Welche Rolle spielt die Gerechtigkeit in einer Gesellschaft? John Rawls definiert diese als die erste Tugend sozialer Institutionen, welche von den Grundsätzen der Gerechtigkeit geleitet werden und somit dem Erhalt der Gesellschaft dienen.
Die Gesellschaft, die als eine in sich abgeschlossene Vereinigung von Menschen verstanden werden kann, fördert durch das Einhalten von bestimmten Regeln der Teilnehmer untereinander deren Wohl, weil sie von einer Interessenharmonie geleitet ist. Doch existiert neben dieser ebenfalls ein Interessenkonflikt, der sich dadurch auszeichnet, dass jeder Teilnehmer der Gesellschaft am liebsten mehr von den Gütern erhalten will. Somit strebt eine Gesellschaft danach, das Wohl ihrer Teilnehmer durch die Zuweisung von Rechten und Pflichten zu erhalten, und die gesellschaftlichen Güter richtig und gerecht zu verteilen.
Essay: John Rawls – Gerechtigkeit als Fairness
Seminartext: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, Kapitel 1: Gerechtigkeit als Fairneß, S.19-73
Welche Rolle spielt die Gerechtigkeit in einer Gesellschaft? John Rawls definiert diese als die erste Tugend sozialer Institutionen, welche von den Grundsätzen der Gerechtigkeit geleitet werden und somit dem Erhalt der Gesellschaft dienen.
Die Gesellschaft, die als eine in sich abgeschlossene Vereinigung von Menschen verstanden werden kann, fördert durch das Einhalten von bestimmten Regeln der Teilnehmer untereinander deren Wohl, weil sie von einer Interessenharmonie geleitet ist. Doch existiert neben dieser ebenfalls ein Interessenkonflikt, der sich dadurch auszeichnet, dass jeder Teilnehmer der Gesellschaft am liebsten mehr von den Gütern erhalten will. Somit strebt eine Gesellschaft danach, das Wohl ihrer Teilnehmer durch die Zuweisung von Rechten und Pflichten zu erhalten, und die gesellschaftlichen Güter richtig und gerecht zu verteilen.
Eine wohlgeordnete Gesellschaft setzt sich aus einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung zusammen, weil die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze anerkannt werden und die wichtigsten Institutionen diesen Grundsätzen genügen. Rawls selbst beschreibt eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung als „das Grundgesetz einer wohlgeordneten Gesellschaft“ (Rawls, 21).
Eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung ist nicht nur für die Verteilung von Rechten, Pflichten und Gütern unabdingbar, sondern auch für das Funktionieren der Koordination, Effizienz und Stabilität sehr wichtig, da es Menschen schwer fällt, ohne eine Übereinstimmung ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen ihre Vorhaben aufeinander abzustimmen und gesellschaftliche Ziele mit einem hohen Wirkungsgrad zu erreichen sowie zu einer stabilen Zusammenarbeit zu gelangen.
Gegenstand der Gerechtigkeit ist die Grundstruktur der Gesellschaft, die beschreibt, wie die wichtigsten Institutionen Rechte, Pflichten und gesellschaftliche Güter verteilen. Solche Institutionen, so wie die Verfassung oder wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, bestimmen zudem die Ausgangspositionen und beeinflussen die anfänglichen Lebenschancen, die sich nur aufgrund des Zufalls erklären lassen. Dadurch entstehen Ungleichheiten, die von den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit angegangen werden müssen.
Es müssen also allgemeine Grundsätze gefunden werden, an die sich eine Gesellschaft orientieren kann, um als gerecht zu gelten. Rawls schlägt vor, dass Gerechtigkeitsgrundsätze getroffen werden, die im Interesse und zum Wohle aller Menschen die gesellschaftliche Zusammenarbeit, die Regierung und die Verteilung von Gütern regeln. Somit klären die Menschen untereinander, was als gerecht und ungerecht gelten darf und ziehen aus der resultierenden Entscheidung zwei Grundsätze, die verbindlich für jeden die Gesellschaftsstruktur festlegen. Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze sind die Folgenden:
1. Gleiche Grundrechte und Pflichten für alle.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur dann gerecht, wenn aus ihnen Vorteile für jeden erwachsen, vor allem für die am wenigsten Begünstigten in einer Gesellschaft.
Beim ersten Grundsatz geht es also um die Gleichverteilung von Grundfreiheiten, wie etwa der politischen oder der Rede- und Versammlungsfreiheit. Der zweite Grundsatz umfasst soziale Ungleichheiten, die nur dann geduldet werden, sofern jeder dadurch einen Vorteil erfährt. Dadurch werden Zufälligkeiten wie etwa ein begünstigter Status vermieden, die gesellschaftliche Ungerechtigkeiten hervorrufen.
Die beiden Grundsätze werden also von freien und vernünftigen Menschen getroffen. Doch in welcher Situation können Menschen als frei und vernünftig verstanden werden? Würde nicht etwa jeder bei der Festlegung der Grundsätze versuchen, für sich selbst das Bestmögliche herauszuholen und somit egoistisch handeln? Mit dieser Frage sind wir beim Begriff des Urzustands, der als eine theoretische Ausgangssituation verstanden werden kann, in dem sich die Menschen mit dem Ziel befinden, eine gerechte Güterverteilung in der Gesellschaft hervorzubringen. Der Urzustand ist ein fiktiver Zustand, der mit einer Unwissenheit und einer Nichtkenntnis für die Menschen, die sich in diesen Zustand theoretisch begeben, gekennzeichnet ist.
Doch wie wird die Unkenntnis eigentlich gewährleistet? Rawls Antwort darauf ist der Schleier des Nichtwissens. Dieser verhindert, dass die Menschen im Urzustand viele Einzeltatsachen über sich selbst wissen, wie etwa den sozialen Status in der Gesellschaft, ihr Geschlecht, ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten und ihr Lebensweg.
Aber weshalb ist die Unkenntnis der eigenen Tatsachen relevant? Normalerweise neigen Menschen dazu, in jeder Situation Vorteile für sich zu ziehen, um selbst bestmöglich in der Gesellschaft dazustehen. Dies würde aber verhindern, dass eben diese Menschen gerechte Grundsätze für jedermann formulieren würden. Wenn die Menschen aber keine Kenntnis über sich selbst besitzen, so sind sie bestrebt, eine Gesellschaft zu formen, die jedes Mitglied gerecht behandelt. Würden sie sich für die Bevorzugung von nur einigen bestimmten Gruppen einsetzen, wie z.B. für reiche Unternehmer, und es würde sich nach Auflösung des Urzustandes herausstellen, dass sie selbst nicht zu dieser Gruppe gehörten, so hätten sie sich selbst Nachteile verschafft.
Daher liegt es im Interesse aller Mitglieder, wahrhaft gerechte Grundsätze für jeden zu formulieren, um selbst nicht zu den Schlechtestgestellten in der Gesellschaft zu gehören. Der Schleier des Nichtwissens ermöglicht es, Zufälligkeiten und Ungleichheiten in der Gesellschaft zu vermeiden, unter denen einige Menschen besser gestellt und andere schlechter gestellt sind. Durch die Unkenntnis der eigenen Person wird sichergestellt, dass die Grundprinzipien unter allgemeiner Berücksichtigung beurteilt werden und somit gerechte Grundsätze aus dem Urzustand resultieren.
Nur die Bedingungen des Schleiers des Nichtwissens können eine eindeutige Einstimmigkeit und eine starke Gerechtigkeitsvorstellung hervorbringen. Es ist nicht zu bestreiten, dass der Schleier des Nichtwissens eine faire Ausgangsposition für alle Mitglieder ist. Wenn keiner ein Wissen über sich selbst, seinen Status und seine Fähigkeiten besitzt und auch nicht weiß, wie er am Ende dastehen wird, dann müssen notwendigerweise alle Vertragspartner in einer fairen Situation sein. Aus dieser fairen Ausgangssituation resultieren faire Grundsätze, weshalb Rawls diese Theorie als „Gerechtigkeit als Fairness“ bezeichnet.
Zudem ist auch sichergestellt, dass sich die Vertragspartner unter dem Schleier des Nichtwissens als moralische Subjekte verhalten. Aus Angst, sie könnten benachteiligt werden, liegt ihnen viel daran, gerechte Grundprinzipien zu formulieren, die für jeden aus der Gesellschaft gelten.
Rawls betont, dass eine Gesellschaft, die auf die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit setzt, am ehesten einem freiwilligen System entspricht, da sie von freien und vernünftigen Menschen festgelegt wurden.
Das Problem bei der Festlegung der Grundsätze ist, dass jede Überlegung, die von den Vertragspartnern beigetragen wird, in Beziehung zu den Grundsätzen widersprüchlich sein kann und zu keiner Lösung führt.
Rawls Lösung ist das Erreichen eines Überlegungsgleichgewichts. In diesem Zustand stimmen alle Überlegungen mit den formulierten Grundsätzen überein „Es ist ein Gleichgewicht, weil schließlich unsere Grundsätze und unsere Urteile übereinstimmen; und es ist ein Gleichgewicht der Überlegung, weil wir wissen, welchen Grundsätzen unsere Urteile entsprechen, und aus welchen Voraussetzungen diese abgeleitet sind“ (Rawls, 38).
Rawls diskutiert den Utilitarismus in seiner klassischen Form nach Sidgwick, wonach eine Gesellschaft dann als gerecht gilt, wenn sie die größte Befriedigung für die meisten Mitglieder verursachen kann. Das Nutzenprinzip einer Einzelperson wird auf die Gesamtheit der Menschen erweitert, indem Wohl und Übel der Gesamtmasse aufgerechnet wird.
Zunächst aber räumt Rawls der utilitaristischen Sichtweise einen intuitiv annehmbaren Charakter ein, denn es ist zunächst einmal einleuchtend, dass auch eine Gesellschaft den Nutzen für seine Mitglieder maximieren möchte, wenn man bedenkt, dass auch ein Einzelmensch genau abwiegt, was für ihn den meisten Nutzen bringt. Doch der Utilitarismus berücksichtigt nicht die Verteilung des Nutzens für seine Mitglieder, wichtig allein ist, dass die größtmögliche Summe an Befriedigung und Nutzen erreicht wird. Zudem fasst es die Bedürfnisse der gesamten Mitglieder zu einem Bedürfnis zusammen und berücksichtigt somit nicht die Verschiedenheit der Menschen in der Gesellschaft.
Durch die Gegenüberstellung seiner Theorie der Gerechtigkeit als Fairness mit der des Utilitarismus benennt Rawls drei Unterschiede:
1. Die Theorie der Gerechtigkeit bestätigt durch seine Grundsätze der Gerechtigkeit die allgemeine Überzeugung, dass es unvereinbar sei, die Freiheit einiger Menschen zu missachten, um das Wohl der größeren Masse zu fördern. Doch der Utilitarismus spricht dieser Überzeugung nur eine Nützlichkeit zu, die man in Ausnahmefällen übertreten darf.
2. Der zweite Unterschied besteht darin, dass der Utilitarismus das Entscheidungsprinzip für den Einzelmenschen auf die ganze Gesellschaft überträgt. Die Theorie der Gerechtigkeit hingegen findet, dass mit dieser Methode die vielen Einzelmenschen mit ihren unterschiedlichen Zielen nicht gebührend berücksichtigt werden. Vielmehr resultieren die gesellschaftlichen Entscheidungen selbst bereits aus einer ursprünglichen Übereinkunft.
3. Der dritte Unterschied zeichnet sich dadurch aus, dass der Utilitarismus eine teleologische Theorie ist, somit also das Gute vor dem Rechten stellt. Jedes Bedürfnis wird in die Bedürfnissumme mit einberechnet, ungeachtet dessen, ob die Rechte anderer Menschen verletzt werden, aber nur solange die daraus resultierende Nutzensumme hoch ist. Als Beispiel führt Rawls das Bedürfnis an, andere unterdrücken zu wollen. Selbst dieses Bedürfnis wird im Utilitarismus mitgezählt. In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness hingegen besteht der Grundsatz der gleichen Freiheit für alle und somit werden solchen Bedürfnissen Grenzen gesetzt, egal wie hoch der gesellschaftliche Nutzen daraus ist. Diese Theorie ist eine deontische und hier ist der Begriff des Rechten dem des Guten vorgeordnet. Somit werden Bedürfnissen und Handlungen Grenzen aufgewiesen und es werden jene Einstellungen abgelehnt, die den Grundsätzen widersprechen. Es werden also Richtlinien gegeben, wie ein guter und moralischer Mensch sein sollte.
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- Roza Ramzanpour (Autor), 2011, zu: John Rawls - Gerechtigkeit als Fairness, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/183452