Versprechen werden im Alltag in den verschiedensten Kontexten gegeben, gehalten und gebrochen. Durch sein Wort legt sich der Versprechende darauf fest, zu einem zukünftigen Zeitpunkt eine bestimmte Handlung auszuführen bzw. zu unterlassen. Obwohl die Erfüllung von Versprechen im alltäglichen Kontext nicht einklagbar ist und kein explizites Gesetz das Halten des gegebenen Wortes vorschreibt, ist man im Allgemeinen davon überzeugt, dass Versprechen gehalten werden müssen.
Zugleich ist es aber grundsätzlich unmöglich, die Zukunft vorherzusehen und zu beherrschen. Innerhalb der Zeitspanne zwischen dem Geben und dem Einlösen von Versprechen können sich die Umstände so ändern, dass das Einhalten unmöglich wird.
In der vorliegenden Arbeit werden die Konzeptionen von Hannah Arendt und Paul Ricœur Gegenstand der Untersuchung sein, die versuchen, Antworten auf diese Fragen zu geben. Zuvor werde ich jedoch näher auf den Versprechensbegriff David Humes eingehen. Seine Untersuchung steht exemplarisch in der neuzeitlichen Tradition des Gesellschaftsvertrages, die einen eigenen Lösungsansatz für diese Probleme zu geben versucht.
Die Verbindlichkeit von Versprechen ergibt sich für Hannah Arendt aus der grundsätzlichen Bedingtheit menschlichen Lebens. Menschen sind keine selbstgenügsamen Individuen, die aus Nützlichkeitserwägungen heraus mit Anderen Kooperationsbeziehungen eingehen. Das Handeln definiert sie als die spezifisch menschliche Tätigkeit, die der Grundbedingung der Pluralität des menschlichen Lebens entspricht und die Einzigartigkeit einer Person in Interaktion mit der Mitwelt hervorbringt.
Paul Ricœur schließt an Arendt an und begreift das Versprechen als Modus der Selbst-Bezeugung. Das Wer einer Person ist nicht unmittelbar präsent, es kann nicht direkt durch Reflexion erfasst werden, sondern bezeugt sich indirekt über die Existenzerfahrungen des Handelns in der Welt. Jede Person konstituiert und bezeugt ihr Selbst vermittels der Praxen, an denen sie teilhat und innerhalb derer sie ihre Fähigkeiten verwirklicht. Die Bezeugung des Selbst in den vielfältigen Formen des Handelns ist irreduzibel an den Anderen adressiert und auf ihn angewiesen. Versprechen können laut Ricœur nur dank des Anderen geben, der das Selbst zur ethischen Fürsorge bzw. zur Verantwortung aufruft und in Anspruch nimmt.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung.
1. David Hume: Versprechen als Konvention
1.1.. Affekte, Vernunft, und natürliche Tugenden
1.2. Künstliche Tugenden: Three Laws of Nature
1.3. Versprechen durch Übereinkunft?
1.4. Die Fiktion personaler Identität
2. Hannah Arendt: Versprechen als Konstituens des Handelns
2.1. Die menschliche Bedingtheit und die drei Grundtätigkeiten Arbeiten, Herstellen, Handeln
2.2. Handeln: die politische Tätigkeit
2.3. Die Verbindlichkeit des Versprechens gegen die Aporien des Handelns
2.4. Ist das Halten von Versprechen eine moralische Norm?
2.5. Versprechen und personale Identität
3. Paul Ricœur: Versprechen als Selbst-Bezeugung
3.1. Die Hermeneutik des Selbst
3.2. Versprechen als Sprechhandlung
3.3. Selbigkeit und Selbstheit
3.4. Versprechen als ethische Ausrichtung und moralische Pflicht
3.5. Die Ontologie des Selbst
Schluss
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis verwendeter Primärliteratur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung
Versprechen werden im Alltag in den verschiedensten Kontexten gegeben, gehalten und gebrochen. Der Begriff Versprechen umfasst zum einen den Sprechakt „Ich verspreche…“ und zum anderen den Inhalt, also das, was konkret versprochen wird.1 Durch sein Wort legt sich der Versprechende darauf fest, zu einem zukünftigen Zeitpunkt eine bestimmte Handlung auszuführen bzw. zu unterlassen. Die Verpflichtung zur Einhaltung, die sich durch die Äußerung der Worte „Ich verspreche…“ konstituiert, ist das bestimmende Charakteristikum des Versprechensphänomens. Obwohl die Erfüllung von Versprechen im alltäglichen Kontext nicht einklagbar ist und kein explizites Gesetz das Halten des gegebenen Wortes vorschreibt, ist man im Allgemeinen davon überzeugt, dass Versprechen gehalten werden müssen und dass der Empfänger ein Recht auf die Einlösung des Versprochenen hat. Wortbruch und falsche Versprechen, die von vornherein ohne die Absicht geäußert werden, das Versprochene tatsächlich einzulösen, werden von Adressaten, aber auch unbeteiligten Dritten als Vertrauensmissbrauch empfunden. Derjenige, der seine Versprechen bricht und auf diese Weise seine Mitmenschen enttäuscht, läuft Gefahr, dass ihm nicht mehr vertraut bzw. geglaubt wird und dass ihm zukünftig keine Versprechen mehr abgenommen werden.
Zugleich ist es aber grundsätzlich unmöglich, die Zukunft vorherzusehen und zu beherrschen. Innerhalb der Zeitspanne zwischen dem Geben und dem Einlösen von Versprechen können sich die Umstände so ändern, dass das Einhalten unmöglich wird: die Handlungsfähigkeit des Gebers des Versprechens kann zwischenzeitlich durch Krankheit oder Unfall eingeschränkt werden, durch dringende Notfälle können zeitliche Probleme entstehen, die die Ausführung der versprochenen Tat verhindern, die Einlösung des Versprochenen, das ursprünglich zum Vorteil des Empfängers dienen sollte, kann ihm durch veränderte Umstände nun schaden usw.2
Seit Seneca und Cicero über Kant bis heute ist das Versprechensphänomen immer wieder Gegenstand philosophischer Untersuchungen.3 Im antiken römischen Recht kommt es beispielsweise vor allem als Grundlage für die Verbindlichkeit von Pakten und Verträgen in den Blick. Philosophiehistorisch steht häufig die (oftmals unter juridischen Vorzeichen aufkommende) Frage im Mittelpunkt steht, welche besondere Art von Verpflichtung Versprechen bzw. Verträgen zugrunde liegt und ob sie unter allen Umständen zu halten sind.4
Durch die Konzentration auf das Problem des Zustandekommens der Verpflichtung treten andere Aspekte lange in den Hintergrund.5 Weshalb existiert die Versprechenspraxis überhaupt, weshalb gehen Menschen freiwillig Verpflichtungen gegenüber Anderen ein, obwohl sie doch offensichtlich nicht umfassend für deren Einlösung garantieren können? Welche Art von Verbindlichkeit liegt dem Versprechen zugrunde, das nicht nur einzelne Menschen aneinander bindet, sondern auch auf der Ebene politischer oder wirtschaftlicher Institutionen als Grundlage von Verträgen verstanden werden kann? Welche Rolle spielt das Versprechen für die Konstituierung eines politischen Gemeinwesens bzw. des öffentlichen Raumes? Greift die Rechtspraxis, die auf gesetzlicher Ebene die Einhaltung von Verträgen erzwingen kann, nicht auf eine präjuridische Verbindlichkeit zurück, die in der Sozialität des Menschen begründet ist? Welche anthropologischen Annahmen bedingen die Fähigkeit zu versprechen und Versprechen zu halten? Und welche Art von Identität setzt die Möglichkeit erfolgreicher Versprechen voraus, bei denen der Gebende gerade behauptet, zum Zeitpunkt der Einlösung noch derselbe zu sein wie der, der sein Wort gegeben hat, trotz zwischenzeitlich eventuell veränderter Bedingungen?
In der vorliegenden Arbeit werden die Konzeptionen von Hannah Arendt und Paul Ricœur Gegenstand der Untersuchung sein, die versuchen, Antworten auf diese Fragen zu geben. Zuvor werde ich jedoch näher auf den Versprechensbegriff David Humes eingehen. Hume stellt sich die Frage, wie es zur Etablierung von Gesellschaften überhaupt kommt, welche Rolle Versprechen bzw. Verträgen dabei zukommt und wie sich die Versprechenskonvention konstituiert. Seine Untersuchung steht exemplarisch in der neuzeitlichen Tradition des Gesellschaftsvertrages, die einen eigenen Lösungsansatz für diese Probleme zu geben versucht. Von empirischen Erfahrungen und Beobachtungen im Alltag leitet er Gesetze und Konventionen ab, die den Menschen als sozial interagierendes Wesen beschreiben. Die funktionierende Versprechensinstitution stellt dabei eine notwendige Bedingung für den Bestand einer friedlichen Gesellschaft dar. Der Wille, sich durch Versprechen freiwillig zu bestimmten zukünftigen Handlungen zu verpflichten, ist jedoch nicht natürlich vorhanden, sondern entsteht aus einem durch die Gesellschaft als Konvention etablierten Sittlichkeitsaffekt. Die Versprechenskonvention, also die Verpflichtung, seine Versprechen zu halten, wird aufgrund von Nutzenerwägungen sekundär etabliert, wobei die Verpflichtungsänderung eine Änderung moralischer Affekte voraussetzt. Hume geht davon aus, dass Menschen zunächst als selbstgenügsame Individuen verstanden werden können, die sich aus einem Nutzenkalkül heraus zur Sozialität erst zusammenschließen. Das Versprechen dient als Mittel zur Aufrechterhaltung eines friedlichen Gemeinwesens, insofern es vor allem im Rahmen von Verträgen den Austausch bzw. Erwerb von Eigentum ermöglichen soll. Die anthropologischen Grundannahmen führen jedoch zu tief greifenden Aporien hinsichtlich der Verbindlichkeit von Versprechen.
Arendt und Ricœur gehen hingegen davon aus, dass der Mensch von vornherein soziale Wesen sind, die sich in ihrer Existenz immer schon auf eine Gemeinschaft verwiesen sehen, in die sie geboren werden. Die Verbindlichkeit von Versprechen ergibt sich für Hannah Arendt aus der grundsätzlichen Bedingtheit menschlichen Lebens. Menschen sind keine selbstgenügsamen Individuen, die aus Nützlichkeitserwägungen heraus mit Anderen Kooperationsbeziehungen eingehen. In ihrer phänomenologischen Analyse der „Vita Activa“ unterscheidet sie drei kategorial verschiedene menschliche Tätigkeiten: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Das Handeln definiert sie als die spezifisch menschliche Tätigkeit, die der Grundbedingung der Pluralität des menschlichen Lebens entspricht und die Einzigartigkeit einer Person in Interaktion mit der Mitwelt hervorbringt. Versprechen gründen ihre Verbindlichkeit auf die grundsätzlich intersubjektive Verfasstheit der Existenz. Sie sind die Bedingung der Möglichkeit stabiler kooperativer Praxen, deren Teilnehmer sich als verantwortlich und frei erfahren. Versprechen konstituieren bei Arendt nicht nur das Handeln, sondern auch die personale Identität, die sich der Mitwelt vorgeblich durch das Einhalten des gegebenen Wortes enthüllt und das entgegen gebrachte Vertrauen rechtfertigt.
Paul Ricœur schließt an Arendt an und begreift das Versprechen als Modus der Selbst-Bezeugung. Das Wer einer Person ist nicht unmittelbar präsent, es kann nicht direkt durch Reflexion erfasst werden, sondern bezeugt sich indirekt über die Existenzerfahrungen des Handelns in der Welt. Jede Person konstituiert und bezeugt ihr Selbst vermittels der Praxen, an denen sie teilhat und innerhalb derer sie ihre Fähigkeiten verwirklicht. Die Bezeugung des Selbst in den vielfältigen Formen des Handelns ist irreduzibel an den Anderen adressiert und auf ihn angewiesen. Es wird von seinen Beziehungen zu Anderen, zur Andersheit konstituiert. Das Halten des gegebenen Wortes steht paradigmatisch für die Identität der Selbstheit, durch die sich eine Person als selbstständig in der Zeit erfahren kann, trotz ihrer wandelbaren Wünsche und der sich verändernden Umstände. Versprechen können laut Ricœur nur dank des Anderen geben, der das Selbst zur ethischen Fürsorge bzw. zur Verantwortung aufruft und in Anspruch nimmt. Versprechen sind Gaben an Andere, die auf deren Aufforderungen antworten und durch die sich wechselseitige Anerkennungsbeziehungen konstituieren. Versprechen zu geben und zu halten aktualisiert die Fähigkeit zur Treue Anderen und den eigenen Handlungszielen gegenüber, das Selbst bezeugt sich durch sie als verantwortlich und selbstständig und schätzt sich als eines, das ein gutes Leben führt, mit und für Andere, dank deren es handelnd die Initiative ergreifen kann.
1. David Hume: Versprechen als moralische Konvention
1.1. Affekte, Vernunft, und natürliche Tugenden
Der Ausgangspunkt des Treatise liegt in der Feststellung Humes, dass dem Bewusstsein bzw. dem Geist ausschließlich dessen Perzeptionen unmittelbar gegeben sind. Sämtliche Tätigkeiten (actions) des Geistes (mind), wie zum Beispiel Sehen, Hören, Denken oder Urteilen lassen sich unter den Begriff der Perzeption fassen (vgl. Treatise, S. 456). Diese werden in Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas) unterschieden. Während die Eindrücke alle Sinnesempfindungen, Affekte und Gefühlserregungen umfassen (vgl. Treatise, S. 1), handelt es sich bei den Vorstellungen um Abbilder oder Kopien der Eindrücke, die insgesamt im Vergleich zu den Eindrücken schwächer wirken und das Denken und Urteilen bestimmen. Die Eindrücke sind den Vorstellungen ontologisch und genetisch vorgelagert und verursachen diese (vgl. Treatise, S.5). Zudem können sowohl die Eindrücke als auch die Vorstellungen in einfache und zusammengesetzte Perzeptionen unterteilt werden. Die Wiederholung der Eindrücke als Vorstellungen erfolgt mittels Erinnerungsvermögen (memory) oder Einbildungskraft (imagination). Die Erinnerung ist dabei an Form und Reihenfolge der ursprünglichen Eindrücke gebunden, da die Verbindungen der Vorstellungen in der Erinnerung unauflösbar sind (vgl. Treatise, S.12). Die Funktion der Einbildungskraft liegt hingegen in der Fähigkeit, einfache Vorstellungen beliebig zu komplexen zu verbinden und komplexe Vorstellungen durch Trennung und Neukombination spontan zu verändern. Die Verbindung der Vorstellungen in der Einbildungskraft erfolgt durch von der Natur angelegte Assoziationsprinzipien (Ähnlichkeit, unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Zusammenhang, Ursache und Wirkung).
Alle einfachen Affekte werden in direkte und indirekte Affekte (direct and indirect passions) unterschieden. Direkte Affekte bzw. Leidenschaften entstehen unmittelbar aus der Wahrnehmung von Lust bzw. Unlust oder von Gut bzw. Übel. Zu ihnen gehören „[…] desire, aversion, grief, joy, hope, fear, despair and security.“ (Treatise, S. 277). Direkte Affekte entstehen also entweder direkt aus einem Eindruck der Sinneswahrnehmung oder aus deren Vorstellungen, die durch Erinnerung oder Einbildungskraft hervorgerufen werden und sind dann auf die Zukunft gerichtet. Es gibt aber auch direkte Affekte, die nicht nur aus einem Gut oder Übel bzw. aus Lust und Unlust entstehen, sondern auch „[…] from a natural impulse or instinct, which is perfectly unaccountable.“ (Treatise, S.439)
Indirekte Affekte beruhen auf derselben Grundlage6, jedoch entstehen sie nicht unmittelbar aus dem Guten oder Schlechten, sondern Ursache und Gegenstand sind voneinander unterschieden. Sie sind durch eine doppelte Relation von Vorstellungen und Eindrücken gekennzeichnet. Zu ihnen gehören Stolz (pride), Niedergedrücktheit (humility), Liebe, Hass, aber auch ästhetische und moralische Gefühle, auf deren Grundlage entsprechende Urteile über Personen oder Objekte gefällt werden (vgl. Treatise, S. 276ff; S.294ff.) Die einander entgegen gesetzten indirekten Affekte von Stolz (pride) und Niedergedrücktheit (humility) sind auf das Selbst als ihr Objekt bezogen. Das Selbst ist jedoch nicht Ursache dieser Affekte. Die Ursachen von Stolz bzw. Selbstzufriedenheit oder Niedergedrücktheit sind laut Hume sehr vielfältig und können fast alles betreffen, was zum Selbst in enger zeitlicher, räumlicher oder kausaler Beziehung steht.7 Die Wahrnehmung von Schönheit im Allgemeinen löst beispielsweise den direkten Affekt Freude bzw. Lust aus. Dabei handelt es sich um die Relation von Eindrücken, die auch bei den direkten Affekten vorkommt, nämlich die zwischen einem Eindruck der Sinneswahrnehmung und dem Lustgefühl. Sofern der Träger der Schönheit mit dem eigenen Selbst verbunden ist, kann er Ursache des Stolzes werden, der als indirekter Affekt zusätzlich auf einer Relation der Vorstellungen (zwischen der Vorstellung des Gegenstands und dem Selbst) beruht und dann dazu kommt (vgl. Treatise, S. 285f).
So wie die Einbildungskraft die Vorstellungen nach dem Prinzip der Ähnlichkeit organisiert, hängen auch die Eindrücke aufgrund von Ähnlichkeitsbeziehungen miteinander zusammen. Schmerz erzeugt ähnliche Affekte wie Niedergedrücktheit oder Neid, während Freude oft mit Liebe, Stolz oder Mut verbunden ist (vgl. Treatise, S. 282f), zumindest dann, wenn das Objekt, das diese Affekte verursacht, in enger Beziehung zum Selbst steht. Die Veränderlichkeit der Affekte und der Übergang von einem Affekt zu einem weiteren ähnlichen Gefühl liegen in der menschlichen Natur begründet (vgl. Treatise, S.287; 305).
Die gleichen Ursachen, die die auf das Selbst bezogenen indirekten Affekte auslösen, bringen auch Liebe und Hass hervor, ebenso sind diese Ursachen unterschieden in die Eigenschaften, die den Affekt auslösen und das Objekt, dem diese Eigenschaften zugeschrieben werden. Der Unterschied zum Affektpaar Stolz und Niedergedrücktheit besteht darin, dass Liebe und Hass nicht auf das Selbst, sondern auf andere Personen bezogen sind. Gleiche Ursachen und die starke Ähnlichkeit beider Affektpaare bewirken, dass zwischen dem Liebesaffekt gegenüber einer nahe stehenden Person und dem Affekt des Stolzes ein enger Zusammenhang besteht. Die Einbildungskraft bewirkt durch die Assoziation von Vorstellungen den Übergang der entsprechenden ähnlichen Affekte (vgl. Treatise, S. 338). Umgekehrt ist es aber nicht ebenso leicht, dass aus Stolz Liebe hervorgeht, da die eigenen Gefühle im Gegensatz zu denen der anderen immer unmittelbar und lebhafter bewusst sind, so dass die Einbildungskraft eher vom Entfernteren zum Nahen übergeht als umgekehrt. Der Zusammenhang dieser Vorstellungen geht auf die natürliche Neigung zum Mitgefühl (sympathy) zurück, die bewirkt, dass die Eindrücke der Wirkungen bzw. äußerer Anzeichen der Gefühle Anderer bei uns Vorstellungen dieser Gefühle hervorrufen. Mitgefühl ist das Moment, das emotionale Verbindungen stiftet und einen Empfindungsaustausch möglich macht, indem es an den Lust- und Unlustgefühlen, den Affekten der Mitmenschen teilnehmen lässt. Das Mitgefühl ist dabei umso stärker, je näher uns diese anderen Personen sind.8 Ohne Sympathie wären Liebe und Hass leere Begriffe, da sie nur in Bezug auf die Gefühle anderer verständlich sind (vgl. Treatise, S. 319).
Neben den direkten Ursachen (körperliche oder charakterliche Fähigkeiten und Eigenschaften, Besitz usw.) können aufgrund des Mitgefühls auch die Wahrnehmungen der Affekte anderer, die einem gegenüber empfunden werden, Stolz oder Niedergedrücktheit auslösen. Mittels Einbildungskraft eignet man sich die Urteile Anderer hinsichtlich der eigenen Eigenschaften oder Handlungen an. Weil durch das Mitgefühl Vorstellungen in Eindrücke umgewandelt werden, rufen die Urteile dann entsprechende Affekte hervor. Da die Lust aus der Achtung (bzw. die Unlust aus der Verachtung) vom Mitgefühl des Achtenden bzw. Verachtenden abhängt, ist die Unlust (bzw. Lust) umso größer, wenn die Verachtung (bzw. Achtung) von nahen Verwandten entgegengebracht wird, mit denen man eng zusammen lebt.9 Die Affekte Liebe und Hass sind unmittelbar jeweils mit den direkten Affekten Wohlwollen (benevolence) und Übelwollen (anger) verbunden. Liebe ist von dem Wunsch für das Glück der geliebten Person und dem Abscheu gegen ihr Unglück begleitet, während Hass meist den Wunsch nach dem Unglück des Feindes und den Abscheu gegen dessen Glück einschließt. Wohlwollen gegen Freunde oder Verwandte und Übelwollen gegen Feinde sind ursprüngliche Instinkte, die nicht auf andere Ursachen rückführbar sind (vgl. Treatise, S.368).
Hume wendet sich gegen die Auffassung, dass die Vernunft das Handeln verursacht und leitet. Die Vernunft ist das Wahrheitsvermögen und informiert mit Hilfe von Erfahrung und Beobachtung darüber, was in der Welt der Fall ist. Sie bezeichnet die Fähigkeit, deduktive und empirische (induktive) Urteile zu fällen (vgl. Treatise, S. 413f, Enquiry, S. 287). Die Vernunft bringt selbst jedoch keine praktischen Motive und somit keine Handlungsimpulse hervor. Alle Handlungen zielen darauf, Ziele zu verwirklichen, die nur durch Affekte gesetzt und zum einzigen Handlungsmotiv werden. Das Ziel der Handlung ist der Gegenstand, der den Affekt der Lust erzeugt. Dabei sorgt die Vernunft dafür, dass sich die motivierende Lust, die durch das Ziel ausgelöst wird, auch auf das geeignete Mittel überträgt und dementsprechend eine zweckmäßige Handlung zur Erreichung des Ziels ausgeführt wird. Die Vernunft ist das instrumentelle Vermögen, das die Handlungen lenkt, indem sie Urteile über Gegenstände fällt, die Lust bzw. Unlust hervorrufen können und mittels Ursache- Wirkungs- Relationen geeignete Mittel zur Verwirklichung der Ziele setzt.10 Handlungsmotive bzw. Wünsche gehen nicht auf Vernunfturteile, sondern auf die Lusterwartung zurück, den ein Gegenstand auslöst. Da die Gegenstände den Geist nicht aufgrund voran gegangener Vernunfturteile affizieren, sondern diese nur deren Existenz und deren Verknüpfungen untereinander aufdecken, kann der Wille zur Handlung nie durch die Vernunft ausgelöst oder durch diese verhindert werden, sondern nur durch entsprechende Affekte bzw. Wünsche. Affekte sind nur durch andere Affekte korrigier- oder aufhebbar (vgl. Treatise, S. 415). Wenn die Wahrnehmung eines Gegenstandes Lust auslöst, führt das zu dem handlungsmotivierenden Wunsch, sich den Gegenstand anzueignen.11 Der Zusammenhang zwischen dem Lustaffekt und dem Wunsch ist kausal, jedoch nicht rational zu erklären. Affekte bilden nichts ab, sie repräsentieren nichts, sondern haben als „original existence“ nur die Empfindung selbst zum Inhalt (Treatise, S. 415). Ein Affekt bzw. die Handlung, die von dem Affekt ausgelöst wird, kann weder wahr noch falsch und weder vernünftig noch unvernünftig sein, da er keinen Gegenstand repräsentiert, dem der Affekt zukommt. Die Repräsentation eines Eindrucks in den ideas kann wahr oder falsch sein12, Wünsche bzw. Affekte selbst sind jedoch weder rational noch irrational.
Aus der Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Affekten folgt, dass moralische Regeln und Urteile über Tugend und Laster (morality) nicht aus der Vernunft ableitbar sind. Hume positioniert sich damit konträr zu rationalistischen Moraltheorien. Da sittliche Regeln und moralische Urteile direkt mit dem Handeln in Verbindung stehen, bestimmte Handlungen motivieren und andere unterbinden, können sie nur auf Eindrücke bzw. Affekte rückgeführt werden. Tugend und Laster sind keine Tatsachen, die aus der Erkenntnis von Objektrelationen oder aus logischen Schlüssen hervorgehen (vgl. Treatise, S. 468). Hume geht ausschließlich von einem theoretischen Vernunftbegriff aus und lehnt die praktische Relevanz von Vernunftgründen gänzlich ab.13 So sind die Handlungsmotive zwar mit Überzeugungen über die geeigneten Mittel zum Erreichen des Ziels verbunden, jedoch handelt es sich dabei um eine rein kausale Verknüpfung. Hume vertritt auch keine Auffassung von Vernunft als normativ gültiger Zweckrationalität, deren Prinzipien zu den ausgeführten Handlungen in Widerspruch stehen könnten. Vielmehr ist gar kein Fall denkbar, in dem sich Vernunft und Handlungsmotivation widersprechen.14
Moralische Urteile sind unmittelbare affektive Reaktionen auf Tatsachen, die zwar durch Vernunft erkannt werden, die Urteile selbst jedoch sind nicht Ergebnisse vernünftiger Überlegungen (vgl. Treatise, S. 457). Die Unterscheidung von Laster oder Tugend beruht allein auf den subjektiven Empfindungen von Lust oder Unlust, die ein Gegenstand unmittelbar auslöst.15 Jede Charaktereigenschaft16, die uns bei uns selbst oder bei anderen mit Lust bzw. direkten Affekten wie Freude oder Begehren erfüllt, ist tugendhaft, jede Eigenschaft, die Unlust, Abscheu oder Unbehagen hervorruft, ist lasterhaft.17 Weil diese Eigenschaften uns selbst oder anderen zukommen, stehen sie in einem doppelten Zusammenhang von Eindrücken und Vorstellungen und rufen gleichzeitig indirekte Affekte hervor. Tugend kann somit auch definiert werden als „[…] the power of producing love or pride […]“(vgl. Treatise, S. 575), während das Laster Niedergedrücktheit (humility) und Hass erzeugt. Die indirekten Affekte werden hervorgerufen durch Vorzüge bzw. Mängel des Charakters, des Körpers oder des Besitzes im weitesten Sinne, entweder bei uns selbst oder bei uns nahe stehenden Personen, weil sie entweder unmittelbar oder durch das Mitgefühl den Eindruck von Lust oder Unlust entstehen lassen. Der Eindruck von Lust erzeugt Lob, das mit dem Liebesaffekt vergleichbar ist. Bestimmte Eigenschaften erzeugen Stolz, Liebe, Niedergedrücktheit oder Hass und werden deshalb als tugend- oder untugendhaft bezeichnet, weil sie entweder für denjenigen, der sie selbst hat, oder für diejenigen, die in enger Beziehung mit ihm stehen, unmittelbar angenehm oder nützlich sind.18
Moralische Urteile werden aufgrund der Frage gefällt, ob Handlungen (bzw. die Eigenschaften, die die Handlungen verursachen), auf Schaden oder Vorteil derer tendieren, die sie unmittelbar ausführen oder derer, auf die sie gerichtet sind. Was in diesem Sinne nützlich ist, wird gebilligt und ist tugendhaft. Das parteiische Mitgefühl ist damit die Quelle moralischer Beurteilungen. Wir schätzen die Eigenschaften oder Handlungen, weil sie Mittel sind, um das Wohl, mit dem wir als Endzweck des Wollens und Handelns sympathisieren, zu befördern (vgl. Treatise, S. 618). Hume vertritt eine konsequentialistische Moralauffassung. Zwischen der Wahrnehmung der Handlung und dem Eindruck von Lust und Unlust besteht eine Kausalbeziehung. Eine Handlung verursacht unter bestimmten Umständen den Eindruck der Lust und diese allein verleiht der Handlung ihren Wert. So können auch Handlungen und Eigenschaften Gegenstand moralischer Beurteilungen werden, die uns nicht unmittelbar selbst nützen, aber uns nahe stehenden Menschen zukommen, so dass wir starke Eindrücke ihrer damit verbundenen Gefühle gewinnen. Diese gewonnen Eindrücke von Lust oder Unlust und erzeugen Liebe und Hass, die als indirekte Affekte von den natürlichen Instinkten des Wohlwollens bzw. des Übelwollens begleitet sind. Man strebt danach, das Glück der tugendhaften geliebten Menschen zu befördern und das Unglück der untugendhaften verhassten Feinde zu vermehren. Die Handlungen aus diesen Motiven von Gunst oder Ungunst erzeugen wiederum Nutzen oder Schaden ihren Adressaten gegenüber und veranlassen sie, sie als tugend- oder lasterhaft zu bewerten und so weiter.
Das Wohlwollen ist also gleichzeitig eine natürliche Tugend (vgl. Treatise, S. 606f), die den Nutzen der von ihr betroffenen Personen befördert, und der Maßstab moralischer Beurteilung, da die Sympathie gegenüber geliebten Verwandten oder Freunden am stärksten ist. Umgekehrt können moralische Urteile als Ausdrücke von Affekten der Billigung bzw. Missbilligung durch die Sympathiefähigkeit handlungsmotivierend wirken (vgl. Treatise, S. 316ff). Der Affekt der Missbilligung einer nahe stehenden Person erzeugt kausal einen ähnlichen Affekt, der die ursprünglichen Handlungsmotive abändern kann. Bestimmte Gefühle und Wünsche motivieren zu entsprechenden Handlungen und stellen gleichzeitig die Rechtfertigungsinstanz dieser Handlungen dar. Da der natürliche Instinkt bzw. die natürliche Tugend des Wohlwollens vom subjektiven Standpunkt des Handelnden bzw. Beurteilenden abhängt, gilt sie nicht universell, sondern ist grundsätzlich auf einen kleinen Kreis nahe stehender Personen begrenzt, während sie Fremden gegenüber keinerlei Pflichten begründet. Niemand hat einen Grund, bestimmte Handlungen auszuführen, sofern sie nicht mit seinen Wünschen und Motiven vereinbar sind. Der moralische Wert von Handlungen wird mit ihrem Nutzen identifiziert und kann durch keinen externen normativen Maßstab festgestellt werden.19 So ist es möglich, dass verschiedene Personen eine gleiche Situation unterschiedlich bewerten, bzw. dass eine Person eine bestimmte Handlung in einer Situation billigt, die sie unter anderen Umständen missbilligen würde, weil ihre Beziehung zum Akteur oder den Betroffenen der jeweiligen Handlung eine jeweils andere ist. Affekte bzw. Wünsche sind rational nicht falsifizierbar, ihre Realisierbarkeit hängt von kontingenten Umständen der konkreten Situation ab.
1.2. Künstliche Tugenden: Three Laws of Nature
Universelle Gerechtigkeit (justice), die das Zusammenleben in der Gesellschaft nach objektiven Maßstäben regelt, kann demnach nicht aus dem natürlichen Instinkt des Wohlwollens hervorgehen (vgl. Treatise, S.495f). Die natürlichen Tugenden auf Grundlage des Wohlwollens können universelle Pflichten gar nicht begründen, sondern drücken höchstens „Verpflichtungen“ einer Person a in den Augen einer Person b unter definierten Bedingungen aus, während dieselbe „Pflicht“ in den Augen einer dritten Person c nicht besteht, sofern sich diese in anderer Beziehung zu a befindet. Da die Menschen aber ein Interesse an gesellschaftlicher Kooperation haben, haben sie auch ein Interesse an Regeln und Gesetzen, die für alle gleichermaßen gelten und das konfliktfreie Zusammenleben aufrechterhalten. Hume definiert justice als eine künstliche Tugend, die durch eine Übereinkunft (convention) von den Menschen erst geschaffen wird und den Naturzustand beendet. Die Übereinkunft wird aufgrund eines Interessenkalküls eingegangen und konstituiert das gesellschaftliche Leben. Künstlich (artificial) ist die Tugend der Gerechtigkeit also insofern, als sie erst durch eine menschliche Übereinkunft sekundär entsteht, den natürlichen Tugenden genetisch nachgeordnet ist und diese auch auf fern stehende Personen erweitert.20
Der Mensch ist als Mängelwesen laut Hume in seiner natürlichen Ausstattung den meisten Tieren unterlegen. Durch den Zusammenschluss kann die Schwäche des einzelnen Menschen ausgeglichen werden. Das Leben in einer Gesellschaft liegt im Interesse der Selbsterhaltung und ist notwendig zur Befriedigung der Bedürfnisse. Mittels Kooperation und Arbeitsteilung werden mehr Güter zur Bedürfnisbefriedigung hergestellt, zudem bewirken sie eine größere Unabhängigkeit von äußeren Natureinflüssen. Durch die Selbstsucht und das Eigeninteresse der Einzelnen (auf dem die subjektiven natürlichen Tugenden beruhen) wird die gemeinschaftliche Kooperation jedoch behindert und unmöglich gemacht.21 Obwohl Hume sich von Hobbes Anthropologie des unbegrenztem Eigennutzes distanziert und scheinbar die Neigung zum Altruismus in den natürlichen Instinkten verankert sieht, bleibt das Wohlwollen doch auf Verwandte und enge Freunde begrenzt. Ohne einen Sinn für Gerechtigkeit wäre jeder auf den eigenen unmittelbaren Vorteil bedacht und bestrebt, sich und seiner Familie bei herrschender Güterknappheit so viele Güter wie möglich anzueignen, ohne dabei die Bedürfnisse anderer zu achten. Da dann niemand mehr ein Interesse an gemeinschaftlicher Kooperation hätte, weil jeder die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit für sich selbst beanspruchen würde, käme letztendlich niemand in den Genuss des Nutzens, den man sich von der Vergesellschaftung erhofft hatte. Die Regeln der Gerechtigkeit sind dementsprechend auf die Güterverteilung und die Sicherung des Besitzes bezogen. Sie sollen künstlich universelle Verpflichtungen konstituieren, die unabhängig von den jeweiligen Wünschen der Agierenden gelten, um die praktischen Probleme zu lösen, die die Motivationstheorie auf Basis des subjektiven Mitgefühls mit sich bringt; jedoch ohne die Gültigkeit dieser Theorie in Frage zu stellen.
Die Übereinkunft (convention) wird eingegangen, wenn sich die Menschen mittels Vernunft und Einbildungskraft ihres Interesses an gesellschaftlicher Kooperation bewusst werden und einsehen, dass ihre natürliche wunschbasierte Affektstruktur die Verwirklichung dieses Interesse verhindert. Aus diesem mittelbaren, langfristiger orientierten Interesse heraus unterwerfen sich die Menschen allgemein gültigen, verpflichtenden Regeln, die die natürlichen parteiischen Affekte einschränken sollen und in ihrer Anwendung von Wohl- oder Übelwollen unabhängig sind. Das ist jedoch nicht so zu verstehen, dass sich die Handlungen nun an von der Vernunft erkannten universellen Prinzipien orientieren. Bekanntlich können nur Affekte Motive für entsprechende Handlungen liefern. Die Übereinkunft stellt das durch die Vernunft bereit gestellte Mittel dar, den individuellen Nutzen aller Beteiligten zu maximieren. Da eine durch diese Einsicht veränderte Praxis durch eine einzelne Person für diese selbst der Verwirklichung ihrer Interessen langfristig hinderlich wäre, kann der Nutzen aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben nur gezogen werden, wenn alle ihre Handlungen entsprechend ausrichten. Bei der Übereinkunft gibt deshalb jeder allen anderen das Bewusstsein über das gemeinsame Interesse und gleichzeitig den Entschluss, gemäß der Gerechtigkeit zu handeln, kund unter der Voraussetzung, dass alle anderen das gleiche tun (vgl. Treatise, S. 490). Da die Vernunfteinsicht allein aber keine Handlungen hervorrufen kann, können die allgemeinen Gerechtigkeitsregeln, die aus der convention folgen, nur auf der Ebene der Affekte wirksam werden. Bei allen an der Übereinkunft Beteiligten ruft die Vorstellung des eigenen Interesses, das durch die Gesellschaft befriedigt werden kann, positive Affekte der Billigung in Bezug auf Handlungen hervor, die diesem Interesse unmittelbar entsprechen und der Aufrechterhaltung der Gesellschaft dienen. Die Lust, mit der das Motiv der Handlung verbunden ist, wird auf die Mittel zu seiner Erreichung übertragen. Aufgrund dieser Affekte entsteht die Neigung, entsprechende Handlungen auszuführen. Durch Wiederholung, Erziehung und Gewohnheit werden sie zu ruhigen, handlungsmotivierenden Affekten, die auch ohne das explizit bewusste Interesse die entsprechenden Handlungen verursachen (vgl. Treatise, S. 423f). Die Rechtsordnung bzw. das Allgemeinwohl, das sie befördert, wird dann mit der Vorstellung der Tugendhaftigkeit verbunden und damit selbst zum Motiv ihrer Befolgung.
Die allgemeine Übereinkunft der justice, sich des gegenseitigen Interesses an gemeinschaftlicher Kooperation bewusst zu sein und seine Handlungen entsprechend auszurichten, findet ihre konkrete praktische Ausformulierung in den „Laws of Nature“, den Grundsätzen, die freiwillig eingehalten werden. Sie sind nach der Übereinkunft verbindlich und gelten aus dem Motiv des bewussten Interesses an ihrer Einhaltung heraus, noch bevor sie in allgemeinen Gesetzen verankert und durch staatliche Gewalt sanktioniert werden. Sie bestimmen damit den (fiktiven) zeitlichen Zwischenraum zwischen dem Naturzustand und dem Leben im Staat und bestehen in drei sich logisch ergänzenden Laws, die die Besitzverteilung zum Gegenstand haben.
Das erste Naturgesetz konstituiert das (künstliche) Eigentum, das den Güterbesitz sichert. In jedem Fall ist das Eigentum keine Eigenschaft, die den Gegenständen als solchen zukommt, sondern resultiert künstlich aus Vorstellungen und Affekten, die durch Übereinkunft zu den vorherigen Vorstellungen und Eindrücken des Besitzes hinzukommen und stabile Beziehungen etablieren, die von Zeitdauer, Einbildungskraft und verwandtschaftliche Beziehungen (Eigentumserwerb durch Erbfolge) beeinflusst werden (vgl. Treatise, S. 505 - 509).
Das zweite Law of Nature regelt die Besitz- und Eigentumsübertragung durch Zustimmung. Das ermöglicht den konfliktlosen Austausch von Gütern im Interesse der optimalen Bedürfnisbefriedigung. Da das Eigentum keine Eigenschaft ist, die den Gegenständen selbst zukommt und ihm kein Sinneseindruck korrespondiert, wird die Übergabe mit der Vorstellung der Übertragung des Eigentums verbunden. Sofern eine Übergabe praktisch nicht möglich ist, wird die Anschaulichkeit der Eigentumsübertragung durch Symbole (z.B. Urkunden) vorgetäuscht (vgl. Treatise,. S. 515), um so die Einbildungskraft zu unterstützen. Das dritte Law of Nature folgt logisch aus den beiden vorhergehenden und beinhaltet die Pflicht, Versprechen zu halten.
1.3. Versprechen durch Übereinkunft?
Die allgemeine Regel über das Halten von Versprechen kommt zum Einsatz, wenn die jeweiligen Güter oder Dienst- bzw. Hilfeleistungen zeitversetzt oder bei räumlicher Distanz getauscht werden. Derjenige, der das ihm zustehende Gut oder die Handlung erst nach einiger Zeit erhalten kann, nachdem er seinen Anteil bereits geleistet hat, ist auf den Großmut seines Schuldners angewiesen. Da aber das natürliche Wohlwollen auf den engsten Bekanntenkreis beschränkt und der Schuldner bereits in den Genuss des erstrebten Gutes gekommen ist, hat er ohne die Übereinkunft zum Versprechen keinen Grund, die eigene Leistung zu erfüllen. Das würde seinem individuellen Nutzenkalkül widersprechen. Der Austausch im Interesse beider Parteien würde demnach gar nicht erst zustande kommen. Die zweite Regel aus der Übereinkunft kann in einem solchen Fall nicht helfen, da sie nicht auf die Zukunft bezogen ist (vgl. Treatise, S. 520).
Ohne eine aus der Übereinkunft abgeleitete Regel, Versprechen zu halten, besteht kein Motiv, die entsprechende Handlung tatsächlich auszuführen, da der Entschluss bzw. der Wille zu ihrer Ausführung, der in den Worten „Ich verspreche…“ zum Ausdruck kommt, sich dann nur auf die gegenwärtige Handlung (die Äußerung des Versprechens, die Mitteilung eines Entschlusses) bezieht und keine auf die Zukunft gerichtete Verpflichtung in sich schließt. Da im Naturzustand meist kein Nutzen aus dem Halten eines Versprechens gegenüber einer fremden Person folgt, fehlt das entsprechende Motiv bzw. der motivierende Affekt, das Versprochene zu erfüllen. Die universelle Verpflichtung, durch die man an seine Versprechen gebunden wird, entsteht laut Hume künstlich durch die Übereinkunft (vgl. Treatise, S. 516).22 Dabei werden sich alle Beteiligten ihres Interesses an der Verpflichtung durch Versprechen bewusst und artikulieren voreinander den Entschluss, Versprechen künftig zu halten.23 Das eigennützige Interesse am funktionierenden Austausch von Leistungen und Gütern überträgt sich auf das durch die Vernunft erkannte entsprechende Mittel: seine Versprechen zu halten. Das Interesse als erster Grund der Erfüllung von Versprechen erzeugt neue Affekte bzw. Neigungen, die die entsprechenden Handlungen und moralischen Urteile veranlassen. Um allen Beteiligten Sicherheit über die zu erwartenden Handlungen zu geben, wird ein Zeichen eingeführt, durch das sich gegebene Versprechen erkennen lassen. Durch die Wortformel „Ich verspreche…“ wird der Entschluss zum Versprechen eindeutig kommuniziert und durch das Interessemotiv verbindlich. Dabei wird im Versprechen der Entschluss ausgedrückt, das Versprochene zu leisten und mit der Äußerung der allgemein gültigen, universellen Wortformel unterwirft sich der Sprecher zugleich der entsprechenden universellen Verpflichtung. Die moralischen Urteile, die aufgrund der allgemeinen Versprechensregel gefällt werden, richten sich im Gegensatz zu den Urteilen auf Grundlage natürlicher Tugenden gleichermaßen an alle Personen und sind von der spezifischen Situation bzw. der Beziehung zwischen Akteur und Urteilendem unabhängig. Lediglich bei fehlender Sprachkompetenz des Sprechers bzw. offensichtlich scherzhafter Äußerung ist die Wortformel nicht bindend (vgl. Treatise, S. 523f). Wird das gegebene Wort gebrochen, greift die Sanktion des Vertrauensverlustes, was den Ausschluss von der Teilhabe an der Institution des Versprechens und dem mit ihr verbundenen Nutzen nach sich ziehen kann. Die allgemeine Versprechensregel besteht also in der Verpflichtung aus der Wortformel, die bei Wortbruch die Sanktion des Vertrauensverlustes nach sich zieht.
An dieser Stelle liegt der Einwand nahe, dass Hume mit seiner Konzeption der Übereinkunft einen unendlichen Regress postuliert. Wird die Übereinkunft als eine Form eines Urvertrages interpretiert, besteht dass Problem, dass nicht erklärt werden kann, wie dessen Verbindlichkeit zustande kommen kann, wenn diese doch erst durch den Vertrag selbst implementiert werden soll. Die Übereinkunft zur justice ist selbst ein Versprechen, bei dem sich die Beteiligten gegenseitig versichern, ihre zukünftigen Handlungen an dem gemeinsamen Interesse an Gemeinschaft zu orientieren und ihre egoistischen Neigungen zu kontrollieren. Die Verpflichtung, Versprechen zu halten, stellt in diesem Zusammenhang als das dritte Law of Nature eine Zusatzvereinbarung dar, die diese Übereinkunft weiter konkretisiert, aber per definitionem diese Verpflichtung erst sekundär konstituiert. Die Übereinkunft sowie das dritte Naturgesetz werden fast wortgleich definiert. Aber auch wenn man die Übereinkunft so versteht, dass die Laws of Nature nicht aus einer generellen Ur-Verabredung folgen, sondern dass die Übereinkunft selbst aus diesen drei Naturgesetzen besteht, stößt man auf das Problem, dass die Übereinkunft, die die Versprechensinstitution erst konstituiert, selbst schon ein Versprechen darstellt, dessen normative Verbindlichkeit nicht erklärt werden kann. Um die Institution Versprechen durch die Übereinkunft zu etablieren, muss diese Institution selbst bereits vorausgesetzt werden.24
Dieses Paradox hat Hume jedoch selbst erkannt. Er betont explizit, dass die Übereinkunft nicht selbst schon ein Versprechen darstellt.25 Ebenso weist er auch explizit kontraktualistische Positionen zurück, die den Ursprung der Regierung bzw. der staatlichen Herrschaft aus einem Urvertrag heraus erklären, da dieser nicht erklären könne, wie die Verpflichtung zum Gehorsam auf diese Weise dauerhaft etabliert werden soll. Eine explizite Zustimmung zur Regierung sei historisch nicht verifizierbar und habe auch keine verpflichtende Kraft für spätere Generationen, die in die bestehende Ordnung hineingeboren werden. Der Bestand der Regierung ist von deren Zustimmung nicht abhängig. Ein Versprechen mit der entsprechenden Verpflichtung, das Versprochene zu halten, besteht gemäß Hume nur dann, wenn es im Bewusstsein darüber geäußert wird, dass es sich tatsächlich um ein Versprechen handelt. Würde sich die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber der Regierung bzw. zur Einhaltung von Regeln aus einem Vertrag ableiten, wäre nicht einsichtig, worauf sich die Verbindlichkeit und Verpflichtung, sich an den Vertrag selbst zu halten, gründen sollte. Hume betont jedoch, dass es sich bei der Übereinkunft um ein theoretisches, fiktives Modell handelt, das als Ereignis nie real stattgefunden hat und von ihm vielmehr aus didaktischen Gründen zur Veranschaulichung verwendet wird (vgl. Treatise, S. 493ff).26 Er versucht, die Aporien der Vertragstheorien zu umgehen, indem er universelle moralische Pflichten direkt auf das empirisch-induktiv nachweisbare Interesse an ihnen zurück führt und den Vertrag als expliziten Verpflichtungsursprung auf diese Weise überflüssig zu machen.
Hume konstatiert die empirische Beobachtung, dass das Motiv zum Halten von Versprechen durch Einübung, Erziehung und Gewohnheit auch ohne das bewusste Interesse entsprechende Handlungen und moralische Urteile hervorruft. Das unmittelbare Interesse, seine Versprechen zu halten, besteht dann darin, sich vor Vertrauensverlust, Tadel und einem schlechten Ruf zu schützen, fußt aber auf dem ursprünglichen Interesse an der Nutzenmaximierung innerhalb einer Gesellschaft, das die Versprechensinstitution konstituiert hatte. Jedoch steht die Verfolgung dieses langfristigen Interesses der Befriedigung unmittelbarer Wünsche und Bedürfnisse oft entgegen. Handlungsziele bzw. Gegenstände, die räumlich und zeitlich nahe liegen, erzeugen starke handlungsmotivierende Affekte, um diese nahe liegenden Ziele zu verwirklichen bzw. sich die Gegenstände anzueignen. Der Drang, einen unmittelbaren Nutzen aus bestimmten Handlungen zu ziehen, ist deshalb meist stärker als die Neigung, langfristig den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung durch Einhaltung der allgemeinen Regeln zu gewährleisten. Da gerade in komplexen Gesellschaften der gemeinsame Interessenszusammenhang nicht unmittelbar für jeden einsichtig ist (vgl. Treatise, S. 534f), bewahrt die eingeübte, unreflektierte Sympathie mit dem Allgemeinwohl die gesellschaftliche Ordnung. Stärker noch als das mittelbare Interesse am friedlichen Fortbestand der Gemeinschaft wirkt dann die unmittelbare Sorge um den eigenen Ruf, bzw. das Interesse, die bei einem Wortbruch drohende Sanktion zu verhindern, das vordergründig handlungsmotivierend ist und von einem Bruch der Rechtsordnung abhält (vgl. Treatise, S. 500f). Auf dieser Grundlage erklärt Hume auch nachträglich die Herkunft der staatlichen Regierung. Im Staat werden die modellhaften Laws of Nature in bürgerliche Gesetze überführt, die Regierung zwingt zur Einhaltung von Verträgen, schützt das Eigentum und vermeidet so das Entstehen von Konflikten und Unfrieden. Hypothetisch würden die drei Naturgesetze eigentlich ausreichen, den Bestand der friedlichen Gesellschaft zu garantieren. Aufgrund der ausgeprägten Selbstsucht aller Menschen ist die Einsetzung einer Regierung zur Aufrechterhaltung dieser Regeln jedoch trotzdem erforderlich (vgl. Treatise, S. 535). Da jeder Bruch der Regeln den Fortbestand der künstlichen Gerechtigkeitsordnung gefährdet, besteht ein Interesse an exekutiver Herrschaft, durch deren ständige Sanktionsdrohung noch zusätzliche Anreize geschaffen werden, den selbstischen Neigungen nicht nachzugeben, da das näher liegenden Interesse dann darin besteht, sich selbst vor Strafe zu schützen. Bei der Regel zur Einhaltung von Versprechen und der Gehorsamspflicht gegenüber der Regierung handele es sich um zwei verschiedene Arten von Verpflichtungen, die beide aus dem Nutzenkalkül heraus durch Konventionen implementiert würden (vgl. Treatise, S. 545f, Essays, S. 287f). Die Einrichtung staatlicher Herrschaft sei auch ohne allgemeine Versprechensregel nötig und läge im Interesse der Menschen. Der Gehorsam kann somit nicht auf die Versprechenskonvention gegründet sein, zumal ja gerade die Einhaltung der Versprechensregel durch staatliche Sanktion garantiert werden soll.
Das Interesse an Selbsterhaltung wird ohne einen expliziten Vertrag unmittelbar als Begründungsinstanz für die Entstehung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Verhältnisse herangezogen.27 Mit Hilfe des Modells der Übereinkunft bzw. der Vertragshypothese findet Hume Argumente, die die Existenz überindividuell gültiger Verpflichtungsregeln und Konventionen nachträglich aus dem Interessenkalkül heraus durch empirische Erfahrungen einsichtig machen sollen.28 Die fiktiven Laws of nature als grundlegende Elemente der Rechtsordnung beruhen auf impliziten Konventionen und sind durch theoretische Betrachtung logisch als den gegebenen Phänomenen zugrunde liegend zu erschließen. Die Konvention, durch die Äußerung der Wortformel „Ich verspreche…“ der Verpflichtung zu unterliegen, die versprochene Handlung auch tatsächlich auszuführen, ist als Mittel zur individuellen Nutzenmaximierung geeignet, wenn sich Menschen unter bestimmten Bedingungen nach reiflicher Abwägung aller Möglichkeiten für dieses Mittel hätten entscheiden können. Die fiktive Übereinkunft bildet das Argument für die Übereinstimmung des Interesses an verbindlichen Regeln, das real handelnden Personen deskriptiv zugeschrieben werden kann, ohne dass sie selbst sich dieses Motivs bewusst sein müssen.
Doch kann Hume auf diese Weise die Aporien in Bezug auf die Verbindlichkeit von Urverträgen bzw. Übereinkünften wirklich umgehen? Gemäß seiner subjektivistischen Motivationstheorie können nur Affekte bzw. Wünsche Handlungen hervorbringen. Ebenso wie die natürlichen Tugenden erfüllen die künstlichen Institutionen, auch die Versprechensregel, den Zweck, dem Interesse der Individuen an Selbsterhaltung zu dienen. Die allgemein verpflichtenden Regeln und Gesetze stellen ebenso wenig normative Sollsätze dar wie die natürlichen Tugenden, da die Motive zu ihrer Befolgung entweder in der Verfolgung langfristiger Interessen an gesellschaftlicher Kooperation liegen (und die Einhaltung allgemeiner Regeln ist das durch die Vernunft bestimmbare Mittel, das für diesen Zweck am besten geeignet ist) oder aus dem unmittelbaren Wunsch der Vermeidung von Unlust durch Missbilligung bzw. Strafe heraus erfolgen. Sie enthalten aber keine universellen moralischen Forderungen bzw. Gründe, die eine Handlung als die bessere oder schlechtere rechtfertigen könnten. Auch hier stellt das Motiv zur Handlung gleichzeitig seine Rechtfertigungsinstanz dar. Der Wert der sozialen Tugenden wird mit ihrem Nutzen identifiziert und kommt ihnen nicht an sich zu.29 Niemand hat einen Grund, unabhängig von seinen jeweiligen Wünschen seine Versprechen zu halten, sondern nur das Motiv, sich vor entsprechenden Sanktionen zu schützen, die ein Bruch der Konventionen nach sich zieht. Die deskriptive Feststellung, dass die Befolgung einer solchen Regel der Befriedigung der Interessen dienlich ist, kann nicht begründen, dass man ihr auch wirklich folgen sollte. Da die Vernunft nur instrumentell Mittel aufzeigt, um bestimmte Ziele zu erreichen, selbst aber keine Ziele definiert bzw. Handlungen motiviert, kann eine Handlung nie in Konflikt zu einem Vernunfturteil stehen. Verschiedene Motive (im Fall des Versprechens der Wunsch, sein Wort zu brechen um den eigenen Vorteil auf Kosten des anderen zu vergrößern bzw. sich keiner öffentlichen Missbilligung auszusetzen) konkurrieren miteinander, bis der stärkste Affekt letztendlich die tatsächliche Handlung motiviert, ohne dass diese rational gerechtfertigt wäre. Einen kleinen nahe liegenden Vorteil einem weiter entferntem, erst zukünftig erreichbarem Gut vorzuziehen, ist in diesem Sinne nicht unvernünftig, da die affektive Präferenzordnung nicht rational falsifiziert werden kann. In bestimmten Fällen kann es nützlich sein, sein Wort zum Nachteil des anderen zu brechen, wenn der zu erwartende Vorteil die potentiellen Nachteile aufwiegt. Sofern kein Motiv für eine bestimmte Handlung vorliegt, hat man auch keinen Grund, sie auszuführen. Humes Theorie der künstlichen Tugenden kann somit nicht erklären, warum sich der einzelne an die Konventionen halten sollte, da sie selbst keinen objektiven Normen entsprechen, sondern diese Normen erst etablieren und allein durch deren Nutzen rechtfertigen. Die Aporien der Vertragstheorien scheinen auf die Ebene der Konventionen verschoben. Es bleibt unverständlich, weshalb eine Konvention, Versprechen zu halten, überhaupt etabliert wurde, wenn doch kein Grund zur Einhaltung von Versprechen und damit für das Bestehen der Institution als solche feststellbar ist und zudem implizit die Versprechenskonvention als verbindlich vorausgesetzt wird, die durch Gewohnheit und Einübung erst etabliert werden soll.
Das Problem des Subjektivismus wird demnach nur scheinbar durch die Einführung künstlicher Tugenden gelöst, denn diese beruhen nicht auf dem Interesse an einem Gemeinwohl oder an gemeinsamen Zielen. Vielmehr werden kollektive Handlungen und Institutionen auf der Basis individueller Intentionen und Handlungen beschrieben. Jeder Teilnehmer an der sozialen Praxis verfolgt sein Eigeninteresse, das das einzige Motiv für die Kooperation darstellt. Die Pflicht, seine Versprechen zu halten, involviert kein Interesse am Nutzen der anderen Beteiligten. Ein neutraler, objektiver moralischer Standpunkt, der von den persönlichen Präferenzen abstrahiert und Handlungen rechtfertigen könnte, wird von niemandem eingenommen.30 Aufgrund seines anthropologischen Verständnisses der Menschen als atomistische Individuen, die sich zur Nutzenmaximierung gleichsam sekundär zusammenschließen, kann Hume das Zustandekommen und den Bestand normativer Verbindlichkeit und zwischenmenschlichen Vertrauens nicht erklären. Wenn nicht historisch, so liegt seiner Theorie gemäß doch logisch die nicht verbindliche Übereinkunft der Verbindlichkeit der Versprechen voraus, die im Prinzip jederzeit zurück genommen werden kann, da sie vom Bestand des Interesses an gemeinschaftlicher Kooperation anhängt. Der Versprechensbegriff Humes bleibt unbefriedigend.
1.4. Die Fiktion personaler Identität
Problematisch ist der Versprechensbegriff bei Hume darüber hinaus auch deshalb, weil er keinen konsistenten Begriff von personaler Identität entwickelt, sondern vielmehr die Existenz einer solchen negiert. Dem Geist sind ausschließlich dessen Perzeptionen gegeben. Das Selbst stellt für Hume keine immaterielle Substanz dar, die etwa als unveränderlicher Kern der Seele in der Zeit beständig ist und eine von den Perzeptionen unabhängige Identität gewährleistet. Für ein dauerhaftes Bewusstsein des eigenen Ich wäre eine dauerhafte Idee dieses Ich nötig. Jedoch werden Vorstellungen ausschließlich von Eindrücken verursacht, die den Vorstellungen vorgelagert sind. Hume konstatiert, dass die Personalität, bzw. das Selbst aber kein Eindruck sein könne, da ein Eindruck, der eine lang andauernde, konstante Vorstellung des Ich hervorbringen sollte, selbst über die gesamte Lebensdauer konstant auf den Geist einwirken müsse (vgl. Treatise, S. 251f). Ein einzelner, vorübergehender Eindruck des Selbst, der eine entsprechende Vorstellung hervorrufen würde, würde lediglich ein ideelles Selbst implizieren, das allein in der Vorstellung konstant bliebe. Ein solcher dauerhafter Eindruck, auf den sich alle anderen Ideen und Vorstellungen beziehen, lässt sich empirisch jedoch nicht feststellen, vielmehr folgen verschiedene Affekte und Sinneseindrücke aufeinander und wechseln sich ab, sie sind nie alle gleichzeitig präsent. Das Selbst muss dementsprechend als ein Bündel von fließend ineinander übergehenden Perzeptionen bzw. Wahrnehmungen verstanden werden, die durch Erinnerung bewusst und durch Relationen miteinander verbunden sind.31 Insofern keine Perzeptionen einwirken und durch das Bewusstsein wahrgenommen werden, beispielsweise im Schlaf, kann von einem existierenden Ich nicht gesprochen werden (vgl. Treatise, S. 252). Vom Selbst bzw. dem Geist hat man keine eigene Vorstellung, die von denen der jeweils aktuell einwirkenden Perzeptionen unterschieden ist. So ist es unmöglich, ein mit sich identisches Selbst konkret einzugrenzen, da keine Kriterien existieren, anhand deren man entscheiden könnte, welche Perzeptionen jeweils zu einem Selbst gerechnet werden können und welche nicht. Die Frage, ob man es nach bestimmten Veränderungen bzw. Zeitabständen noch mit derselben Person zu tun hat oder nicht, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die Existenz personaler Identität ist unmöglich, da es kein Selbst gibt, das die Eigenschaft der Identität haben könnte.32 Diese Auffassung erweist sich im praktischen Bereich jedoch als problematisch, da Gerechtigkeit, Schuld, oder Strafe nur sinnvoll sind, wenn von einem in der Zeit beständigen moralischen Selbst ausgegangen werden kann, dem bestimmte Handlungen zurechenbar sind, für die es verantwortlich gemacht werden kann. Die Negation personaler Identität des ersten Buches des Treatise muss in den beiden nachfolgenden Teilen aus praktischen Gründen relativiert werden.
Die personale Identität beschreibt Hume entsprechend als eine falsche, aber notwendige Fiktion der Einbildungskraft, die selbst keine Perzeptionen hervorbringt, aber in Verbindung mit dem Gedächtnis Relationen zwischen einzelnen Eindrücken bzw. Vorstellungen herstellt; wobei kein „real bond“ (vgl. Treatise, S. 259) zwischen den einzelnen Perzeptionen besteht. Mit Hilfe der gleichen Assoziationsprinzipien wird ebenso die Fiktion bzw. Vorstellung der Identität äußerer Gegenstände erzeugt, auch wenn sie aktuell nicht mehr bzw. zu verschiedenen Zeitpunkten wahrgenommen werden.33 Bei der Fiktion des Selbst spielen die indirekten Affekte Stolz bzw. Niedergedrücktheit eine entscheidende Rolle. Sie konstituieren die Vorstellung des Selbst, indem diese Gefühle notwendig die Idee eines sich über die Zeit hinweg seiner Identität bewussten Ichs erzeugen, auf das die beiden Affekte als ihr Objekt bezogen sind.34 Diese Konstituierung ist für Hume ein ursprüngliches Prinzip des Geistes, der nicht weiter erklärt werden kann (vgl. Treatise, S. 280; 286f). Stolz und Niedergedrücktheit werden von der Vorstellung verursacht, die einem Eindruck der Sinneswahrnehmung bzw. einem direkten Affekt folgt und verursachen dann die Vorstellung eines beständigen Selbst. Die einzelnen Affekte werden durch die Einbildungskraft zur Idee eines zeitlich beständigen Selbst verdichtet. Die fiktive Beständigkeit, die die Idee des Selbst impliziert, ist als damit selbst als zufällig und relativ zu verstehen. Hume beschreibt in seiner Theorie des Verstandes personale Identität als kontingente, subjektive Illusion, die durch die Einbildungskraft erzeugt wird. Die große Bedeutung, die er innerhalb seiner Moraltheorie gerade dem Versprechensbegriff für den Bestand des gesellschaftlichen Zusammenhaltes zuschreibt, erscheint in diesem Zusammenhang als inkonsistent. Ein Versprechen zu geben bedeutet, dass man sich für eine bestimmte Handlung in der Zukunft verpflichtet. Man verspricht also, zum Zeitpunkt der Einlösung des Versprechens noch derjenige zu sein, der das Versprechen gegeben hat. Das ist nur dann möglich, wenn ein Begriff von personaler Identität zugrunde gelegt werden kann, der es erlaubt, einer Person bestimmte Handlungen bzw. Sprechakte zuzurechnen und sie für ihre Taten in Vergangenheit und Zukunft verantwortlich zu machen. Hume kann jedoch nicht überzeugend erklären, wie diese Verantwortung des Versprechenden vorausgesetzt werden kann und weshalb dieser im Falle eines Wortbruchs mit Sanktionen rechnen muss.
2. Hannah Arendt: Versprechen als Konstituens des Handelns
2.1. Die menschliche Bedingtheit und die drei Grundtätigkeiten Arbeiten, Herstellen, Handeln
Der Mensch ist ein bedingtes Wesen. Bei der „Condition humaine“, der menschlichen Bedingtheit, bekundet Arendt, es gehe ihr weder um die Beschreibung einer „Natur“ des Menschen noch um die Erkenntnis seiner metaphysischen Substanz oder seines „Wesens“ (vgl. Vita Activa, S.19f).35 Vielmehr sei die unter der Überzeugung der Freiheit und der Nicht-Natürlichkeit der Menschen einzig mögliche Bestimmung die der grundsätzlichen Bedingtheit der menschlichen Existenz. Sämtliche Tätigkeiten werden zugleich ermöglicht und begrenzt durch natürliche oder von Menschen geschaffene Bedingungen. Die Gesamtheit menschlicher Tätigkeiten, die Vita Activa, unterteilt Arendt in Arbeiten, Herstellen und Handeln (vgl. Vita Activa, S. 16f).36 Arbeit wird als lebensnotwendige Grundtätigkeit definiert, die dem biologischen Selbsterhaltungsprozess des Individuums und der Gattung entspricht. Die Grundbedingung, der das Arbeiten entspricht, ist das Leben, das erhalten werden soll.
Mittels der Tätigkeit des Herstellens wird eine künstliche, objektive Dingwelt erschaffen, die der Natur entgegensteht. Durch ihre Beständigkeit überdauert sie das Leben des einzelnen Individuums und gibt dem Menschen eine spezifisch menschliche Umgebung, die der Natur entgegensteht. Die Grundbedingung des Herstellens ist die Weltlichkeit. Die menschliche Existenz ist auf deren Gegenständlichkeit und Objektivität angewiesen.
Handeln stellt die höchste und im eigentlichen Sinn menschliche Tätigkeit dar. Sie spielt sich ohne die Vermittlung von Material und Dingen direkt zwischen Menschen im Raum der Öffentlichkeit ab und bezeichnet das politische Vermögen der Menschen. Die Grundbedingung des Handelns ist die Pluralität.
Die drei Grundtätigkeiten sind in der allgemeinen Bedingung der Zeitlichkeit des menschlichen Lebens verankert, der sie jeweils in einer ihnen eigenen Weise entsprechen. Im Anschluss an Heidegger hebt Arendt die Bedeutung von Geburt und Tod hervor, die die Existenz begrenzen, sie betont neben dem „Sein zum Tode“ besonders die Bedeutung der Natalität und bestimmt den Menschen positiv vom Anfang seiner Geburt her. Aus der Natalität leitet sich die grundsätzliche Freiheit der Menschen ab, die das Potential haben, entsprechend dieser Voraussetzung in der Welt „einen neuen Anfang zu machen“ (Vita Activa, S. 18). Das Handeln entspricht der Natalität stärker als Arbeiten und Herstellen, da diese Tätigkeiten zwar auch zukunftsorientiert ausgeführt werden und der Aspekt der Initiative in jeder Tätigkeit feststellbar ist, jedoch im Bestreben der Lebenserhaltung bzw. der Errichtung einer objektiven, die Sterblichkeit der Einzelnen überdauernden Dingwelt der Notwendigkeit des Lebens bzw. der Lebenserhaltung stärker unterliegen. Jeder neue Mensch, der in die Welt geboren wird, hat die Fähigkeit, spontan etwas Neues zu beginnen. Diese Fähigkeit lässt sich nur handelnd im Bereich des Politischen vollkommen aktualisieren, da Freiheit nur im Handeln besteht und auch nur im Handeln erfahrbar ist.
Die Condition humaine umfasst jedoch noch mehr als diese natürlichen Bedingungen, unter denen die Menschen auf der Erde existieren: alles, womit der Mensch in Kontakt kommt, alles, was in der Welt erscheint, wird zur seiner Bedingung (vgl. Vita Activa, S. 18f ). Die Menschen errichten herstellend selbst eine Objektivität, die ihnen wiederum mit der gleichen Intensität zur Bedingung wird wie die natürlich gegebenen Bedingungen der Zeitlichkeit und der Pluralität. Die künstlich hergestellten Gegenstände erweitern und ergänzen die grundsätzliche Bedingtheit des Menschen, er kann seine Bedingungen zum Teil selbst erschaffen und gestalten und der Natur eine eigene, menschliche Dingwelt entgegensetzen.37 Insofern kann ein bestimmendes „Wesen“ des Menschen nicht eindeutig definiert werden. Keine der natürlichen Grundbedingungen bedingt absolut (vgl. Vita Activa, S. 21), sondern jede kann durch menschliches Tun in der Welt modifiziert und erweitert werden. Zudem ist auch die Anwesenheit Anderer in der Welt eine wesentliche Bedingung der menschlichen Existenz. Im unabsehbaren Handeln in der Pluralität verwirklicht sich menschliche Freiheit, die sich jeder definitorischen Festschreibung grundsätzlich entzieht.
Der Mensch lebt notwendig in einer Umgebung, die stets direkt oder indirekt (in den durch Herstellen hervorgebrachten Dingen) durch die Anwesenheit Anderer charakterisiert ist.38 Das Handeln als höchste menschliche Tätigkeit ist durch Pluralität bedingt und damit nur intersubjektiv verständlich. Es ist untrennbar an die ständige Anwesenheit einer Mitwelt gebunden (vgl. Vita Activa, S. 34). Die beiden anderen Tätigkeiten, Arbeiten und Herstellen, sind theoretisch auch in Isolation ausführbar. Jedoch würden ausschließlich Arbeitende und Herstellende in völliger Einsamkeit ihre spezifisch menschliche Fähigkeit, das Handeln, nicht realisieren und wären somit auf ein Leben zurück geworfen, das dem Tierischen vergleichbar wäre39. Arendt teilt die drei Tätigkeiten Arbeiten, Herstellen und Handeln im Anschluss an das Leben in der antiken Polis räumlich zwei unterschiedlichen Bereichen zu, der privaten und der öffentlichen Sphäre (vgl. Vita Activa, S. 38ff).
Das Arbeiten ist lokalisiert im Raum des Privaten, des Haushaltes bzw. oikos. Sie unterliegt der Notwendigkeit des Lebens und ist damit eine vollständig unfreie, determinierte Tätigkeit, die der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse dient.40 Als Stoffwechsel mit der Natur läuft sie kreislaufförmig ab und bringt nichts Dauerhaftes hervor, da ihre Produkte dem Verzehr dienen. Werden sie nicht verzehrt, verderben sie schnell und gehen wieder in den Naturkreislauf ein. Der eigentliche Arbeitsvorgang und der Konsum sind als zwei zusammengehörige Aspekte der gleichen Tätigkeit zu verstehen (vgl. Vita Activa, S. 115; 117f).
Der Raum des Öffentlichen, in dem das Handeln, bzw. das Politische verortet ist41, ist undenkbar ohne die vermittelnde Dingwelt, die herstellend hervorgebracht wird. Arendt folgt bei ihrer grundlegenden Unterscheidung von Herstellen und Handeln der aristotelischen Dichotomie von poiesis und praxis.42 Der Herstellende (von Arendt metaphorisch als Homo faber bezeichnet) verwandelt das natürliche Ausgangsmaterial in dauerhafte Gegenstände, die der Flüchtigkeit des einzelnen Lebens Objektivität und Beständigkeit entgegensetzen. Herstellen ist einsame Tätigkeit, die in Isolation von Anderen erfolgt. Der Gegenstand wird durch Verdinglichung eines dem eigentlichen Herstellensprozess vorhergehenden Modells erzeugt. Jedes Herstellen hat ein gewalttätiges, „prometheisches Moment“, herstellend wird der Mensch zum Herrscher über die Natur (vgl. Vita Activa, S. 165ff). Der Herstellungsprozess verläuft linear und ist als Mittel-Zweck-Relation zu beschreiben, bei der der Nutzen des herzustellenden Gegenstandes außerhalb der Tätigkeit selbst liegt. Im Gegensatz zur kreislaufförmigen, endlosen Arbeit hat jeder Herstellungsprozess einen eindeutigen Anfang und ein definierbares Ende (vgl. Vita Activa, S. 168ff). Er wird durch seinen Nutzen, das beständige Ding, bestimmt, den er als seinen Zweck hervorbringt.43 Arbeiten und Herstellen garantieren die materiellen Grundlagen des Lebens bzw. der Welt, die erfüllt sein müssen, damit sich die menschliche Freiheit handelnd verwirklichen lässt.
Die Welt ist wesentlich dadurch geprägt, dass sie eine mit anderen geteilte Welt ist. Die gemeinsame Welt, in die der einzelne Mensch geboren wird, realisiert sich nicht nur als Ding- sondern als auch als Mitwelt. Die Dinge bilden in ihrer Gesamtheit den spezifischen Existenzraum, in dem Menschen zusammen leben. Die Welt ist die Grundbedingung für die Entstehung des Gemeinsamen, sie verbindet die Menschen und trennt sie voneinander (vgl. Vita Activa, S. 66) durch konkrete Interessen innerhalb ihrer. Sie ist als Zusammenhang von Ding- und Mitwelt zugleich Bedingung und Ergebnis des Handelns. Die Dingwelt sichert die Kontinuität der Mitwelt und damit dem Handeln „eine bleibende Stätte“ (Vita Activa, S. 241). Das Handeln steht in enger Verbindung zum Herstellen, insofern die Resultate des Handelns nur in der Zeit überdauern, wenn sie herstellend in Kunstwerken, Denkmälern und Biografien verdinglicht und damit erinnert werden. Der einzelne Mensch unterliegt der Bedingung der Sterblichkeit, durch die weltbildende Fähigkeit des Herstellens kann er in seinen überdauernden Taten unsterblich werden.
2.2. Handeln: die politische Tätigkeit
Das „[…] Handeln [ist] […] die politische Tätigkeit par excellence […].“ (Vita Activa, S. 18). Handeln als die eigentlich menschliche Tätigkeit ist nur unter der Bedingung der Pluralität möglich, die gleichzeitig handelnd aktualisiert und konstituiert wird.44 In Arendts politischer Anthropologie stehen die Menschen im Plural im Mittelpunkt, wobei deren Vielheit nicht auf Vervielfältigung eines einzigen „Urmodells“ (Vita Activa, S. 17) beruht, wie es in der Gattungsexistenz des Animal laborans dargestellt wird, das sich beim Arbeiten mit anderen zusammen im Kollektiv als Eines verhält und dabei gleichartig und austauschbar wird, da ihm keine Individualität zukommt. Die Pluralität und damit das Handeln sind vielmehr sowohl durch Gleichheit als auch durch Verschiedenheit gekennzeichnet.45 Zum einen sind alle Mitglieder der Gemeinschaft als gleich aufzufassen. Diese Gleichheit besteht jedoch nicht ontologisch und ist der menschlichen Natur nicht a priori inhärent, sie ist keine Gleichartigkeit im Sinne austauschbarer Gattungsexemplare, sondern entsteht innerhalb des öffentlichen Bereichs der Mitwelt durch aktives Handeln. Nur unter der Bedingung der Gleichheit, des gleichberechtigten Zugangs zu und der Teilhabe am gemeinsamen Handeln, kann sich die Freiheit der einzigartigen Person konkret verwirklichen (vgl. Vita Activa, S. 272f). Ohne diese Gleichheit ist keine Tätigkeit innerhalb der Pluralität möglich, da sie eine notwendige Voraussetzung dafür ist, Handlungsprozesse entstehen zu lassen, die sich durch Gewaltfreiheit und gleichberechtigte Teilhabe auszeichnen.46 Zum anderen ist jede Person absolut von jeder anderen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschieden. Die Kooperation der Handelnden ist undenkbar ohne die Voraussetzung der Verschiedenheit (vgl. Vita Activa, S. 145f; 213f). Die Einzigartigkeit geht über das einfache ontologische Anderssein alles Existierenden hinaus und besteht ontisch im aktiven Vollzug der Personalität, die sich selbst im Handeln und Sprechen zum Ausdruck bringt.47 Der Einzelne erscheint in der Welt unter Menschen und äußert seine Persönlichkeit handelnd und sprechend öffentlich in aktiver Unterscheidung von Anderen.
[...]
1 Vgl. Gloyna, Versprechen, S. 904.
2 Liebsch, Gegebenes Wort oder gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie, S. 22: „Niemals kann der Versprechende garantieren, dass er Wort halten wird. Wer das Gegenteil beteuert, wird nur umso unglaubwürdiger erscheinen. Ein Versprechen ist keine sichere Vorhersage.“
3 Vgl. Liebsch, Gegebenes Wort oder gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie.
4 Vgl. Gloyna, Versprechen.
5 Vgl. Liebsch, Gegebenes Wort oder gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie, S. 23, 44f.
6 Hume, Treatise, S. 438 „[…] the passions, both direct and indirect, are founded on pain and pleasure […].“
7 Beispielsweise können Eigenschaften des Geistes oder des Körpers wie Witz, Verstand, Mut, Schönheit, Kraft, gutes Aussehen oder Geschicklichkeit, aber auch Verwandte oder Besitztümer direkte Ursachen des Stolzes sein; die gegenteiligen Eigenschaften oder das Fehlen der materiellen oder immateriellen Güter können Niedergedrücktheit hervorrufen, vgl. Treatise, S.278f.
8 Hume, Treatise S.318: „The sentiments of others have little influence, when far remov’d from us, and require the relation of contiguity, to make them communicate themselves entirely.“
9 Hume, Treatise S. 324: „[…] the pleasure, which we receive from praise, arises from a communication of sentiments […].“
10 Hume, Treatise, S. 415: „Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.”
11 Hume, Treatise S. 439: “Desire arises from good consider’d simply, and aversion is deriv’d from evil. The will exerts itself, when either the good or the absence of the evil may be attain’d by any action of the mind or body.”
12 So kann ein Gegenstand als lustvoll beurteilt werden, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, oder es kann eine Täuschung über seine vermeintlich lustverschaffenden Eigenschaften vorliegen (vgl. Treatise, S. 460). Es können auch irrtümlich falsche Mittel ausgewählt werden, die dem Erreichen der Ziele nicht dienlich sind. Stellt man fest, dass das gewählte Mittel falsch ist, wird der Affekt, der vom Ziel auf das Mittel übertragen wurde, zurück genommen.
13 vgl. Halbig: Praktische Gründe und die Realität der Moral, S. 39f.
14 Korsgaard: The Normativity of Instrumental Reason, weist darauf hin, dass eine Auffassung von Vernunft als Zweckrationalität einen praktischen, intersubjektiv gültigen Standard voraussetzen würde, gegen den die Handlung verstoßen könnte, auch wenn er nur auf die Wahl des „richtigen“ Mittels beschränkt bliebe. Für Hume gibt es aber keine rationalen oder irrationalen Handlungen, so dass Fälle, in denen das einzig mögliche Mittel zum Erreichen einer Handlung nicht angewandt wird bzw. in denen bewusst an untauglichen Mitteln festgehalten wird, damit erklärbar sind, dass die ursprünglichen Ziele aufgegeben oder verändert wurden. Zweckrationalität ist damit keine Form praktischer Rationalität, da die Möglichkeit von Irrationalität ausgeschlossen ist (S. 225-233). Vgl. auch Heuer: Gründe und Motive. Über Humesche Theorien praktischer Vernunft, S. 50ff.
15 Hume setzt die Perzeptionen Laster und Tugend sogar mit den primären Eindrücken der Sinneswahrnehmung wie Hitze, Kälte oder Farbwahrnehmungen gleich, vgl. Treatise, S. 469.
16 Da Charaktereigenschaften bzw. die zugrunde liegenden Affekte nicht unmittelbar erschlossen werden können, werden sie nach den entsprechenden Handlungen beurteilt, vgl. Treatise, S. 575.
17 Diese Definition der Tugend durch den Nutzen bedeutet, dass Hume die Begriffe Laster und Tugend in einem weiten Wortsinn versteht und auch Besitz und Talente zu den Tugenden rechnet, vgl. Enquiry, S. 312f.
18 Hume, Treatise, S. 596: „The utility and advantage of any quality to ourselves is a source of virtue, as well as ist agreeableness to others […] “,vgl. auch ebd., S. 591.
19 vgl Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, S. 96f.
20 Da die Gerechtigkeit aber für das gesellschaftliche Zusammenleben bei begrenzten Ressourcen unumgehbar notwendig ist und die Voraussetzung der Selbsterhaltung darstellt, wird sie in diesem Sinne von Hume als „natürlich“ bezeichnet (vgl. Treatise, S. 484).
21 Hume, Treatise, S. 487 : „For while each person loves himself better than any other single person, and in his love to others bears the greatest affection to his relations and acquaintance, this must necessarily produce an opposition of passions, and a consequent opposition of actions; which cannot but be dangerous to the new-establish’d union.“
22 vgl. Hume, Treatise, S.521f:Hume versteht die Versprechensinstitution vor allem als Sanktion des eigennützigen Austauschs von Leistungen. Zwar teilt er die Beobachtung mit, dass es unter Freunden auch uneigennützige Versprechen geben kann, geht im weiteren jedoch nicht mehr darauf ein.
23 Hume, Treatise, S. 522f: „[…] when each individual perceives the same sense of interest in all his fellows, he immediately performs his part of any contract, as being assur’d, that they will not be wanting in theirs. All of them, by concert, enter into a scheme of actions, calculated for common benefit, and agree to be true to their word; nor is there any thing requisite to form this concert or convention, but that every one have a sense of interest in the faithful fulfilling of engagements, and express that sense to other members of the society.”
24 Eine solche Kritik am Versprechensbegriff Humes, die sich hauptsächlich auf die Paradoxien der Übereinkunft als Urvertrag bezieht, vertritt Klass: Das Versprechen. Grundzüge einer Rhetorik des Sozialen nach Searle, Hume und Nietzsche, S. 181 – 188.
25 Hume, Treatise, S. 490: „This convention is not of the nature of a promise: For even promises themselves […] arise from human conventions. It is only a general sense of common interest; which sense all the members of the society express to one another, and which induces them to regulate their conduct by certain rules.“ (vgl. auch Enquiry, S. 306).
26 Historisch gesehen entstehen aus dem „[…] natural appetite betwixt the sexes […]“(Treatise, S. 486) Familien, die ihren Mitgliedern die Vorteile der gemeinsamen Kooperation nahe bringen, durch Erziehung entsprechende Handlungsnormen etablieren und nach und nach zu „Keimzellen“ der Gesellschaft werden.
27 Vgl. Kersting, Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S. 251f.
28 Hume, Treatise, S. 493: “This state of nature, therefore, is to be regarded as a mere fiction, not unlike that of the golden age, which poets have invented […].“, ebd., S. 495: “The selfishness of men is animated by the few possessions we have, in proportion to our wants; and ‘tis to restrain this selfishness, that men have been oblig’d to separate themselves from the community, and to distinguish betwixt their own goods and those of others. Nor need we have recourse to the fictions of poets to learn this; but beside the reason of the thing, may discover the same truth by common experience and observation.”
29 Hume, Enquiry, S. 203f: ”The necessity of justice to the support of society is the sole foundation of that virtue; and since no moral excellence is more highly esteemed, we may conclude that this circumstance of usefulness has, in general, the strongest energy, and most entire command over our sentiments. It must, therefore, be the source of a considerable part of the merit ascribes to humanity, benevolence, friendship, public spirit, and other social virtues of that stamp; as it is the sole source of the moral approbation paid to fidelity, justice, veracity, integrity, and those other estimable and useful qualities and principles.”
30 vgl. Hume, Treatise, S. 581ff, Hume spricht zwar von einem allgemeinen Standpunkt, den ein charakterstarker Mensch bei der Beurteilung von Sachverhalten einnimmt, jedoch ist damit kein objektiver Handlungsgrund oder das Hineinversetzen in die Standpunkte anderer gemeint, vielmehr geht es darum, von seiner aktuellen Motivlage zu den Dingen zu abstrahieren, um sich auch seiner längerfristigen Interessen bewusst zu werden., vgl. auch Lahno, Versprechen. Überlegungen zu einer künstlichen Tugend, S. 266ff.
31 Hume, Treatise, S. 207: „[…] we may observe, that what we call a mind, is nothing but a heap or collection of different perceptions, united together by certain relations, and suppos’d, tho’ falsely, to be endow’d whith a perfect simplicity and identity.“ (Hervorhebung D.H.) Vgl. auch ebd., S. 252: „ […] I may venture to affirm of the […] mankind, that they are nothing but a bundle or collection of different perceptions, which succeed each other with an inconceivable rapidity, and are in a perpetual flux and movement.“
32 Hume, Treatise, S. 340: „Ourself, independent of the perception of every other object, is in reality nothing; […].“, vgl. auch ebd., S. 634f.
33 Hume, Treatise, S. 208f: „Our memory presents us with a vast number of instances of perceptions perfectly resembling each other, that return at different distances of time, and after considerable interruptions. This resemblance gives us a propension to consider these interrupted perceptions as the same; and also a propension to connect them by a continu’d existence, in order to justify this identity, and avoid the contradiction, in which the interrupted appearance of these perceptions seems necessarily to involve us. Here then we have a propensity to feign the continu’d existence of all sensible objects; and as this propensity arises from some lively impressions of the memory, it bestows a vivacity on that fiction; or in other words, makes us believe the continu’d existence of body.“, vgl. auch ebd., S. 253-259.
34 vgl. Hume, Treatise, S. 277: „This object is self, or that succession of related ideas and impressions, of which we have an intimate memory and consciousness. […] According as our idea of ourself is more or less advantageous, we feel either of those opposite affections, and are elated by pride, or dejected with humility. […] When self enters not into the consideration, there is no room either for pride or humility.“
35 Die folgende Untersuchung wird zeigen, ob es Arendt gelingt, diesem Anspruch gerecht zu werden.
36 Die Methode Arendts, die menschlichen Tätigkeiten als Arbeiten, Herstellen und Handeln getrennt voneinander zu analysieren und diese den geistigen Tätigkeiten (Vita Contemplativa) Denken, Wollen und Urteilen gegenüber zu stellen, besteht in der phänomenologischen Analyse von Idealformen des Tätigseins, die ihre bestimmenden Charakteristika jeweils aus den Unterscheidungen und Gegenüberstellungen beziehen. In der Realität der alltäglichen Lebenswelt vereinen die meisten Aktivitäten Aspekte mehrerer dieser Formen in sich. Die intentionale Unterscheidung in Grundtypen erlaubt es jedoch, historische Entwicklungen, moderne Tendenzen und Gefahren sowie grundlegende Differenzen menschlicher Vermögen insgesamt genauer in den Blick zu nehmen.
37 Arendt, Vita Activa, S. 19: „ […] weil menschliche Existenz bedingt ist, bedarf sie der Dinge, und die Dinge wären ein Haufen zusammenhangloser Gegenstände, eine Nicht-Welt, wenn nicht jedes Ding für sich und alle zusammen menschliche Existenz bedingen würden.“
38 Arendt, Vita Activa, S. 33: „Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn.“
39 So wird ein Mensch, dessen Tätigkeiten ausschließlich auf das Arbeiten beschränkt, von Arendt metaphorisch als „Animal laborans“ bezeichnet, vgl. Arendt, Vita Activa, S. 33, 102.
40 Die rigide Abgrenzung der Sphären der Tätigkeiten und besonders die Charakterisierung der Arbeit als gänzlich unfrei erscheinen fragwürdig. In arbeitsteiligen Gesellschaften kann zwischen verschiedenen Arbeiten frei gewählt werden. Lediglich der Fakt, das der Lebensunterhalt gesichert werden muss, scheint unhintergehbar. Über die Art und Weise, wie das passiert (durch verschiedene Arten von Arbeit oder indem man Andere arbeiten lässt), kann aber jederzeit neu entschieden werden.
41 Arendt kritisiert, dass seit der Neuzeit eine Überbewertung der Arbeit stattgefunden habe, die zur Entstehung eines gesellschaftlichen Raumes führe, in dem ehemals private, ökonomische Interessen zu öffentlichen Angelegenheiten werden und so der Bereich des eigentlichen Handelns immer stärker verdrängt werde, vgl. Vita Activa, S. 38ff; 44ff; 47-62.
42 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI.
43 Durch Herstellen werden auch Werkzeuge hervorgebracht, die entweder als Mittel für andere Herstellungsprozesse dienen oder im Bereich des Arbeitens zur Erleichterung der Mühe eingesetzt werden. Sie befreien nie gänzlich von der Notwendigkeit der Arbeit, ermöglichen jedoch eine große Zeitersparnis, die für andere Tätigkeiten genutzt werden kann, vgl. Vita Activa, S. 142ff; 171f.
44 Vita Activa, S. 17: „[…] die Bedingtheit durch Pluralität steht zu dem, daß es so etwas wie Politik unter Menschen gibt, […] in einem ausgezeichneten Verhältnis; sie ist nicht nur die conditio sine qua non, sondern die conditio per quam.“
45 Vita Activa, S. 17: „Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.“
46 Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 349: „Daß alle Menschen als gleiche geschaffen sind, ist weder zwingend evident, noch kann es bewiesen werden. Wir sind dieser Ansicht, weil Freiheit nur unter Gleichen möglich ist und weil wir meinen, daß die Freuden freien Zusammenlebens und Miteinanderredens dem zweifelhaften Vergnügen, über andere zu herrschen, vorzuziehen sind.“
47 Arendt, Vita Activa, S. 214: „Im Menschen wird die Besonderheit, die er mit allem Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.“
- Citation du texte
- Vera Ohlendorf (Auteur), 2009, Der Begriff des Versprechens bei Hannah Arendt und Paul Ricoeur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/180667
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