Die Dependenztheorie galt von den späten 1960er bis zu den frühen 1980er Jahren als ein bestimmendes Paradigma auf dem Gebiet der Nord-Süd-Beziehungen. Sowohl die theoretischen Fundierungen des Dependencia-Konzepts als auch die zahlreichen Versuche seiner empirisch-praktischen Verifikation gingen dabei weit über den klassischen Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften hinaus: Neben Politologen, Soziologen und Historikern befassten sich auch Ethnologen und Kulturwissenschaftler sowie - nicht zuletzt - eine Vielzahl von Entwicklungsökonomen mit den Prämissen und Implikationen der sich etablierenden Großtheorie, die im akademischen Diskurs über die Ursachen von Entwicklung bzw. Unterentwicklung bald in direkte Konkurrenz zu der bis dato tonangebenden Modernisierungstheorie1 treten sollte.
Im Unterschied zu solchen Mikroansätzen, die das Phänomen der Unterentwicklung weitgehend auf endogene Faktoren innerhalb des jeweils rückständigen Landes zurückzuführen suchten, postulierten die Vertreter der dependenztheoretischen Schule eine strukturell bedingte Abhängigkeit der unterentwickelten Länder von der industrialisierten "Ersten Welt", deren Ursache in der erzwungenen Einbindung der peripheren, sektoral wenig ausdifferenzierten "Dritte-Welt"-Volkswirtschaften in das kapitalistische Weltsystem und insbesondere in einen schrankenlosen Weltmarkt zu sehen sei.
Obgleich die Blütezeit der dependencia als sozialwissenschaftliche Großtheorie aus Sicht zahlreicher Autoren vergangen ist und das Freihandelsprinzip auch in Bezug auf entwicklungstheoretische und -politische Zusammenhänge nahezu unangefochten zu sein scheint, verfügt das dependenztheoretische Teilkonzept der Importsubstitution in einigen Wirtschaftsregionen der Welt nach wie vor über eine hohe Aktualität. Die vorliegende Arbeit geht daher der Frage nach, zu welchen unterschiedlichen Bewertungen der Importsubstitution die Dependenz- und die neoklassische Außenhandelstheorie gelangen und anhand welcher methodischen Maßstäbe diese Bewertungen erfolgen.
Zunächst werden die theoretischen Grundlagen der Importsubstitution aus Sicht der Dependenztheorie dargelegt. Hierauf folgt eine kurze Analyse der seit den 1980er Jahren maßgeblichen neoklassisch-neoliberalen Schule einschließlich ihrer Beurteilung der Importsubstitution. Abschnitt 4 liefert eine empirische Einzelfallstudie zur praktischen Anwendung des Konzepts der weltmarktlichen Dissoziation. Abschnitt 5 fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen.
Inhalt
1 Einleitung
2 Zu den Grundzügen der Dependenztheorie: handelspolitische Autarkie als notwendige Bedingung für eigenes Binnenwachstum
2.1 Der dependenztheoretische Kernbefund: strukturelle Abhängigkeit der Entwicklungsländer
2.2 Der Erziehungszoll-Gedanke als zentrales Strategieelement der Dependenztheorie
2.3 Wirkungen der Protektion: von der Importsubstitution zur Exportdiversifikation?
3 Die neoliberale Perspektive: Handelsbeschränkungen als Hemmnisse von Entwicklungsprozessen
3.1 Die Position der neoklassischen Außenhandelstheorie
3.2 Neue Ansätze: der handelsregulative Policy Mix und die „strategische Handelspolitik“
4 Weltmarktliche Dissoziation aus Sicht der Empirie: das Beispiel Taiwan
5 Fazit: Für und wider das Rigorosum der Teilzeit-Abkoppelung
6 Literatur- und Quellenverzeichnis
Abkürzungen
Anhang: Zur Funktionsweise eines Importzolls (partialanalytische Betrachtung; importierendes Entwicklungsland)
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