Aufstrebende Schwellenländer – die erste Gruppe, die normalerweise genannt wird, ist die Gruppe der BRIC, d. h. Brasilien, Russland, Indien und China. Oftmals geht wirtschaftliches Wachstum jedoch mit zunehmender oder zumindest nicht wesentlich abnehmender ungleicher Einkommensverteilung einher. Simon Kuznets (1995) formulierte einen Zusammenhang zwischen Wachstum und Einkommensniveau auf der einen Seite und Armut und Ungleichheit auf der anderen Seite.1 Im Falle Brasiliens stellt Herr Christoph Blepp folgende Forschungsfragen auf (Kapitel 1, S. 3, Absatz 2): (1) Wie groß sind die sozialen und wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den Regionen Brasiliens. (2) Welchen Einfluss haben das Humankapital und Investitionen auf den Wohlstand, regional und national?
(3) Inwiefern beeinflusst Good Governance den nationalen Wohlstand Brasiliens?
In Kapitel 2 (S. 4ff) fasst Herr Blepp die Literatur und den Forschungsstand im Bereich der ökonomischen Entwicklungstheorie kompetent zusammen. Er wird inspiriert durch einen der „Großen“ im Feld, Michael Todaro.2 Da die neueren Entwicklungsstrategien, insbesondere auch die sogenannten Millenniumentwicklungsdeklaration der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000, ebenfalls thematisch in die Fragestellungen einfließen, diskutiert er auch die im Jahr 2010 erneut entflammte Debatte um den „rechten Weg“, nämlich was braucht es zuerst um Entwicklung voran zu treiben, den Big Push durch Entwicklungshilfe oder die Good Governance, damit die Entwicklungshilfe auch Früchte trägt (S. 24ff).
Das methodische Vorgehen erklärt Herr Blepp in Kapitel 3 (S. 28ff). Dabei wird deutlich, dass er einerseits Brasilien regional und andererseits national betrachtet. Da der Autor regionale sozio-ökonomische Disparitäten untersuchen möchte ist dies nur folgerichtig, weiterhin will er der Frage nachgehen, ob Good Governance sich positiv auf die Entwick-lung auswirkt. Da diese Daten für Brasilien nur auf nationaler Ebene vorliegen, muss er sich bei dieser Frage gezwungenermaßen auf nationaler Ebene bewegen. Hinsichtlich Ka-pitel 3 ist lobend hervorzuheben, dass er sämtliche Indikatoren, die er in Kapitel 5 für die empirische Analyse verwendet, theoretisch einführt. Es wird auch offensichtlich, dass die Erstellung der Datenbank, die die Zeitpunkte 1999, 2003 und 2008 umfasst, eine Fleiß-aufgabe war und nur möglich war, da Herr Blepp über eine ausgeprägte Länderkenntnis verfügt.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Problemstellung
1.2. Zielsetzung und Hypothese
2. Literatur und Forschungsstand
2.1. Der Begriff „Entwicklung“
2.2. Entwicklungspolitik
2.3. Entwicklungstheorien
2.4. Entwicklungsstrategien
3. Methodische Vorgehensweise
3.1. Verwendete Konzepte
3.2. Verwendete Datensätze und betrachtete Zeiträume
4. Brasilien - Ein Überblick
4.1. Geschichte
4.2. Politisches System
4.3. Regionale Differenzierung
4.3.1. Der Norden
4.3.2. Der Nordosten
4.3.3. Der Mittelwesten
4.3.4. Der Südosten
4.3.5. Der Süden
5. Ergebnisse
5.1. Regionale Disparitäten
5.1.1. Alphabetisierungsgrad
5.1.2. Private Haushalte mit Anschluss an die Kanalisation
5.1.3. Armutsanteil
5.2. Regionaler Wohlstand
5.3. Nationaler Wohlstand
6. Schlussfolgerungen
6.1. Politikempfehlungen
6.2. Ausblick
7. Literaturliste
8. Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Regionen und Bundesstaaten Brasiliens
Abbildung 2 BIP pro Kopf in R$
Abbildung 3 Analphabetenrate in %
Abbildung 4 Haushalte mit Anschluss an die Kanalisation in %
Abbildung 5 Bevölkerungsanteil in absoluter Armut in %
Abbildung 6 Investitionen Nordosten
Abbildung 7 Humankapital Nordosten
Abbildung 8 Wohlstand Nordosten
Abbildung 9 Gini-Koeffizient Nordosten
Abbildung 10 Investitionen Südosten
Abbildung 11 Humankapital Südosten
Abbildung 12 Wohlstand Südosten
Abbildung 13 Gini-Koeffizient Südosten
Abbildung 14 Investitionen national
Abbildung 15 Humankapital national
Abbildung 16 Wohlstand national
Abbildung 17 Gini-Koeffizient national
Abbildung 18 Good Governance
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Die mediale Berichterstattung über Brasilien scheint sich gewandelt zu ha- ben. Wurden in der öffentlichen Wahrnehmung eher Korruptionsfälle, soziale Konflikte und Tourismus thematisiert, liest man heute positive Wirtschafts- meldungen über das Land um den Zuckerhut. Investoren wird geraten, in brasilianische Firmen zu investieren und Erfolgsnachrichten über wirtschaftli- ches Wachstum scheinen sich zu überschlagen.1 Dabei gleichen die Nach- richten und Studien über das ewige Schwellenland, wie es von den Brasilia- nern so gern genannt wird, mittlerweile fast den Meldungen über das Wachs- tum Chinas. Das ewige Warten auf Wachstum und Entwicklung scheint vor- bei zu sein, Brasilien gilt als der große Aspirant des BRIC.2
Gewaltige Rohstoffvorkommen, industrielle Agglomeration, eine stabile De- mokratie und das größte landwirtschaftliche Potential der Welt3 scheinen die- se Ambitionen eindrucksvoll zu untermauern. Nationale Unternehmen wie Embraer (Flugzeugbau), Vale (Bergbau) oder Petrobras (Ölförderung) sind auf dem Weltmarkt angekommen und können sowohl steigende For- schungsausgaben als auch steigende Wachstumsraten vorweisen; internati- onale Großkonzerne wie Volkswagen, General Motors oder Nestl é sind seit Jahrzehnten fest in Brasilien etabliert und erfreuen sich des wachsenden Absatzmarktes.4 Darüber hinaus verzeichnet das Land seit 1999 um den Zu- ckerhut ein jährliches Wirtschaftswachstum von durchschnittlich über 5 %.5 Auch die Bevölkerung scheint am neuen Erfolg Brasiliens kräftig beteiligt zu werden: Man bemerkt die Zunahme der staatlichen Investitionen in Straßen- bau, medizinischer Einrichtungen und sanitärer Anlagen, wenn man heutzu- tage Brasilien bereist und den Entwicklungsstand des Landes mit vor zehn Jahren vergleicht. Überall findet man Baustellen vor, das Straßennetz ist in einem besseren Zustand, wird stetig erweitert und die Sicherheit der Bürger hat ebenfalls zugenommen. Des weiteren gibt nur noch wenige Kinder, die an den Ampeln stark frequentierter Kreuzungen die wartenden Autos abstrei- fen, um etwas Kleingeld zu erbetteln. Augenscheinlich wurden die Armut re- duziert, mehr Kinder eingeschult und mehr Wohlstand erreicht.
Viele Brasilianer verbinden diese Erfolge mit der Regierung des ehemaligen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva (genannt Lula), der 2010 nach zwei Amtszeiten von seiner Parteifreundin Dilma Rousseff beerbt wurde. Viele seiner Anhänger sehen in Lulas Zeit als Präsident die Wurzel des Aufschwungs und des Wohlstands in Brasilien sowie die Grundsteinlegung weg von einem korrupten, ineffizienten politischen System zu einem modernen demokratischen Staat mit effizientem Verwaltungsapparat.6
Bei allem Lob über die entstehende Führungsmacht in Lateinamerika lohnt dennoch ein kritischerer Blick auf das Land. Mit einer Fläche von 8.514.215 km2 ist Brasilien fast doppelt so groß wie die Fläche der Europäischen Union.7 Diese geographische Größe lässt erahnen, dass Brasilien von deutli- chen Unterschieden zwischen den Regionen des Landes geprägt sein muss. Klimatische und geographische Gegebenheiten, die sich auf die Bevölke- rungsdichte und Siedlungsstruktur auswirken, sind nicht von der Hand zu weisen. Darüber hinaus wirken sich diese Disparitäten auch auf die Bevölke- rung aus, die unter den unterschiedlichsten Bedingungen in den einzelnen Regionen Brasiliens lebt.
1.1. Problemstellung
Augenscheinlich ist Brasilien geprägt von regionalen Disparitäten zwischen den fünf Hauptregionen des Landes trotz erheblichen wirtschaftlichen Wachstums und staatlicher Verteilungsprogramme. Aufgrund dessen stellt sich die Frage, ob gleichzeitig zum Wirtschaftswachstum eine Steigerung des Wohlstands einher geht. Weiterhin ist unklar, inwiefern Bildung, staatliche Förderung und Wohlstand in den verschiedenen Regionen ausgeprägt ist und welche Rolle die Effizienz der Regierungsführung auf nationaler Ebene dabei spielt.
1.2. Zielsetzung und Hypothese
Die Fragen, die diese Arbeit anleiten, sind: Wie groß sind die sozialen und wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den Regionen Brasiliens? Welchen Einfluss haben Humankapital und Investitionen auf den Wohlstand der Bürger regional und national? Inwiefern beeinflusst Good Governance den Wohlstand auf nationaler Ebene?
Hier soll der Zusammenhang zwischen den regionalen Disparitäten in Wirtschaft, sozialen Faktoren und Bildung und dem Wohlstand der Bürger in Brasilien genauer untersucht werden.
Die Hypothesen, die in dieser Arbeit untersucht werden, sind:
1. Brasilien ist geprägt durch starke regionale Disparitäten in Einkommen, Bildung, Infrastruktur und Armut.
2. Durch Steigerung von Humankapitals und Investitionen wird in Brasilien höherer Wohlstand erreicht.
3. Höherer Wohlstand ist ebenfalls von steigenden Werten in Good Go- vernance abhängig.
Diese Hypothese soll im Folgenden auf ihre Gültigkeit hin untersucht werden. Dazu werden zunächst verwendete Literatur und der Forschungsstand zum Thema Entwicklung vorgestellt, um dann die Methode der Analyse zu erör- tern. Weiterhin muss im Zuge einer ganzheitlichen Betrachtung ebenfalls ein Blick auf die Geschichte und das politische System Brasiliens geworfen wer- den, um dann die Ergebnisse der Analyse vorzustellen und zu diskutieren.
Abschließend werden dann die Ergebnisse zusammengefasst und Schlussfolgerungen daraus gezogen.
2. Literatur und Forschungsstand
Im Vorfeld der Analyse muss die relevante Literatur zum Themenkomplex i- dentifiziert werden und die bereits existierenden Forschungsergebnisse zu- sammen gefasst werden. Dieses Feld ist sehr weitläufig, weshalb hier eine Auswahl der wichtigen Theorien und Strategien beschrieben und diskutiert werden soll.
Da Begriffe wie „Entwicklung“, „Entwicklungstheorie“, „Entwicklungspolitik“ und „Entwicklungstheorie“ unscharf sind, da sie unterschiedlich definiert sind und in der Literatur nicht eindeutig verwendet werden, wird für die vorliegen- de Arbeit eine Definition vorgenommen werden.8 Die Begriffe Entwicklungs- länder, Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe werden häufig unterschied- lich ausgelegt und sind Teil stark normativ geführter wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Besonders das Argument der Stigmatisie- rung der Begriffe9 spielt hierbei eine große Rolle. Dies kommt beispielsweise in der begrifflichen Entwicklungslinie rückständige - unterentwickelte - nicht entwickelte - Entwicklungsländer zum Ausdruck. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich beim Begriff der Entwicklungshilfe, der mittlerweile von vielen Autoren mit Ressourcentransfer oder Entwicklungszusammenarbeit ersetzt wird.10 Im Folgenden werden die unterschiedlichen Ansätze - unter besonderer Berück- sichtigung der in der Arbeit verwendeten Literatur und Forschung - vorgestellt und unterschieden.
2.1. Der Begriff „Entwicklung“
Der Begriff der Entwicklung birgt einen großen Teil der Entwicklungsproble- matik selbst, da er weder vorgegeben noch allgemeingültig definierbar noch wertneutral ist. Stattdessen ist er abhängig von Zeit und Raum und insbe- sondere von individuellen und kollektiven Wertvorstellungen.11 Die ge- wünschte Richtung eines gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandels auf Basis von theoretischen Annahmen zur Unterentwicklung eines Landes, einer sozialen Gruppe oder einer Region stellt ein normatives Kon- zept dar. Die Fülle der unterschiedlichen Deutungsmuster macht es kaum möglich, die verschiedenen Konnotationen auf einen Nenner zu bringen.12
Wurde der Entwicklungsbegriff in den 1950er Jahren noch sehr eindimensional mit wirtschaftlichem Wachstum gleichgesetzt, hat er mittlerweile einen Bedeutungswandel erfahren und offiziell in der „UN Declaration on the Right to Development“ 1986 folgendermaßen beschrieben wurde:
„A comprehensive economic, social, cultural and political process, which aims at the constant improvement of the well-being of the entire population and of all individuals on the basis of their active, free and meaningful participation in developmemt and in the fair distribution of benefits resulting therefrom.“13
Im ersten Human Development Report von 1990 wurde der Entwicklungsbegriff dann weiter spezifiziert:
„Human Development is the process of enlarging people‘s choices. [...] The most critical ones are to lead a long and healthy life, to be educated and to enjoy a decent standard of living. Additional choices include political freedom, guaranteed human rights and selfrespect.“14
Im Zuge eines wachsenden Umweltbewusstseins wurde der von im Brundt- land-Bericht15 geprägte Begriff der Nachhaltigkeit ebenfalls Teil des Entwick- lungsbegriffs:
„Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs. [...] This the goals of economic and social de- velopment must be defined in terms of sustainability in all countries - developed or developing, market-oriented or centrally planned.“16
Somit hat sich der Entwicklungsbegriff von der Gleichsetzung zu wirtschaftli- chem Wachstum zu einem Konzept entwickelt, das wirtschaftliche, kulturelle, soziale und politische Prozesse berücksichtigt und einschließt mit dem Ziel, die Lebensbedingungen aller Völker nachhaltig zu verbessern. Weiterhin kann Entwicklung zwischen drei Dimensionen unterschieden werden:
1. Den Zielen von Entwicklung,
2. dem Prozess, der zu diesen Zielen führen soll und
3. den Ergebnissen von Entwicklungsprozessen.17
2.2. Entwicklungspolitik
Als Entwicklungspolitik bezeichnet man die Summe aller Maßnahmen und Mittel, die von der internationalen Gemeinschaft und allen Industrie- und Entwicklungsländern eingesetzt und/oder ergriffen werden, um die wirtschaft- liche, soziale und politische Entwicklung der Entwicklungsländer zu fördern.18 Da Entwicklungspolitik vor dem Kontext zahlreicher weiterer Politikfelder, wie z.B. Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, Migrations- und Umweltpolitik oder auch Sicherheitspolitik gesehen werden muss,19 ist die Entwicklungspolitik ein ge- nuin interdependentes Politikfeld.20 Entwicklungszusammenarbeit ist die Aus- führung der Entwicklungspolitik.21
2.3. Entwicklungstheorien
Entwicklungstheorien sind das Spiegelbild zur praktischen Entwicklungspolitik mit einer erklärenden und einer handlungsorientierten Dimension:22
„Theorien, welche den Entwicklungsprozess der aus der Dekolonisa- tion hervorgegangen Staaten der Dritten Welt in seinen Vorausset- zungen, darunter den Ursachen der Unterentwicklung, und in seinen Merkmalen zu erklären versuchen sowie in starker Praxisorientierung in Form von Entwicklungsmodellen und Entwicklungsstrategien auf Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit abzielen.“23
Die entwicklungstheoretische Debatte wurde jahrzehntelang von zwei großen Theorien dominiert: in den 1950er und 1960er Jahren von den Modernisie- rungstheorien und im weiteren Verlauf der 1960er und den 1970er Jahren von den Dependenztheorien. Danach von der Strukturanpassung in den 1980er und 1990er sowie Entitlement und Armutsreduzierung in den 1990er Jahren bis hin zur Diskussion über Big Push Theorien und Good Governance nach der Jahrtausendwende.
Wachstums- und Modernisierungstheorien
Die Modernisierungstheorien gehen von einem Prozess aus, der durch en- dogene Faktoren in Gang gesetzt wird und zur Angleichung der Entwick- lungsländer an die Industrieländer führt.24 In den 1950er Jahren bestimmten zwei Faktoren die damals neue Disziplin der Entwicklungstheorie: der Kalte Krieg und die Entkolonialisierung. Diese beiden Situationen erforderten einen theoretischen Ansatz, der nicht nur Erklärungen für Ent- und Unterentwick- lungsprozesse lieferte, sondern zudem konkrete Strategien zur Erhöhung der ökonomischen Leistungsfähigkeit einzelner Staaten benannte. Die ersten Ansätze der Nachkriegszeit waren somit Wachstumstheorien, die als Teil ei- nes technokratischen Entwicklungsdenkens zu verstehen sind, „welches nicht allein auf die Marktkräfte, sondern auch auf gezielte (wirtschafts-) politi- sche Interventionen setzt. Dieses Denken basierte auf den Ideen von John Maynard Keynes (1883 - 1946), dessen Arbeiten in den dreißiger Jahren die von Adam Smith (1723 - 1790) begründete und bis dato vorherrschende klassische Nationalökonomie erschüttert hatten. [...] Der ökonomische Libe- ralismus wurde für die negativen Folgen einer Politik kritisiert, die zu einer Verschärfung der Arbeitslosigkeit, zur Ressourcenverschwendung und zu ei- ner steigenden Monopolisierung unter den Unternehmen geführt hatte. [...] Der Einfluss seiner [Keynes‘] Ideen wirkte sich nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch weltpolitisch positiv auf die Ambitionen der USA aus, die in der Nachkriegszeit und später auch in der Phase der Dekolonialisierung ihren (wirtschafts-) politischen Einfluss durch gezielte politische Planung weltweit ausbauen wollten.“25 Somit wurde in den neuen Planungsstäben und ent- wicklungspolitischen Organisationen der Wechsel vom Marktliberalismus zu technokratischen Wachstumstheorien geprägt:
Insbesondere das Harrod-Domar-Modell über Ersparnisse und Investitionen war in den 1940er und 1950er Jahren einflussreich und prägte die Moderni- sierungstheorien maßgeblich. Entwickelt von dem englischen Ökonomen Roy Harrod und dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Evsey D. Domar, ging dieses Modell davon aus, dass jede Nationalökonomie einen bestimmten Anteil des nationalen Einkommens sparen muss, um die funda- mentalen fiskalpolitischen Strukturmaßnahmen - wie z. B. Erhaltung des Straßennetzes - gewährleisten zu können. Um gleichzeitig wirtschaftliches Wachstum zu gewährleisten, sind jedoch gleichzeitig neue Investitionen not- wendig. Die dem Harrod-Domar-Modell zugrunde liegenden Fragen lauteten: In welcher Höhe muss das Einkommen wachsen, um ökonomisches Wachs- tum nicht zu verlangsamen? Ihre Ergebnisse basieren auf folgenden Grundannahmen:
- Es gibt einen perfekten Wettbewerb.
- Es gibt Vollbeschäftigung.
- Es gibt keine staatliche Regulierung.
- Es handelt sich um eine geschlossene Gesellschaft.
- Es wird nur ein Produkt erzeugt.26
Durch die vereinfachten Annahmen des Modells war es möglich, mathemati- sche Gleichungen27 über ökonomische Entwicklung aufzustellen. Harrod und Domar verfolgten das Ziel, die Bedingungen für einen Ausgleich zwischen der Sparquote und den Investition in einer Volkswirtschaft zu eruieren und kamen zu dem Schluss, dass die Wachstumsrate des Einkommens gleich dem Quotienten aus der Sparquote und der Profitrate sei. Somit kommt es im Harrod-Domar-Modell zu einem Wachsen des nationalen Einkommens, wenn die Bereitschaft zum Sparen größer ist als die Profitrate. Entwicklung kann also demnach auf Investitionsentscheidungen zugunsten von Kapitalakkumu- lation in Entwicklungsländern reduziert werden.28 Das Problem ist jedoch, dass das Harrod-Domar-Modell zum einen von vereinfachten Annahmen ausgeht und zum anderen, dass alle Variablen im gleichen Verhältnis steigen oder fallen, was äußerst unwahrscheinlich ist. So würden Unternehmen, die eine erhöhte Nachfrage erwarteten, im gleichen Maße Investitionen tätigen. Überstiege die Nachfrage dann aber diese Investitionen, würden die Unter- nehmen nochmals investieren, was zu einer Wachstumsexplosion führen würde. Das Gleiche gilt im Umkehrschluss dann auch für einen erwarteten Rückgang der Nachfrage. Dieses Problem wird das Knife-Edge-Problem ge- nannt und erst mit dem Neoklassischen Wachstumsmodell von Solow gelöst.29
Um den ökonomischen Fokus der Wachstumstheorien zu überwinden, wur- den sie in den 1960er und 1970er Jahren um nicht-ökonomische Elemente erweitert. Dabei spielen besonders Theorien über sozialen und institutionel- len Wandel eine große Rolle, da die Wachstumstheorien so in einen neuen Theorienstrang überführt werden konnten - den Modernisierungstheorien. Im Gegensatz zu den strukturalistischen Entwicklungstheorien sind die Moderni- sierungstheorien nicht klar abgrenzbar.30 Dennoch lassen sich einige Cha- rakteristika der Modernisierungstheorien benennen, die im weiteren Verlauf diskutiert werden.
Entwicklung wird im modernisierungstheoretischen Ansatz mit Modernisie- rung gleichgesetzt. Modernisierung ist dabei eine Reihe von gesellschaftli- chen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen, wie zum Beispiel tech- nologischem Wandel oder auch Veränderung des Wertesystems. Im Ver- gleich zu den Wachstumstheorien wird dem sozialen Wandel eine große Rol- le zugeschrieben. So sind Werke wie die protestantische Ethik Max Webers oder Emile Durkheims „Über die Teilung der sozialen Arbeit“ fester Bestand- teil des modernisierungstheoretischen Denkens, da sie die Einteilung in tradi- tionelle und moderne Gesellschaften vornehmen. So würde sich aus wach- sender Interdependenz zwischen traditionellen gesellschaftlichen Segmenten eine komplexere, spezialisierte Arbeitsteilung und letztendlich eine Gesell- schaft modernen Typus entwickeln, die sich durch Spezialisierung und Insti- tutionalisierung auszeichne. Der Dualismus (traditionell vs. modern) impliziert eine klare Hierarchie innerhalb der Modernisierungstheorien.31
Das Rostowsche Wachstumsmodell ist Ausdruck dieser Denkweise. Nach Rostow kann die Transformation einer unterentwickelten in eine entwickelte Gesellschaft mit fünf Stadien umschrieben werden:
1. Die traditionelle Gesellschaft
2. Die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum
3. Nachhaltiges Wachstum
4. Die Entwicklung hin zur Stabilität
5. Das Zeitalter des Massenkonsums.32
Es werden die Bedingungen der Transformation einer traditionellen in eine moderne Gesellschaft beschrieben, indem sich ein Land wirtschaftlich und gesellschaftlich von einem Agrarstaat in einen Industriestaat verwandelt. Folgt man Rostow‘s Argumentation, muss jede Gesellschaft diese fünf Stadi- en durchlaufen. Großer Kritikpunkt des Modells ist jedoch genau dieser An- spruch. Das Rostowsche Wachstumsmodell blendet die einzigartigen und unterschiedlichen politischen, historischen und kulturellen Einflussfaktoren komplett aus.33
Ein weiteres Beispiel für modernisierungstheoretische Modelle ist das Lewis Modell. Das Lewis-Modell sollte aufzeigen, wie die Not in der Dritten Welt durch geeignete wirtschaftliche Maßnahmen und somit größeres wirtschaftliches Wachstum zu lindern wäre.
„In the Lewis model, the underdeveloped economy consists of two sectors: a traditional, overpopulated rural subsistence sector charac- terized by zero marginal labor productivity - a situation that permits Lewis to classify this as surplus labor in the sense that it can be with- drawn from the traditional agricultural sector without any loss of out- put - and a high-productivity modern urban industrial sector into which labor from the subsistence sector is gradually transferred. The primary focus of the model is on both the process of labor transfer and the growth of output and employment in the modern sector.“34
Mit dem Arbeitskräfteübergang geht ebenfalls ein steigender Lohn einher. Aufgrund der Tatsache, dass die abwandernden Arbeitskräfte die Produktivität des Agrarsektors nicht senken, steigen die Löhne der verbliebenen Arbeitskräfte ebenfalls. Somit sind die wichtigsten Akteure im Lewis-Modell die Unternehmer des modernen Sektors. Nur, wenn sie ihre Profite reinvestieren, kommt es zu weiterem Wachstum.35
Das Problem des Lewis-Modells ist jedoch, dass es den institutionellen und ökonomischen Realitäten von Entwicklungsländern nicht gerecht wird. Lewis legt ebenfalls den Fokus auf eine geschlossene Volkswirtschaft, in der es marginal zum Austausch zwischen zwei Wirtschaftssektoren kommt. Zudem werden Faktoren wie Armut und soziale Ungleichverteilung komplett ausge- blendet. Viele Entwicklungskonzepte, die den Ideen des Lewis-Modells folg- ten, führten zu einer Vernachlässigung des Agrarsektors, übermäßiger Ar- beitsmigration und steigender Arbeitslosigkeit in den Städten vieler Entwicklungsländer.36
Dependenztheorien
Das Pendant zu den Modernisierungstheorien wird in der Literatur meist mit dem Begriff der Dependenztheorien bezeichnet und ist eine „Theorierichtung innerhalb der Entwicklungstheorie, die v. a. auf die extreme Verursachung der Unterentwicklung abhebt und sich als Gegenparadigma zur Modernisie- rungstheorie begreift, welche die internen Entwicklungshemmnisse in den
Mittelpunkt des Zusammenhangs gestellt hatte.“37 Der Begriff der Dependenz entstammt der lateinamerikanischen Dependencia-Schule der 1960er Jahre und ist Ergebnis neomarxistischer Überlegungen zur Unterentwicklung. Sie entstand als Reaktion auf die Erschöpfungsanzeichen der importsubstituie- renden Industrialisierung38 und das Ende von politischen Reformversuchen in Lateinamerika. Der am Begriff der Abhängigkeit angelehnte Begriff der Dependenztheorien bezog sich zum Teil auf die Verschlechterung der Han- delsbestimmungen, zum Teil auf marxistische Ansätze, die die Unterentwick- lung in Lateinamerika nicht den feudalistischen Strukturen, sondern den Be- sonderheiten eines abhängigen, peripheren Kapitalismus zuschrieben. So wird die Unterentwicklung als Folge einer ineffizienten Integration der Ent- wicklungsländer in den Weltmarkt beschrieben. Deshalb müsse eine Heraus- lösung der Entwicklungsländer aus dem Weltmarkt oder eine sozialistische Revolution erfolgen.39 Ursachen für die Unterentwicklung von Ländern seien nicht innere, sondern äußere Faktoren, insbesondere der Kolonialismus. Durch das kapitalistische System übten die weiter entwickelten Länder Druck auf die weniger entwickelten Länder aus, um diese weiterhin arm zu halten. Besonders die Terms of Trade, die ungleichen Handelsbestimmungen, seien Ausdruck der Machtausübung wirtschaftlich stärkerer Länder.40 Die Depen- denztheorie ist hauptsächlich auf eine Reihe von linken Intellektuellen zu- rückzuführen, die vor den Militärdiktaturen in Bolivien, Brasilien und Argenti- nien nach Chile flohen, wo die VN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLA: Economic Commission for Latin America) ihren Sitz hat. So entwickelte der Chilene Osvaldo Sunkel ein Modell des globalen Du- alismus. Er vertrat die Auffassung, dass politische Allianzen zwischen Teilen der Mittelklasse, der ländlichen und der städtischen armen Bevölkerung mög- lich seien und dies letztendlich zu Lösungen von Entwicklungsproblemen füh- ren könne. Als gemeinsame ideologische Basis dieser Gruppen nannte Sun- kel den Nationalismus und die damit verbundene Massenbeteiligung am poli- tischen Geschehen.41
Eine weitere Denkrichtung der Dependenztheorie ist auf André Gunter Frank zurückzuführen. Sie basiert auf der Überzeugung, dass Unterentwicklung in Afrika, Südost-Asien und Lateinamerika komplementär mit der Entwicklung in industrialisierten Großstadtregionen verbunden sei:
„Economic development and underdevelopment are the opposite faces of the same coin. Both are the necessary result and contemporary manifestation of internal contradictions in the world capitalist system. Economic development and underdevelopment are not just relative and quantitative, in that one represents more economic development that the other; economic development and underdevelopment are relational and qualitative, in that each is structurally different from, yet caused by its relation with, the other. Yet development and underdevelopment are the same in that they are the product of a single, but dialectically con- tradictory, economic structure and process of capitalism. [...] One and the same historical process of the expansion and development of capi- talism throughout the world has simultaneously generated - and contin- ues to generate - both economic development and structural underdevelopment.“42
Demzufolge ist Unterentwicklung die Folge der Integration des kapitalisti- sches Systems und nicht der mangelnden Integration - wie von den Moderni- sierungstheoretikern behauptet. Frank ist der Auffassung, dass es bereits während der spanischen und portugiesischen Kolonisation Lateinamerikas im 16. Jahrhundert ein kapitalistisches Weltsystem vorgeherrscht habe. Somit habe es keine feudalen, sondern kapitalistische Strukturen gegeben, welche alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrungen hätten. Besonders die brasilianische Agrarwirtschaft sei bis in die Gegenwart von der kapitalistischen Ausbeutung und Landverarmung betroffen.43
Auf diesen Annahmen aufbauend entwickelte Frank sein Satelliten-Metropo- len-Modell. Darin lag in der externen Aneignung des Mehrwerts durch die industrialisierten Großstadtregionen die Ursache der ländlichen Unterentwicklung und im Umkehrschluss die Entwicklung in den Metropolen. So sei das Weltsystem in eine Kette von Metropolen, Metropolen/Satelliten und Satelliten aufgeteilt, in der erstere letztere ausbeuteten. An der Spitze steht die jeweilige Weltmacht (Metropole), in Franks Beispiel die USA, die eigentliche Nutznießerin des gesamten Weltsystems ist.44
Mit dem Erfolg der weltmarktorientierten Industrialisierungserfolge der süd- ostasiatischen Schwellenländer geriet die Dependenztheorie in die Krise, da die Abkopplung vom Weltmarkt offensichtlich keine Lösung bot, sondern Teil des Problems war. Ebenfalls werden endogene Faktoren für Unterentwick- lung wie autoritäre Herrschaft, Politik der Importsubstitution, Korruption, mangelnde Infrastruktur und ineffiziente Verwaltung nicht betrachtet. Spätes- tens im Zuge der Schuldenkrise wurde offenbar, dass Lateinamerika zu lange vom Weltmarkt abgeschirmt hatte und den wirtschaftlichen Anschluss ver- passt hatte.45
Diese Phase wird oft mit der Krise der Entwicklungstheorien umschrieben, da trotz aller Empfehlungen und Bemühungen der Wachstumstheoretiker keine relative Wohlstandssteigerung der Entwicklungsländer erzielt werden konnte - sieht man von den wenigen Ländern, hauptsächlich in Südostasien, ab, die eine Besserung verzeichnen konnten.46
Mitte der 1980er Jahre begann eine Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen damit, die Krise der großen Theorien in den Fokus der Forschung zu lenken. Vor allem an der Dependenztheorie wurde Kritik geübt, unter Rückbezug auf die Entstehungszeit der Dependencia-Schule, in der massiv Kritik an den Modernisierungstheorien vorgenommen wurde. Daraus wurde ab 1987 eine generelle Kritik an den älteren Entwicklungstheorien. Es ist auffällig, dass diese Theorienkrise in die Zeit des Endes des Kalten Krieges fällt. Dem Zu- sammenbruch des Ostblocks und der Neuordnung des bipolaren Staatensys- tems kommt der Zusammenbruch der bipolaren Theorienwelt zuvor. Die gro- ße Resonanz der Dependenztheorie kann dementsprechend auf die gesell- schaftspolitische Diskussion über Kapitalismus und Sozialismus in den 1960er und 1970er Jahren zurückgeführt werden. Beide großen Theorien projizieren ideologisch geprägte Erwartungen auf die Entwicklungsländer und stellen den Anspruch einer Realitätsveränderung.47
Mit der Krise der Entwicklungstheorie ging auch die Krise der Entwicklungspolitik einher. Aus der praktischen Anwendung heraus wurde oftmals die entwicklungspolitische Relevanz in der entwicklungstheoretischen Forschung in Frage gestellt. So wurde Akademikern angelastet, weder die sich verändernden Realitäten und die widersprüchlichen Prozesse von Entwicklung, Rückentwicklung und Auseinanderentwicklung der Entwicklungsländer angemessen erklärt zu haben, „noch brauchbare Handlungsorientierungen für eine armutsüberwindende, umweltrettende, chaosvermeidende und friedensbewahrende Entwicklungspolitik zu liefern.“48
Seit der Abkehr von den großen Theorien wurde von der Idee, eine neue Großtheorie zu formulieren, abgesehen.49 Jedoch wurde mit Beginn der 1980er Jahre das Konzept der Strukturanpassung im Zusammenhang mit der Schuldenkrise in Afrika nahezu flächendeckend eingeführt.50 Dabei ver- steht sich Strukturanpassung als ordnungspolitisches Programm zur wirt- schaftlichen Stabilisierung, marktwirtschaftlichen Deregulierung und Privati- sierung sowie zur weiteren Liberalisierung des Außenhandels eines Entwick- lungslandes. Ziel ist die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähig- keit und Kreditwürdigkeit auf Grundlage eines ausgeglichenen Haushaltes, um so ein besseres Investitionsklima für ausländische Investoren zu schaffen.51 Die Strukturanpassungsprogramme werden von der Weltbank und dem IWF konzipiert und und gemeinsam mit den betroffenen Regierun- gen durchgeführt.52
Die unterschiedlichen Realitäten und mannigfachen Einflussfaktoren im Ge- biet der Entwicklung der „Dritten Welt“ sind so weitläufig, dass nicht von einer Theorie mit universalem Geltungsanspruch erfasst werden kann.53 Desweite- ren liegt den großen Theorien eine metatheoretische funktionalistische Vor- stellung zugrunde, die versucht, soziale und historische Prozesse zielgerich- tet zu beschreiben und vorherzusagen. Durch die daraus erwachsene ideo- logische Funktion im gesellschaftlichen Kontext wird ein überzogener An- spruch auf Realitätsveränderung an die Großtheorien gestellt, der nicht er- füllbar ist.54 Diese entwicklungstheoretische Krise führte im Zuge der Ausei- nandersetzung mit dem Scheitern vorangegangener Erklärungsmuster zu neuen Ansätzen in der Entwicklungstheorie.55 Desweiteren sind viele Er- kenntnisse aus der Modernisierungstheorie und der Dependenztheorie nicht mehr wegzudenken. „Seitdem macht sich kein Entwicklungstheoretiker mehr ideologisch verdächtig, wenn er die Entwicklungsprobleme auf externe und interne Faktoren zurückführt und dann deren komplexen Wirkungszusam- menhang analysiert.“56
Neuere Schwerpunkte der Entwicklungstheorie
Die neuere Entwicklungstheorie ist vor allem geprägt von drei Ansätzen:
Dem Neoliberalismus, dem Postmodernismus und dem neuen Realismus. Der Neoliberalismus unterliegt der Annahme, dass Marktkräfte zur Steige- rung des gesellschaftlichen Wohlstands beitragen und zielt deshalb darauf ab, wachstumshemmende Faktoren wie Marktbeschränkungen zu beseiti- gen. Demnach bestreitet er die der Entwicklungsökonomie zugrundeliegende Annahme des Bedarfs eines speziellen ökonomischen Lösungsansatzes für Entwicklungsländer. Entsprechend lautet die Hauptthese des Neoliberalis- mus, dass sich Wachstum einstelle, wenn die Marktkräfte nicht von der Poli- tik behindert würden. Somit ist er ebenso ideologisch geprägt wie Moderni- sierungs- und Dependenztheorie, verfügt ebenfalls über eine teleologische Geschichtsauffassung und versäumt es, die Besonderheiten der Länder zu berücksichtigen.57 Eine ökonomische Theorie zur Ressourcenallokation ohne Bezug zu weiteren entwicklungstheoretischen Dimensionen, wie z. B. zur so- zialen Gerechtigkeit, bietet deshalb für Entwicklungsprobleme keine dauerhaften Lösungsansätze.58
Der Postmodernismus ergibt sich aus einer Vielzahl von Ansätzen, die zwar keine Kohärenz in sich zusammen bergen, jedoch gemeinsame Merkmale aufweisen. Dazu zählt beispielsweise die Kritik an der weltweiten Vereinheit- lichung des westlichen Lebensmodells und dem dadurch erzeugten Identi- tätsverlust von Entwicklungsgesellschaften.59 Es wird gefordert das Konzept der „Entwicklung“ völlig aufzugeben, da diese mit negativen Wahrnehmun- gen und Erfahrungen wie Umweltzerstörung, Ausgrenzung, Verarmung und Diversitätsverlust in Verbindung gebracht wird. Anstatt eines universalisti- schen Modernisierungsdiskurses soll die Lebensrealität auf lokaler Ebene in den Blickpunkt gerückt werden. Dies wird mit dem Begriff der Post Develop- ment Era umschrieben. Dies stellt jedoch einen einseitigen, radikalen Ansatz dar, der erstens Modernisierung ablehnt und zweitens - aufgrund der Fokus- sierung der Differenz - keine theoretischen Verallgemeinerungen mehr zulässt.60
Der sogenannte neue Realismus ergibt sich aus einer großen Anzahl von kleineren Konzepten und Modellen und ist inhaltlich als theoretischer Ansatz noch nicht gefestigt. Diese Theorien mittlerer Reichweite haben jedoch viele Gemeinsamkeiten: Handlungs-, akteurs- und prozessorientierte Denkansätze und damit die Anbindung zur entwicklungspolitischen Praxis sind in den Vor- dergrund gerückt. Praktische Erfahrungen und Denkansätze der NROs und der staatlichen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit haben dazu genauso beigetragen wie die Wissenschaft.61 Der neue Realismus legt somit einen starken Fokus auf empirische Fallstudien und das Aufgreifen von pra- xisrelevanten Erkenntnissen. Aufgrund dessen können die realen Handlun- gen einer Vielzahl von Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen in verschiede- nen Regionen im Zeitverlauf zur Entstehung umfassender Lösungsansätze der Problembereiche von Entwicklung beitragen.62
[...]
1 Vgl. dazu The Economist, Catching up in a hurry, Heft vom 21.5.2011.
2 Brasilien, Russland, Indien und China sind auch BRIC bekannt, vgl. dazu Martinez-Diaz, L., BRIC, 2009, S. 1.
3 Vgl. dazu Kohlhepp, G., Führungsmacht, 2003, S. 1 ff.
4 Vgl. dazu Busch, A., Wirtschaftsmacht, 2009, S. 1 ff.
5 s. IBGE , in URL: www.ibge.gov.br/estatisticas, Stand: 05.07.2011.
6 Vgl. dazu Kohlhepp, G., Führungsmacht, 2003, S. 48.
7 s. IBGE, in URL: www.ibge.gov.br, Stand: 05.07.2011.
8 Vgl. dazu Kevenhörster, P., Entwicklungspolitik, 2009, S. 13.
9 Vgl. dazu ebd., S. 13.
10 Vgl. dazu Andersen, U., Entwicklungspolitik/-hilfe, 2008, S.94.
11 Vgl. dazu Nohlen, D., Entwicklung, 2010, S. 206.
12 Vgl. dazu Kevenhörster, P., Entwicklungspolitik, 2009, S. 12.
13 s. UN, in URL: http://www.un.org/documents/ga/res/41/a41r128.htm, Stand: 25.06.2011.
14 s. UNDP, in URL: http://hdr.undp.org/en/media/hdr_1990_en_front.pdf, Stand: 25.06.2011.
15 Der Brundtland-Bericht wurde 1987 von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung verfasst. Er wurde nach dem Namen der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland bekannt, welche in besagter Kommission den Vorsitz hatte. Vgl. dazu Nohlen, D., Nachhaltigkeit, 2010, S. 635.
16 s. World Commission on Environment and Development, in URL: http:// upload.wikimedia.org/wikisource/en/d/d7/Our-common-future.pdf, Stand: 25.06.2011.
17 Vgl. dazu Mürle, H., Scheitern, 1997, S. 6.
18 Vgl. dazu Nohlen, D., Entwicklungspolitik, 2010, S. 210.
19 Zum Interessengeflecht der Entwicklungspolitik vor dem Hintergrund der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und NGO-Einfluss vgl. dazu Nuscheler, F., Entwicklungspolitik, 2007, S. 672 ff.
20 Vgl. dazu Kevenhörster, P., Entwicklungspolitik, 2009, S. 13 ff.
21 Der Begriff Entwicklungshilfe wird in der Literatur immer häufiger durch den Begriff der „Entwicklungszusammenarbeit“ ersetzt, da „ [Entwicklungshilfe] einen paternalistischen und somit hierarchischen Unterton hat und die heute angestrebte Partnerschaftlichkeit mit den Entwicklungsländern nicht klar genug zum Ausdruckt bringt […]. [Entwicklungszusammenarbeit] bezeichnet das operative Geschäft, die praktische Durchführung von entwicklungspolitischen Programmen und Projekten in Planung, Durchführung und Evaluation.“ Ihne, H., Einführung, 2006, S. 4. International wird der Begriff „Official Development Assistance (ODA) benutzt, im Folgenden wird der Begriff „Entwicklungszusammenarbeit“ verwendet. s. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in URL: http://www.bmz.de/de/ministerium/zahlen_fakten/
Leitfaden_Was_ist_ODA.pdf, Stand: 26.06.2011.
22 Vgl. dazu Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 2.
23 Nohlen, D., Entwicklungstheorien, 2010, S. 210.
24 Vgl. dazu Mürle, H., Scheitern, 1997, S. 9.
25 Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 15.
26 Vgl. dazu Todaro, M., Development, 2009, S. 112 ff.
27 Vgl. dazu Hess, P., Theories, 1997, S. 79 ff.
28 Vgl. dazu Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 17.
29 Solow erklärte Wachstum als Folge aus dem Einsatz von Arbeit, Kapital und Technologie in einer Volkswirtschaft durch die Flexibilität und die Austauschbarkeit der Faktoren wurde das Knife-Edge-Problem gelöst. Vgl. dazu Todaro, M., Development, 2009, S. 147 ff. und Hess, P., Theories, 1997, S. 80.
30 Vgl. dazu Nohlen, D., Entwicklungstheorien, 2010, S. 210 ff.
31 Vgl. dazu Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 22.
32 Vgl. dazu Todaro, M., Development, 2009, S. 111.
33 Vgl. dazu Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 30 ff.
34 Todaro, M., Development, 2009, S. 115.
35 Vgl. dazu Hess, P., Theories, 1997, S. 79 ff.
36 Vgl. dazu Todaro, M., Development, 2009, S. 118 ff.
37 Boeckh, A., Dependencia, 2010, S. 158.
38 „Importsubstitution war die von den bereits in den Weltmarkt eingebundenen späteren Entwicklungsländern (hauptsächlich in Lateinamerika) gewählte Industrialisierungsstrategie, mit der die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre zu überwinden versucht wurde. Sie brachte zunächst Wachstumserfolge, war jedoch an Protektionismus, die bestehende Nachfrage und hohen Investitionsgüterimportbedarf gebunden und konnte sich nicht zur Massennachfrage bzw. zu kompetitiver Wettbewerbsfähigkeit der Industriegüter weiterentwickeln. Das Scheitern der importsubstituierenden Industrialisierung war damit gewissermaßen vorprogrammiert und offenbarte sich spätestens mit der Verschuldungskrise der 1980er Jahre.“ Nohlen, D., Importsubstitution, 2010, S. 385.
39 Vgl. dazu Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 38 ff.
40 Vgl. dazu Nohlen, D., Entwicklungstheorien, 2010, S. 210.
41 Vgl. dazu Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 59.
42 Frank, A., Capitalism, 1967, S. 9.
43 Vgl. dazu Frank, A., Capitalism, 1967, S. 221.
44 Vgl. dazu Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 65 ff.
45 Vgl. dazu Boeckh, A., Dependencia, 2010, S. 158.
46 Vgl. dazu Nohlen, D., Entwicklungstheorien, 2010, S. 210.
47 Vgl. dazu Mürle, H., Scheitern, 1997, S. 9.
48 Nuscheler, F., Entwicklungstheorien, 2001, S. 390.
49 Vgl. dazu Többe Gonçalves, B., Entwicklungstheorie, 2005, S. 3.
50 Informationen zur politischen Bildung, Heft 264, s. in URL: http://www.bpb.de/die_bpb/ 03691384148770781477279956787089,0,0,Strukturanpassung_und_Verschuldung.html, Stand: 14.07.2011.
51 Vgl. dazu Nuscheler, F., Entwicklungspolitik, 2006, S. 632.
52 Zum Ansatz der Strukturanpassung vgl. dazu Dollar, D., Structural Adjustment, 2000, S. 894 ff.
53 Vgl. dazu Nuscheler, F., Entwicklungstheorien, 2001, S. 391.
54 Vgl. dazu Mürle, H., Scheitern, 1997, S. 14.
55 Andere Wissenschaftler vertreten jedoch auch die Meinung, Großtheorien seien notwendig, um beobachtete Phänomene einzuordnen und deutbar zu machen. Nur die strukturelle Stabilität eines Rahmenkonzeptes erlaube dies. Diese Rahmenkonzepte müssten mit empirischen Befunden und Teiltheorien gefüllt werden. Vgl. dazu Thiel, R., Neubewertung, S. 3 ff.
56 Nohlen, D., Entwicklungstheorie, 2010, S. 211.
57 Vgl. dazu Mürle, H., Scheitern, 1997, S. 19 ff.
58 Vgl. dazu Nohlen, D., Entwicklungstheorie, 2010, S. 213.
59 Vgl. dazu Mürle, H., Scheitern, 1997, S. 19.
60 Vgl. dazu Mürle, H., Scheitern, 1997, S. 17.
61 Vgl. dazu Thiel, R., Neubewertung, 2001, S. 30 ff.
62 Vgl. dazu Mürle, H., Scheitern, 1997, S. 69 ff.
- Citation du texte
- Christoph Blepp (Auteur), 2011, Brasilien - aufstrebende Weltmacht? , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/181599
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