eine ausschlaggebende Rolle, da sich über sie die Informationsübertragung mittels unterschiedlicher Kommunikationskanäle vollzieht.
Zahlreiche sozialpsychologische Studien belegen insbesonere den Vorteil des Gruppenlernens bezüglich der Qualität und Kreativität des Problemlösens. Aufgrund von divergierenden Ansichten, unterschiedlichem Vorwissen und individueller Kreativität lässt sich über einen kontrovers geführten Diskurs dem Phänomen des „group think“ vorbeugen (Diehl & Ziegler, 2000). Durch einen engagierten Diskurs in einer Gruppe werden dabei die eigenen Argumente einer Prüfung unterzogen und gegebenenfalls um neue Aspekte erweitert. Das gemeinsame Aushandeln von Bedeutungen in einem sozialen Diskurs wird hierbei als „Grounding“ bezeichnet (Dillenbourg & Traum, 1996; Clark & Brennan, 1991). Insbesondere bei computervermittelten Kommunikationsprozessen sind der Aufwand, dh. die „Kosten“ (Initiierung von kommunikativen Prozessen, Korrektur von Fehlern innerhalb der Verständigung, etc.) für ein „Grounding“ relativ hoch, wobei zugleich die soziale Präsenz demgegennüber vergleichsweise gering ist (Clark & Brennan, 1991). Soziale Präsenz bezeichnet dabei das Ausmaß an persönlicher Nähe und Verbundenheit, die im Zuge kommunikativer Prozesse über ein vermittelndes Medium empfunden werden (Boos, in Druck).
Eine gelungene Kommunikation stellt die Basis für eine optimale inhaltliche Aufgabenbearbeitung dar, weshalb der Unterstützung der Koordination von Lerngruppen auch hinsichtlich kognitiver Prozesse eine erhebliche Bedeutung zukommt (Bruhn, 2000). In virtuellen Lernszenarien bestehen gegenüber traditionellen Präsenzszenarien erheblich höhere kognitive Anforderungen an die Lernenden. Deshalb wird eine Reduktion des kognitiven „VerarbeitungsInput“ angestrebt wird, da eine Überlastung (cognitive overload) der kognitiven Verarbeitungskapazitäten negative Auswirkungen auf den Lernprozess und die Lernleistung nach sich ziehen würde (Zawacki-Richter, 2001).
Um die Lernprozesse bei der Aufgabenbearbeitung zu unterstützen, lassen sich zum einen spezifische Lernstrategien (Mandl & Friedrich, 1992) und zum anderen Maßnahmen für eine effektivere gemeinsame Wissenskonstruktion vermitteln. Da sich erfolgreiche Lernende in Ausmaß und Qualität des Strategieeinsatzes von weniger Erfolgreichen abheben, erscheint es folgerichtig die Lernenden diesbezüglich durch direkte Strategieförderung zu unterstützen (Meyer, Young & Bartlett, 1989). Eine direkte Förderung erfolgt prinzipiell in Form eines „informierten Trainings“ (Brown, Campione & Day, 1981), wobei den Studierenden die Vorzüge und Wirkmechanismen der eingeübten Strategie mitgeteilt werden. Die spezifischen Strategien können sich dabei auf die Regulation der Lernzeit, Aufmerksamkeitssteuerung, Enkodierstrategien, etc. beziehen (Mandl & Friedrich, 1997). Auch das kognitive Modellieren eignet sich für virtuelles Lernen, da die Studierenden durch die Internalisierung eines positiven Modells bei der Selbststeuerung unterstützt und einen leichteren Zugang zum Feedback des Lernbegleiters erhalten (Collins et al., 1989; Mandl, Gräsel & Fischer, 2000). In diesem Zusammenhang eignet sich die Verwendung von „cognitive tools“ (z.B. Mapping- Techniken), die eine externale Repräsentation (Visualisierung) vielschichtiger Wissensstrukturen ermöglichen (Fischer, 1998). Um den Überblick bei komplexen Aufgabenstellungen zu wahren, bedarf es schließlich noch metakognitiver Kontroll- und Selbstreflexionsstrategien (Mandl & Friedrich, 1997).
Für eine effektive Rezeption des Lehrmaterials sind vor allem Informatonsverarbeitungsstra- tegien erforderlich (Friedrich & Mandl, 1992). Diese lassen sich in Wiederholungs-, Elaborations- und Organisationstrategien unterteilen (Weinstein & Mayer, 1986). Die Aufgabe des Online-Tutors besteht hier in der Auswahl, Unterstützung und Anwendung angemessener Lernstrategien. Andernfalls besteht insbesondere in offenen und problemorientierten Lernumgebungen mit nicht präzise ausformulierten Aufgaben das Problem einer Überforderung für die Lernenden (Nistor, 1999).
Kognitive Prozesse sind dabei über die Art der Aufgabenstellung beeinflussbar (vgl. Baumert, Lehmann, Lehrke, Schmitz, Clausen, Hosenfeld, Koller & Neubrand, 1997). Die Aufgabenstellung sollte sprachlich und inhaltlich präzise formuliert und auf das vorhandene Lernniveau der Seminarteilnehmer zugeschnitten sein, damit von vornherein eine Transparenz hinsichtlich der seminarspezifischen Lernziele gegeben ist. Dadurch wird den Studierenden Sicherheit hinsichtlich der kognitiven Anforderungen vermittelt, was sich günstig auf ihre Aufmerksamkeit und gezielte Konzentration bei der Aufgabenbearbeitung auswirkt. Durch eine über den gesamten Seminarverlauf konsequente und eindeutige Kommunikation lassen sich Zweifel oder Fragen vermeiden, die letztlich nur dazu angetan sind die kognitiven Ressourcen der Lernenden von der eigentlichen Problemlösung abzuhalten (Salmon, 2004). Damit ein Wissenstransfer neu erworbener Kenntnisse und Fertigkeiten möglich wird, sollte der Lerngegenstand möglichst anwendungsorientiert vermittelt werden, was über eine Anregung der Lernenden zu multiperspektivischen Denken erfolgen kann. Dies lässt sich beispielsweise durch das bewusste Erzeugen kognitiver Konflikte innerhalb einer kooperativen Lerngruppe erreichen. Hieraus erwächst bei den Seminarteilnehmern die Notwendigkeit divergierende Ansichten zu formulieren und über die Externalisierung des Diskurses schließlich zu einer Integration unterschiedlicher Perspektiven zu gelangen. Jedoch bedarf es bei den Lernenden gewisser kognitiver Grundvoraussetzungen, um den initiierten Konflikt auch konstruktiv auszuwerten (Doise & Mugny, 1984).
Der Aufbau einer gemeinsamen Wissenskonstruktion innerhalb eines virtuellen Seminars kann über die Bildung von Kleingruppen unterstützt werden, wobei durch das dyadische Lernen die präsentierten Inhalte tiefer verarbeitet werden. Die gegenseitige Regulation und das Feedback beugen einem oberflächigen Bearbeiten von Aufgaben vor (Mandl & Kopp, 2006). Durch die Externalisierung des gemeinsamen Wissensbestandes können Fehlkonzepte erfasst und berichtigt werden (Dillenbourg et al., 1995).
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