Vor allem die Praxisphasen im Rahmen meiner Ausbildung zum Lehrer an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster haben eines deutlich gemacht:
Pädagogisch adäquates Handeln erfordert ein Höchstmaß an Sensibilität und Reflexion. Die Vielschichtigkeit und Komplexität
unterrichtlicher Situationen und Interaktionen, vor die sich sowohl Studentinnen1 im Rahmen der praktischen Lehramtsausbildung als auch erfahrene Lehrerinnen tagtäglich gestellt sehen, ist evident. Nicht umsonst ist die Kultusministerkonferenz jüngst der Forderung
nach einer extensiveren praktischen Ausbildung künftiger Lehrerinnen mit der Einführung eines Praxissemesters nachgekommen, durch welches „erste berufliche Handlungskompetenzen als Lehrerin/Lehrer“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein
Westfalen 2011, <http://www.schulministerium.nrw.de/ZBL/Reform/FAQ/>) nun bereits im Rahmen der Ausbildung zur Lehrerin vermittelt werden sollen. Das Bewusstsein über die Komplexität des Berufsalltags pädagogisch Wirkender und der damit einhergehende Trend
der Vermittlung von pädagogischen Handlungskompetenzen durch ausgedehnte Praxiserfahrungen ist sicherlich wünschenswert, eröffnet aber zugleich auch Einsicht in die Notwendigkeit, (künftige) Lehrerinnen mit Methoden auszustatten, die in konkreten anspruchsvollen Situationen des pädagogischen Berufsalltags Unterstützung bieten können.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem Instrument, das in diesem Kontext Abhilfe verspricht: Die ‚Kollegiale Fallberatung‘. Hierbei handelt es sich um eine Methode, die auf eine „strukturierte Problembehandlung“ (Kopp/Vonesch 2003, 53) abzielt. Strukturiert ist
diese insofern, als die gesamte Beratung – in diesem Fall einer Lehrerin durch ihre Kolleginnen – in aufeinanderfolgende und von den Beteiligten einzuhaltende Phasen eingeteilt ist, welche in einer festgelegten Reihenfolge durchlaufen werden und erst in ihrer Gesamtheit einen erfolgreichen Beratungsprozess in Aussicht stellen. In meiner Arbeit konzentriere ich mich auf eine dieser Phasen, die sogenannte ‚Stellungnahme‘, welcher ich hinsichtlich ihrer
strukturellen Anforderungen seitens der Ratsuchenden untersuchen möchte. Meine konkrete Forschungsfrage lautet dabei:
Welches sind charakteristische, strukturelle Anforderungen, mit denen die Ratsuchende in der Stellungnahme einer Kollegialen Fallberatung konfrontiert wird?
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2. Theoretische Fundierung
2.1 Definition der Kollegialen Fallberatung
2.2 Akteure
2.3 Ablaufschema
2.4 Eine Phase mit Folgen - die Stellungnahme
2.5 Die Nutzung der Kollegialen Fallberatung im Rahmen von Praktikumsseminaren
3. Methodologische Aspekte
3.1 Kennzeichen qualitativer Sozialforschung
3.2 Grounded Theory als Instrument der Kategorienbildung
3.3 Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik
4. Empirische Analyse
4.1 Auszug aus dem Originaltranskript
4.2 Phase 5: Die Stellungnahme
4.3 Ein idealtypisches Statement
4.4 Varianten der Positionierung
4.4.1 Zustimmung
4.4.2 Ablehnung
4.4.3 unklare Aussagen
4.5 Visuelle Darstellung der positionierungsinternen Aussagerichtung
4.6 Zusammenfassung der Ergebnisse
4.7 Theoretische Einbettung der Ergebnisse
5. Fazit
5.1 Kritische Reflexion
5.2 Ausblick
6. Bibliographische Angaben
7. Eidesstaatliche Erklärung
8. Anhang A
1. Ablaufschema der Kollegialen Fallberatung in der ELF (vgl. 2.5)
2. Stellungnahme-Statements in textueller Gestalt
A. Ablehnungen
B. Zustimmungen
C. Unklare Aussagen:
3. Die Stellungnahme und umgebende Phasen - tabellarische, teils kommentierte Übersicht wichtiger Inhalte und inhaltlicher Bezüge zwischen Phasen
9. Anhang B
4. Transkript der Gruppe ‚T’ / Fall II
1.Einleitung
Vor allem die Praxisphasen im Rahmen meiner Ausbildung zum Lehrer an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster haben eines deutlich gemacht: Pädagogisch adäquates Han- deln erfordert ein Höchstmaß an Sensibilität und Reflexion. Die Vielschichtigkeit und Kom- plexität unterrichtlicher Situationen und Interaktionen, vor die sich sowohl Studentinnen1 im Rahmen der praktischen Lehramtsausbildung als auch erfahrene Lehrerinnen tagtäglich ge- stellt sehen, ist evident. Nicht umsonst ist die Kultusministerkonferenz jüngst der Forderung nach einer extensiveren praktischen Ausbildung künftiger Lehrerinnen mit der Einführung eines Praxissemesters nachgekommen, durch welches „erste berufliche Handlungskompeten- zen als Lehrerin/Lehrer“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein Westfalen 2011, <http://www.schulministerium.nrw.de/ZBL/Reform/FAQ/>) nun bereits im Rahmen der Ausbildung zur Lehrerin vermittelt werden sollen. Das Bewusstsein über die Komplexität des Berufsalltags pädagogisch Wirkender und der damit einhergehende Trend der Vermittlung von pädagogischen Handlungskompetenzen durch ausgedehnte Praxiserfah- rungen ist sicherlich wünschenswert, eröffnet aber zugleich auch Einsicht in die Notwendig- keit, (künftige) Lehrerinnen mit Methoden auszustatten, die in konkreten anspruchsvollen Situationen des pädagogischen Berufsalltags Unterstützung bieten können.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem Instrument, das in diesem Kontext Abhilfe verspricht: Die ‚Kollegiale Fallberatung‘. Hierbei handelt es sich um eine Methode, die auf eine „strukturierte Problembehandlung“ (Kopp/Vonesch 2003, 53) abzielt. Strukturiert ist diese insofern, als die gesamte Beratung - in diesem Fall einer Lehrerin durch ihre Kollegin- nen - in aufeinanderfolgende und von den Beteiligten einzuhaltende Phasen eingeteilt ist, welche in einer festgelegten Reihenfolge durchlaufen werden und erst in ihrer Gesamtheit einen erfolgreichen Beratungsprozess in Aussicht stellen. In meiner Arbeit konzentriere ich mich auf eine dieser Phasen, die sogenannte ‚Stellungnahme‘, welcher ich hinsichtlich ihrer strukturellen Anforderungen seitens der Ratsuchenden untersuchen möchte. Meine konkrete Forschungsfrage lautet dabei:
Welches sind charakteristische, strukturelle Anforderungen, mit denen die Ratsuchen- de in der Stellungnahme einer Kollegialen Fallberatung konfrontiert wird?
Die Wahl meiner Fragestellung in ihrem exakten Wortlaut hat sich dabei im Laufe des Forschungsprozesses deduktiv entwickelt. So beabsichtige ich im Fortlauf dieser Arbeit zu zeigen, dass die Phase der Stellungnahme in der Kollegialen Fallberatung die jeweilige Ratsuchende vor multiple Anforderungen stellt.
Die empirische Forschung zur Kollegialen Fallberatung ist - wie Wöltje anmerkt - derzeit noch als Pionierarbeit zu betrachten (vgl. Wöltje 2010, 1). Ausnahmen bilden dabei unter an- derem Arbeiten von Fiege (1999), Tietze (2010) und Macha (2010), sowie diverse Abschluss- arbeiten, welche im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Kollegiale Fallberatung in der Erzie- hungswissenschaftlichen Lehr- und Forschungswerkstatt (ELF) an der Westfälischen Wil- helms- Universität Münster unter der Leitung von Frau Dr. Hedda Bennewitz entstanden sind. Als Mitglied eben dieser Arbeitsgemeinschaft ordne ich meine Arbeit den hier entstandenen Werken2 als Teil eines übergreifenden Forschungsprojektes zu, in dessen Rahmen auf empiri- schem Wege neue Erkenntnisse zur Kollegialen Fallberatung gewonnen werden sollen.
Ausgehend von meiner Teilnahme an der Arbeitsgemeinschaft Kollegiale Fallberatung beruht meine Motivation zum Verfassen dieser Arbeit einerseits auf der Überzeugung vom Nutzen dieser innovativen sowie wirkungsvollen Methode der „praxisbegleitenden Kleingruppenar- beit“ (Bennewitz/Daneshmand 2010, 65), von dem ich mich im Rahmen einer selbstständigen Anwendung während meiner Lehramtsausbildung überzeugen konnte. Andererseits intendiere ich dem im Laufe meiner Beschäftigung mit der Methode gewachsenen Verlangen Rechen- schaft zu leisten, zumindest punktuelle Aufklärung über die Strukturen zu schaffen, die unter- halb der oberflächlichen Kommunikationsstrukturen in der Kollegialen Fallberatung ablaufen. Der Versuch einer Näherung an die skizzierte Fragestellung erfordert zunächst eine ‚theoreti- sche Fundierung‘ des zu untersuchenden Gegenstandsbereichs (2). Dies impliziert einerseits den Versuch einer Definition des Begriffs der Kollegialen Fallberatung (2.1). Daran anschlie- ßend soll es darum gehen, die in der Methode partizipierenden Akteure zu beschreiben und voneinander abzugrenzen (2.2). Ein typisches Ablaufschema der Kollegialen Fallberatung wird im Folgenden den theoretischen Methodenüberblick festigen und eine kontextuelle Ei- nordnung der einzelnen Phasen ermöglichen (2.3). Daran anschließend soll eine tiefergehende Charakterisierung der Stellungnahme Aufschluss darüber geben, was genau in diesem Schritt des Beratungsprozesses passiert (2.4). Schließlich zielen grundlegende Anmerkungen zur Nutzung der Kollegialen Fallberatung im Rahmen von Praktikumsseminaren auf ein besseres Verständnis darüber ab, inwiefern die Methode Verwendung in der universitären Praktikumsbegleitung finden kann (2.5).
Den theoretischen Erörterungen zum Begriff der Kollegialen Fallberatung schließen sich die für meinen Ansatz relevanten ‚methodologischen Aspekte‘ an (3). Dieser Teil der Arbeit um- fasst zunächst die Darstellung ausgewählter, grundlegender Momente des qualitativen Para- digmas empirischer Sozialforschung (3.1). Folgend wird ein prägnanter Einblick in die Grounded Theory nach Glaser/Strauss als Instrument der Kategorienbildung verdeutlichen, wie es im Rahmen der qualitativen Sozialforschung zu einer Strukturierung des ursprüngli- chen Forschungsmaterials kommen kann. In diesem Kontext intendiere ich, meine Grobstruk- turierung des meiner Forschung zugrundeliegenden Transkripts3 zu legitimieren (3.2). Schließlich sollen einige Anmerkungen zur objektiv-hermeneutischen Interpretationstechnik einen theoretisch fundierten Überblick darüber geben, wie das Datenmaterial feinanalytisch untersucht werden kann (3.3).
In der ‚empirischen Analyse‘ (4) werde ich das dieser Arbeit zugrundeliegende Transkript (4.1) mittels der zuvor skizzierten Methoden analysieren. In diesem Zusammenhang erstrebe ich zunächst, die Stellungnahme mittels der Grounded Theory zu erschließen und somit erste Einblicke in das Datenmaterial zu gewinnen (4.2). Das derartig bearbeitete Material erlaubt allerdings nicht nur erste Schlussfolgerungen hinsichtlich der Fragestellung, sondern stellt auch den Zugang für die anschließende Feinanalyse dar (4.3/4.4). Da diese auf den zuvor ge- wonnenen Ergebnissen (4.2) aufbaut, sollen die genauen Modalitäten des sequenzanalytischen Vorgehens erst an späterer Stelle angeführt werden. Zugunsten eines tiefergehenden Ver- ständnisses über die empirischen Befunde beabsichtige ich diese schließlich auch visuell dar- zustellen (4.5) und letztlich zusammenzufassen (4.6) sowie in einen größeren theoretischen Kontext einzubetten, wobei es in diesem letzten Kapitel unter anderem darum gehen wird, mögliche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen meiner Analyse zu ziehen (4.7).
Diesen Ausführungen auf empirischer Ebene schließt sich das ‚Fazit‘ meiner Arbeit an (5). In diesem Rahmen intendiere ich meine Vorgehensweise kritisch zu reflektieren (5.1) sowie - aufbauend auf meinen Ergebnissen - einen Ausblick auf die Perspektiven künftiger Forschung zu geben (5.2).
2. Theoretische Fundierung
Im Folgenden soll es darum gehen, die Methode der Kollegialen Fallberatung in ihrer theore- tischen Dimension zu betrachten. In diesem Rahmen beabsichtige ich, die Leserin mit dem notwendigen theoretischen Grundwissen auszustatten, auf der im Verlauf dieser Arbeit die empirische Analyse aufbauen kann. Zu einer solchen Basis gehört zunächst der Versuch einer Arbeitsdefinition des Begriffs der Kollegialen Fallberatung unter Berücksichtigung der ein- schlägigen Literatur zur Kollegialen Fallberatung. In diesem Rahmen soll auch potentiellen Unklarheiten durch eine Abgrenzung des Terminus von verwandten Begriffen wie ‚Supervi- sion‘ und ‚Training‘ entgegengewirkt werden (2.1). In einem nächsten Schritt möchte ich die im Beratungsprozess involvierten Rollen - Ratsuchende, Beratungsgruppe und Moderatorin - ausführlicher darstellen (2.2) und schließlich ein typisches Ablaufschema des Beratungspro- zesses inklusive aller Phasen anführen. Bei diesem Schritt orientiere ich mich an Haug-Benien (2009) und beabsichtige eine Übersicht über den gesamten Beratungsprozess zu geben (2.3). Weiterhin soll es darauf aufbauend um eine detaillierte Charakterisierung der hier fokussier- ten Phase der Stellungnahme gehen, die ich als eine entscheidende Phase im Gesamtprozess - als ‚Phase mit Folgen‘ - bezeichnen möchte (2.4). Abschließend erstrebe ich die theoretische Grundlagendiskussion mit einigen Anmerkungen zur Durchführung der Kollegialen Fallbera- tung im Rahmen von Praktikumsseminaren abzurunden (2.5).
2.1 Definition der Kollegialen Fallberatung
Der aktuelle Forschungsstand zur Kollegialen Fallberatung offenbart eine Fülle an Definitio- nen, welche sich oftmals lediglich nuanciert voneinander unterscheiden. Additiv zu dieser potentiellen Quelle der Verwirrung wird die Diskussion um Kollegiale Fallberatung oftmals durch die undifferenzierte Verwendung weiterer verwandter Begriffe aus dem Umfeld der Methode wie ‚Supervision‘ oder ‚Training‘ verkompliziert. Aus diesem Grund ist es an dieser Stelle zunächst zweckdienlich, auf der Grundlage des Forschungsstands ein möglichst klar umrissenes Verständnis des Terminus zu erlangen, welches auch eine Abgrenzung verwandter Begrifflichkeiten nicht vernachlässigt.
Haug-Benien (2009) fasst Kollegiale Beratung als „ein Reflexionssystem, in dem berufliche Alltagssituationen von gleichberechtigt beteiligten Partner(inne)n auf freiwilliger Basis bear- beitet und durchschaubar gemacht werden“ (Haug-Benien 2009, 3). Bereits diese knappe De- finition macht Wesentliches deutlich: Die Kollegiale Fallberatung setzt die Gleichberechti gung aller Partizipierenden unabdingbar voraus. Hier manifestiert sich auch der Terminus der ‚Kollegialität‘. So betont Schlee (2008), dass im Rahmen der Kollegialen Fallberatung jegli- cher Hierarchie zwischen den Teilnehmern entgegengewirkt werden soll (vgl. Schlee 2008, 69). Weiterhin ist auch die ‚Freiwilligkeit‘ bei der Durchführung als elementares Kriterium der Kollegialen Fallberatung zu benennen. Haug-Benien spricht in diesem Kontext sogar von einem notwendigerweise zugrundeliegenden „Bedürfnis des pädagogischen Personals nach strukturiertem Austausch über die Praxis“ (Haug-Benien 2009. 3). Deutlich wird, dass die Methode eines hohen Maßes an Initiative seitens der Teilnehmer bedarf. Diese fungieren qua- si als ‚Motor‘ innerhalb des Beratungsprozesses, während die Methode per se das ‚Vehikel‘ darstellt. In der Diskussion um die Teilnehmeraktivität gehen Fiege/Dollase (1998) dabei so- weit, die ‚Aktivierung‘ der Teilnehmer zur Problemlösung als eine Grundidee der Kollegialen Fallberatung zu beschreiben (vgl. Fiege/Dollase 1998, 380f.).
Anschub e.V. - ein Zusammenschluss aus Organisationen, Verbänden, Ministerien und Insti- tutionen aus den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik - defi- niert die Methode als ein „sehr hilfreiches Instrument, individuelle Probleme in einen syste- matischen kollegialen Besprechungs- und Unterstützungszusammenhang zu überführen“ (An schub e.V. 2010. Lust auf Schule. Modul Lehrkräftegesundheit.
<http://www.anschub.de/fileadmin/inhalte/Downloads/Vollstaendige_Themenhefte/Lust_auf_ Schule.pdf>). Deutlich thematisiert die Definition das Charakteristikum der ‚Systematik‘, durch das sich die Methode elementar auszeichnet. So versteht sich die Kollegiale Fallbera- tung als grundlegend strukturiert aufgebautes Verfahren, als „zielgerichtete Suche nach der Lösung eines bereits benannten Problems“ (Pallasch/Mutzeck/Reimers 1992, 10). Ohne diese vorgeschriebene Struktur, auf der aufbauend sich jeder einzelne, individuelle Fall quasi de- duktiv entwickelt, geriete die notwendige Zielorientierung des Beratungsprozesses aus dem Fokus, was zwangsläufig eine Effektivitätsminderung zur Folge hätte. Aus diesem Grund wird oftmals „besonders für Einsteiger die Orientierung an einem Leitfaden“ (Schmid/Veith/Weidner 2010, 13) zugunsten des uneingeschränkten Erkenntnisgewinns emp- fohlen.
In seiner Dissertation, welche - wie bereits skizziert - als eine der grundlegenden empirischen Arbeiten im Bereich der Kollegialen Fallberatung anzusehen ist, fasst Tietze (2009) Kollegia- le Beratung als „ein Format personenorientierter Beratung, bei dem im Gruppenmodus wech- selseitig berufsbezogene Fälle der Teilnehmenden systematisch und ergebnisorientiert reflek- tiert werden“ (Tietze 2009, 24). Im Vergleich zu den vorhergehenden Definitionen zeichnet sich diese durch die Implementierung einer Vielzahl von Charakteristika aus. So ist nach Tietze jede Kollegiale Fallberatung ‚personenorientiert‘, das heißt zunächst, dass es sich hier- bei um die Beratung einer Person, nicht womöglich einer ganzen Organisation handelt, aber auch, dass sich diese Beratung explizit auf eine, nicht mehrere Personen bezieht. Das Charak- teristikum des ‚Gruppenmodus‘ zielt auf die Betonung einer der Beratung notwendigerweise zugrundeliegenden gleichberechtigten Gruppe mehrerer Partizipierender, was dazu führen soll „eine Vielzahl an Perspektiven zu aktivieren“ (ebd., 26). Das Attribut der ‚Berufsbezogenheit‘ von Fällen zielt auf die Auswahl sowie Abgrenzung solcher Themen, die wirklich im Arbeits- kontext der jeweiligen Ratsuchenden und nicht in deren Privatsphäre zu verorten sind. Wie bereits skizziert ist unter dem Charakteristikum der ‚Systematik‘ einerseits ein festes Ablauf- schema innerhalb der Kollegialen Fallberatung zu verstehen, andererseits versteht Tietze da- runter eine notwendige Rollendifferenzierung zwischen den Beteiligten. Beide Aspekte sollen im Fortlauf dieser Arbeit ausführlicher thematisiert werden. Durch das Moment der ‚Wech- selseitigkeit‘ kommt es nach Tietze zu einer Betonung der Reziprozität prinzipiell aller Teil- nehmenden. Im Rahmen dieser reziproken Beratungsprozesse legitimiert sich auch die bereits angeführte Kollegialität der Partizipierenden im Sinne einer Non-Hierarchie. Tietze verweist in diesem Kontext darauf, dass selbst die Asymmetrie, welche jeder Beratungssituation per se inhärent ist, fluktuiert. Die Betonung der ‚Ergebnisorientierung‘ als Attribut der kollegialen Fallberatung verweist auf die bereits angeführte Zielorientierung der Methode. (vgl. ebd., 25ff.)
Neben dem Terminus ‚Kollegiale Fallberatung‘ werden in der Forschungsliteratur auch im- mer wieder verwandte, jedoch ausdrücklich nicht als synonym zu verwendende Begriffe ver- wendet, welche es abzugrenzen gilt. Dazu soll folgend auf die Unterschiede zwischen ‚Bera- tung‘4, ‚Training‘ und ‚Supervision‘ eingegangen werden. Eine extensivere Recherche der Forschungsliteratur zur Thematik der Kollegialen Fallberatung lässt dabei schnell deutlich werden, dass die Unterschiede zwischen den angeführten Bereichen - neben durchaus auftre- tenden Überschneidungen - vor allem den Modus der Auseinandersetzung mit einem spezifi- schen Gegenstandsfeld betreffen. Die Involvierten unterscheiden sich also vor allem durch die Frage des ‚Wie‘ ihrer Agitation. Dabei bedeutet ‚Beratung‘ „die zielgerichtete Suche nach einer Lösung eines bereits benannten Problems über einen kooperativen Beratungsprozess zwischen Berater und Ratsuchendem“ (Pallasch/Mutzeck/Reimers 2002, 10), während unter ‚Supervision‘ eine „zeitlich begrenzte fachliche Auseinandersetzung über die praktische Ar- beit im Sinne reflektierender Auseinandersetzung“ (ebd.) zu verstehen ist. Gemein ist beiden Verfahren die Bearbeitung einer Problemstellung im Rahmen eines Kooperationsprozesses. Dabei wird durch den Abgleich eigener Sichtweisen mit jenen der anderen Partizipierenden die persönliche Reflexionskompetenz und Fähigkeit zur Selbstexploration der Beteiligten, wie auch die Sensibilisierung ihrer Wahrnehmung gefördert. Durch den quasi dialektischen Abgleich eigener und anderer Sichtweisen kann es so zur Konstitution alternativer Wahrnehmungsmöglichkeiten kommen. (vgl. Schlee/Mutzeck 1996, 102, 200)
Deutlich hingegen unterscheiden sich ‚Supervision‘ und ‚Beratung‘ - und hier besonders die ‚Kollegiale Fallberatung‘ - in der Art ihrer Rollendifferenzierung. Haug-Benien weist in die- sem Kontext darauf hin, dass während „der/ die Supervisor/in nicht in den Fall involviert ist […] und den Fall aus Objektivitätsgründen nicht kennen soll, ist die Kollegiale Beratung eine Form der Verbesserung der Kommunikation von Fachleuten innerhalb des Teams“ (Haug- Benien 2009, 4). Unter dem noch zu klärenden Begriff des ‚Trainings‘ lässt sich der zielge- richtete „Erwerb einer spezifischen Qualifikation, die während des Trainings durch Verhal- tenseinübung erworben wird und durch Transfer in das Arbeitsfeld eingebracht werden soll“ (Pallasch/Mutzeck/Reimers 2002, 10) fassen. Abschließend kann festgehalten werden: Bei allen Überschneidungen zwischen den Begriffen betont das ‚Training‘ den aktiven Erwerb einer Qualifikation, die ‚Supervision‘ eine fachliche Auseinandersetzung mit Hilfe eines Un- beteiligten und die ‚Beratung‘ (!)5 die zielgerichtete Suche nach einer Lösung im Rahmen eines kooperativen Beratungsprozesses.
2.2 Akteure
Bereits die Definition der Kollegialen Fallberatung schreibt der Methode ein notwendiges Maß an Systematik zu. Wie bereits skizziert, ist in diesem Kontext auch die Unterteilung der Partizipierenden zur Gewährleistung einer „soziale[n] Struktur in Form einer Rollendifferen- zierung“ (Tietze 2009, 26) notwendig. Eine solche Differenzierung bildet dabei als organisa- torische Prämisse der Beratung den Anfangspunkt. Die einschlägige Literatur verweist oft- mals - zeitweise findet sich auch eine ausgedehntere Differenzierung6, die im Rahmen dieser Arbeit aus Gründen der Übersichtlichkeit jedoch keine Rolle spielen soll - auf ein Rollen- Trias: Die Teilnehmenden untergliedern sich dabei in eine ‚Ratsuchende‘, die ‚Beratungs- gruppe‘ sowie die ‚Moderatorin‘ ( vgl. Haug-Benien 2009, 5), wobei anzumerken ist, dass die genauen Termini je nach Quelle leicht variieren können7. Hier ist es wichtig zu betonen, dass es sich bei den am Anfang einer einzelnen Beratungssitzung festgelegten Rollen nicht um endgültige Zuweisungen handelt. Vielmehr plädiert Tietze (2009) im Geiste des thematisierten Prinzips der Kollegialität, welches der Methode inhärent ist, für eine Rotation der Rollen am Anfang jeder einzelnen Beratungssitzung. (vgl. Tietze 2009, 91) Diese Rotation impliziert dabei auch die theoretische Möglichkeit, dass sich Teilnehmer trotz potentiell unterschiedlicher Kompetenzen und Hierarchien außerhalb des Beratungsprozesses im Rahmen der Beratung als gleichwertig gegenüberstehen (vgl. Schmid/Veith/Weidner 2010, 14). Folgend soll auf die drei genannten Rollen weiter eingegangen werden, dabei können aus formalen Gründen jeweils nur grundlegende Akzente angeschnitten werden.8
Dem ‚Ratsuchenden‘ kommt die Einbringung des Falles zu, dabei „schildert [er] die für die Fallbesprechung relevanten Informationen und formuliert dazu seine Kernfrage“ (Tewes 2010, 99). Folglich gilt die ‚Ratsuchende‘ als Expertin hinsichtlich ihres eingebrachten Phä- nomens. Oberflächlich gesehen könnte man meinen, diese habe nach dem Einbringen ihrer Schlüsselfrage und der Bereitstellung von Hintergrundinformationen zum Input ihre Hauptan- forderung erfüllt. Dem ist entschieden nicht so. Was zunächst als Paradoxon anmutet, kristal- lisiert sich - wie im Verlauf dieser Arbeit noch deutlich werden soll - als elementares Charak- teristikum des Beratungsprozesses heraus: „Die Ratsuchenden gelten nicht nur als Experten für ihr Problem, sondern auch als die Experten für dessen L ö sung.“ (Schlee 2008, 37) Bis dahin allerdings durchlaufen sie einen Prozess, in welchem sie zunächst angeregt werden, „ihre theoretischen Sichtweisen zu explizieren und dann - befreit vom unmittelbaren Hand- lungsdruck - durch die Konfrontation mit anderen Denkmöglichkeiten […] eine Überprü- fungsmöglichkeit“ (Pallasch/Mutzeck/Reimers 2002, 194) zu erhalten.
Der ‚Ratsuchenden‘ steht die ‚Beratungsgruppe‘ gegenüber. Mit der ihnen zugewiesenen An- forderung des Beratens kommt ihnen nicht nur eine in hohem Maße verantwortungsvolle9, sondern auch sehr komplexe Aufgabe zu. Die ihnen im Rahmen der Beratung zunächst zuge- schriebene Passivität darf dabei nicht mit Teilnahmslosigkeit verwechselt werden, sondern ist Ausdruck eines methodischen Charakteristikums: „Sie konzentrieren sich zunächst auf die Falldarstellung, ohne diese zu unterbrechen oder zu kommentieren.“ (Franz/Kopp 2003, 288) Erst im Anschluss an diese rezipierende Phase treten die Beraterinnen in Aktion, je nach Pha- se - und dies soll im folgenden Kapitel anklingen - entwickeln sie Hypothesen oder bringen Lösungsvorschläge ein. Dies dient dem Zweck, im Hinblick auf die erhoffte Erkenntniserweiterung der ‚Ratsuchenden‘ möglichst vielseitige Vorschläge, nicht Handlungsanleitungen zu offerieren (vgl. Tewes, 2010, 99/Haug-Benien 2009, 8.)
Den sich gegenüberstehenden Rollen von ‚Ratsuchender‘ und ‚Beratungsgruppe‘ kommt mit der ‚Moderatorin‘ im Rahmen der Methode noch ein weiteres Glied hinzu, dem die Aufgabe der Steuerung obliegt. Unter Steuerung ist dabei die Wachsamkeit über den „respektvollen Umgang miteinander und […] die Autonomie des Fallerzählers“ (Tewes 2010, 99) zu verste- hen. Tietze beschreibt die Rolle der ‚Moderatorin‘ im Hinblick auf ihre Vermittlungsfunktion: Hierbei differenziert er zwischen der Vermittlung im funktionalen (Ablaufschema - Bera- tungsprozess), sowie im sozialen Bereich (Ratsuchender - Beratungsgruppe) (vgl. Tietze 2010, 74). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die vielseitigen Anforderungen, mit denen sie im Rahmen der Methode konfrontiert wird, sowie der hohe Grad an Spezifität, den eine Mo- derationssituation im Kontext der Kollegialen Fallberatung im Unterschied zu anderen Mode- rationssituationen darstellt, ein gewisses Maß an Ausbildung seitens dieser Rolle wünschens- wert macht. Nicht zuletzt ist eine ineffiziente Beratung oftmals auf die Unerfahrenheit oder schlechte Ausbildung einer ‚Moderatorin‘ zurückzuführen. (vgl. Kopp/Vonesch 2003, 66)
2.3 Ablaufschema
Auch die Diskussion um ein Ablaufschema der Kollegialen Fallberatung geht zurück auf die Definition der Methode und hier insbesondere auf das postulierte Attribut der Systematik. So erfordert der systematische kollegiale Besprechungs- und Unterstützungszusammenhang (s.o.) eine zugrundeliegende Ordnung, ein - um es mit der Metapher Tietzes auszudrücken - ‚Drehbuch‘ für die idealtypische Inszenierung des Beratungsprozesses mit Regieanweisungen aller Partizipierenden in den einzelnen Szenen (vgl. Tietze 2010, 71f.). Das strikt eingehaltene Ablaufschema (ursprünglich die Ausdifferenzierung der „beiden konstituierenden Phasen […] Fallvorstellung und Fallbesprechung“ (ebd., 71)) sichert im Rahmen des Beratungsprozesses nicht nur die Einhaltung simpler und - in Anbetracht der Hierarchielosigkeit - als notwendig zu erachtender Kommunikationsregeln. Weiterhin ist anzumerken, dass diverse dieser Arbeit vorauslaufende Sitzungen Kollegialer Fallberatung mir als Autor wie auch meinen Mitteil- nehmerinnen gezeigt haben, dass insbesondere die oftmals zunächst als unbequem anmutende zeitliche Einhaltung der einzelnen Phasen letztlich eine positive Auswirkung (hoher Ertrag) auf die Beratungsinteraktion hat. Nicht umsonst wird auch im Rahmen der Literatur zur Kollegialen Fallberatung oftmals auf einen Zusammenhang zwischen der Einhaltung des Ablaufschemas und der Effektivität der Methode per se verwiesen (vgl. ebd. 2010, 72). Folgend soll ein typisches Ablaufschema aufgezeigt werden, wie es die Systematik der Kollegialen Fallberatung erfordert. Als grundlegende Orientierung dient in diesem Fall ein Modell nach Haug-Benien (2009), der den Beratungsprozess auf eine Gesamtzeit von 65 Minuten festsetzt und ihn dabei in acht Einzelphasen ausdifferenziert (vgl. Haug-Benien 2009). Aus formalen Gründen reicht eine knappe Thematisierung der einzelnen Phasen zugunsten eines gesamtkontextuellen Verständnisses im Rahmen dieser Arbeit aus.
Jede Beratungssitzung öffnet mit einer Verständigung auf organisatorischer Ebene. Hierbei geht es um die ‚Einleitung‘ sowie die ‚Rollenverteilung‘ [5 Minuten] unter den Teilnehmen- den. In der gängigen Literatur wird diese Phase zusammenfassend auch als ‚Vorbereitung‘ ( vgl. Schmid/Veith/Weidner 2010, 38) bezeichnet, was ihren Anspruch, alle Vorabelemente zu klären, legitimiert.
Daran schließt sich die Phase der ‚Fall-Darstellung‘ [5 Minuten] an. Diese zeichnet sich hin- sichtlich der Sprechbeteiligung von Ratsuchender und Beratungsgruppe durch eine vollstän- dige Asymmetrie aus, insofern als die Ratsuchende ihren Fall vor der Gruppe verbalisiert und schließlich ihre Kernfrage formuliert, während die Beratungsgruppe aktiv (!) zuhört und sich Notizen macht, jedoch keine Fragen hinsichtlich der eingebrachten Informationen stellt. Zum Gelingen der Phase ist es seitens des Ratsuchenden notwendig - so Kopp/Vonesch (2003) - „spontan und assoziativ [zu] reden. Keinesfalls soll er sich bewusst kontrollieren.“ (Kopp/Vonesch 2003, 77) Im Rahmen seines Modells weist Haug-Benien darauf hin, dass die Ratsuchende ihre Fallpräsentation nicht nur mittels Worten, sondern auch durch Unterstüt- zung von Medien vorbringen kann.
Die darauf folgende Phase der ‚Befragung‘ [15 Minuten] bildet den Rahmen, in welchem die Beratungsgruppe ihr Verständnis über den vorgebrachten Fall erweitern kann. Die gestellten Informations- und Verständnisfragen seitens der Fallberaterinnen fallen somit im Idealfall möglichst konkret aus und zielen auf einzelne ihnen noch unklare Elemente. Wichtig ist, dass im Rahmen dieser Phase „Interpretationen, Hypothesen und „Rezepte“ […] unterbunden“ (Haug-Benien 2009, 15) werden.
Die anschließende ‚Hypothesenbildung‘ [10 Minuten] stellt insofern den Ausgangspunkt für die Stellungnahme dar, als hier durch die Beratungsgruppe jener Input generiert wird, welcher der Ratsuchenden im Kontext der Stellungnahme zur Verfügung steht. Das Kommunikations- verhältnis der Involvierten ist dabei asymmetrisch zu jenem in der Stellungnahme. So ist es wichtig, dass die Beratungsgruppe Vermutungen äußert, die möglichst vielseitig „Querverbindungen, Anhaltspunkte, Indizien, Bilder, aber auch eigene Erinnerungen und Gefühle“ (ebd.) umfassen, die Ratsuchende hingegen sich nicht verbal einbringt, sondern ihre Konzentration darauf richtet, zuzuhören und sich Notizen zu machen.
Daran schließt sich die Phase der ‚Stellungnahme‘ [5 Minuten] an. Da diese an späterer Stelle gesondert und detaillierter thematisiert werden soll (2.4), reicht hier der Vermerk über ihre Verortung innerhalb des Ablaufschemas.
Nachdem sich die Ratsuchende zu den Hypothesen der Fallberater geäußert hat, haben diese nun Gelegenheit, ihr in einem methodisch zugesicherten Rahmen ‚Lösungsvorschläge‘ [10 Minuten] zu unterbreiten. Haug-Benien betont in diesem Kontext, dass diese Vorschläge den zusammenfassenden Charakter eines Lösungs-Statements einnehmen sollen, welches als „Zu- sammenspiel von Beziehungen, Situationen und fachlichen Faktoren“ (ebd.) anzusehen ist. Die Einbindung möglichst vieler unterschiedlicher Perspektiven in das Lösungs-Statement gewinnt besonders dadurch an Bedeutung, dass es als Gesamtziel der Phase anzusehen ist, „möglichst viele und unterschiedliche Vorgehensideen und -möglichkeiten aufzuzeigen.“ (Kopp/Vonesch 2003, 83)
Die vorletzte Phase innerhalb der kollegialen Fallberatung stellt die ‚Entscheidung‘ [10 Minu- ten] der Ratsuchenden dar. An dieser Stelle geht es jedoch nicht ausschließlich darum, dass diese mitteilt, welche der eingebrachten Lösungsvorschläge sie nachhaltig aufgreifen, welche sie verwerfen wird. Vielmehr begründet die Ratsuchende ihre Entscheidung an dieser Stelle insofern, als sie zu den einzelnen Vorschlägen normativ Stellung nimmt und diese Bewertung auch schriftlich fixiert, wobei Haug-Benien ein einfaches Zeichensystem10 vorschlägt. Die Phase schließt mit der Information an die Beratungsgruppe darüber, wie die Ratsuchende im Rahmen ihres Falles weiter verfahren wird, dabei hören die Fallberaterinnen aufmerksam zu und „reflektieren still die […] akzeptierten Hypothesen, Lösungen und Begründungen“ (Haug-Benien 2009, 16) ohne zu intervenieren.
Durch den ‚Austausch‘ [5 Minuten] zwischen Ratsuchender und Beratungsgruppe wird die Kollegiale Fallberatung abgerundet. Diese abschließende Phase dient dabei nicht nur dem Vorbringen persönlicher Anmerkungen oder Gefühle seitens der Partizipierenden. Zusätzlich sollen sich die Beteiligten auf eine Meta-Ebene begeben und das angewandte Schema bespre- chen sowie bewerten. Als Sitzungsausstieg empfiehlt Haug-Benien ein ‚Abschluss-Blitzlicht‘. (vgl. ebd., 15f.)
2.4 Eine Phase mit Folgen - die Stellungnahme
Wie die Bezeichnung der Phase bereits deutlich macht, obliegt es der Ratsuchenden an die- sem Punkt innerhalb des Ablaufschemas zu einzelnen Hypothesen Stellung zu nehmen. So kommt ihr die Aufgabe zu, sich für oder wider eine zuvor durch die Beratungsgruppe einge- brachte Hypothese zu entscheiden sowie ihre Unentschiedenheit (nicht Gleichgültigkeit!) ihr gegenüber auszudrücken. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass jeder ein- zelne Kommentar individuellen Charakters ist. Dies wird schon dadurch deutlich, dass im Rahmen des kommentierenden Wiederaufgriffs einzelner Hypothesen neben der kognitiven Bearbeitung auch Emotionen und Gefühle mitschwingen (vgl. ebd., 15). Dabei kann die Äu- ßerung der „Assoziationen, Bilder und Phantasien“ (ebd.) seitens der Ratsuchenden zu einer Erlebnisaktivierung führen, sie also qua Stellungnahme in die erlebte und möglicherweise emotional tangierende Situation zurückversetzen. Die eingebrachten Hypothesen dienen folg- lich zunächst „als hilfreiche und unterstützende Quelle für die eigene gedankliche Abwägung“ (Kopp/Vonesch 2003, 82). Somit handelt es sich bei der Stellungnahme um mehr als nur die nüchterne Kommentierung der im Voraus eingebrachten Hypothesen. Haug-Benien geht da- bei soweit, die Abläufe innerhalb der Phase als „eine echte „Be-Sinnung““ (Haug-Benien 2009, 15) zu bezeichnen.
Neben der Aktivität der Ratsuchenden ist - wenn auch in deutlich geringerem Maße - eine verbale Beteiligung seitens der Beratungsgruppe zulässig. Das Maß dieser Beteiligung diver- giert dabei in der einschlägigen Literatur: Franz/Kopp/Vonesch (2003) unterstützen eine akti- vere Beraterrinnenrolle und betonen, dass jene die Ratsuchende zwar ausdrücklich nicht von ihrer eigenen Hypothese zu überzeugen versuchen dürfen - der Ratsuchende darf nicht in eine Situation gedrängt werden, in der „er Denk- und Handlungsmuster rechtfertigen oder sich verteidigen“ (Kopp/Vonesch 2003, 82) muss -, sie allerdings „beim Formulieren und Konkre- tisieren der Schwerpunkte“ (Franz/Kopp 2003, 290) unterstützen sollen. Demgegenüber schränkt Haug-Benien die Aufgabe der Beraterrinnen insofern ein, als diese der Ratsuchenden hauptsächlich zuhören sollen. Weiterhin „korrigieren [sie] eventuell die Aufnahme ihrer Hy- pothesen“ (Haug-Benien 2009, 15) - nicht mehr als dies.
Auch mit Blick auf den weiteren Verlauf der Kollegialen Fallberatung und damit auch auf deren Ausgang kommt der Stellungnahme eine erhebliche Bedeutung zu. Franz/Kopp (2003) bezeichnen das Phasenäquivalent im Rahmen ihrer Ausführungen zum Beratungsablauf als „Fokussierung auf das Schlüsselthema“ (Franz/Kopp 2003, 290). Diese Perspektive betont nicht nur die Aufgabe der Ratsuchenden, qua Stellungnahme die einzelnen Aussagen auf der Grundlage ihres Wissensvorsprungs zu bewerten. Vielmehr „fasst [die Ratsuchende] neue Erkenntnisse zusammen und entscheidet, an welcher der Hypothesen weitergearbeitet werden soll. Mit anderen Worten, der Fallgeber definiert sein persönliches Schlüsselthema für den weiteren Prozess der KFB“ (ebd.).
Detaillierter betrachtet läuft im Rahmen der Stellungnahme ein Prozess auf mehreren Ebenen ab, in dessen Fortgang bestimmte Hypothesen quasi aus der Gesamtauswahl herausgefiltert werden: 1) Durch die Wiederaufnahme einzelner Hypothesen im Kontext der Stellungnahme werden diese zunächst ganz grundsätzlich legitimiert. 2) Aufbauend auf dieser ersten Legiti- mation wird nun eine neutrale, positive oder negative Bewertung seitens der Ratsuchenden (nur für die wieder aufgegriffenen und somit legitimierten Hypothesen) abgegeben, wobei betont werden muss, dass Zustimmungen aber auch Ablehnungen begründungspflichtig sind und dass diese Begründungen immer die eigenen Erfahrungen der Ratsuchenden widerspie- geln. Diese muss demnach auf Grundlage der unsicheren (!) Wissensbasis über den einge- brachten Fall Stellung beziehen, wozu es einer extensiven Selbstreflexion bedarf. So muss sich die Ratsuchende „mit Kernfragen des persönlichen Verhaltens bzw. mit Mustern des Vorgehens auseinandersetzen“ (Kopp/Vonesch 2003, 82). Diese Auseinandersetzung stellt sich als Vorgang dar, durch den sich - in möglichst konstruktivem Maße - ein Abwägen von Plausibilitäten hinsichtlich der eingebrachten Hypothesen vollziehen muss. Dabei wägt sie - aufbauend auf ihrem persönlichen Erfahrungswissen (!) - jede einzelne Hypothese hinsicht- lich ihrer Plausibilität ab.
2.5 Die Nutzung der Kollegialen Fallberatung im Rahmen von Praktikumssemi- naren
Das dem empirischen Teil dieser Arbeit zugrundeliegende Transkript entstammt einer Sitzung Kollegialer Fallberatung, welche im Rahmen eines Praktikumsbegleitseminars an der Univer- sität Münster unter der Leitung von Dr. Hedda Bennewitz durchgeführt worden ist. Da die Kollegiale Fallberatung in der Literatur als organisationsgebundenes Format beschrieben wird, welches sich durch direkte praktische Berufsbezogenheit konstituiert (vgl. Tietze 2009, 24f.), soll an dieser Stelle auf die Besonderheiten verwiesen werden, welche im Rahmen des Durchführungskontextes der universitären Praktikumsbegleitung zustande kommen.
Zunächst ist anzumerken, dass die Durchführung im Rahmen von Praktikumsseminaren eine partielle Modifikation hinsichtlich der bereits thematisierten Rotation in der Rollenverteilung mit sich bringt. Während Tietze deutlich für eine Rollenrotation der Teilnehmenden plädiert (vgl. ebd., 91), finden sich die Studierenden in einem Setting wieder, das zwar hinsichtlich der Verteilung zwischen Ratsuchender und Beratungsgruppe rotiert, dennoch durch die Konstante ‚fester Moderatoren‘ bedingt ist. Hierbei handelt es sich zumeist um trainierte Studierende, welche innerhalb der ELF das Zertifikat ‚Lehren.Lernen‘11 erwerben und jeweils für eine Stu- dierendengruppe verantwortlich sind. Auch wenn es sich bei allen Teilnehmenden somit um Studierende handelt, gilt es hinsichtlich des zugrundeliegenden Datenmaterials insofern sen- sibel zu sein, als aus dieser festen Moderatorenrolle eine hierarchische Beziehung innerhalb der Fallberatung entstehen kann. Dies begründet sich in der Rollenexpertise und -erfahrung, welche die Moderatoren durch ihre konstant bleibende Tätigkeit erwerben.
Ein weiterer Unterschied, den der skizzierte Durchführungskontext mit sich bringt, ist durch den ‚Ausbildungsstatus‘ der Teilnehmenden bedingt. Auch wenn sich die Studierenden im Rahmen des Seminars mit authentischen Problemstellungen befassen, muss berücksichtigt werden, dass diese lediglich ihren temporären Erfahrungen als Praktikanten an einer Schule entspringen. Damit wird das zugrundeliegende Kriterium der Berufsbezogenheit (vgl. ebd., 26), insofern partiell unterwandert, als sich die Studierenden eben noch nicht vollständig in ihrem finalen beruflichen Kontext befinden.
Aus diesem Aspekt resultiert ein weiteres Spezifikum der Durchführung im Rahmen universitärer Praktikumsbegleitseminare: Wie Franz/Kopp (2003) thematisieren, zielt die Kollegiale Fallberatung auf die „schnelle Integration von Erfahrungswissen aus der organisationalen Praxis und deren Verdichtung zu Lösungsmöglichkeiten“ (Franz/Kopp 2003, 285). Die Ausbildungssituation der Studierenden legt jedoch nahe, dass solches Erfahrungswissen lediglich in begrenztem Maße vorliegt. Resultierend können die Studierenden bei allem Engagement nur auf einen ‚sehr begrenzten Erfahrungsschatz‘ zurückgreifen.
Abschließend soll auf eine weitere Besonderheit des dem empirischen Teil zugrundeliegenden Datenmaterials verwiesen werden. Der bereits skizzierte Durchführungsrahmen - ein im Kon- text der Universitätsausbildung angebotenes Seminar - offenbart hinsichtlich dessen inhären- ten Modalitäten (Anwesenheitspflicht etc.) bereits einen ‚Zwangscharakter‘. Dies entspricht nicht der ursprünglichen Ausgangssituation Kollegialer Fallberatung, in der eine auf freiwilli- ger Basis zusammengestellte Gruppe agiert, wodurch schon grundlegend „hier eine prinzipiel- le Bereitschaft zur Hilfe bzw. zur Weitergabe von Erfahrungswissen vorausgesetzt werden“ (ebd., 286) kann. Auch wenn diese Bereitschaft von Studierenden, welche ihr Seminar aus einem gewissen Spektrum universitärer Angebotsstrukturen freiwillig wählen können, zu er- warten ist, darf sie dennoch nicht per se als unbedingte Voraussetzung betrachtet werden.
Hinzu kommt, dass die Moderatorinnen, welche gleichzeitig zumeist Zertifikatsanwärterinnen innerhalb der ELF sind, als verantwortliche Gruppenleiterinnen die thematisierten Seminarmodalitäten kontrollieren und gegebenenfalls Sanktionen aussprechen können.
3. Methodologische Aspekte
Im vorliegenden Kapitel geht es um die Explikation jener methodologischen Ansätze, die im Rahmen dieser Arbeit Verwendung finden sollen. Dabei ist der gesamte Analyseprozess auf die Untersuchung der latenten Sinnstrukturen oder - in den Worten Matthes-Nagels des „En- semble der nicht-realisierten Bedeutungen einer Interaktion“ (Matthes-Nagel 1982, 57) - der Stellungnahme ausgelegt. Einführend bietet es sich dazu an, grundlegende Kennzeichen des qualitativen Paradigmas der Sozialforschung zu skizzieren (3.1). Darauf aufbauend soll eine theoretische Einführung in die Grounded Theory erfolgen, auf die ich im Rahmen der Grob- strukturierung des Datenmaterials zurückgreifen werde (3.2). Dem schließe ich grundsätzliche Annotationen zur objektiv-hermeneutischen Interpretationstechnik an, mit der ich das Daten- material feinanalytisch untersucht habe (3.3).
3.1 Kennzeichen qualitativer Sozialforschung
Folgend soll es darum gehen, eine überblicksartige Einführung in das qualitative Paradigma empirischer Sozialforschung zu geben. Dazu bietet es sich an, grundlegende Kennzeichen qualitativen Denkens zu benennen. Die geraffte Darstellung einer so umfassenden Thematik ist insofern problematisch, als sie grundsätzlich eine subjektive Auswahl dessen darstellt, was der Verfasser unter Berücksichtigung formaler Einschränkungen als ‚am meisten wichtig‘ einstuft und was nicht. Im Folgenden handelt es sich um eine Auswahl von lediglich drei grundlegenden Kennzeichen qualitativer Sozialforschung in Anlehnung an Flick (2002). Dieser nennt die ‚Gegenstandsangemessenheit von Methoden und Theorien‘, die ‚Perspektiven der Beteiligten und ihre Vielschichtigkeit‘, sowie die ‚Reflexivität des Forschers und der Forschung‘ als wichtige Prinzipien qualitativen Denkens.
Gegenstandsangemessenheit von Methoden und Theorien
Sozialforschung hat grundsätzlich mit einer Herausforderung zu kämpfen, welche sich in der folgenden Frage expliziert: Passt der vorliegende Untersuchungsgegenstand zu den zur Ver- fügung stehenden Methoden? Wäre dies nicht der Fall, dann müsste mit großer Wahrschein- lichkeit von wenig aussagekräftigen Forschungsergebnissen ausgegangen werden. In der em- pirischen Sozialforschung haben sich in Anbetracht dieser Problematik verschiedene Heran- gehensweisen etabliert: Einerseits eine Gestaltung empirischer Methoden „nach dem Modell der Isolierung eindeutiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge“ (Flick 2002, 17), was gleich- zeitig zum Ausschluss komplexerer Untersuchungsgegenstände führt. Ein derartig einge- schränkter Fokus ist insofern oftmals unangemessen, als „die wenigsten Phänomene in der Realität mit isolierten Merkmalen ursächlich erklärt werden können“ (ebd.).
Andererseits zeigt sich vor allem in der quantitativen Sozialforschung das Bestreben, derartige „Kontextbedingungen zu berücksichtigen und komplexe Modelle empirisch und statistisch zu erfassen“ (ebd.). In diesem Zusammenhang weist Flick darauf hin, dass selbst komplexe und abstrahierende Analysen nicht mehr anzeigen können, als im zugrundeliegenden Wirklichkeitsmodell per se sowieso schon erfasst worden ist (vgl. ebd.).
Schließlich hat sich im qualitativen Forschungsparadigma eine dritte Herangehensweise her- auskristallisiert, im Rahmen derer versucht wird, die „Methoden so offen zu gestalten, dass sie der Komplexität im untersuchten Gegenstand gerecht werden“ (ebd.). Diese Offenheit kann erreicht werden, indem der Untersuchungsgegenstand quasi als konstituierende Prämis- se vor die Methoden gesetzt wird, welche sich dann an diesem orientieren. Flick spricht in diesem Zusammenhang davon, diesen zum „Bezugspunkt für die Auswahl der Methoden“ (ebd.) werden zu lassen. Eine derartige Herangehensweise birgt den Vorteil, realistische All- tagsphänomene in den Fokus der Untersuchung zu stellen und somit in der Forschung wahr- lich Neues zu entdecken (vgl. ebd., 18). Dabei erfordert die unvoreingenommene Annäherung an den Gegenstand der Untersuchung Disziplin seitens einer Forschenden: Diese sieht sich mit dem Anspruch konfrontiert, das eigene theoretische Vorwissen über den Untersuchungs- gegenstand - von dessen Existenz auszugehen ist, stellt dieses doch einen entscheidenden Faktor der Forschungsmotivation dar - regelrecht zu ‚suspendieren‘ (vgl. Flick 1995, 150). Glaser/Strauss (1967) beschreiben diese Herausforderung noch eindringlicher, indem sie die Forschende dazu auffordern „buchstäblich die Literatur zu Theorien und Sachverhalten, die den untersuchten Bereich betreffen, zu ignorieren“ (Glaser/Strauss 1967, 37).
Perspektiven der Beteiligten und ihre Vielschichtigkeit
Ein weiteres Kennzeichen der qualitativen Sozialforschung ist ihre multiperspektivische Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand. Um diesen Aspekt möglichst anschaulich zu explizieren, bietet sich die Beschreibung der quantitativen Vorgehensweise an, die sich von qualitativ-multiperspektivischem Vorgehen deutlich abgrenzt: Raithel (2008) sieht die Grundlage eines quantitativ-empirischen Vorgehens in der Beantwortung dreier Fragen: ‚Was soll erforscht werden?‘, ‚Wie soll etwas erforscht werden?‘, ‚Zu welchem Zweck soll erforscht werden?‘ (vgl. Raithel 2008, 25).
Auffällig ist, dass eine solche Herangehensweise die klare Beantwortung von zuvor fixierten Forschungszielen intendiert. Die quantitative Sozialforscherin begegnet dem Untersuchungs- gegenstand durch ihr deduktives Vorgehen folglich mit einem eingeschränkten Blickwinkel, der einen potentiellen Erkenntnisgewinn auf die Beantwortung zuvor gestellter Forschungs- fragen reduziert. Flick (2002) rekurriert in diesem Kontext auf Studien aus den 50er Jahren, welche sich mit dem Auftreten psychischer Störungen in verschiedenen Gesellschaftsschich- ten befassen (Hollinghead/Redlich 1958). Den Forschern ist es gelungen, einen Zusammen- hang zwischen Krankheitsauftreten und sozialer Schicht zu detektieren, wobei eine Vielzahl an Nebenfragen unbeantwortet geblieben ist: ‚Wie ist die subjektive Bedeutung von Schizo- phrenie für Patienten und Angehörige?‘, ‚Wie gehen Beteiligte mit der Krankheit um?‘, ‚Was hat im Laufe des Lebens zum Ausbruch der Krankheit geführt?‘, etc. (vgl. Flick 2002, 18f.) Im Gegensatz dazu ermöglicht qualitativ-empirisches Vorgehen vielschichtige (!) Blicke auf den Untersuchungsgegenstand und damit eine Beantwortung ebensolcher Nebenfragen. Flick beschreibt dies wie folgt: Qualitative Forschung „verdeutlicht die Unterschiedlichkeit der Perspektiven […] auf den Gegenstand und setzt an den subjektiven und sozialen Bedeutun- gen, die mit ihm verknüpft sind, an. Sie untersucht Wissen und Handeln der Beteiligten“ (ebd., 19). In Anbetracht der Komplexität und Weite des Untersuchungsgegenstands der vor- liegenden Arbeit wird der Vorteil einer qualitativen Herangehensweise offenbar.12
Reflexivität des Forschers und der Forschung
Auch in diesem Zusammenhang ist die bewusste Abgrenzung von quantitativ-empirischem Vorgehen verständnisfördernd: Während die Subjektivität der Forscherin im Rahmen des quantitativen Paradigmas als Störvariable deklariert und so gut wie möglich aus dem Prozess ausgeschlossen wird, ist sie im Rahmen qualitativer Sozialforschung ein eigener Bestandteil des Forschungsprozesses (vgl. ebd.). In der quantitativen Sozialforschung wendet sich der Forschende bestimmten zu ermittelnden Problemen zu, wobei deren Auswahl „zum einen [durch] das Interesse des Forschers und zum anderen [durch] seine Spezialisierung, seine Tendenz, kontinuierlich in bestimmten Gebieten zu arbeiten“ (Raithel 2008, 25) determiniert wird. Auffällig ist dabei eines: Während bei der Auswahl des Untersuchungsgegenstandes durchaus subjektive Präferenzen der Forschenden von Relevanz sind, gelten diese nicht als Bestandteil des Forschungsprozesses per se. Auch in diesem Kontext ist qualitative Sozialfor- schung - im Gegensatz zum beschriebenen Vorgehen - multiperspektivisch:
Die Subjektivität von Untersuchten und Untersuchern wird zum Bestandteil des Forschungsprozesses. Die Reflexionen des Forschers über seine Handlungen und Beobachtungen im Feld, seine Eindrücke, Irritationen, Einflüsse, Gefühle etc. werden zu Daten, die in die Interpretationen einfließen. (Flick 2002, 19)
3.2 Grounded Theory als Instrument der Kategorienbildung
Die Grounded Theory stellt ein hilfreiches Instrument bei der Konstitution von Theorie aus in der Sozialforschung gewonnenem Datenmaterial und ist in diesem Sinne als Ansatz zu be- trachten, „Forschung als kreatives Konstruieren von Theorien zu betreiben“ (Wiedemann 1995, 440). Als Apriori der Theorie steht für Glaser/Strauss (2010), welche als ihre ‚Urväter‘ bezeichnet werden können, dabei das Verständnis, dass es sowohl professionellen wie auch Laienforscherinnen möglich ist, sich systematisch gewonnenes Datenmaterial strukturiert zu- gänglich zu machen, ohne dabei deduktiv auf bereits theoretisch konzipierte Annahmen zu- rückgreifen zu müssen (vgl. Glaser/Strauss 2010, 19ff.). Vorteilhaft an der hier antizipierten, offenen sowie gegenstandsnahen Theoriebildung ist nicht zuletzt die Tatsache, dass dem Da- tenmaterial - der transkribierten Wirklichkeit - oberste Priorität eingeräumt wird. An dieser Stelle sollen die Grundbegriffe und - Strukturen der Grounded Theory skizziert werden.
In der Diskussion um den Ansatz unterscheiden Glaser/Strauss (1967) zwischen gegen- standsbezogenen und formalen Theorien13. Während sich erstere auf einen bestimmten Ge genstandsbereich beziehen14, sind letztere schon das Produkt eines charakteristischen Arbeitsschrittes innerhalb der Grounded Theory: ‚Verallgemeinerung‘15.
Die Frage nach dem Verfahren, das letztlich zu dieser Abstraktion führt, eröffnet die Perspek- tive auf einen weiteren Schlüsselbegriff der Grounded Theory, das ‚theoretische Sampling‘16. Glaser/Strauss verstehen unter diesem Terminus einen Prozess der Datensammlung mit dem Ziel der Theoriegenerierung, in dessen Kontext die Analysierende ihre Daten sowohl sam- melt, als auch kodiert sowie analysiert. Innerhalb dieses Prozesses reagiert sie quasi auf das sich entwickelnde theoretische Konstrukt und räumt dem Datenmaterial Priorität ein, indem sie ihre Entscheidung über den Charakter der fortlaufend neu einbezogenen Daten an der ei- genständigen Entwicklung der Theorie orientiert.17 Durch die skizzierte Bearbeitung des Ma- terials intendiert die Forschende im Rahmen der Grounded Theory eine Vergleichsbildung der einzelnen Daten zu etablieren, welche Glaser/Strauss als ‚komparative Analyse‘18 bezeichnen. Ein weiterer Schlüsselbegriff stellt das ‚theoretische Kodieren‘19 dar. Diesem Terminus liegen eine Reihe soziologischer Implikationen mit dem Ziel der adäquaten Theoriegenerierung zu- grunde. In diesem Zusammenhang weisen Glaser/Strauss darauf hin, dass - aufgrund der ur- sprünglichen Beschaffenheit qualitativer Daten - zwei Forscherinnen, die mittels eines Kodie- rungsansatzes dieselben Daten bearbeiten, nicht notwendig auch zu denselben Analyseergeb- nissen kommen müssen. Vielmehr beruhen die Ergebnisse auf der Feinfühligkeit der For- schenden, nicht nur hinsichtlich des Datenmaterials, sondern auch hinsichtlich der Flexibilität, das Kodierungssystem ihren Daten anzupassen. (vgl. Glaser/Strauss 1967, 103) Nur auf die- sem Weg gelingt der Forschenden die Generierung einer Theorie, die sowohl den zugrunde- liegenden qualitativen Daten gerecht wird, aber gleichzeitig auch über ein notwendiges Maß an quantifizierbarer Strukturiertheit zugunsten der Operationalisierung verfügt:
Rather, the constant comparative method is designed to aid the analyst […] in generating a theory that is integrated, consistent, plausible, close to the data - and at the same time is in the form clear enough to be readily, if only partially, operationalized for testing in quantitative re- search (ebd.).
In der unvoreingenommenen Herangehensweise der Grounded Theory zeigt sich ein entschei- dender methodischer Vorteil: Das Potential, sich dem Untersuchungsgegenstand auf ange- messene Weise flexibel zu nähern, also Kategorien zu etablieren, die „von den untersuchten Daten nahe gelegt werden und zwanglos auf sie anwendbar sein müssen“ (Glaser/Strauss 2010, 21). Innerhalb des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit soll diese Eigenschaft der Grounded Theory durch eine möglichst flexible sowie datennahe Kategorisierung berücksich- tigt werden.
3.3 Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik
Anschließend möchte ich die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik in ihren me- thodologischen Grundzügen beschreiben. Weiterhin sollen fünf griffige Prinzipien objektiv- hermeneutischer Vorgehensweise - in Anlehnung an Wernet (2006) - als Brücke zwischen theoretischer Fundierung und praktischer Anwendung der Methode Anklang finden. Bei der Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik handelt es sich um ein „Verfahren der Textinterpretation mit dem Anspruch, die Geltung der Interpretation an intersubjektive Überprüfbarkeit zu binden“ (Wernet 2006, 11). Die Ursprünge der Methode gehen auf den Soziologen Ulrich Oevermann zurück und sind dessen spezifischem Verständnis von Texten als Materialisierung der sinnstrukturierten Welt zu verdanken. So taugen diese als Gegenstand möglicher Sinnrekonstruktion, ganz gleich ob sie dabei bereits ursprünglich in niederge- schriebener Form vorliegen oder nicht (vgl. Oevermann 1986, 46 zit. nach Wernet 2006, 11f.). Sofern dies nicht der Fall ist, stellt ihre schriftliche Fixierung jedoch - wie Wagner (2001) anmerkt - ein notwendiges Apriori dar: „Die interaktiv erzeugte symbolisch struktu- rierte dritte Welt20 bedarf einer schriftlichen Fixierung, wenn sie Gegenstand der hermeneuti- schen Erfahrungswissenschaft werden soll“ (Wagner 2001, 87).
Gedanklich liegt der Interpretationstechnik zugrunde, dass sich soziales Handeln durch eine Regelgeleitetheit charakterisiert und eine Interpretation dieses Handelns (in protokollierter Form also des Transkripts) unter Rückgriff auf diese Regelgeleitetheit erfolgen muss (vgl. Wernet 2006, 13). Konkret führt Oevermann (1979) in diesem Zusammenhang drei übergrei- fende und nicht hintergehbare Regelkomplexe an: 1) Universelle sowie einzelsprachspezifi sche Regeln sprachlicher Kompetenz, 2) Regeln kommunikativer und illokutiver21 Kompe- tenz sowie 3) universelle Regeln kognitiver sowie moralischer Kompetenz. (vgl. Oevermann 1979, 387) Diese fungieren als Grundlage der Interpretation, was in Anbetracht interpretativer Geltungssicherung von Bedeutung ist, da sich die Forschende auf sie berufen kann. (vgl. Wernet 2006, 14f.)
Es sind diese zugrundeliegenden Regelkomplexe, welche die objektiv-hermeneutische Textin- terpretation entscheidend determinieren: Wenn davon ausgegangen wird, dass ein Akteur im- mer über ein bestimmtes Handlungsrepertoire verfügt, dann wird deutlich, dass sie im Rah- men einer vorgefundenen Wirklichkeit selektiv verfährt (* Meine Nase ist ganz rot von der Sonne. Ich werde nie wieder in die Sonne gehen, * Meine Nase ist ganz rot von der Sonne. Das wird bald braun und deswegen gehe ich immer wieder in die Sonne). Diese Selektivität ist alles andere als beliebig, sondern folgt einer identitätsstiftenden Struktur, welche Oevermann als „spezifische Fallstrukturgesetzlichkeit“ (Oevermann 2001, 41) bezeichnet.
Im Rahmen der objektiv-hermeneutischen Interpretationstechnik werden diese Selektionen des Handlungssubjekts nicht statisch, sondern prozessual im Kontext einer entscheidungsof- fenen Textrealität betrachtet (vgl. Wernet 2006, 16). Oevermann (1991) beschreibt die Analy- se daher als eine Verkettung von Selektionen im Hinblick auf jeweils sinnvolle textuelle An- schlüsse (vgl. Oevermann 1991, 270). Einerseits ist in diesem Zusammenhang darauf zu ach- ten, dass die Forschende die in der Textrealität detektierten, lebensweltlichen Perspektiven der Handlungssubjekte nicht einfach übernimmt, sich also nicht einfach komplett in ein Hand- lungssubjekt ‚hineinversetzt‘. Andererseits darf sie dessen Perspektiven auch nicht gleichgül- tig gegenüberstehen. Vielmehr stellen die Selbstauffassungen des Subjekts eine (!) Bedeu- tungsschicht dar. (vgl. Wernet 2006, 18)
Im Rahmen seines Einführungswerkes ist es Wernet gelungen, eine griffige Charakterisierung praxisrelevanter Prinzipien der objektiv hermeneutischen Interpretationstechnik zu entwi- ckeln. Diese fungieren als „Brücke zwischen Methodologie und Methode“ (ebd., 21) und er- leichtern die praktische Anwendung der theoretisch doch sehr komplexen methodologischen Grundlegung Oevermanns, weshalb sie im Rahmen dieser praktischen Arbeit kurz Erwähnung finden sollen: Unter ‚Kontextfreiheit‘ fasst Wernet einen Interpretationsduktus, bei dem zu- nächst die kontextfreie Bedeutungsexplikation einer zu interpretierenden Textrealität vollzo- gen wird. Dem ist die Kontextualisierung dieser Textrealität systematisch nachgeordnet. Auf praktischer Ebene äußert sich dies durch die Konstruktion imaginärer Satzfortschreibungen (künstlicher Kontexte), welche erst im Nachhinein auf Dissonanzen mit der Satzrealität abgeglichen werden. Wagner (2001) sieht die Aufgabe des Forschenden dabei darin, „sich in verschiedene Richtungen vorzutasten, wobei gerade das, was das Alltagssubjekt in seinem Verstehensprozeß (sic) ausblendet, das heißt das Unwahrscheinliche, Außergewöhnliche und Abenteuerliche, für ihn von besonderem Interesse ist“ (Wagner 2001, 100). Durch die hierzu erforderliche, künstliche Naivität der Forschenden soll die zu interpretierende Textrealität per se adäquat gewürdigt werden (vgl. Wernet 2006, 21f.).
Das Prinzip der ‚Wörtlichkeit‘ impliziert, „dass die Bedeutungsrekonstruktion den tatsächlich artikulierten Text in seiner protokolliert vorliegenden Gestalt nicht ignorieren darf“ (ebd., 23), und zwar auch dann nicht, wenn das Datenmaterial fehlerhaft anmutet. Eine penible Konzent- ration auf die Textrealität geht dabei nicht mit einer Missachtung der Textintention - also die Auslegung darüber, wie die unlogisch anmutende Textrealität wohl gemeint sein könnte - einher. Vielmehr sind beide Dimensionen relevant, wodurch eine rein intentional-deskriptive Interpretation überwunden und die latenten Sinnstrukturen aufgedeckt werden können. (vgl.ebd., 25ff.)
Mit dem Terminus der ‚Sequenzialität‘ beschreibt Wernet ein Prinzip, durch das die For- schende dazu angehalten wird, sich im Rahmen der Interpretation an den exakt protokollierten Textablauf zu halten. Die zugrundeliegende Intention ist eine Würdigung der Textrealität per se, und zwar in ihrer eigenständigen Sequenziertheit. Dieses Prinzip ist insofern grundlegend, als eine weniger strikte Beachtung des protokollierten Textablaufs zu einer Interpretations- weise führen könnte, in der ein Text hinsichtlich sich anbietender Stellen ‚ausgeschlachtet‘, statt präzise rekonstruiert würde. Als Tipp für die Umsetzung dieses Prinzips verweist Wernet auf einen simplen wie wirkungsvollen Trick: Den Folgetext schlichtweg abdecken. (vgl. ebd., 27ff.)
Ein weiteres Prinzip ist jenes der ‚Extensivität‘. Betont wird an dieser Stelle der Anspruch, lieber geringe Datenmengen geduldig und sinnlogisch erschöpfend (hinsichtlich imaginärer Satzfortschreibungen) zu interpretieren, als quantitativ große Mengen auf einem oberflächli- chen Niveau zu betrachten. Legitimiert wird diese Vorgehensweise durch die methodologi- sche Grundannahme, dass eine Interpretation, die sich auf unvermittelte und zusammenhangs- lose Einzelheiten konzentriert (quantitative Dimension) zugunsten einer vollständigen22, ex- tensiv geführten Untersuchung bestimmter Ausschnitte, aus denen sich ein Allgemeines re- konstruieren lässt (qualitative Dimension), missachtet werden kann. (vgl. ebd., 32ff.)
Oevermann (2000) begründet die Relevanz der Vollständigkeit der zu interpretierenden Ausschnitte insofern, als „erst die Lückenlosigkeit […] vom bloß in gewisser Beliebigkeit sammelnden Klassifizieren zum zwingenden Erschließen“ (Oevermann 2000, 101) eines konkreten Sinngebildes führt.
Schließlich ist ein letztes Prinzip zu thematisieren, jenes der ‚Sparsamkeit‘. In diesem Zusammenhang intendiert Wernet, der sinnlogisch ausgedehnten Interpretation „umfangslogisch Grenzen zu setzen und Extensivität nicht mit einer ziel- und endlosen Bedeutungssuche zu verwechseln“ (Wernet 2006, 35). Hinsichtlich imaginärer Fortschreibungen verpflichtet sich die Forschende im Rahmen dieses Prinzips folglich dazu, nicht in eine Sphäre unsinniger und unvernünftiger Unterstellungen abzudriften (vgl. ebd., 35ff.).
4. Empirische Analyse
Zum besseren Verständnis der empirischen Analyse ist zunächst der Blick auf das zugrunde- liegende Datenmaterial unabdingbar. Aus diesem Grund stelle ich eine Abschrift der Stel- lungnahme aus dem Transkript an den Anfang meiner Analyse (4.1). Dem schließe ich einen ersten Analyseschritt an: So stellt Kapitel 4.2 den Versuch einer Annäherung an das Datenma- terial qua Grounded Theory dar. In diesem Kontext intendiere ich, Einblicke in die grundle- genden Strukturen der Phase 5 dieser Kollegialen Fallberatung zu gewinnen. Im Anschluss daran steige ich in die Feinanalyse ein und versuche, das grobstrukturierte Datenmaterial mit- tels der objektiv-hermeneutischen Interpretationstechnik genauer zu analysieren. Dabei wird es mein Ziel sein, Einblicke in inhärente Strukturen der Stellungnahme zu gewinnen. Da „qualitative Forschung eine Grundhaltung darstellt, die „immer streng am Gegenstand orien- tiert ist“ (Mayring 2002, 8), ist die gesamte Analyse als Prozess zu verstehen, der sich gegen- standsnah entwickelt. In diesem Kontext stellt die Feinanalyse einen Schritt dar, der direkt auf den Ergebnissen der Grobstrukturierung (4.2) aufbaut. Um an dieser Stelle aber nicht die Er- gebnisse von Kapitel 4.2 in ihrer Komplexität vorwegnehmen zu müssen und die Analyse in ihrem schrittweisen Aufbau nachvollziehbar zu gestalten, möchte ich über die genauen Moda- litäten dieser feinanalytischen Untersuchungen (4.3/4.4) erst an späterer Stelle Auskunft ge- ben.
4.1 Auszug aus dem Originaltranskript
409 MO: Gut. (--) Dann, (-) nimm mal Stellung dazu.
410 FV: /eh/ Ja also, dass er /eh/ keine Lust hatte, oder die Hausaufgaben halt 411 nicht mit nach Hause nehmen wollte, weil er vielleicht, (-) halt das 412 Wochenende über schon irgendwas anderes geplant hatte, kann 413 natürlich sein. (-) /eh/ (--) Also das kann auch ganz gut sein. (---) Dem 414 stimme ich auf jeden Fall zu und (--). Dass er vorher vielleicht schon 415 schlechte Praktikumserfahrungen gesammelt hat könnte auch ein Punkt 416 sein, warum er so reagiert, also, dass er mit anderen Praktikanten 417 irgendwie schon (-) schlechte Erfahrungen gemacht hat. Obwohl ich (-), 418 ja doch, an der Grundschule hätts ja auch sein können, dass er vielleicht 419 da irgendwie was (-) gesammelt hat. /eh/ (---) Dann hab ich noch 420 aufgeschrieben, dass er die Hausaufgaben /eh/ halt bei dem (-) anderen 421 Lehrer halt auch immer verweigert. Das weiß ich nicht genau. (-) Das 422 kann ich nicht sagen. (--) Dass im Allgemeinen für ihn vielleicht ein 423 schlechter Tag war und dass er deshalb frustriert reagiert und sagt: Ich 424 kann das sowieso nicht. Das könnte auch ein Grund dafür sein. (--) Und 425 auch, dass er irgendwie ein schlechtes Frauenerlebnis hatte, klar kann 426 das vorkommen, also, dass er dann auch da so sitzt und frustriert ist und. 427 /eh/ Aber was halt merkwürdig ist, ist halt, dass er vorher halt die eine 428 Aufgabe relativ positiv mitgemacht hat oder zumindest da nicht weiter 429 aufgefallen ist. (-) /eh/ Deswegen ist das mit dem Frauenerlebnis 430 vielleicht doch nicht so (--) so ausschlaggebend. Dass er die 431 Aufgabenstellung nicht mitbekommen hat, das (-) könnte natürlich sein. 432 Also da weiß ich nicht hundertprozentig, ob wirklich alle das /eh/ auch 433 verstanden haben oder auch mitbekommen haben und dass er vielleicht 434 deswegen frustriert war und auch sich nicht getraut hat nachzufragen, 435 weil er mich vielleicht auch nicht kannte oder (-) weil ich jetzt halt immer 436 nur hinten drin saß, aber er vielleicht auch nicht wirklich so den Bezug zu 437 mir hatte aufgebaut hat. Das kann natürlich auch sein. (-) Dass er sich 438 schon mental aufs Wochenende vorbereitet hat, das (-) ja, also das weiß 439 ich nicht, aber da, also ich geh schon von aus, wenn man da in der 440 fünften Stunde sitzt und man weiß, dass man danach frei hat, war ja bei 441 uns nicht anders, dann hat man ja schon irgendwie gedacht: Was mach 442 ich denn dann gleich, wenn ich nach Hause komm. (--) /eh/ (-) Ob er 443 allgemein hinter(-) hinkt oder hängt bei der Klasse, das (-) kann ich nicht 444 beurteilen. Dafür war mein Praktikum auch einfach zu kurz. (-) /eh/ (--) 445 Dass er, dass es für ihn unangenehm war, dass er aufgefallen ist, weil er 446 eher vielleicht ein schüchterner Schüler ist, das, also das wär ein ganz 447 guter Grund, also das kann ich mir sehr gut vorstellen, dass ich ihn 448 vielleicht wirklich überrascht habe und dass ihm das /eh/ einfach wirklich 449 sehr unangenehm war, dass er jetzt noch nichts da stehen hatte und 450 dass er deshalb so reagiert hat, einfach zum Eigenschutz. Also, dass er 451 nicht zugeben wollte, dass er es vielleicht nicht verstanden hat und dass 452 er vielleicht einfach aus dem Grund auch /eh/ so trotzig reagiert hat, weil 453 er vielleicht Angst hatte wegzurennen, dass er das jetzt nicht ganz 454 verstanden hat oder nicht weiß wies geht. (-) Und da er vielleicht bei 455 seinem Nachbarn auch gesehn hat, dass der das eigentlich ganz fix 456 gemacht hat, dass ihm das vielleicht dadurch noch unangenehmer war, 457 dass er jetzt das nicht richtig nachvollziehen konnte, was er machen soll. 458 (--) /eh/ (--) Dass er insgesamt, allgemein halt mit Geographie auf 459 Kriegsfuß steht, /eh/ (-) das weiß ich nicht so richtig, kann aber natürlich 460 auch ein Grund sein, warum er die Aufgabe nicht wirklich lösen konnte 461 oder warum das für ihn vielleicht zu schwer war oder /eh/ unverständlich.
462 (-) Ich denke alle anderen Schüler in der Klasse haben die Aufgabe ja 463 schon verstanden. Ich glaube nicht dass es daran lag, dass ich mich 464 wirklich unverständlich ausgedrückt hab. Vielleicht eher, dass er nicht 465 wirklich zugehört hat. (--) /eh/ (--) Dass es das gleiche Thema war, wie 466 vorher, also halt durch dieses Puzzle, dass es damit halt weiter ging /eh/ 467 halt'n Blankopapier gab zum, jetzt wieder zu Deutschland, und wieder zu 468 den einzelnen Bundesländern, dass er dadurch vielleicht unterfordert 469 war, /eh/ (--) glaub ich nicht, also (--) glaub ich einfach (--) Also ich glaube 470 eher, dass es ihn vielleicht nicht wirklich interessiert hat, das kann sein, 471 aber dass, ich glaube nicht, dass es ihm jetzt irgendwie zu einfach 472 vorkam, denn als ich ihn drauf angesprochen hab war halt die Reaktion 473 eher nicht so: Das ist mir alles zu doof, weil, weil es zu leicht ist, sondern 474 es war eher son: Ich weiß aber nicht wie das geht und das mit den 475 Flüssen das kann ich nicht und die Städte eintragen kann ich auch nicht. 476 Also dass eher ne Reaktion auf /eh/ Angst haben entdeckt zu werden, 477 dass man etwas nicht verstanden hat, als unterfordert zu sein. (---) Dass 478 er vielleicht den Praktikanten nicht ernst nimmt, weil /eh/ (-) weil man nun 479 halt Praktikant ist und nicht Lehrer, könnte auch mitspielen in der ganzen 480 Reaktion, also dass er auch sich auf jeden Fall vielleicht das eher getraut 481 hat so zu reagieren, als sich bei dem Lehrer, bei seinem Lehrer getraut 482 hätte so zu reagieren. Da hätte er vielleicht auch gesagt, dass er, 483 vielleicht hätte er da auch zugegeben, dass ers nicht verstanden hat. Das 484 kann sein. /eh/ (--) Und dass er, gerade wie du sagst, vielleicht von dem 485 Praktikanten mehr Spiel und Spaß erwartet, als wirkliches Arbeiten /eh/ 486 weil ja vorher auch eine Spielübung dran war mit dem Puzzeln. Kann 487 auch sein, dass er dann dachte: Warum muss ich denn jetzt auch noch 488 arbeiten und wirklich was raussuchen und vorher war doch alles so lustig.
[...]
1 Aus formalen Gründen beschränke ich mich im Rahmen dieser Arbeit darauf, hinsichtlich des Genus von geschlechtsspezifischen Substantiven im Singular lediglich die weibliche Form zu verwenden, sofern dies im Rahmen von Zitaten nicht mit den Regeln der deutschen Sprache konfligiert.
2 Eine Übersicht über die Werke der Arbeitsgemeinschaft Kollegiale Fallberatung findet sich auf der Homepage der Erziehungswissenschaftlichen Lehr- und Forschungswerkstatt ELF) an der Universität Münster. < http://egora.uni-muenster.de/ew/elf/lernen.shtml>
3 Zu Grunde liegt das Transkript einer Sitzung Kollegialer Fallberatung, die im Rahmen eines praktikumsbegleitenden Seminars unter der Leitung von Frau Dr. Hedda Bennewitz im Wintersemester 2009/2010 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattgefunden hat (vgl. 9.4).
4 Man beachte, dass Pallasch/Mutzeck/Reimers nicht von ‚kollegialer Fallberatung‘ direkt, sondern von ‚Beratung‘ im übergeordneten Sinne sprechen.
5 Künftig möchte ich dieses Symbol nutzen, um Textstellen zu kennzeichnen, auf die ich besondere Betonung lege.
6 Kopp/Vonesch beispielsweise etablieren neben den hier benannten Rollen noch einen ‚Schreiber‘ sowie einen ‚Prozessbeobachter‘ (vgl. Kopp/Vonesch 2003).
7 Tewes spricht von ‚Fallerzähler‘, ‚Berater‘ und ‚Moderator‘ (vgl. Tewes 2010); Franz/Kopp benutzen die Termini ‚Fallgeber‘, ‚Berater‘ und ‚Moderator‘ (vgl. Franz/Kopp 2003).
8 Eine differenzierte Diskussion der Rollen in der Kollegialen Fallberatung findet sich bei Kopp/Vonesch 2003.
9 Franz/Kopp bezeichnen die Beraterin als „zentrale Einheit in der KFB“ (Franz/Kopp 2003, 288).
10 So empfiehlt Haug-Benien, konstruktive Lösungsvorschläge mit einem einfachen „+“, nicht zielführende mit einem „-„ und noch weiter zu überdenkende mit einem „?“ zu kennzeichnen. (vgl. Haug-Benien 2009, 16).
11 Ausführliche Informationen zum Zertifikat Lehren.Lernen finden sich auf der Internetpräsenz der ELF (http://egora.uni-muenster.de/ew/elf/zertifikat.shtml).
12 Die Thematisierung dessen, was im Rahmen der anschließenden Analyse über den Untersuchungsgegenstand herausgefunden werden könnte, wird an dieser Stelle bewusst unterlassen. So würde einer dementsprechenden Vorgehensweise bereits ein (zu vermeidender) eingeschränkter Blickwinkel zugrundeliegen.
13 substantive vs. formal theories (vgl. Glaser/Strauss 1967, 79)
14 Glaser/Strauss haben viele praktische Forschungen betrieben, die wohl prominenteste Studie dieser Art behandelt die Betreuung von Sterbenden (vgl. Glaser/Strauss 1995).
15 „high level abstractions“, „broader generalities“ (vgl. Glaser/Strauss 1967, 92)
16 Theoretical sampling (Glaser/Strauss 1967, 45)
17 „Theoretical Sampling is the process of data collection for generating theory whereby the analyst jointly col- lects, codes and analyzes his data and decides what data to collect next and where to find them, in order to de- velop his theory as it emerges. This process of data collection is controlled by the emerging theory“ (Glas- er/Strauss 1967, 45).
18 Glaser und Strauss sprechen von der Constant Comparative Method of Qualitative Analysis (vgl. Glaser/Strauss 1967, 101).
19 Constant Comparative Method of Joint Coding and Analysis (Glaser/Strauss 1967, 102).
20 Ursprünglich geht dieser Begriff auf Popper zurück, welcher darunter „die Welt der möglichen Gegenstände des Denkens: die Welt der Theorien an sich und ihrer logischen Beziehungen; die Welt der Argumente an sich, die Welt der Problemsituationen an sich“ (Popper 1973, 174) versteht.
21 Ein illokutiver Sprechakt ist ein Akt, der im Hinblick auf dessen kommunikative Funktion vollzogen wird (vgl. Drosdowski/Müller/Scholze-Stubenrecht et. al. 1996, 365).
22 Der Terminus der Vollständigkeit ist dabei literal zu verstehen, so weist auch Wagner darauf hin, dass „nicht ein Element, und scheine es noch so belanglos, vernachlässigt werden darf“ (Wagner 2001, 107).
- Citation du texte
- M.Ed. Mark Valentin (Auteur), 2011, Die Phase der Stellungnahme in der Kollegialen Fallberatung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/182651
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