„Das Urteil ist nicht zu erklären. Vielleicht
zeige ich dir einmal ein paar Tagebuchstellen
darüber. Die Geschichte steckt voll Abstraktionen,
ohne daß sie zugestanden werden.“1
Dieses Zitat macht deutlich, daß die hier zu untersuchende
Erzählung für die Wissenschaft immer noch rätselhaft ist.
Gerade deshalb erweist sich eine Beschäftigung mit diesem Werk
als besonders interessant.
„Das Urteil“ von Franz Kafka zählt zu seinen frühesten Werken.
Dabei ist von besonderer Bedeutung, daß „Das Urteil“ nach
Meinung der Wissenschaft autobiographisch ist. Kafka soll hier
die Beziehung zu seinem Vater und den Konflikt von bürgerlichem
Leben und dem Leben eines Schriftstellers verarbeitet haben. In
beiden Fällen spielen Schuld und Schuldgefühle eine große
Rolle.
Aus diesem Grund untersuche ich „Das Urteil“ aus
psychoanalytischer Sicht. Auf diese Weise kann die Motivation
Georgs, sich dem Urteil des Vater zu fügen, besser herausgearbeitet
werden. Das Motiv der Schuld scheint hier von großer
Bedeutung zu sein. Um optimale Voraussetzungen für eine
gelungene Untersuchung zu schaffen, werde ich zunächst die
Vorgehensweise und Charakteristika einer psychoanalytischen
Inter-pretation herausstellen (Kap. 2). In Kapitel 3 kläre ich
die genaue Bedeutung von Schuld und Schuldgefühlen, die in „Das
Urteil“ eine Rolle spielen können. Nach diesen theoretischen
Festlegungen werde ich anhand einzelner Stellen der Erzählung
die Schuldproblematik herausarbeiten (Kap. 4). Um jedoch die
bis dahin gewonnenen Erkenntnisse einer genaueren Prüfung zu unterziehen, werde ich Briefe Kafkas und seine Äußerungen über
die Psychoanalyse Freuds in die Diskussion einbeziehen (Kap.
5). Anhand dieser Aussagen kann ich die Meinungen der Forscher
auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt hin überprüfen. Zum Schluß
werde ich die Ergebnisse zusammenfassen und einen Ausblick auf
noch offene Fragen geben (Kap. 6).
1 Kafka: Briefe an Felice, Brief vom 10.6.1913, S. 11.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die psychoanalytische Interpretation
3. Schuld und Schuldgefühle
4. Warum wird Georg Bendemann verurteilt?
5. Autobiographische Zusammenhänge
6. Zusammenfassung
7. Literatur
1. Einleitung
„Das Urteil ist nicht zu erklären. Vielleicht zeige ich dir einmal ein paar Tagebuchstellen darüber. Die Geschichte steckt voll Abstrak-tionen, ohne daß sie zugestanden werden.“[1]
Dieses Zitat macht deutlich, daß die hier zu untersuchende Erzählung für die Wissenschaft immer noch rätselhaft ist. Gerade deshalb erweist sich eine Beschäftigung mit diesem Werk als besonders interessant.
„Das Urteil“ von Franz Kafka zählt zu seinen frühesten Werken. Dabei ist von besonderer Bedeutung, daß „Das Urteil“ nach Meinung der Wissenschaft autobiographisch ist. Kafka soll hier die Beziehung zu seinem Vater und den Konflikt von bürgerlichem Leben und dem Leben eines Schriftstellers verarbeitet haben. In beiden Fällen spielen Schuld und Schuldgefühle eine große Rolle.
Aus diesem Grund untersuche ich „Das Urteil“ aus psychoanalytischer Sicht. Auf diese Weise kann die Motivation Georgs, sich dem Urteil des Vater zu fügen, besser heraus-gearbeitet werden. Das Motiv der Schuld scheint hier von großer Bedeutung zu sein. Um optimale Voraussetzungen für eine gelungene Untersuchung zu schaffen, werde ich zunächst die Vorgehensweise und Charakteristika einer psychoanalytischen Inter-pretation herausstellen (Kap. 2). In Kapitel 3 kläre ich die genaue Bedeutung von Schuld und Schuldgefühlen, die in „Das Urteil“ eine Rolle spielen können. Nach diesen theoretischen Festlegungen werde ich anhand einzelner Stellen der Erzählung die Schuldproblematik herausarbeiten (Kap. 4). Um jedoch die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse einer genaueren Prüfung zu unterziehen, werde ich Briefe Kafkas und seine Äußerungen über die Psychoanalyse Freuds in die Diskussion einbeziehen (Kap. 5). Anhand dieser Aussagen kann ich die Meinungen der Forscher auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt hin überprüfen. Zum Schluß werde ich die Ergebnisse zusammenfassen und einen Ausblick auf noch offene Fragen geben (Kap. 6).
2. Die psychoanalytische Interpretation
Es gibt viele Möglichkeiten, einen Text zu analysieren. Das Spektrum reicht von werkimmanenten Interpretationen über Hermeneutik bis zur Dekonstruktion, um nur einige zu nennen.[2] Deswegen ist es zu Beginn notwendig, die richtige Interpretationsmöglichkeit zu wählen, um ein Werk angemessen untersuchen zu können. Bei „Das Urteil“ von Franz Kafka bietet sich die psychoanalytische Interpretation an. Denn nach der Meinung der Wissenschaftler ist diese Erzählung autobiographisch und der Leser kann darüber hinaus etwas über Franz Kafka lernen. Zusätzlich geht man davon aus, daß Kafka sich privat mit der Psychoanalyse Freuds auseinandergesetzt hat.[3] Sicherlich kann man auch auf anderem Wege die Texte Kafkas verstehen. Doch im Zusammenhang mit dem Motiv der Schuld ist die psychoanalytische Literaturtheorie die aufschlußreichere Methode, sich der Erzählung zu nähern: „In ihnen [Kafkas Werken „Eine kleine Frau“ und „Das Urteil“, EQ] dürfte sich die psychoanalytische Untersuchung sogar als die vorzügliche angemessene inhaltliche Deutung erweisen.“[4]
Nachdem also die Interpretationsmethode gewählt ist, möchte ich diese genauer erläutern. Die psychoanalytische Literaturtheorie beruht auf der Psychoanalyse Sigmund Freuds und wird durch drei Instanzen geprägt, welche die Persönlichkeit bilden. Das Es ist der primitive, unbewußte Teil der Persönlichkeit. Diese Instanz strebt nach sofortiger Befriedigung ihrer emotionalen oder sexuellen Lust, ohne die Konsequenzen für ihr Tun zu berücksichtigen. Den Gegensatz dazu bildet das Über-Ich. Es hat die Funktion des Gewissens und verkörpert die Werte und Normen der Gesellschaft. Zugleich beinhaltet das Über-Ich auch das angestrebte Ideal des Individuums. Anhand dieser Instanz kann der Mensch überprüfen, ob er sich seinen eigenen Vorstellungen und denen der Gesellschaft gemäß entwickelt. Das Über-Ich tritt aufgrund dieser Eigenschaften oft in Konflikt mit den Trieben des Es. Die dritte Instanz, das Ich, vermittelt zwischen diesen beiden Extremen. Es wird vom Realitätsprinzip beherrscht und stellt vernünftige Entscheidungen über das trieborientierte Handeln. Nur so ist es dem Individuum möglich, ein soziales Leben innerhalb der Gesellschaft zu führen und dabei die eigene Identität zu entwickeln. Üben das Über-Ich und das Es einen starken Druck auf das Ich aus, so ist es für diese Instanz fast unmöglich, einen Kompromiß zwischen den Gegensätzen zu finden.[5] Bei einem Ungleichgewicht des Modells von Freud kann ein Mensch psychische Störungen wie Neurosen oder Psychosen entwickeln.
Anhand dieses Modells arbeitet die psychoanalytische Literaturtheorie. Dabei werden verschiedene Aspekte eines Textes betrachtet: der Inhalt und der formale Aufbau des Werkes, der Autor und der Leser. Am Inhalt sind besonders die unbewußten Motive der Figuren und die Bedeutung von Gegenständen und Ereignissen interessant. Denn wenn der Leser die Handlungen der Charaktere nachvollziehen kann, erschließt sich ihm die Aussage des Werkes leichter.[6] Auch die Techniken der Verpackung des Inhaltes werden analysiert. Sind die Ereignisse ironisch geschildert, wirft dies z.B. ein völlig anderes Bild auf die Geschichte. Unterstützt wird die weitere Interpretation noch durch die Spuren des Autors, die er in seinem Text hinterläßt. Dessen Erfahrungen und Lebensweise können das richtige Verständnis des Werkes erleichtern.[7] Als letztes wird noch der Leser betrachtet. Besonders interessant ist hierbei, welche Wirkung der Text auf den Rezipienten hat. Werden bestimmte Ängste durch den Autor ausgelöst? Mit welchem Mitteln arbeitet der Autor?[8] Diese vier Aspekte zusammen ergeben ein vollständiges Bild des interpretierten Werkes.
Bei der folgenden Untersuchung des „Urteils“ liegt der Schwerpunkt in Georgs Handeln und seiner wahrscheinlichen Schuld. Bevor ich jedoch das Werk dahingehend analysiere, mache ich den Unterschied zwischen Schuld und Schuldgefühlen deutlich. So kann besser festgestellt werden, was man genau unter diesen Phänomenen versteht.
3. Schuld und Schuldgefühle
In diesem Kapitel werde ich herausstellen, was Schuld und Schuldgefühle sind und wie sie entstehen. Die hier gewonnenen Ergebnisse können dann die Untersuchung von „Das Urteil“ erleichtern.
Die Schuld ist eines der Hauptthemen bei Franz Kafka.[9] „Der Prozeß“ und „Die Verwandlung“ zählen sicher zu den berühmtesten Werken. Hier haben sich die Protagonisten angeblich schuldig gemacht. Aber weder sie noch der Leser können bestimmen, worin die Schuld im einzelnen liegt. Denn Kafka macht in seinen Werken von unterschiedlichen Formen der Schuld Gebrauch. In dieser Arbeit beziehe ich mich deshalb nur auf die Schuldform in „Das Urteil“.
Juristisch gesehen bedeutet Schuld, daß jemand rechtswidrig gehandelt hat und dieses Handeln vermeidbar gewesen ist.[10] Ein Beispiel dafür ist das Stehlen. Klaut eine Person in einem Geschäft einen Fernseher, so ist sie schuldig. Denn diese Tat ist verboten und damit ein strafbares Vergehen. Sie hätte durch das Kaufen des Fernsehers verhindert werden können. „Schuld ist entweder Verletzung oder Nichteinhaltung eines Gesetzes. Daher ist eine wichtige Erscheinungsform der Schuld bei Kafka durch das Unbekanntbleiben des Gesetzes gegeben.“[11] Dies trifft eher auf „Der Prozeß“ von Kafka zu. Doch auch Georg Bendemann scheint nicht genau das Gesetz zu kennen, gegen das er verstoßen haben soll. Und trotzdem akzeptiert er ohne Zögern das Urteil seines Vaters. Aber urteilen kann man nur, wenn eine Schuld gegeben ist.[12] Schuld ist also die Berechtigung für eine Strafsanktion und die Voraussetzung für die Strafbarkeit menschlichen Verhaltens.[13] Es ist aber unwahrscheinlich, daß Georg Bendemann gegen ein offensichtliches Gesetz verstoßen hat. Denn dies wäre ihm und dem Leser sofort klar gewesen.
Doch es gibt noch eine andere Form der Schuld. Sie
„liegt in der Selbsttäuschung, in der falschen Unterscheidung zwischen dem höheren, eigentlichen aber unbestimmten Gesetz und den ihm angeblich untergeordneten Machtfiguren, die aber das einzig sichtbare Zeichen des Gesetzes bilden.“[14]
Dieser Ansicht nach ordnen sich die Menschen kritiklos den Zeichen der Macht unter. Vorschriften von Personen, die angeblich einen höheren Rang haben als man selbst, werden ohne diese zu hinterfragen ausgeführt. Das höhere, unbestimmte Gesetz läßt sich nur schwer greifen. Sicherlich kann man dazu aber die Würde des Menschen zählen. Sie ist schon im Grundgesetz verankert und fordert das Recht auf Individualität. Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes lautet:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“[15]
Anfang des 20. Jahrhunderts war es üblich, daß die Söhne den Beruf des Vaters übernahmen. Dies thematisiert Kafka auch in „Das Urteil“. Georg Bendemann arbeitet in dem Geschäft seines Vaters. Das Recht auf Individualität hat hierbei sicherlich oft gelitten. Auch bei Kafka lassen sich Beispiele hierfür finden. Er sagt von sich selber, daß er den Erwartungen seines Vaters gerecht werden wollte. Aus diesem Grund arbeitete er bei der Versicherungsanstalt in Prag. Diese Tätigkeit brachte Kafka aber in eine psychische Bedrängnis, da er eigentlich Schriftsteller sein wollte.[16] Dadurch, daß Kafka den Anforderungen seines Vaters folgte, also einer untergeordneten Machtfigur, hat er seine Individualität stark eingeschränkt. Auf diese Weise konnte er seine Pflicht, das Mündigwerden, durch eine kritiklose Anerkennung des Gesetzes und das Ablehnen der Selbstbestimmung, nicht erfüllen.[17] Denn es scheint für die Menschen leichter zu sein, alles zu akzeptieren, als das eigene Leben in die Hand zu nehmen und nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Diese Bequemlichkeit soll Kafka auch an sich selber kritisiert haben.[18]
[...]
[1] Kafka: Briefe an Felice, Brief vom 10.6.1913, S. 11.
[2] Einen Überblick bietet Kimmich/Renner/Stiegler (Hrsg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996.
[3] Laut Born soll die Beschäftigung mit der Psychoanalyse eigenwillig und nicht unbedingt konform mit den Theorien Freuds gewesen sein: Born, Schuld oder Schuldgefühle?, S. 54.
[4] Kaus: Erzählte Psychoanalyse bei Franz Kafka, S. 14.
[5] S. hierzu sowie zu der gesamten Psychoanalyse Freuds Zimbardo: Psychologie, S. 487.
[6] S. Kapitel 4.
[7] S. dazu Kapitel 5.
[8] Die Wirkung des „Urteils“ auf den Leser wird ausführlich behandelt in Hiebel: Die Zeichen des Gesetzes, S.116 und Kapitel 5, S. 14.
[9] Sokel: Schuldig oder Subversiv?, S. 1.
[10] Meyers großes Taschenlexikon, Bd. 20, S. 8.
[11] Sokel: Schuldig oder Subversiv?, S. 1.
[12] Sokel: Schuldig oder Subversiv?, S. 2.
[13] Meyers großes Taschenlexikon, Bd. 20, S. 8.
[14] Sokel: Schuldig oder Subversiv?, S. 7.
[15] Kultusministerium Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Menschenrechte, Bürgerfreiheit, Staatsverfassung, S. 8.
[16] S. näher dazu Kapitel 5.
[17] Sokel: Schuldig oder Subversiv?, S. 8.
[18] Sokel: Schuldig oder Subversiv?, S. 6.
- Citar trabajo
- Ellen Rennen (Autor), 2001, Das Motiv der Schuld in Franz Kafkas "Das Urteil", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18346
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