[...] Immerhin gibt es nach dem
Stoff nicht nur eine Oper2 und zwei bekannte Theaterstücke3, sondern neben einer
französischen Fernsehversion4 gleich vier Adaptionen für die große Leinwand.5
Die mediale Übertragung ist im Hinblick auf die spezielle Beschaffenheit der Vorlage
besonders interessant: Inwieweit können gattungstypische Eigenheiten des Briefromans
wie die multiperspektivische Erzählweise und die Innenschau der verschiedenen
Briefeschreiber in einer Verfilmung zum Tragen kommen? Dieser Frage möchte ich am
Beispiel von DANGEROUS LIAISONS, der US-Adaption des englischen Regisseurs Stephen
Frears aus dem Jahre 1988, nachgehen. Diese Version wird v.a. für die Leistung der
Darsteller immer wieder gelobt. Sie besticht durch die Konzentration auf die Charaktere,
durch die insbesondere der psychologische Kern des libertinen Briefromans ins Blickfeld
gerückt wird.
Zunächst sollen kurz einige grundsätzliche narrative Unterschiede zwischen
Briefroman (auch in Abgrenzung von der klassischen Erzählung) und Film klargemacht
werden, um anschließend zu untersuchen, wie die Erzählperspektive im konkreten
Medienwechsel von Laclos’ Les Liaisons dangereuses zu Frears’ DANGEROUS LIAISONS
berücksichtigt wurde.
Außerdem werde ich die Möglichkeiten filmischer Figurengestaltung im Vergleich zu
denen der Literatur betrachten und diese am Beispiel der beiden Protagonisten von Les
Liaisons dangereuses bzw. DANGEROUS LIAISONS, Merteuil und Valmont, konkretisieren.
Da der Drehbuchautor Christopher Hampton sich wie schon bei seiner Theateradaption
relativ eng an die Romanvorlage gehalten hat, bietet es sich an, ausgehend vom
Laclos’schen Grundriss v.a. die filmspezifischen Gestaltungsmittel zur Betonung einzelner
Aspekte, insbesondere aber auch Unterschiede in der Figurenzeichnung zu beleuchten.
Im Übrigen beziehe ich mich bei Zitaten aus dem Film auf die englischsprachige
Tonspur, da mir die französische Fassung nicht zur Verfügung steht.
2 Claude Prey (1974)
3 Heiner Müller: Quartett (1980), Christopher Hampton: Les Liaisons dangereuses (1985)
4 Charles Brabant: Les Liaisons dangereuses (1979)
5 LES LIAISONS DANGEREUSES 1960 (Roger Vadim, F 1959), DANGEROUS LIAISONS (Stephen Frears, USA
1988), VALMONT (Miloš Forman, USA 1988), CRUEL INTENTIONS (USA 1999, Roger Kumble)
Inhalt
1. Einleitung
2. Erzählperspektive
2.1. im Briefroman
2.2. im Film
2.3. Polyphonie in Laclos’ Les Liaisons dangereuses und Frears’ Dangerous Liaisons
3. Figurengestaltung
3.1. Literarische vs. filmische Mittel
3.2. Die Hauptcharaktere in Laclos’ Les Liaisons dangereuses
3.2.1. Vicomte de Valmont
3.2.2. Marquise de Merteuil
3.3. Die Hauptcharaktere in Frears’ Dangerous Liaisons
3.3.1. Die Exposition: Aufrüstung zum libertinen Machtkampf
3.3.2. Bestie und unglücklich Liebender: der Vicomte de Valmont
3.3.3. Verwundbarkeit hinter der Maske: die Marquise de Merteuil
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis und Filmografie
1. Einleitung
1782 wurde Choderlos de Laclos’ Briefroman über Les Liaisons dangereuses eines Kreises von französischen Adligen ein Skandalerfolg.[1] Selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert scheint die Geschichte um die boshafte Marquise de Merteuil und ihren Komplizen, den Vicomte de Valmont, die das Leben einer frommen Ehefrau und das eines unschuldigen Mädchens zerstören, noch immer zu faszinieren. Immerhin gibt es nach dem Stoff nicht nur eine Oper[2] und zwei bekannte Theaterstücke[3], sondern neben einer französischen Fernsehversion[4] gleich vier Adaptionen für die große Leinwand.[5]
Die mediale Übertragung ist im Hinblick auf die spezielle Beschaffenheit der Vorlage besonders interessant: Inwieweit können gattungstypische Eigenheiten des Briefromans wie die multiperspektivische Erzählweise und die Innenschau der verschiedenen Briefeschreiber in einer Verfilmung zum Tragen kommen? Dieser Frage möchte ich am Beispiel von Dangerous Liaisons, der US-Adaption des englischen Regisseurs Stephen Frears aus dem Jahre 1988, nachgehen. Diese Version wird v.a. für die Leistung der Darsteller immer wieder gelobt. Sie besticht durch die Konzentration auf die Charaktere, durch die insbesondere der psychologische Kern des libertinen Briefromans ins Blickfeld gerückt wird.
Zunächst sollen kurz einige grundsätzliche narrative Unterschiede zwischen Briefroman (auch in Abgrenzung von der klassischen Erzählung) und Film klargemacht werden, um anschließend zu untersuchen, wie die Erzählperspektive im konkreten Medienwechsel von Laclos’ Les Liaisons dangereuses zu Frears’ Dangerous Liaisons berücksichtigt wurde.
Außerdem werde ich die Möglichkeiten filmischer Figurengestaltung im Vergleich zu denen der Literatur betrachten und diese am Beispiel der beiden Protagonisten von Les Liaisons dangereuses bzw. Dangerous Liaisons, Merteuil und Valmont, konkretisieren. Da der Drehbuchautor Christopher Hampton sich wie schon bei seiner Theateradaption relativ eng an die Romanvorlage gehalten hat, bietet es sich an, ausgehend vom Laclos’schen Grundriss v.a. die filmspezifischen Gestaltungsmittel zur Betonung einzelner Aspekte, insbesondere aber auch Unterschiede in der Figurenzeichnung zu beleuchten.
Im Übrigen beziehe ich mich bei Zitaten aus dem Film auf die englischsprachige Tonspur, da mir die französische Fassung nicht zur Verfügung steht.
2. Erzählperspektive
2.1. im Briefroman
Die Gattung des Briefromans zieht ihre erzählerische Raffinesse gerade aus einem Mangel, nämlich dem der klassischen epischen Erzählinstanz. Der Romanautor verleugnet sich als solcher, wendet sich höchstens in Einleitung und Schlusswort als fiktiver Herausgeber direkt an den Leser. Er zieht sich dabei ähnlich dem Verfasser eines klassischen Bühnenstücks hinter sein Werk zurück und überlässt es den Figuren, die Erzählung voranzutreiben.[6] Durch den dokumentarischen Charakter, den Briefe grundsätzlich mit sich bringen, verleiht der Autor seiner Erzählung den Anschein von Wirklichkeit.
Es gibt also keinen allwissenden Erzähler, der das Geschehen aus einer gewissen Distanz überblickt. Stattdessen entwickelt sich der Sinnzusammenhang der Romanhandlung erst durch das Zusammensetzen der subjektiven Äußerungen verschiedener Ich-Erzähler, also mehrperspektivisch. Dabei sind die Ansichten der Schreiber geprägt von persönlichen Faktoren wie Charakter, Bildung, Urteilsvermögen oder Gefühlslage. Die Standpunkte sind naturgemäß beschränkt, oft einseitig, oder sie verkennen gar – bewusst in der Verfolgung bestimmter Zwecke oder unbewusst aus Nichtwissen - die wahre Sachlage. Daher wird eine bestimmte Handlung häufig gleich aus der Sicht mehrerer Personen beleuchtet, aus denen der Leser erst subjektive Aussagen und den objektiven Tatbestand herausfiltern muss.
Ein weiterer elementarer Unterschied zur klassischen Erzählung ist der präsentische Charakter des Briefromans. Die Ich-Erzähler schreiben Brief um Brief ohne Wissen um den Fortgang des Geschehens, vom „Gegenwartsstandpunkt des selbst Erlebenden“[7] aus. Wenn auch die beschriebenen Ereignisse bereits in der unmittelbaren Vergangenheit liegen, so erfolgt doch die jeweilige Reflexion im Akt des Schreibens. Die Briefe werden somit zu „Dialogselemente[n]“.[8] Erst am Ende, nach Abschluss der eigentlichen Handlung, wird sicheres Wissen und ein Überblick über das Gesamte möglich.[9]
2.2. im Film
In diesem Punkt, nämlich der quasi-präsentischen Erzählweise, ist gerade der Briefroman trotz erheblicher Unterschiede, die noch angeführt werden sollen, dem filmischen Medium näher als eine herkömmliche Erzählung. Darüber hinaus wird die dem Briefroman inhärente dialogische bzw. polylogische Struktur weitergeführt, indem schriftliche in mündliche Kommunikation umgewandelt wird. Allerdings ist diese eben unmittelbar, d.h. naturgemäß auch spontaner, Briefe reflektieren dagegen mit mehr Abstand zum Erlebten.
Ganz im Gegensatz zur personalen Perspektive des Briefromans liegt es aber in der Natur der filmischen Bilderzählung, meist mit einer grundsätzlich unpersönlichen Erzählerposition zu operieren.[10] Eine zentrale narrative Instanz organisiert für den Zuschauer das Geschehen in der Regel so, dass er es durch das Kameraauge als außenstehender Beobachter zu sehen bekommt.
Normalerweise wird diese Erzählhaltung jedoch innerhalb eines Films gelegentlich unterbrochen, z.B. indem Dialoge im Schuss-Gegenschuss-Verfahren aufgelöst werden und die Kamera so abwechselnd den Standpunkt der Gesprächspartner einnimmt. Aber auch andere Perspektiven als der Point-of-View-Shot sind dazu geeignet, eine Figur im Film als die „erlebende“ kenntlich zu machen. Einstellungsgröße, Kameraposition und -bewegung, aber auch Bildaufteilung, Licht und Farbgebung können die Aufmerksamkeit des Betrachters so lenken, dass wir die Situation gleichsam aus dem Blickwinkel einer bestimmten Figur wahrnehmen, auch wenn die Kamera uns nach der Bildlogik nicht seine Perspektive zeigt. Beispielsweise fiebern wir in Hitchcocks North by Northwest[11] die meiste Zeit mit der von Cary Grant verkörperten Hauptfigur mit, obwohl nur in wenigen Einstellungen eine explizite Ich-Erzählung vorliegt. Das liegt vor allem daran, dass wir von Anfang an seinen Weg durch die Geschichte miterleben und meist den gleichen Wissensstand haben wie er. Wenn jedoch der Bahnbeamte den vermeintlichen Frank Kaplan auf dem Fahndungsfoto erkennt und daraufhin in ein Hinterzimmer geht, um die Polizei zu verständigen, sind wir plötzlich ganz bei ihm und reagieren wie er überrascht, als uns ein Linksschwenk der Kamera auf den Bahnschalter zeigt, dass Kaplan verschwunden ist. Auch andere Maßnahmen als die Kamerapositionierung können jedoch Nähe zur Figur herstellen, z.B. die Verwendung von Großaufnahmen und der Einsatz von Musik, durch die die innere Verfassung der Figur ablesbar wird. Hierbei handelt es sich um konventionelle Erzählverfahren, die vom Filmbe-trachter oft unbemerkt bleiben.
Die zentrale narrative Instanz beschreibt eine Geschichte also durch mehrere Kanäle. Während die Kunst der Literatur darauf basiert, die Sprache als alleiniges erzählerisches Mittel zu gestalten, setzt sich ein Film aus diversen Erzählmitteln auf Bild-, Ton- und Montageebene zusammen. Dabei wird in den unterschiedlichen Mitteilungsbereichen eine Simultaneität der Erzählung auf verschiedenen Ebenen erreicht, deren Besonderheit vor allem in ihrem Verhältnis zueinander liegen kann, beispielsweise indem sie einander ergänzen, kommentieren oder gar konterkarieren. In dieser möglichen Gleichzeitigkeit von verschiedenen Ausdrucksmitteln liegt möglicherweise ein Ansatzpunkt für die Übertragung der literarischen Multiperspektivität auf das Medium Film.
2.3. Polyphonie in Laclos’ Les Liaisons dangereuses und Frears’ Dangerous Liaisons
Bei der Überlegung, welche Aufgaben die multiperspektivische Ich-Erzählweise im Falle der Liaisons dangereuses erfüllt, kommt man in der Tat zu Ergebnissen, denen unter Umständen auch filmische Mittel entsprechen können.
So wird die psychologische Dimension der personalen Erzählweise auch im Film Dangerous Liaisons betont, indem beispielsweise durch Großaufnahmen ein besonderes Augenmerk auf die Mimik der Figuren gelegt wird und auch sonst vor allem die Charaktere und ihre Beziehungen untereinander im Vordergrund stehen. Die Doppelgesichtigkeit ist der Marquise und dem Vicomte geradezu zum Wesen geworden: Erkennbar ist der doppeldeutige Charakter häufig an der Diskrepanz zwischen dem Gesagtem und der Mimik des Sprechers.
Vor allem aber ist es das bewusste Doppelspiel der beiden Intriganten Merteuil und Valmont, die Ironie ihrer für den Reiz des Romans so wichtigen, ihn geradezu konstituierenden „double langage“, der es Rechnung zu tragen gilt. Auch die Frearsche Adaption setzt einen Schwerpunkt darauf, die Doppeldeutigkeit von Sprache aufzuzeigen, die bei kunstfertigem Gebrauch zu amüsanten Wortspielen führen, aber auch zum Mittel der Verstellung und der Intrige werden kann. Vor allem die Worte der beiden Protagonisten drücken oft nicht das aus, was sie meinen. Der Briefwechsel bzw. die Konversation der beiden ist geprägt von freundschaftlichen Anzüglichkeiten und einer Freude am Spiel mit Worten. Auch Dangerous Liaisons verdankt einen Großteil seiner Anziehungskraft dem Wortwitz der Dialoge, der oft pikanter Natur ist. So machen schon ein kurzes Hochziehen der Augenbraue und ein selbstgefälliges Lächeln klar, dass Valmont nicht wirklich neuerdings seine Liebe zu Pflanzen entdeckt hat, wenn er der Marquise vorfreudig berichtet, die Comtesse de Beaulieu habe ihm „extensive use of her gardens“ versprochen, zumal „her husband’s fingers are not as green as they once were“. Je weiter sich jedoch der Konflikt zwischen den beiden Komplizen im Hinblick auf Valmonts Interesse an Tourvel verschärft, desto weniger dient das Kaschieren der wahren Inhalte als einverständlicher Zeitvertreib. Bereits in der Mitte des Films lässt sich die Marquise nicht mehr auf das Spiel ein, sobald es darum geht, dass Valmont ihr noch den Beweisbrief Tourvels schuldig ist. Als Valmont auf ihre Bitte, das Haus zu verlassen, weil sie hungrig sei, einwendet, er selbst habe ebenfalls „quite an appetite“, nimmt sie ihn wörtlich und entgegnet ungerührt: „Then go home and eat.“ Was mit jovialem Spott begann, endet in feindseligem Zynismus. Die letzte Begegnung der beiden Kontrahenten ist geprägt von offenem Wortkrieg und sarkastischen Bemerkungen.
[...]
[1] Vgl. Delon, in Klein / Sändig (1994), S. 197.
[2] Claude Prey (1974)
[3] Heiner Müller: Quartett (1980), Christopher Hampton: Les Liaisons dangereuses (1985)
[4] Charles Brabant: Les Liaisons dangereuses (1979)
[5] Les Liaisons dangereuses 1960 (Roger Vadim, F 1959), Dangerous Liaisons (Stephen Frears, USA 1988), Valmont (Miloš Forman, USA 1988), Cruel Intentions (USA 1999, Roger Kumble)
[6] Vgl. Picard (1971), S. 11.
[7] Köhler (1984), S. 86.
[8] Picard (1971), S. 14.
[9] Vgl. Köhler (1984), S. 87.
[10] Experimente mit dem durchgehenden Einsatz der subjektiven Kamera als Mittel einer filmischen Ich-Erzählung in Reinform blieben die Ausnahme, z.B. The Lady in the Lake (USA 1941, Robert Montgomery).
[11] North by Northwest (USA 1959, Alfred Hitchcock)
- Citar trabajo
- Katja Hettich (Autor), 2003, Von "Les Liaisons dangereuses" (1782) zu "Dangerous Liaisons" (1988) - Erzählperspektive und Figurengestaltung im medialen Transfer, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18560
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