Es ist hinlänglich und längst bekannt, daß Sokrates nichts Schriftliches hinterlassen hat. Nahezu alles was wir ihn über ihn wissen, ist uns von seinem Schüler Platon hinterlassen. Wenn wir also von einer Philosophie des Sokrates sprechen, so sprechen wir von einer Version derselben, wie sie uns von Platon überliefert worden ist, angereichert durch einige wenige andere Quellen. Dasselbe gilt natürlich auch, vielleicht sogar in einem größeren Maße für Sokrates Methode. Im Wesentlichen geht es dabei darum, daß Sokrates seine Gesprächspartner durch Fragen erst in ihren vorgefaßten Meinungen erschütterte, um sie dann im Verlauf des weiteren Gespräches zu neuen Erkenntnissen anzuleiten. Anzuleiten bedeutet hierbei, daß Sokrates eben nicht als jemand auftrat, der vorgab die Antwort auf die von ihm gestellten Fragen bereits zu kennen, sondern als jemand, dessen Erkenntnisprozess parallel zu dem seines Gesprächspartners verläuft. Es ist aber höchst unwahrscheinlich, daß man auf diesem Wege jedesmal zu einem neuen Ergebnis gelangen würde. Die Wahrscheinlichkeit gebietet es, daß es Fälle gegeben haben muß, in denen Sokrates und sein Gesprächspartner ohne eine neue Erkenntnis auseinander gegangen sind, mit mehr unbeantworteten Fragen im Gepäck als vor ihrer Zusammenkunft. Solche Fälle sind uns aber nicht bekannt. Daraus folgt der Schluß, daß uns entweder solche Fälle nicht überliefert sind oder, daß es sich bei Sokrates Methodik um eine didaktische gehandelt hat, in der er Unwissenheit nur vorgespielt hat. In einem solchen Fall hätte Sokrates bereits ein Ziel vor Augen, auf das er mit seinen Fragen hinaus wollte. Dem Gesprächspartner würde der Eindruck vermittelt, er wäre selbständig zu einer Erkenntnis gelangt Eine solche didaktische Methode besitzt einen entscheidenden Vorteil. Der Gesprächspartner wird nicht explizit von einer Auffassung überzeugt sondern gelangt selber zu dieser und ist daher eher bereit diese auch anzunehmen. Er ist ja von selbst zu diesem Schluß gelangt. Es wurde ihm nicht seine Unwissenheit demonstriert und somit auch seine Eitelkeit nicht verletzt. Aus eben diesem Grund wird diese didaktische Methode noch heute in der Schulpädagogik angewandt. Nur macht sich in der Pädagogik niemand Illusionen darüber, daß der Lehrer einen Wissensvorsprung besitzt und gegenüber seinen Schülern eine Moderatorfunktion übernimmt. Diese Methode besitzt aber auch einen entscheidenden Nachteil. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Struktur des Gorgias
3. Gorgias
4. Polos
5. Kallikles
6. Schlußbemerkung
1. Einleitung
Es ist hinlänglich und längst bekannt, daß Sokrates nichts Schriftliches hinterlassen hat. Nahezu alles was wir ihn über ihn wissen, ist uns von seinem Schüler Platon hinterlassen.
Wenn wir also von einer Philosophie des Sokrates sprechen, so sprechen wir von einer Version derselben, wie sie uns von Platon überliefert worden ist, angereichert durch einige wenige andere Quellen. Dasselbe gilt natürlich auch, vielleicht sogar in einem größeren Maße für Sokrates Methode.
Im Wesentlichen geht es dabei darum, daß Sokrates seine Gesprächspartner durch Fragen erst in ihren vorgefaßten Meinungen erschütterte, um sie dann im Verlauf des weiteren Gespräches zu neuen Erkenntnissen anzuleiten. Anzuleiten bedeutet hierbei, daß Sokrates eben nicht als jemand auftrat, der vorgab die Antwort auf die von ihm gestellten Fragen bereits zu kennen, sondern als jemand, dessen Erkenntnisprozess parallel zu dem seines Gesprächspartners verläuft.
Es ist aber höchst unwahrscheinlich, daß man auf diesem Wege jedesmal zu einem neuen Ergebnis gelangen würde. Die Wahrscheinlichkeit gebietet es, daß es Fälle gegeben haben muß, in denen Sokrates und sein Gesprächspartner ohne eine neue Erkenntnis auseinander gegangen sind, mit mehr unbeantworteten Fragen im Gepäck als vor ihrer Zusammenkunft. Solche Fälle sind uns aber nicht bekannt.
Daraus folgt der Schluß, daß uns entweder solche Fälle nicht überliefert sind oder, daß es sich bei Sokrates Methodik um eine didaktische gehandelt hat, in der er Unwissenheit nur vorgespielt hat. In einem solchen Fall hätte Sokrates bereits ein Ziel vor Augen, auf das er mit seinen Fragen hinaus wollte. Dem Gesprächspartner würde der Eindruck vermittelt, er wäre selbständig zu einer Erkenntnis gelangt Eine solche didaktische Methode besitzt einen entscheidenden Vorteil. Der Gesprächspartner wird nicht explizit von einer Auffassung überzeugt sondern gelangt selber zu dieser und ist daher eher bereit diese auch anzunehmen. Er ist ja von selbst zu diesem Schluß gelangt. Es wurde ihm nicht seine Unwissenheit demonstriert und somit auch seine Eitelkeit nicht verletzt. Aus eben diesem Grund wird diese didaktische Methode noch heute in der Schulpädagogik angewandt. Nur macht sich in der Pädagogik niemand Illusionen darüber, daß der Lehrer einen Wissensvorsprung besitzt und gegenüber seinen Schülern eine Moderatorfunktion übernimmt.
Diese Methode besitzt aber auch einen entscheidenden Nachteil. Man muß schon über einiges rhetorisches Geschick verfügen, um seine Fragen so zu stellen, daß sich am Ende das anvisierte Ergebnis einstellt.
In allen Dialogen Platons, in denen Sokrates als einer der Gesprächspartner auftritt, besitzt Sokrates dieses rhetorische Geschick reichlich. Es ist nun aber nicht so, daß Platon Gespräche des Sokrates protokolliert hätte. Außerdem begegnen wir Sokrates in Gesprächen mit den herausragendsten Gelehrten seiner Zeit.
In der vorliegenden Arbeit wird sich vor allem mit Sokrates Gespräch mit dem Sophisten Gorgias beschäftigt. Die Historizität eines solchen Treffens zwischen Gorgias und Sokrates ist nicht geklärt und wird auch nicht mehr geklärt werden. Das es ein solches Treffen überhaupt gegeben hat, ist immerhin möglich. Man würde dann für den Zeitpunkt des Gespräches 432 v. Chr. annehmen.
Andererseits ist das ziemlich unerheblich, weil der Wortlaut des Gespräches zwischen Sokrates und Gorgias auf jeden Fall fiktiv ist. Zwei Gründe gibt es für diese Behauptung. Zum einen Bezieht sich Sokrates im Verlaufe des Gespräches einmal auf eine Amtshandlung, die er vornehmen mußte (nämlich das Einsammeln von Stimmzetteln für die Wahl der Feldherren). Das hätte aber im Jahre 405 stattgefunden, in dem sich Gorgias nicht in Athen aufgehalten hat. Wir haben also ein Zeitparadoxon im Text selbst. Des weiteren hat Platon den Gorgias um 390 oder 389 veröffentlicht. Das heißt, zwischen dem Gespräch und seiner Veröffentlichung liegen bestenfalls anderthalb Jahrzehnte. Selbst wenn sie Platon um eine authentische Wiedergabe des Gespräches bemüht hätte, wäre es über den langen Zeitraum derart verfälscht worden, daß man es als Text fiktiven Inhalts behandeln müßte.
Interessanter als solche zeitlich motivierten Vorbehalte ist aber ein Inhaltlicher. Wie bereits festgestellt wurde, bedarf die dialektische Methode des Sokrates einiger rhetorischer Geschicklichkeit. Nun befindet sich Gorgias aber im Gespräch mit einem der größten, vielleicht des größten Rhetors Griechenlands. Es wäre also anzunehmen, daß Gorgias Sokrates Gesprächsführung durchschauen und somit seine Dialektik unterlaufen würde. Das geschieht im Verlaufe des Dialoges aber nicht.
Die Frage, die diese Hausarbeit behandelt lautet also schlich: Warum geschieht das nicht?
Zur Beantwortung dieser Frage werden im Verlaufe der Hausarbeit die Gesamtkonzeption des Gorgias untersucht und ausgewählte Dialogstellen zwischen Sokrates und Gorgias, Polos und Kallikles mit Hinblick darauf, wie Platon als eine Art Regisseur seine Figuren agieren läßt.
2. Struktur des Gorgias
Zumindest im Dialog Gorgias steht die Dialektik des Sokrates auf tönernen Füßen und könnte nicht funktionieren, gäbe es nicht den wohlwollenden Drehbuchautoren Platon, der dafür sorgt, daß die Argumente des Sokrates griffig und einleuchtend sind, daß Sokrates in der Lage ist seine die seiner Gesprächspartner mühelos aus dem Feld zu schlagen. Das ist die These dieser Hausarbeit. Um die These zu untermauern empfiehlt es sich, die Struktur des Dialoges einer kleinen Untersuchung zu unterziehen.
Platons Gorgias gliedert sich in drei Abschnitte, die sich offenkundig unterscheiden durch die jeweils unterschiedlichen Gesprächspartner. Nicht nur die Kontrahenten des Sokrates wechseln jedoch, auch der Inhalt des Dialoges ändert sich von Abschnitt zu Abschnitt.
Wie sich erweisen wird, sind hierbei Dialogpartner und Inhalt aufeinander abgestimmt.
Bevor jedoch der eigentliche Dialog beginnt, nimmt Platon eine dramatische Exposition vor. Der Schauplatz des Dialoges und die daran beteiligten Personen werden eingeführt. Außerdem wird das vorgebliche Thema des Dialoges, nämlich die Redekunst, angesprochen. Nicht Sokrates läßt Platon dies unternehmen, sondern seinen Schüler Polos.
Das ist bereits für sich genommen interessant, daß die lokale Berühmtheit Sokrates den weltberühmten Redner und Sophisten nicht direkt anspricht, sondern durch die Vermittlung eines Schülers. Es ist ein kleines Spiel der Eitelkeiten, denn natürlich läßt sich Gorgias nicht dazu herab selbst dem Schüler zu antworten. Sein Schüler nimmt an seiner Statt die Herausforderung an und bewahrt seinen Lehrer dadurch vor einer Herabsetzung.
An dieser Stelle ist in der Frage der Etikette ein Gleichgewicht hergestellt. Sokrates und Gorgias stehen sich gleichberechtigt gegenüber, haben beide je einen Schüler in ihrem Gefolge. Kallikles fungiert noch als Gastgeber und Symmetrieachse. Seine neutrale Haltung wird er erst aufgeben, wenn derlei Gesellschaftsspiele längst irrelevant geworden, bzw. Zugunsten Sokrates entschieden sind.
Bedeutsam ist dieses Vorspiel jedoch in erster Linie wegen der Art und Weise, auf die Polos auf die Frage Chairephons antwortet, wie Gorgias zu bezeichnen sei:
Chairephon, viele Künste sind unter den Menschen durch Geschicklichkeit geschickt erfunden. Denn Geschicklichkeit macht, daß unser Leben nach der Kunst geführt wird, Ungeschicklichkeit aber nach blindem Zufall. Von allen diesen Künsten ergreift ein anderer eine andere und auf andere Weise, die Besten aber auch die besten, zu welchen denn auch Gorgias gehört und also an der vortrefflichsten seinen Anteil hat. [448c]
Diese Antwort ist nicht nur ausschweifend, was Sokrates prompt einwendet, sie ist auch noch unverständlich und alles andere als ein Beispiel für eine Prunkrede. Vor allem im dritten Satz sind die Bezüge auf das vorangestellte Objekt so kompliziert, daß der Satz erst nach mehrmaligem Lesen verständlich ist. Wie soll es einem da erst ergehen, wenn man ihn hört? Der Satz ist mutwillig verkompliziert worden, um kunstvoll zu wirken. Zudem gibt sich Polos nachgerade Mühe eine sinnvolle Antwort auf die ihm gestellte Frage zu beantworten. Es ist für sich genommen ein kleines Kunststück wie es ihm gelingt, die simple Frage nach Gorgias Beruf nicht zu beantworten.
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- Jan Henrik Hartlap (Author), 2002, Die Verführung des Lesers in Platons "Gorgias", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18497
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