Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der sozialen Integration von Kindern mit Cochlea Implantat im schulischen Umfeld. Die Debatte ob hörbehinderte Kinder lautsprachlich oder laut- und gebärdensprachlich (bilingual) unterrichtet werden sollen, wurde in den vergangenen Jahrzehnten meist zugunsten eines rein lautsprachlichen Unterrichts entschieden. Vor allem von CI-Kindern wird eine gute Lautsprachentwicklung erwartet, zusätzliche Förderung durch Gebärdensprache wird meist abgelehnt. Es gibt aber auch Kritik seitens einzelner Eltern, LehrerInnen und HeilpädagogInnen an dieser Unterrichtspraxis – es wird ein bilingualer Unterricht gefordert. Im Rahmen dieser Arbeit wurde herausgearbeitet inwieweit sich lautsprachlicher bzw. bilingualer Unterricht auf die soziale Integration von CI-Kindern im Klassenverband auswirkt. Durch teilnehmende Beobachtung und eine soziometrische Analyse wurden die Kommunikation, die sozialen Beziehungen und das schulische Wohlbefinden in zwei Vergleichsklassen untersucht. Die Auswertung erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2008). Im Wesentlichen konnte festgestellt werden, dass sich CI-Kinder in ihrer lautsprachlichen Kommunikationskompetenz stark voneinander unterscheiden und die Entscheidung für eine optimale Unterrichtspraxis nur individuell erfolgen kann. Für CI-Kinder mit schlechtem Hörvermögen und kaum oder nur geringen Lautsprachkenntnissen erwies sich das bilinguale Unterrichtsmodell als hilfreich für die soziale Integration. Aber auch bei gutem Hörvermögen und guten Lautsprachkenntnissen ist soziale Integration von CI-Kindern in einer Schulklasse nicht automatisch gewährleistet. Abschließend lässt sich festhalten, dass ein Ausbau an bilingualen Schulangeboten für hörbehinderte Kinder (mit/ohne CI) notwendig ist, um die heilpädagogische Aufgabe der sozialen Integration erfüllen zu können.
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1 Begriffliche Abgrenzungen
1.1 Einteilung von Hörschädigungen
1.1.1 Klassifikation nach der Art der Hörschädigung
1.1.2 Klassifikation nach dem Ausmaß des Hörverlustes
1.1.3 Klassifikation nach der Ursache und dem Zeitpunkt des Eintretens einer
Hörschädigung
1.1.4 Prä- und postlinguale Hörschädigung
1.2 Schwerhörig oder gehörlos/ertaubt?
1.3 Exkurs: Gebärdensprache als Teil der Gehörlosenkultur
1.4 Häufigkeit und Altersverteilung von Hörschädigungen
2 Das Cochlea Implantat
2.1 Was ist das CI?
2.2 Bestandteile und Funktion eines Cochlea Implantats
2.3 Voraussetzungen für die Implantation
2.4 Nachbetreuung von CI-PatientInnen
2.5 Lautsprachentwicklung bei Kindern mit CI
2.6 Ethische Bedenken gegenüber dem CI
3 Die Entwicklung der Gehörlosenbildung hinsichtlich lautsprachlichem und
gebärdensprachlichem Unterricht
3.1 Institutionalisierte Bildung Gehörloser
3.2 Der „Methodenstreit“
3.3 Die Verallgemeinerungsbewegung
3.4 Derzeitige Schulsituation hörbehinderter Kinder in Österreich
3.4.1 Gehörlosen- und Schwerhörigenschulen
3.4.2 Integrative Beschulung
3.4.3 Lautsprache versus Gebärdensprache
3.4.4 Bilinguale Integration
4 Schulische Integration von hörbehinderten Kindern und Jugendlichen
4.1 Soziale Integration
4.2 Soziale Beziehungen
4.3 Kommunikation
4.4 Schulisches Wohlbefinden
4.5 Entwicklung der Klassengemeinschaft
4.6 Zusammenfassung
5 Methodisches Vorgehen
5.1 Fragestellung
5.2 Auswahl der Schulklassen
5.3 Forschungsmethoden
5.3.1 Teilnehmende Beobachtung
5.3.2 Soziometrischer Test
5.3.3 Qualitative Inhaltsanalyse
6 Darstellung der Forschungsergebnisse
6.1 Schulischer Alltag und Beschreibung der CI-Kinder
6.1.1 Beschreibung der Schulklassen
6.1.2 Beschreibung der CI-Kinder
6.2 Soziale Beziehungen der CI-Kinder
6.3 Kommunikation
6.4 Schulisches Wohlbefinden
Resümee und Konsequenzen aus heilpädagogischer Sicht
Literatur
Anhang......
Vorwort
Mein Interesse an der Thematik wurde durch einen Gebärdensprachkurs geweckt, der mich in Kontakt mit der Gehörlosengemeinschaft brachte. Anlass für die nähere Auseinandersetzung mit dem Cochlea Implantat waren meine Erfahrungen mit einem CI- versorgten Kind während einer zweiwöchigen Hospitanz in einer Wiener Integrationsklasse. Dieses Kind unterschied sich, entgegen meiner Erwartung, in seiner lautsprachlichen Kommunikationskompetenz nicht von den drei anderen gehörlosen MitschülerInnen. Das Mädchen verständigte sich sowohl mit den gehörlosen MitschülerInnen, als auch mit den hörenden SchülerInnen fast ausschließlich in Gebärdensprache. Das Kommunizieren mit Lautsprache war etwa mit mir nicht möglich, da weder sie mich ausreichend, noch ich sie verstand. Für mich stellte sich die Frage, wie sich die schulische Situation für andere gehörlose SchülerInnen mit CI gestaltet. Die Frage, ob die schlechte Lautsprachentwicklung dieses Mädchens und die damit verbundenen Schwierigkeiten in der lautsprachlichen Kommunikation ein Einzelfall sind, oder sich auch bei anderen gehörlosen SchülerInnen mit CI finden lassen, war Anlass mich mit der Thematik im Rahmen meiner Diplomarbeit auseinanderzusetzen.
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt den Direktorinnen und Lehrerinnen, die mir Zugang zu den Integrationsklassen gewährten und mein Forschungsprojekt damit unterstützt haben.
Ebenso bedanken möchte ich mich bei Ass.-Prof. Mag. Dr. Andrea Strachota für ihr Engagement sowie die kompetente Betreuung meiner Arbeit - vor allem durch ausführliche Rückmeldungen und konstruktive Kritik.
Danke möchte ich auch meinen Studienkolleginnen sagen, die meine Arbeit lasen und kommentierten und mir dadurch fachlichen Beistand leisteten.
Besonders möchte ich mich auch bei meinen Freundinnen bedanken, die mich während der Entstehung meiner Arbeit immer wieder motivierten und mir durch die gemeinsamen Lernstunden das Schreiben erleichterten.
Zuletzt möchte ich mich bei meiner Familie - insbesondere bei meiner Mutter - bedanken, die mich während meiner Studienzeit nicht nur finanziell unterstützten, sondern immer an meiner Seite standen.
Einleitung
Problemstellung
Die Gruppe der Menschen, deren Hörvermögen vermindert bzw. gänzlich ausgefallen ist, kann je nach Grad des Hörverlustes in Schwerhörige und Gehörlose eingeteilt werden (Leonhardt 2002, 22). Für das natürliche Erlernen der Lautsprache (imitativ-auditiv) ist ein gutes Gehör notwendig. Menschen, deren Beeinträchtigung des Gehörs so schwer ist, dass ein natürlicher Lautspracherwerb nicht möglich ist, gelten als gehörlos (a.a.O., 77). Ertaubte[1] Menschen unterscheiden sich von Gehörlosen, da der Hörverlust erst nach dem natürlichen Lautspracherwerb eingetreten ist (a.a.O., 82f). Mit Hilfe medizinischer Messungen kann der Hörverlust festgestellt und eine Einteilung in vier Kategorien getroffen werden: leichtgradiger, mittelgradiger und hochgradiger Hörverlust sowie die Resthörigkeit (Diller 2005, 64). Um den Hörverlust auszugleichen, gibt es technische Hörhilfen. Hörgeräte nutzen die vorhandenen Hörreste und verstärken den Schalleindruck. In Frequenzen, in denen keine Hörreste vorhanden sind, kann allerdings auch durch ein Hörgerät kein Höreindruck entstehen (Diller 2005, 79). Im Unterschied zu Hörgeräten, ist das Cochlea Implantat[2] (CI) eine operativ eingesetzte Innenohrprothese, mit der versucht wird, ausgefallene Funktionen in der Cochlea[3] zu ersetzen (Leonhardt 2002, 137). Als in den 1970ern die ersten Cochlea Implantate erfolgreich in ertaubte Menschen implantiert wurden, waren die Erwartungen und Hoffnungen groß (Hintermair, 37ff). Die Idee, auch gehörlos geborene Menschen mit dieser Hörhilfe auszustatten, scheiterte allerdings vorerst an mangelndem Erfolg (Leonhardt 1997, 11): Die Lautsprachkompetenz dieser Gruppe von Hörgeschädigten4 schien durch das CI nicht verbessert worden zu sein. Erst als die Bedeutung der postoperativen Rehabilitation entdeckt wurde, etablierte sich das CI als erfolgversprechende Hörhilfe auch für gehörlos geborene Menschen (a.a.O.). Ende der 1980er folgten die ersten Versuche, gehörlose Kleinkinder mit einem CI zu versorgen. Durch den guten Erfolg, das heißt die Verbesserung der Hörfähigkeit, der durch diese frühen Implantationen erreicht wurde, und die rasche technische Entwicklung (a.a.O) werden mittlerweile pro Jahr ungefähr 180 gehörlose und ertaubte Kinder und ertaubte Jugendliche bzw. Erwachsene in Österreich mit einem CI ausgestattet (Kraßnitzer 2008, [1]).
Obwohl das CI im Durchschnitt mehr Höreindrücke ermöglicht als der Einsatz eines Hörgerätes, ist es aufgrund der invasiven Methode mehr umstritten als andere Hörhilfen (Stocker 2002, 65). Um jedoch eine möglichst gute Lautsprachentwicklung mithilfe des Cochlea Implantats zu ermöglichen, plädieren viele AutorInnen für eine Operation im Kleinkindalter (Graser 2007, 63f; Diller 2005, 80 u. 100f; Stocker 2002, 65; Diller 1997, 61; Calcagnini-Stillhard 1994, 115). Dies bedeutet, dass Eltern die Entscheidung für oder gegen eine Operation für ihr Kind treffen müssen, ohne das Kind selbst befragen zu können. Es stellt sich somit die Frage, „wie gut muss ein CI sein, damit sich sein aufwendiger und invasiver Einsatz bei einem kleinen Kind rechtfertigen lässt?" (Stocker 2002, 65). Zudem lässt sich für die Eltern nicht voraussagen, wie gut sich die Lautsprache ihres Kindes mit einem CI entwickeln wird: Auch eine möglichst frühe Implantation ist keine Garantie für eine spätere gute Lautsprachkompetenz. Der Erfolg des Cochlea Implantats ist von vielen Faktoren abhängig, z.B. vom Zeitpunkt, an dem die Hörschädigung eintritt, der Dauer der Gehörlosigkeit und dem sprachlichen Umfeld[4] (Graser 2007, 62-67). Es ist nicht möglich, sichere Prognosen über die Lautsprachentwicklung zu stellen, da auch bei guten Bedingungen[5] „ca. 50 % der versorgten und geförderten Kinder das erwartete Ziel nicht erreichen ..." (a.a.O., 69). Die große Variabilität im Erfolg, das heißt eine Lautsprachentwicklung zu erreichen, die mit der hörender Kinder vergleichbar ist, wird von vielen AutorInnen beschrieben (Graser 2007, 43f u. 69; Stocker 2001, 106f; Szagun 2001, 265; Pisoni 2004, 284). Obgleich das CI die Hörfähigkeit in nahezu allen Fällen erheblich verbessert, wird aus einem gehörlosen Kind kein hörendes Kind: „Es besteht wohl ungeteilte Einigkeit darüber, dass auch bei bestmöglich verlaufender Förderung CI-versorgte Kinder hörgeschädigt und das bedeutet lautsprachlich kommunikationsbehindert bleiben ..." (Günther 1997, 17; H.i.O.).
Eltern müssen für ihr Kind also entscheiden, ohne zu wissen, wie ihr Kind später zu dieser Entscheidung stehen wird. Während das CI für die meisten Kinder eine große Hilfe ist, da es die Hörfähigkeit und die Lautsprachkompetenz positiv beeinflussen kann, gibt es vereinzelt auch Jugendliche und Erwachsene, die das CI ablegen, weil es für sie zu wenig Nutzen bringt „oder auch, weil sie den ständigen Hör-Aufmerksamkeitsstress[6] nicht mehr aushalten können und wollen" (Diller 2005, 88f). Eltern befinden sich somit in einem Handlungskonflikt, da sie bei einer Entscheidung gegen das CI „den späteren Vorwurf ihres Kindes befürchten müssen, daß sie ihm diese Chance verwehrt hätten oder - wenn sie sich für das CI entscheiden - den sicherlich ebenso schmerzhaften Vorwurf, warum sie es nicht so akzeptieren konnten wie es war, etc ..." (Hintermair 1996, 71).
Die Entscheidungsfreiheit der Eltern ist laut Hintermair (1996, 70f) auch nur bedingt gegeben. Obwohl Eltern ihr Kind nicht mit einem CI versorgen müssen, bewirkt der gesellschaftliche Druck, der auf sie ausgeübt wird, eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit. Die Angst vor dem Vorwurf, nicht das Beste für ihr Kind getan zu haben, veranlasst viele Eltern dazu, angebotene Untersuchungen und Therapien, wie beispielsweise die Implantation des CI, anzunehmen (a.a.O., 71).
Nach der Implantation, beginnt eine mehrjährige Hörerziehung, die das Ziel hat, „den mit einem Cochlea-Implantat versorgten Kindern eine weitestgehend altersgemäße Entwicklung der Lautsprache zu ermöglichen" (Leonhardt 2002, 143). Das Erlernen der Gebärdensprache bei CI-Kindern wird von vielen ÄrztInnen abgelehnt, da diese der Ansicht sind, dass die Verwendung der Gebärdensprache durch das CI nicht mehr notwendig ist (Krausneker 2007, 133). Diese medizinische Fachmeinung wurde teilweise auch in die Pädagogik übernommen (a.a.O.): So spricht sich etwa der Heilpädagoge Gottfried Diller (1997, 82 u. 93ff) gegen eine laut- und gebärdensprachliche Förderung aus, da sich bei gleichzeitiger Verwendung der Gebärdensprache die Lautsprache nicht so gut entwickeln könne und auch Kurt Stocker (2002, 173ff) sieht im Einsatz von Gebärdensprache bei Kindern mit CI ein Risiko für die Lautsprachentwicklung. Im Unterschied zu Diller zieht er daraus nicht den Schluss, Gebärden zu vermeiden - für ihn überwiegen die positiven Auswirkungen von Gebärdensprache, da durch die Verwendung von Laut- und Gebärdensprache ein größerer sprachlicher Freiraum gegeben ist (a.a.O., 175).
Vom Österreichischen Gehörlosenbund (ÖGLB) wird vor allem die Polarisierung vieler MedizinerInnen, aber auch mancher PädagogInnen, von Hören/CI und Gehörlosenkultur/Gebärden kritisiert. Um einem hörbehinderten Kind eine Sprache zu ermöglichen, die nicht jene Sinne voraussetzt, die nur eingeschränkt funktionsfähig sind, sondern auf jenen Sinnen basiert, die vorhanden sind, wird die Bedeutung von Gebärdensprache auch für Kinder mit CI betont: „Das CI sollte ... niemals als Alternative' zur oder ,Ersatz' für Gebärdensprache gesehen werden. CI und Gebärdensprache schließen einander nicht aus!" (ÖGLB 2006, 9; H.i.O.). Auch der Elternverband deutscher Gehörlosenschulen (1997, 240) betont die Notwendigkeit, Kindern mit CI neben der Lautsprache auch Gebärdensprache anzubieten - Gebärdensprache nimmt auch für CI- Kinder einen wichtigen Stellenwert ein.
Für die Pädagogik wird eine Hörschädigung dann relevant, „wenn der Ausprägungsgrad des Hörverlustes bzw. die Auswirkungen des Hörschadens derart sind, daß das Kind sich nicht ungehindert entwickeln und entfalten kann" (Leonhardt 2002, 26). Hörbehinderte Kinder werden entweder in Schwerhörigen- und Gehörlosenschulen unterrichtet, oder besuchen Integrationsklassen. Im Sinne Kobis (1983, 203) ist Integration mit dem Bestreben verbunden, „soziale Kontakte zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern zu ermöglichen, zu fördern und zu intensivieren." Soziale Integration umfasst demnach die positiven Beziehungen zu den MitschülerInnen, z.B. durch gegenseitige Anteilnahme und gegenseitiges Anteilnehmenlassen, um die Grenzen der Sozial- und Erlebnisräume abzubauen und die Kategorisierung behindert/nicht behindert zu relativieren (a.a.O.). Die soziale Integration hat Einfluss auf das schulische Wohlbefinden und Selbstgefühl eines/r SchülerIn (Eder 1995, 136f). Ist die Qualität der sozialen Beziehungen gut (Akzeptanz durch die LehrerInnen und Integration bei den MitschülerInnen), wirkt sich dies positiv auf das schulische Wohlbefinden und das Selbstgefühl aus (a.a.O., 156).
Ein wesentlicher Aspekt für soziale Kompetenzen sind die Möglichkeiten und Fähigkeiten der hörgeschädigten SchülerInnen zur Kommunikation (Steiner 2009a, 98): Je weniger kommunikative Barrieren es gibt, desto besser wirkt sich dies auf die soziale Integration des/der hörbehinderten Schülerin aus (a.a.O., 100). Sprachliche
Verständigungsschwierigkeiten können sich folglich sowohl auf die soziale Integration als auch auf das schulische Wohlbefinden des/der Betroffenen negativ auswirken (a.a.O.). In bilingual unterrichteten Klassen werden alle Kinder (hörbehinderte und nicht hörbehinderte) in Laut- und Gebärdensprache unterrichtet. Durch den Einsatz von Gebärdensprache sollen sprachliche Verständnisschwierigkeiten verhindert werden: „Kommunikation in Gebärdensprachen ist für gehörlose/hörbehinderte Menschen barrierefrei zugänglich und verständlich" (Krausneker 2007, 19). Die Folgerung dieser Annahme ist für mich, dass in bilingualen Integrationsklassen die Schülerinnen erweiterte Möglichkeiten zur Kommunikation haben und deshalb Verständigungsschwierigkeiten seltener auftreten sollten. Als weitere Konsequenz kann somit angenommen werden, dass durch die erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten in bilingualen Integrationsklassen die soziale Integration und das schulische Wohlbefinden von den CI-Kindern positiver empfunden wird als in nur lautsprachlich unterrichteten Integrationsklassen.
Forschungsstand und Forschungslücke
Untersuchungen zum Cochlea Implantat bei Kindern (Kirk 2004; Pisoni 2004; Lürßen 2003; Diller 1997; Salz et al. 1997) beziehen sich meist auf den Einfluss des CI auf die Hörfähigkeit, das Lautsprachverständnis und die Lautsprachproduktion. Diese Studien zeigen eine Verbesserung der Hörfähigkeit und der Lautsprachkompetenzen (Lautsprachverständnis und -produktion) bei den meisten untersuchten Kindern. Sie beschäftigen sich allerdings nur mit der rezeptiven Sprachfähigkeit, das heißt, es können einzelne Wörter wahrgenommen werden. Offen bleibt bei diesen Studien, inwieweit auch Wörter im Satzzusammenhang verstanden werden können (Graser 2007, 56). Wesentliches Ergebnis dieser Studien ist auch, dass es zwar eine deutliche Verbesserung in den Lautsprachkompetenzen gibt, diese aber individuell stark unterschiedlich sind (a.a.O., 62; Pisoni 2004, 284; Stocker 2001, 106f; Szagun 2001, 265). Die Erfolge reichen von Kindern, die Lautsprachkompetenzen ähnlich den von hörenden Kindern entwickeln, bis zu Kindern, die nur sehr geringe Lautsprachkompetenzen erwerben „und daher auch im Resultat nicht als lautsprachlich kompetent zu bezeichnen sind" (Graser 2007, 56).
Im Unterschied zu den Lautsprachkompetenzen, gibt es zur Lautsprachentwicklung von Kindern mit Cochlea Implantat kaum Studien (Szagun 2006, 10). Eine umfangreiche Studie bezüglich der Entwicklung von Lautsprache bei Kindern mit CI ist die Untersuchung von Szagun (2001). Diese Langzeitstudie untersuchte die Lautsprachentwicklung von 22 hörenden Kindern und 22 Kindern, die vor dem Spracherwerb ertaubt waren und im Alter von 1;2 bis 3;10 (Jahre;Monate) mit einem CI versorgt wurden. Zu Beginn der Studie waren alle Kinder im selben Sprachentwicklungsniveau, die Kinder mit CI erhielten audiologische Förderung[7]. Die Untersuchungsmethode bestand in einer Analyse von spontanen Sprachproben im Abstand von viereinhalb Monaten im Zeitraum von zwei bis drei Jahren (a.a.O., 70-75). Fazit dieser Studie ist, dass etwa die Hälfte der Kinder mit Cochlea Implantat eine Sprachentwicklung hatte, die der natürlichen Sprachentwicklung hörender Kinder glich. Die restlichen 50% hatten eine sehr langsame Sprachentwicklung, schafften es nicht, ganze Sätze zu bilden und verwendeten „kaum Mehrzahl oder korrekte Endungen an Verben, und Artikel und Hilfswörter fehlten fast gänzlich" (Szagun 2006, 13). Eine Antwort auf die Frage warum der Spracherwerb bei CI-Kindern so unterschiedlich verläuft, kann auch Szagun nicht geben (a.a.O., 14).
Eine Studie, die sich mit der schulischen Situation von CI versorgten Kindern in Österreich beschäftigt, ist die Dissertation von Eckl-Dorna (2003). Im Rahmen dieser Studie wurde untersucht, welche Schulen von den 143 Kindern, die im AKH Wien bis 2001 mit einem CI versorgt wurden, besucht werden sowie der schulischen Erfolg und die soziale Integration in die Klassengemeinschaft (Eckl-Dorna et al. 2004, 209ff). Die Autorin führte telefonische Interviews mit den Eltern von 32 Kindern durch, die zum Zeitpunkt der Studie eine Schule besuchten, und sendete anschließend Fragebögen an deren LehrerInnen (Eckl-Dorna 2003, 30). Zwei Drittel der SchülerInnen besuchten eine allgemeine Volks- oder Hauptschule, die restlichen Kinder eine Schule für Gehörlose oder Schwerhörige (a.a.O., 33). Des Weiteren ergab die Studie, dass mehr als die Hälfte der untersuchten Kinder bezüglich Leistung, Aufmerksamkeit und Mitarbeit in der Klasse gleich oder besser als ihre hörenden KlassenkollegInnen abschnitten und gut in die Klassengemeinschaft integriert waren (Eckl- Dorna et al. 2004, 412). Dies bedeutet allerdings auch, dass die restlichen 50% in den untersuchten Bereichen schlechtere Ergebnisse als ihre Mitschülerinnen erzielten und nicht gut in die Klasse integriert waren.
Kinder mit Cochlea Implantat gehören zur Gruppe der Hörgeschädigten (Leonhardt 2002, 87), deshalb möchte ich auch Studien nennen, die sich mit der schulischen Situation von hörgeschädigten Kindern auseinandersetzen. Diese Studien (Lönne 2009; Jacobs 2008; Krausneker, Schalber 2007; Krausneker 2003; Keilmann et al. 2003; Salz, Hüther 1996) legen den Fokus vor allem auf die Möglichkeit der integrativen Beschulung hörgeschädigter Kinder, ohne explizit Rücksicht auf Kinder mit CI zu nehmen. Lönne (2009, 23) erweiterte einen Fragebogen von Haeberlin (1989) um die soziale, emotionale und leistungsmotivationale Integration von 216 hörgeschädigten SchülerInnen in den Jahrgangsstufen drei bis sieben zu erforschen. Während die soziale und leistungsmotivationale Integration eine überwiegend positive Selbsteinschätzung der SchülerInnen ergab, zeigte sich bei der emotionalen Integration ein „Abwärtstrend" im Jahrgangsstufenvergleich. Diese Verschlechterung des emotionalen Integrationserlebens führt die Autorin auf die für die Integration kritische Zeit der Pubertät zurück (a.a.O.). Auch Jacobs (2008, 69ff) untersuchte das soziale, emotionale und leistungsmotivationale Integrationserleben. Er befragte 57 hörgeschädigte GrundschülerInnen, die entweder eine Schule für Hörgeschädigte oder eine allgemeine Schule besuchten. Krausneker (2003, 605) untersuchte im Rahmen ihrer Dissertation eine Wiener Volksschulklasse mit hörenden und gehörlosen Kindern, die bilingual unterrichtet wurden (Deutsch und Gebärdensprache). Die Autorin legte den Fokus auf die soziolinguistische Perspektive, um Möglichkeiten und Einschränkungen des bilingualen Modells herauszufinden. In einer weiteren Studie untersuchte Krausneker zusammen mit Schalber (2007, 3) österreichische Bildungsangebote für gehörlose und hörbehinderte SchülerInnen bzw. Studierende. Auch in dieser Arbeit stehen sprachliche Aspekte im Zentrum, vor allem die Verwendung der Gebärdensprache. Im Unterschied zu Krausnekers Dissertation nehmen die Autorinnen in dieser Arbeit Bezug zum gesamten Schul- und Universitätssystem in Österreich. Keilmann et al. (2003, [1f]) befragten hörgeschädigte Grundschulkinder, wobei 81 Kinder eine Schule für Schwerhörige und Gehörlose, und 53 Kinder eine allgemeine Schule besuchten. Bei zwei Kindern mit Cochlea Implantat musste die Befragung aufgrund mangelnden Sprachverständnisses abgebrochen werden, es ist allerdings nicht ausgewiesen, wie viele Kinder insgesamt ein CI hatten. Ziel der Studie war es, das „psychische und physische Wohlbefinden bei Kindern mit permanenten Hörstörungen" (a.a.O., 1) herauszufinden. Bei einem deutschen Schulversuch, hörende Kinder in Schulen für Hörgeschädigte aufzunehmen (präventive Integration), untersuchten Salz und Hüther (1996, 102ff) die soziale und kognitive Leistung aller Schülerinnen. Neben Intelligenztests, um kognitive Vergleiche ziehen zu können, verwendeten die Autoren soziometrische Analysen und Schülerinnenbefragungen für die Untersuchung der sozialen Integration. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es viele Studien gibt, die den Einfluss des Cochlea Implantats auf die Hörfähigkeit und die lautsprachlichen Kompetenzen der betroffenen Personen untersuchen. Eine Studie zur schulischen Situation von Kindern mit CI gibt es von Eckl-Dorna (2003), diese rückt vor allem die kognitiven Fähigkeiten der CI-Kinder in den Blick. Eine Untersuchung, die sich speziell mit der sozialen Integration in eine Regelschule bei bilingualem bzw. lautsprachlichem Unterricht von Kindern mit CI auseinandersetzt, ist mir nicht bekannt.
Fragestellung
Welche Unterschiede gibt es in der sozialen Integration von Kindern mit Cochlea Implantat, die in lautsprachlich bzw. bilingual geführten Schulklassen unterrichtet werden - unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Beziehungen, der Kommunikation und dem schulischem Wohlbefinden?
Subfragen:
- Wie gestaltet sich der schulische Alltag in der jeweiligen Schulklasse? Welche speziellen Unterrichtsmaßnahmen gibt es für CI-Kinder? Welche Kommunikationsmittel werden im Unterricht verwendet?
- Soziale Beziehungen: Welche Rollen nehmen die SchülerInnen mit CI innerhalb der Klasse ein? Welche Beziehungen haben die Kinder mit CI zu ihren KlassenkollegInnen/LehrerInnen? Welchen soziometrischen Status haben die CI-Kinder? Wie gestalten sich die Sozialkontakte zwischen hörenden SchülerInnen und SchülerInnen mit CI? Gibt es Freundschaften zwischen CI-Kindern und hörenden Kindern?
- Kommunikation: Wie gestaltet sich die Kommunikation der CI-Kinder mit den Lehrpersonen bzw. mit den MitschülerInnen? Gibt es Probleme in der Verständigung? Wie häufig unterhalten sich die CI-SchülerInnen mit den MitschülerInnen? Erzählen sie Erlebnisse in Gruppen? Melden sie sich häufig im Unterricht? Wie gestaltet sich die Kommunikationssituation in den Pausen?
- Schulisches Wohlbefinden: Welche Gefühle zeigen die Kinder mit Cochlea Implantat im Unterricht (Freude, Interesse, Ärger, Langeweile, Niedergeschlagenheit)? Wie häufig treten diese Gefühle auf? Wie stark sind diese Gefühle ausgeprägt?
Forschungsmethode
Um die von mir dargestellten Forschungsfragen untersuchen zu können, habe ich über einen mehrwöchigen Zeitraum wissenschaftliche Beobachtungen einzelner Schulstunden vornehmen. Bei den von mir untersuchten Schulklassen handelt es sich um Integrationsklassen mit CI-Kindern, wobei die zu beobachtenden Kinder der einen Klasse bilingual unterrichtet werden, während die Kinder der anderen Klasse nur in Lautsprache unterrichtet werden. Durch die beobachtende Teilnahme am Unterricht war es mir möglich, den schulischen Alltag der CI-Kinder in diesen Integrationsklassen zu erforschen.
Die teilnehmende Beobachtung eignet sich für mein Forschungsvorhaben, weil der zu untersuchende Gegenstand, die soziale Integration von CI-Kindern, in eine soziale Situation eingebettet ist (schulische Interaktion), der Gegenstandsbereich von außen schwer einsehbar ist und die Fragestellung explorativen Charakter hat (Mayring 2002, 83). Die wissenschaftliche Beobachtung unterscheidet sich von Alltagsbeobachtungen, da sie vorweg geplant wird, einen bestimmten Zweck verfolgt, systematisch aufgezeichnet wird und auf ihre Gültigkeit und Zuverlässigkeit hin prüfbar sein soll (Wosnitza, Jäger 1999, 8). Die teilnehmende Beobachtung ist eine qualitative Forschungsmethode, bei der der/die ForscherIn aktiv oder passiv an sozialen Situationen teilnimmt, um Einsehen in die Perspektive der Beteiligten zu bekommen (Mayring 2002, 80). Bei der halb-standardisierten teilnehmenden Beobachtung entwickelt der/die ForscherIn vorweg einen Beobachtungsleitfaden, um unterschiedliche Situationen vergleichbar zu machen und die Ergebnisse leichter verallgemeinern zu können (a.a.O., 82). Der Beobachtungsleitfaden dient nur als Richtlinie - durch die Teilnahme an der zu beobachtenden Situation ist von dem/der
Forscherin Flexibilität und Offenheit gefordert (Pfaff 2006, 5). Der/die Forscherin muss sich entscheiden, ob die Beobachtung offen oder verdeckt sein soll. Während der Beobachtung habe ich Notizen gemacht, von denen ich im Anschluss Beobachtungsprotokolle erstellt habe.
Durch das Wissen beobachtet zu werden, kann das Verhalten der Gruppe beeinflusst werden (Lamnek 2005, 572). Um die Beeinflussung möglichst gering zu halten, habe ich die Kinder über den genauen Zweck meiner Anwesenheit nicht informiert. Desweiteren habe ich auf eine Videoaufzeichnung meiner Beobachtungen verzichtet, da eine Kamera zu verstärkter Veränderung des Verhaltens und Misstrauen führen kann (a.a.O., 616).
Meine Beobachtungen habe ich durch einen soziometrischen Test ergänzen, der Aufschluss über die Sozialstruktur der jeweiligen Klasse geben kann (Petillon 1980a, 82f). Durch dieses Verfahren wurde es möglich, die soziale Stellung der CI-Kinder innerhalb ihrer Klasse zu erforschen. Für Schulklassen eignet sich besonders das ,Wahlverfahren', bei dem die Schülerinnen gebeten werden, erwünschte bzw. unerwünschte Mitschülerinnen nach einem bestimmten Kriterium aufzuschreiben z.B. als gewünschte Arbeitspartnerin oder Sitznachbarin (a.a.O.).
Zur Auswertung des erhobenen Datenmaterials verwendete ich die Qualitative inhaltsanalyse nach Mayring (1997). Diese Methode ermöglicht ein systematisches Analysieren der Beobachtungsprotokolle (a.a.O., 12). Dabei geht der/die Forscherin regelgeleitet vor, so „daß auch andere die Analyse verstehen, Nachvollziehen und überprüfen können" (a.a.O.). Das Material wird theoriegeleitet analysiert, das heißt, die einzelnen Analyseschritte werden von theoretischen Überlegungen geleitet und auch „die Ergebnisse werden vom jeweiligen Theoriehintergrund her interpretiert" (a.a.O.). Um aus dem Material bestimmte Aspekte herausfiltern zu können, wird ein Kategoriensystem entwickelt (Mayring 2002, 114). Bei der strukturierenden inhaltsanalyse werden die Kategorien deduktiv[8] gebildet, mit dem Ziel, „bestimmte Themen, inhalte, Aspekte aus dem Material herauszufiltern und zusammenzufassen" (Mayring 2008, 89). Die Ergebnisse der qualitativen inhaltsanalyse, wurden durch die Auswertung der soziometrischen Tests nach Petillon (1980a; 1980b) ergänzt.
Heilpädagogische Relevanz Bevor ich auf die heilpädagogische Relevanz meiner Arbeit eingehe, möchte ich mein Verständnis von Heilpädagogik klären. Ich greife dazu eine Begriffsbestimmung von Speck (2008, 18) auf:
„Die Heilpädagogik wird ... als Pädagogik unter dem Aspekt spezieller Erziehungserfordernisse beim Vorliegen von Lern- und Erziehungshindernissen (Behinderungen und soziale Benachteiligungen) gesehen. Als spezielle oder spezialisierte Pädagogik bezieht sie sich auf alle Institutionen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf."
Die Hörgeschädigtenpädagogik ist eine Teildisziplin der Heilpädagogik und beschäftigt sich mit den speziellen Erziehungserfordernissen, die durch eine verminderte Hörfähigkeit entstehen. „Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik ist das Gewährleisten einer möglichst allumfassenden und uneingeschränkten Entwicklung Hörgeschädigter durch hörgeschädigtenspezifische Bildung, Erziehung und Förderung" (Leonhardt 2002, 37). Um dies zu verwirklichen, ist neben der praktischen Tätigkeit im Umgang mit hörgeschädigten Menschen auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hörbehinderung notwendig (a.a.O.). Das Ziel ist, Menschen mit Hörschädigung den Erwerb von Kommunikationskompetenz zu ermöglichen und dadurch deren aktive, soziale Tätigkeit und die soziale Integrität zu gewährleisten (a.a.O., 29).
Die „CI-Träge rinnen", als relativ neue Gruppe Hörgeschädigter, stellen die Hörgeschädigtenpädagogik vor neue Herausforderungen: Aufgaben von HeilpädagogInnen sind die Beratung von Eltern, die eine Entscheidung für ihr Kind treffen müssen, Frühförderung von CI versorgten Kindern sowie die weitere Begleitung dieser Kinder (Calcagnini Stillhard 1994, 115ff). Für CI-Kinder zeichnet sich derzeit der Trend ab, integrativ geführte Schulen zu besuchen (Eckl-Dorner 2003, 33). In Österreich werden die meisten hörbehinderten Kinder (somit auch Kinder mit CI) nur in Lautsprache unterrichtet, Klassen mit bilingualem Unterricht finden sich nur vereinzelt[9] (Krausneker 2007, 240). Um herauszufinden, welchen Einfluss das jeweilige Schulmodell (lautsprachlicher bzw. bilingualer Unterricht) auf die soziale Integration CI versorgter Kinder hat, ist es notwendig, die Praxis der Integration im jeweiligen Schulmodell zu untersuchen.
Aufbau der Arbeit Der theoretische Teil der Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert: Im ersten Kapitel wird der zentrale Begriff der Hörschädigung hinsichtlich Art, Ausmaß, Ursachen und Zeitpunkt sowie Häufigkeit näher definiert. Auch die Gebärdensprache und deren Bedeutung für die Gehörlosengemeinschaft werden thematisiert. Eine Auseinandersetzung mit Aufbau, Funktionsweise und Zielgruppe des Cochlea Implantats finden im zweiten Kapitel Platz. Des Weiteren gehe ich in diesem Kapitel auf die Bedeutung der Nachbetreuung und den Einfluss des Cochlea Implantats, auf die Lautsprachentwicklung bei Kindern, ein. Die Kritik von Gehörlosenverbänden am CI erfordert eine nähere Auseinandersetzung mit ethischen Bedenken gegenüber einer Cochlea Implantation bei gehörlosen Kindern. Im dritten Kapitel wird ein kurzer historischer Abriss über die Entwicklung der Schwerhörigen- und Gehörlosenbildung vorgenommen und auf die derzeitige Schulsituation hörbehinderter Kinder mit Cochlea Implantat in Österreich eingegangen. Besondere Beachtung findet hierbei die Auseinandersetzung zwischen lautsprachlichem bzw. gebärdensprachlichem Unterricht und das Konzept des bilingualen Unterrichts. Im vierten Kapitel wird auf die ,soziale Integration', ,soziale Beziehungen', die ,Kommunikation' und das ,schulische Wohlbefinden' eingegangen. Es wird dem Einfluss von Kommunikation auf die soziale Integration nachgegangen sowie der Zusammenhang zwischen sozialer Integration, sozialen Beziehungen und schulischem Wohlbefinden dargestellt.
Der empirische Teil ist in zwei Kapitel unterteilt: Im fünften Kapitel wird das Forschungsvorhaben und die methodische Vorgehensweise dargestellt und begründet. Es werden die einzelnen Methoden zur Datengewinnung und Datenauswertung vorgestellt. Das Kapitel sechs dient der Darstellung der Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung und des soziometrischen Tests, die in Bezug zum Theorieteil gebracht werden.
Der abschließende Teil der Arbeit, das Resümee, stellt neben der Beantwortung der Forschungsfragen die Bedeutung der gewonnenen Erkenntnisse für die Heilpädagogik dar.
1. Begriffliche Abgrenzungen
Begriffsbestimmungen von Schwerhörigkeit, Gehörlosigkeit, Ertaubung bzw. allgemein Hörschädigung und Hörbehinderung sind eine wichtige Grundlage für eine optimale medizinische, pädagogische und therapeutische Versorgung der betroffenen Menschen (Leonhardt 2002, 22), „da nur bei einer klar definierten Ausgangsbasis eine wissenschaftliche Verständigung und ein gezieltes praktisches Handeln möglich wird" (a.a.O., 28). Der medizinische Begriff ,Hörschädigung‘ ist der Oberbegriff für alle das Hörorgan betreffenden Funktionseinschränkungen. Auch in der Heilpädagogik wird der medizinische Begriff ,Hörschädigung' verwendet (z.B. von Steiner 2009; Lönne 2009; Diller 2005; Stocker 2002; Leonhardt 2002, 1997; Calcagnini Stillhardt 1994), pädagogisch relevant sind allerdings nur jene Hörschädigungen, die „die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt beeinträchtigen und damit soziale Auswirkungen auf den Betroffenen haben" (Leonhardt 2002, 22). Das heißt eine vorliegende Schädigung muss nicht zwangsläufig zu einer Beeinträchtigung der Fähigkeiten und Fertigkeiten des/der Betroffenen führen (Heimlich 2003, 133). Bei hörgeschädigten Menschen führen z.B. leichtgradige Hörschädigungen oft zu keiner Beeinträchtigung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten. „Und selbst wenn eine Beeinträchtigung im Sinne eingeschränkter Kompetenzen vorliegt, dann bedeutet dies ebenfalls noch nicht zwingend, dass daraus eine Behinderung im Sinne sozialer Benachteiligung folgt" (a.a.O.). Behinderung ist demnach die soziale Auswirkung einer individuellen Schädigung (im Sinne eines Defizits oder Mangels). Für die Heilpädagogik sind deshalb in erster Linie die mit dem Ausprägungsgrad der Hörschädigung verbundenen sozialen Auswirkungen auf die betroffene Person bzw. die Wechselbeziehung zwischen betroffener Person und Umwelt relevant. Als hörgeschädigt gilt in der Heilpädagogik folglich ein Kind, das sich aufgrund einer Funktionseinschränkung des Hörorgans nicht uneingeschränkt entwickeln und entfalten kann (Leonhardt 2002, 26). Meines Erachtens wäre jedoch der Begriff ,Hörbehinderung' im pädagogischen Kontext besser geeignet - geht es doch um Menschen die aufgrund einer Hörschädigung im sozialen Leben behindert werden. Deshalb verwende ich in dieser Arbeit den Begriff ,Hörbehinderung', wenn es um Funktionseinschränkungen des Hörens im pädagogischen Kontext geht. In der heilpädagogischen Literatur wird allerdings, bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Hintermair
2003; Große 2001), der Begriff ,Hörschädigung' auch im pädagogischen Kontext verwendet, so dass in dieser Arbeit aufgrund der verwendeten Zitate keine ganz einheitliche Schreibweise möglich ist.
1.1 Einteilung von Hörschädigungen
Hörschädigungen lassen sich nach verschiedenen Kriterien medizinisch klassifizieren. Die wichtigsten Gesichtspunkte sind die Art der Hörschädigung, das Ausmaß des Hörverlustes sowie die Ursache und der Zeitpunkt des Eintritts der Hörschädigung. Aus medizinischer Sicht ist eine genaue Diagnostik für die Art der Behandlung (z.B. Grundlage für die Anpassung von Hörgeräten) und die Einschätzung des Behinderungsgrades notwendig. Für die Heilpädagogik ist die medizinische Diagnostik zwar eine erste Orientierung, es kann allerdings nicht anhand des Befundes auf mögliche Entwicklungsverläufe geschlossen werden[10] (Leonhardt 2002, 50).
1.1.1 Klassifikation nach der Art der Hörschädigung
Der Begriff der Hörschädigung umfasst aus medizinischer Sicht alle Funktionsstörungen im Bereich des Hörorgans, der Hörbahnen oder des Hörzentrums. Dabei unterscheidet man Hörschädigungen anhand ihres anatomischen Ortes (Leonhardt 2002, 50):
a) Schallleitungsschwerhörigkeit
b) sensorineurale Schwerhörigkeit
c) kombinierte Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeit.
Bei der Schallleitungsschwerhörigkeit liegt eine Funktionsstörung der Gehörgangs, des Trommelfeldes oder des Mittelohres vor. Der Hörverlust ist in allen Frequenzen etwa gleich groß und äußert sich für Betroffene in einer leiseren Wahrnehmung von Schallereignissen (a.a.O.). Die Ursache für diese Schwerhörigkeit ist meist eine Mittelohrentzündung oder eine Infektionskrankheit, die auf das Mittelohr übergegriffen hat.
Die sensorineurale Schwerhörigkeit hat ihre Ursache in einer Funktionsbeeinträchtigung im Cortischen Organ oder im Hörnerv. Die höheren Frequenzen sind stärker betroffen, das heißt sie werden weniger deutlich bis gar nicht wahrgenommen. „Schallereignisse, insbesondere die Lautsprache, werden zumeist verzerrt wahrgenommen, weil Teilbereiche des Sprachfeldes (insbesondere die hochfrequenten Sprachanteile) unterhalb der subjektiven Hörschwelle liegen" (Leonhardt 2002, 51). Die sensorineurale Schwerhörigkeit kann vererbt sein, kann pränatal (z.B. Rötelerkrankung der Mutter während der Schwangerschaft), perinatal (z.B. Asphyxie[11] ) oder postnatal (z.B. Meningitis[12] ) (a.a.O., 52) eintreten.
Von einer kombinierten Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeit spricht man, wenn neben einer Schallleitungsstörung noch eine Funktionsstörung des Innenohres besteht. Betroffene nehmen Schallereignisse nicht nur gedämpft, sondern auch verzerrt wahr.
1.1.2 Klassifikation nach dem Ausmaß des Hörverlustes
Hörschäden werden auch nach dem Grad des Hörverlustes eingeteilt. Die Einteilung des niederländischen Gehörlosenpädagogen van Uden dient zur Abgrenzung zwischen leichtgradiger Schwerhörigkeit bis zu Gehörlosigkeit und wurde von der pädagogischen Audiologie weitgehend international übernommen (Löwe 1974, 44). In einem Audiogramm kann der mittlere Hörverlust im besseren[13] Ohr im Frequenzbereich von 500 bis 2000 Hz[14] in Dezibel (dB)[15] angegeben werden. Um den mittleren Hörverlust zu ermitteln, werden die gemessenen Werte des jeweils besseren Ohres bei 500, 1000 und 2000 Hz addiert und durch drei dividiert. Bei nicht wahrgenommenen Frequenzen wird ein Hörverlust von 120 dB angenommen und in die Berechnung mit einbezogen (Löwe 1974, 46).
Je nach gemessenem Hörverlust kann die Hörschädigung eingeteilt werden (Löwe 1974, 44f; Leonhardt 2002, 54):
- Es liegt eine leichtgradige Schwerhörigkeit vor, wenn der Hörverlust zwischen 20-40 dB beträgt.
- Eine mittelgradige Schwerhörigkeit liegt demnach vor, wenn sich der Hörverlust zwischen 40 und 60 dB befindet.
- Von einer erheblichen Schwerhörigkeit spricht man, wenn der Hörverlust 60-70 dB
beträgt.
- Ein Hörverlust von 70-90 dB entspricht einer extremen Schwerhörigkeit.
- Beträgt der Hörverlust mehr als 90 dB, dann spricht man von Resthörigkeit bzw. Gehörlosigkeit.
1.1.3 Klassifikation nach der Ursache und dem Zeitpunkt des Eintretens einer Hörschädigung
Die Ursachen für Hörschädigungen können nach dem Zeitpunkt des Eintretens der Hörschädigung eingeteilt werden. Es wird zwischen pränataler, perinataler und postnataler Hörschädigung bzw. im Erwachsenenalter eingetretener Hörschädigung unterschieden.
1. Pränatale Hörschädigung
Unter pränataler Hörschädigung versteht man, dass die Hörschädigung im vorgeburtlichen Leben erworben wird. Entweder ist die Hörschädigung erblich bedingt (kongenital) oder „sie ist durch Erkrankung der Mutter während der Schwangerschaft (z.B. Masern, Keuchhusten, Röteln) hervorgerufen worden" (Leonhardt 2002, 56). Aber auch Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch sowie missbräuchliche Verwendung von Beruhigungsmitteln und Antibiotika, Diabetes der Mutter oder schwere Blutungen während der Schwangerschaft können zu Hörschädigungen des Kindes führen (a.a.O.).
2. Perinatale Hörschädigung
Perinatale Hörschädigung bedeutet, dass die Hörschädigung kurz vor, während oder in direktem Zusammenhang mit der Geburt entsteht. Mögliche Ursache für eine perinatale
Hörschädigung sind Atemstillstand, Sauerstoffmangel oder eine Schädelverletzung des Kindes während der Geburt (a.a.O.). Auch eine starke Gelbsucht des Neugeborenen, ein Geburtsgewicht unter 1500g oder eine Frühgeburt können eine Hörschädigung zur Folge haben (a.a.O., 57).
3. Postnatale und im Erwachsenenalter eingetretene Hörschädigung
Unter postnatalen Hörschädigungen versteht man Schädigungen, die erst nach der Geburt entstehen. Meist entstehen diese infolge einer Infektionskrankheit wie z.B.: Meningitis, Diphterie, Mumps, Toxoplasmose oder HIV-Infektion (a.a.O.). Auch Schädelverletzungen können zu einer Hörschädigung führen. Im Erwachsenenalter treten Hörschädigungen seltener in Folge von Krankheiten auf, sondern durch einen Hörsturz oder als Folge andauernden, starken Lärms (a.a.O.). Zu dieser Gruppe zählt auch die „Altersschwerhörigkeit". Etwa ab dem 30.Lebensjahr nimmt die Hörfähigkeit im Rahmen des normalen Alterungsprozesses bei allen Menschen ab. In Folge werden vor allem Geräusche im Hochtonbereich (z.B. Grillenzirpen) nicht mehr gehört und besonders bei Störschall das Sprachverständnis negativ beeinflusst (Leonhardt 2002, 195).
1.1.4 Prä- und postlinguale Hörschädigung
Der Zeitpunkt des Eintretens einer Hörschädigung ist vor allem aus Perspektive der Lautsprachentwicklung relevant. Tritt die Hörschädigung vor Vollendung des vierten Lebensjahres ein, wird der/die Betroffene als prälingual hörgeschädigt bezeichnet (Wisotzki 1994, 49). Die natürliche Lautsprachentwicklung ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen, das weitere Erlernen der Lautsprache erfolgt nicht mit der hörender Kinder vergleichbaren Natürlichkeit, Spontaneität und Selbstverständlichkeit (Jussen 1991, 206). Ist das Gehör so stark beeinträchtigt, dass Lautsprache nicht mehr auditiv-imitativ erlernt werden kann, spricht man auch von Gehörlosigkeit (Leonhardt 2002, 80). Das Verhältnis zur Lautsprache bleibt für prälingual Hörgeschädigte immer ein anderes als dasjenige Hörender (Jussen 1991, 206).
Hörschädigungen, die erst nach der Vollendung des vierten Lebensjahres eintreten, werden als postlinguale Hörschädigungen bezeichnet (Wisotzki 1994, 49). Ab diesem Alter hat die natürliche Lautsprachentwicklung (auditiv-imitativ) einen relativen Abschluss gefunden, wobei kritisch angemerkt werden muss, dass der Erwerb von Sprache ein Prozess ist, „der während des gesamten Lebens anhält und nicht völlig abgeschlossen wird" (Leonhardt 2002, 84). Nichtsdestotrotz verfügen ertaubte Menschen über auditive Vorerfahrungen und haben lautsprachliche Kenntnisse, „wenn auch mit dem fortschreitenden Hörverlust zunehmende Erschwernisse in der kommunikativen Verständigung und in der sozialen Beziehungsaufnahme zu anderen auftreten können" (Jussen 1991, 206). Im Unterschied zur postlingualen Schwerhörigkeit (verbliebenes Hörvermögen), liegt eine „Ertaubung" vor, wenn der/die Betroffene postlingual gehörlos (bzw. resthörig) geworden ist. Eine Ertaubung kann bei dem/der Betroffenen zu erheblichen, psychischen Problemen führen, da die Ertaubung zu einer „völlig veränderten Wahrnehmungs- und Kommunikationssituation" führt (Leonhardt 2002, 86). „Hinzu kommt eine tiefe Verunsicherung bezüglich der eigenen Identität und daraus erwachsend eine Gefährdung der Selbstsicherheit" (a.a.O.). Bei Spätertaubten (Personen, die erst nach dem 18./19. Lebensjahr ertaubt sind) erfolgte die Sozialisation im sozialen Umfeld nicht unter den erschwerten kommunikativen Bedingungen, die eine Hörbehinderung mit sich bringt (a.a.O.). Damit Betroffene die veränderten Anforderungen des Lebens bewältigen können, ist eine heilpädagogische Förderung (z.B. spracherhaltende Fördermaßnahmen) unmittelbar nach der Ertaubung notwendig, damit das Selbstvertrauen und die Kommunikationsbereitschaft erhalten bleiben (a.a.O., 87).
1.2 Schwerhörig oder gehörlos/ertaubt?
Aus medizinischer Sicht erfolgt die Abgrenzung zwischen schwerhörig und (prälingual) resthörig bzw. (postlingual) ertaubt anhand der bereits dargestellten Klassifikation nach dem Ausmaß des Hörverlustes. Demnach wird ein Mensch ab einem mittleren Hörverlust von 90dB am besseren Ohr als resthörig bezeichnet (vgl. Kapitel 1.1.2). Der Begriff „gehörlos" wird allerdings in der Medizin vermieden, da es aus medizinischer Sicht keine völlige Gehörlosigkeit gibt - es wird davon ausgegangen, dass Hörreste immer vorhanden sind, diese aber derzeit diagnostisch nicht erfasst werden können (Wisotzki 1994, 51). Unter pädagogischem Aspekt reicht die medizinische Diagnose zur Abgrenzung zwischen Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit nicht aus, da die gleiche Art und das annähernd gleiche Ausmaß einer Hörschädigung zu völlig unterschiedlicher Lautsprachentwicklung der betroffenen Person führen kann (Leonhardt 2002, 27). In der Pädagogik wird zwischen schwerhörig/gehörlos bzw. ertaubt oft dadurch unterschieden, ob ein Kind Lautsprache auf natürlichem Weg (auditiv-imitativ unterstützt durch Hörhilfen) erlernen kann, oder nicht. Dieses Unterscheidungskriterium wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt, als eine Trennung der Schwerhörigen- und Gehörlosenschule erfolgte, wobei sich „diese grundsätzlichen Überlegungen ... bis in die Gegenwart hinein gehalten" haben (a.a.O., 26). So bezeichnet Leonhardt (2002, 74f) Menschen als schwerhörig, „deren Schädigung des Hörorgans die Wahrnehmung akustischer Reize so beeinträchtigt, daß sie Lautsprache mit Hilfe von Hörhilfen aufnehmen und ihr eigenes Sprechen - wenn auch mitunter nur eingeschränkt - über die auditive Rückkopplung kontrollieren können." Die Gruppe der Schwerhörigen ist weitestgehend heterogen, da ihr sowohl Personen mit nur sehr geringem Hörverlust angehören, als auch Personen, die laut medizinischer Diagnostik resthörig sind, aber über gute Lautsprachkompetenzen verfügen. Bei gehörlosen/ertaubten Menschen ist die Funktionsbeeinträchtigung des Gehörs so schwerwiegend, dass sich Lautsprache - auch mit Hilfe von Hörhilfen - nicht auf natürlichem Weg entwickeln kann[16] (a.a.O., 80). Tritt die Hörschädigung bereits vor dem 4. Lebensjahr (prälingual) ein, spricht man von Gehörlosigkeit, danach von Ertaubung (vgl. Kapitel 1.1.4).
Erschwert wird eine Abgrenzung zusätzlich durch die Selbstbestimmung der Betroffenen: Gehörlos ist ein Mensch demnach, wenn er sich aufgrund seiner Hörbehinderung der kulturellen Minderheit der Gehörlosen zugehörig fühlt (a.a.O.). Äußere Gegebenheiten wie z.B. Hörverlust, lautsprachliche Kompetenz nehmen nach dieser Definition eine untergeordnete Rolle ein. Ausdruck der Zugehörigkeit zur Gehörlosenkultur ist oft die aktive Verwendung der Gebärdensprache.
Für die pädagogische Arbeit erscheint eine Einteilung in schwerhörig/gehörlos aufgrund der dargestellten Abgrenzungsprobleme nur bedingt sinnvoll (a.a.O., 27). So ist es für die individuelle Förderung hörbehinderter Kinder durchaus notwendig zu unterscheiden, ob ein Kind Lautsprache auf natürlichem Weg erlernen kann oder nicht. Da die Entwicklung der betroffenen Kinder allerdings individuell sehr unterschiedlich sein kann, sollte in der pädagogischen Arbeit der Fokus mehr auf den Fähigkeiten bzw. Schwächen des betroffenen Kindes liegen, als auf der Klassifikation[17] seines Hörvermögens.
1.3 Exkurs: Gebärdensprache als Teil der Gehörlosenkultur
Gebärdensprache ist eine visuell-motorische Sprache, deren Anerkennung als vollwertige Sprache auf den amerikanischen Linguisten William Stokoe zurück geht. Er analysierte in den 1960er Jahren die amerikanischen Gebärdenzeichen und stellte fest, dass Gebärdensprache alle linguistischen Kriterien einer Sprache erfüllt und der Lautsprache in nichts nachstehe (Leonhardt 2002, 150). Nach Wisch (1990, 155) ist Gebärdensprache als „konventionelles Zeichensystem zu definieren, dessen Elemente eine bestimmte Struktur aufweisen, nach bestimmten Regeln miteinander verknüpft werden und im Sinne der symbolischen Interaktion der zwischenmenschlichen und intrapersonellen Verständigung dienen." Gebärdensprache unterscheidet sich je nach Land und Kultur: Obwohl die Strukturen weltweit ähnlich sind, gibt es keine universelle Gebärdensprache (Ringli 1991, 273f). Für viele Gehörlose bietet Gebärdensprache die Möglichkeit barrierefrei zu kommunizieren, und ist deshalb ein „unerläßliches Verständigungsmittel" (Leonhardt 2002, 81).
Ausgehend von Stokoes Forschungsergebnissen fand Gebärdensprache aus linguistischer Sicht zunehmend Anerkennung. Die sogenannte „Gebärdensprachbewegung" breitete sich in den 1970er Jahren auch in Europa aus. Im Unterschied zu den skandinavischen Ländern, in denen Gebärdensprache auch im Bildungswesen sehr früh Anerkennung fand, wurde das Thema im deutschsprachigem Raum nur auf theoretischer Ebene von Betroffenen, LinguistInnen, Psychologinnen, PädagogInnen und Medizinerinnen behandelt. Bis heute blieben die Auswirkungen dieser Diskussion auf die Bildung und Erziehung hörbehinderter Kinder und Jugendlicher sehr gering (Leonhardt 2002, 151) (vgl. Kapitel 3.4.3).
Für Gehörlose bewirkte die Anerkennung ihrer eigenen Sprache ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein[18]. Die Gebärdensprache als Basis ihrer Identität als Gehörlose führte zur Vorstellung einer eigenen Kultur. Gehörlosigkeit wird innerhalb der Gehörlosengemeinschaft nicht als Behinderung oder Defizit gesehen, sondern als Merkmal einer linguistischen Minderheit (Bentele 2001, 47). „Gehörlose sind mehr als Hörende minus Gehör - oder vielmehr einfach etwas anderes" (a.a.O., 44). Für die hörende Gesellschaft gestaltet sich die Anerkennung als kulturelle Minderheit schwierig, weil Gehörlosigkeit bezogen auf die hörende Welt eine Behinderung darstellt:
„Es fällt uns schwer, eine Gruppe von Menschen als Minderheit anzuerkennen, deren Sprache und Kultur zwar zweifellos vorhanden und schätzenswert sind, aber auf einem Defekt beruhen. Daß das Nicht-hören nur im Verhältnis zur hörenden Welt ein Problem und da ein soziales, kommunikationsbedingtes ist, daß dieser Defekt innerhalb der Gehörlosengemeinschaft kein Defekt ist, das eben stellt die Schwierigkeit dar" (Bentele 2001, 48).
Das Ausmaß des Hörverlustes spielt für die Zuordnung zur Gehörlosenkultur eine untergeordnete Rolle; Mitglied der Gehörlosenkultur wird jemand, der sich „aufgrund bestimmter Merkmale als Mitglied der Gemeinschaft zu erkennen gibt und von den anderen Mitgliedern akzeptiert wird" (Leonhardt 2002, 152). Das wesentlichste Merkmal ist die Benutzung der Gebärdensprache, andere Merkmale sind z.B. Benutzung kulturspezifischer Gegenstände (z.B. Lichtglocke, Bildtelefon), eigene formale Sozialstruktur, Vereine, regelmäßige Treffen (a.a.O.). Mitglieder der Gehörlosenkultur kommunizieren allerdings durchaus nicht nur in Gebärdensprache: Nach einer bilingualen Erziehung in Laut- und Gebärdensprache, soll der/die Gehörlose später je nach Situation wählen können, welche Sprache er/sie verwendet. Gehörlosen Kindern soll ein natürlicher Spracherwerb in Gebärdensprache ermöglicht werden, nicht nur aufgrund der Möglichkeit zur ungehinderten Kommunikation, sondern auch hinsichtlich der Erwartung einer besseren sozialen und kognitiven Entwicklung der Betroffenen (a.a.O., 159). Da die Lautsprache immer eingeschränkt bleiben wird, hat Gebärdensprache auch für die Identitätsfindung eine besondere Rolle (a.a.O., 83): „Die Gebärdensprache soll zu dieser [Identitätsfindung; Anm. T.R.] beitragen und zu einer Teilhabe in einer eigenen Sprach- und Kulturgemeinschaft verhelfen" (a.a.O.). Obwohl die Anerkennung der Gebärdensprache zu einem veränderten, positiven Selbstbild vieler Gehörloser geführt hat, hat sich die Bedeutung der Gehörlosengemeinschaft nicht so stark etabliert, wie dies von ihren Mitgliedern gewünscht wäre. Dies liegt vor allem daran, dass die meisten hörbehinderten Kinder, hörende Eltern haben (90%) (Hintermair 2005, 69). Diese Eltern haben in der Regel keinerlei Erfahrungs- und Handlungswissen im Umgang mit ihrem hörbehinderten Kind und (bisher) keinen Zugang zur Gehörlosengemeinschaft. Auch die Kommunikation mit ihrem Kind in Gebärdensprache wird von vielen abgelehnt (vgl. Kapitel 3.4.3) (a.a.O.). Die Tendenz zur lautsprachlichen Erziehung wird von manchen Mitgliedern der Gehörlosengemeinschaft deshalb als Bedrohung ihrer Kultur erlebt. Verstärkt wird diese Angst durch neue Techniken wie das CI, da durch sie eine noch stärkere Ausrichtung zur (rein) lautsprachlichen Förderung von hörbehinderten Kindern befürchtet wird (Bentele 2001, 46) (vgl. Kapitel 2.6). Um auch hörbehinderten Kindern von hörenden Eltern den Zugang zur Gebärdensprache zu ermöglichen, fordern GehörlosenvertreterInnen ein bilinguales Förderkonzept (Leonhardt 2002, 159): Gehörlose sollen bereits im Rahmen einer Frühförderung, in der Familie, als FrüherzieherInnen eingesetzt werden. Für die vorschulische und schulische Unterrichtung hörbehinderter Kinder werden gehörlose und hörende LehrerInnen gefordert, um das Konzept des bilingualen Unterrichts zu verwirklichen (a.a.O.).
1.4 Häufigkeit und Altersverteilung von Hörschädigungen
Angaben über die Verbreitung von Hörschäden sind sehr uneinheitlich. Der Verein Bizeps ([2009], [1]) gibt an, dass in Österreich 8000 gehörlose Menschen (0,1% der Gesamtbevölkerung) leben und weitere 10.000 - 15.000 Menschen (~0,16% der Gesamtbevölkerung) hochgradig schwerhörig oder ertaubt sind (Bizeps 2009, [1]). Laut Statistik Austria waren 1999 in Österreich 120.000 Personen (1,5% der Gesamtbevölkerung) von Schwerhörigkeit betroffen, unklar bleibt dabei jedoch, ob zu dieser Gruppe auch gehörlose Menschen gezählt werden (Statistik Austria 2009, [1]). Die höchste Angabe finden sich bei Stalzer (2009, 1): Hier ist zu lesen, dass in Österreich 8000 - 10.000 gehörlose Menschen leben und insgesamt 450.000 (~5,63%) Personen ein beeinträchtigtes Hörvermögen haben.
Gründe für die unterschiedlichen Angaben können sein: eine unzulängliche Erfassungsmethode, Abgrenzungs- und Klassifikationsprobleme bis hin zu unterschiedlichen Auffassungen, welche Hörschädigungen erfasst werden sollen (z.B. einseitige Hörschädigung) (Krüger 1991, 25).
Bezüglich der Altersverteilung gibt Krüger (1991, 26) - auf Basis einer Untersuchung des Deutschen Grünen Kreuzes - an, dass von allen hörgeschädigten Personen in Deutschland etwa die Hälfte (45%) über 60 Jahre alt ist, im Alter zwischen 40-60 Jahre sind etwa gleich viele (40%) betroffen, vergleichsweise wenig Hörschädigungen (11%) entstehen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Im Kindes- und Jugendalter ist demgegenüber nur ein sehr geringer Teil (4%) von einer Hörschädigung betroffen. Vergleichbare Zahlen für Österreich sind mir nicht bekannt, es ist allerdings anzunehmen, dass die Altersverteilung von hörgeschädigten Personen mit Deutschland vergleichbar ist.
2 Das Cochlea Implantat
Das Cochlea-Implantat ist eine elektronische Hörhilfe, um gehörlosen, hochgradig schwerhörigen und ertaubten Menschen Hören zu ermöglichen (Szagun 2001, 65). Es eignet sich für Personen, deren Hörschädigung Folge eines Funktionsausfalles des Innenohres ist und bei denen ein Hörgerät, das nur den Schalleindruck verstärkt, zu keiner wesentlichen Verbesserung der akustischen Wahrnehmung führen würde[19]. Voraussetzung für die Wirksamkeit eines CI ist ein funktionstüchtiger Hörnerv sowie die Fähigkeit des Gehirns, das Wahrgenommene zu empfangen und zu verarbeiten (Leonhardt 2002, 135).
Das erste Cochlea Implantat erhielt ein hörgeschädigter Mensch in den USA im Jahre 1957 in den USA. Über Mikrophon, das den Schalleindruck verstärkt, konnte er danach einige Worte verstehen (z.B. Hallo, Mama) und durch intensives Training sein Vokabular erweitern (Lehnhardt 1997, 20). Basierend auf diesem ersten Versuch entwickelten Forschungsgruppen in den USA und Europa immer komplexere Cochlea Implantate, beschränkten sich aber vorerst auf die Implantation bei Erwachsenen (a.a.O., 24). Vorreiter bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit einem CI waren ForscherInnen aus Australien, durch deren Hilfe es schließlich 1988 auch Lehnhardt in Deutschland erstmals gelang dieser Altersgruppe ein CI zu implantieren (a.a.O., 25). „Der Erfolg wurde maßgebend dadurch bestimmt, daß Lehnhardt nicht nur die operationstechnische Seite vom Standpunkt des Mediziners betrachtete, sondern die Bedeutung der Nachsorge und die damit verbundene Rolle und Aufgabe der Heilpädagogik von Anfang an erkannte" (Leonhardt 1997, 11). So wurde 1990 in Hannover eine eigene Einrichtung zur Nachsorge von CI-Patienten entwickelt (Cochlear Implant Centrums) und nach diesem Vorbild mittlerweile zahlreiche CI-Zentren gegründet. Aufgabe dieser Zentren ist die audio-verbale Hörerziehung nach der CI-Versorgung und die Zusammenarbeit mit nachbetreuenden pädagogischen Einrichtungen (a.a.O.). Die Verbesserung der Hörfähigkeit führte zu einer schnellen Verbreitung des Cochlea
Implantats. Nach einer Studie von Hintermair (2005, 94) waren 2003 23,5% aller hörbehinderten Kinder in Bayern mit einem CI versorgt. Bei den gehörlosen Kindern (Hörverlust >90dB) war der Anteil der CI-Kinder sogar 72,3%. Es ist anzunehmen, dass in den nächsten Jahren die Zahl der implantierten Kinder weiter steigen wird (a.a.O.).
2.1 Was ist das CI?
Das Cochlea Implantat (Innenohr-Implantat) ist eine technische Hörhilfe, die bei gehörlosen, ertaubten und hochgradig schwerhörigen Menschen genutzt werden kann, da bei fehlendem bzw. sehr geringem Restgehör eine Hörgeräte-Versorgung nicht zweckmäßig ist. Dabei werden Elektroden in das Innenohr implantiert, die das Corti'sche Organ (das eigentliche Hörorgan in der Cochlea) und seine Funktion ersetzen (Plath 1995, 125). Durch Spannungen an den Elektroden entsteht ein elektrisches Feld, in dem sich auch die Nervenzellen des Hörnervs befinden. Die Nervenzellen leiten jede Änderung dieses elektrischen Feldes über den Hörnerv zum Gehirn weiter. Es entsteht ein sogenanntes Reizmuster, das weitgehend dem entspricht, das normalerweise bei der Funktion des Corti'schen Organs entsteht. Mit Hilfe des CIs können Geräusche wieder wahrgenommen und eventuell auch Sprache verstanden werden (a.a.O.).
2.2 Bestandteile und Funktion eines Cochlea Implantats
Ein CI besteht unabhängig vom Hersteller immer aus (Leonhardt 2002, 138):
- einem Mikrofon o dem Sprachprozessor o der Sendespule o der Empfängerspule
- dem Empfänger-Stimulator (Magnet) o den Elektroden.
Das eigentliche Implantat wird während einer Operation in das leicht ausgefräste Knochenbett hinter dem Ohr eingesetzt. Es besteht aus den Elektroden, der Empfängerspule und einem Magnet (a.a.O., 139). Die Elektroden werden in die Cochlea eingesetzt und übernehmen die Funktion der ausgefallenen Sinneszellen (Szagun 2001, 67). Der Magnet hält das äußere Gegenstück zum Implantat am Kopf, die Sendespule. Diese überträgt die Signale durch die Haut in das Implantat (Leonhardt 2002, 139). Die hinter der Ohrmuschel sitzende Sendespule ist durch ein Kabel mit dem Mikrofon und dem Sprachprozessor verbunden. Das Mikrofon hat die Aufgabe Schallwellen aus der Umgebung zu empfangen (a.a.O.) und wird gemeinsam mit dem Sprachprozessor ähnlich wie manche Hörgeräte hinter der Ohrmuschel angeordnet (Stark, Engel [2010], 2). Der Sprachprozessor „wählt und kodiert die für das Verstehen wichtigen Sprachanteile" (Leonhardt 2002, 139).
Die Funktionsweise des Cochlea Implantats soll mit folgendem Bild veranschaulicht werden (Stark, Engel [2010], 1):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Die Schallwellen werden vom Mikrophon (1) aufgenommen und in ein elektrisches Signal umgewandelt.
2. Der Sprachprozessor (1) wandelt das elektrische Signal in ein Muster aus elektrischen Impulsen (Code) um, dieser Code ist speziell für das Geräusch- und Sprachverständnis im Gehirn geeignet.
3. Der Code wird über das Kabel (2) zur Sendespule (3) geleitet und mittels Funkwellen durch die Haut zum Implantat übertragen.
4. Die empfangenen Signale werden von der Empfängerspule dekodiert und an die aktiven Elektroden (4) im Innenohr weitergeleitet.
5. Die Elektroden (5) stimulieren die Nervenfasern an verschiedenen Orten in der Cochlea.
6. Der Hörnerv leitet die elektrischen Signale zum Gehirn, diese werden als akustisches Ereignis interpretiert.
(Leonhardt 2002, 140f; Szagun 2001, 66f)
2.3 Voraussetzungen für die Implantation
Es müssen eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine CI-Versorgung auch erfolgreich ist. Laut Universitätsklinik Dresden (TU-Dresden [2009], [4]) kommt ein CI grundsätzlich in Frage, wenn:
„- ein hochgradiger oder vollständiger Hörverlust durch Schädigung im Bereich des Innenohres vorliegt
- optimal angepasste Hörgeräte für eine Spracherkennung keinen ausreichenden Nutzen bringen und
- der Hörnerv und das zentrale Hörsystem funktionsfähig sind."
Ob das Cochlea Implantat den gewünschten Erfolg bringt (bei Kindern wird der Erfolg daran gemessen, ob mit dem CI eine Lautsprachentwicklung erreicht wird, die mit der hörender Kinder vergleichbar ist), hängt wesentlich vom Lebensalter, Ertaubungsalter und -dauer, Ausmaß des Hörverlustes und Entwicklungsstand des Kindes ab. Auch hier gilt, dass es nicht möglich ist, genaue Prognosen über die Entwicklung des CI-Kindes bzw. über den Nutzen, der das CI für den/die BetroffeneN bringt, zu geben (vgl. Faktoren zur Entwicklung hörbehinderter Kinder, Kapitel 1.1) (Leonhardt 2002, 145). Auf Basis von Erfahrungen in der Cl-Versorgung hörbehinderter Personen, hält Leonhardt (a.a.O.) fest:
- Eine CI-Versorgung ist weitestgehend erfolgreich bei hörbehinderten Kindern bis zum 4.Lebensjahr.
- Bei Schulkindern ist eine CI-Versorgung sinnvoll, wenn bereits zuvor intensive audiologische Förderung erfolgte und das betroffene Kind eine Lautsprachkompetenz aufgebaut hat.
- Bei gehörlos geborenen Jugendlichen ist die CI-Versorgung nur in Ausnahmefällen erfolgreich.
- Für gehörlos geborene Erwachsene erwies sich das CI nur als wenig sinnvoll, die Implantation brachte teilweise psychische Schwierigkeiten mit sich[20].
- Ertaubte Jugendliche und Erwachsene sollten möglichst schnell mit einem CI versorgt werden, um einer Deprivation der Hör- und Lautsprachfähigkeit entgegenzuwirken.
2.4 Nachbetreuung von CI-PatientInnen
Die Erstanpassung des Sprachprozessors beginnt bereits im Krankenhaus nach der Operation des/der CI-PatientIn. Kinder werden spielerisch mit den äußeren Teilen des CI vertraut gemacht, bei Erwachsenen wird probiert, ob das CI funktioniert und ob akustische Signale wahrgenommen werden können (Leonhardt 2002, 141f).
Die Anpassung des Sprachprozessors ist ein längerer Prozess, in der der/die PatientIn individuelle Betreuung benötigt um eine optimale Nutzung der (wieder)gewonnenen Hörkapazität zu erzielen. Der dafür benötigte Zeitrahmen ist nach Leonhardt (2002, 142f) individuell sehr unterschiedlich und hängt z.B. vom sozialen Umfeld, der Qualität der pädagogischen Anleitung und der individuellen Disposition des Kindes ab. Die medizinischtechnische und logopädisch-pädagogische Hörerziehung umfasst folgende Bereiche (Wisotzki 1994, 72):
„ - Aufbau einer auditiven Differenzierungsfähigkeit
- Aufbau eines Sprachverstehens auf Wort-, Satz- und Textebene, und zwar mit und ohne Mundabsehen
- Auditive Kontrolle des eigenen Sprechens
- Erwerb einer stabilen psycho-sozialen Haltung."
Letztendliches Ziel der Nachsorge ist es, den CI-Kindern eine weitestgehend altersgemäße Entwicklung der Lautsprache zu ermöglichen (Leonhardt 2002, 143). Wie bereits in der Einleitung erörtert, wird dieses Ziel in vielen Fällen nicht erreicht. Sowohl Graser (2007, 69), als auch Szagun (2001, 265) geben an, dass mehr als die Hälfte der Kinder keine Lautsprachentwicklung erreichen, die mit der Lautsprachentwicklung hörender Kinder verglichen werden kann.
Die lautsprach-hörgerichtete Nachsorge ist bei spätertaubten Patientinnen, die mit dem CI das Hören wieder erlernen müssen, durchaus sinnvoll (Bentele 2001, 31). Schwieriger gestaltet sich die Situation bei prälingual hörbehinderten Kindern. Diesen wird durch die oral-auditive Förderung der Zugang zu Gebärdensprache bzw. einer bilingualen (Laut- und Gebärdensprache) Erziehung verwehrt. Kritikerinnen sehen in dieser einseitigen Förderung eine Gefährdung für die Kommunikationskompetenz[21] von CI-Trägerinnen und damit zusammenhängend Probleme in der Ausbildung einer psychisch stabilen Persönlichkeit von CI-Kindern (a.a.O., 37). Auf die Diskussion um den Einsatz von Lautsprache oder Laut- und Gebärdensprache in der Re-/Habilitation von CI-Kindern werde ich im dritten Kapitel näher eingehen.
2.5 Lautsprachentwicklung bei Kindern mit CI
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich vor allem auf die Gruppe der hörbehinderten Kinder. Wie bereits ausgeführt, liegt das Ziel einer CI-Versorgung darin, bei hörbehinderten Kindern eine Lautsprachentwicklung zu erreichen, die mit der Lautsprachentwicklung hörender Kinder vergleichbar ist (Leonhardt 1997, 15). Szagun (2001) untersuchte in ihrer
Längsschnittstudie den Lautspracherwerb bei Kindern mit Cochlea Implantat und ihre Bedeutung für die Theorie und Praxis der Lautsprachentwicklung. Im Rahmen dieser Studie wurde die Lautsprachentwicklung von 22 Kindern mit Cochlea Implantat mit der Lautsprachentwicklung 22 normal hörender Kinder verglichen. Das Implantationsalter der Kinder mit CI lag zwischen 1;2 (Jahre; Monate) und 3;10, mit einem durchschnittlichen Implantationsalter von 2;5 (a.a.O., 70). Alle CI-Kinder waren prälingual ertaubt und hatten außer der Hörbehinderung keine zusätzliche Behinderung. Die normal hörenden Kinder und die Kinder mit CI hatten zu Beginn der Forschungsarbeit den gleichen Lautsprachentwicklungsstand: Sie beherrschten einzelne Wörter, aber noch keine Grammatik (a.a.O., 76). In einem Zeitraum von drei Jahren wurden in regelmäßigen Abständen Sprachsequenzen aller Kinder auf Tonband aufgenommen. Anhand dieser Tonbandaufnahmen wurde die Lautsprachentwicklung analysiert (a.a.O., 74).
Szagun (2006, 10) konnte innerhalb des dreijährigen Untersuchungszeitraumes folgende Unterschiede in der Lautsprachentwicklung normalhörender Kinder und Kinder mit Cochlea Implantat feststellen[22]:
- CI-Kinder vokalisieren mehr.
Vokalisierungen sind Äußerungen, die nicht als Wort erkennbar sind. Bei CI-Kindern sind solche Vokalisierungen häufiger, sie bleiben länger erhalten und sind vielfältiger als bei normal hörenden Kindern.
- CI-Kinder haben eine stärker abweichende Aussprache.
Bei den CI-Kindern sind Abweichungen in der Aussprache von Wörtern ausgeprägter als bei normal hörenden Kindern, z.B. Sreemann statt Schneemann. Dies kann dazu führen, dass nur Personen, die regelmäßig mit dem CI-Kind in Kontakt sind, verstehen können, was das Gesagte bedeutet (a.a.O.).
- CI-Kinder ahmen mehr nach.
Das Nachahmen von Wörtern oder ganzen Sätzen ist zu Beginn der Sprachentwicklung bei allen Kindern zu beobachten. „Während normal hörende
Kinder nur gelegentlich nachahmen, so sind in den Sprachproben der CI-Kinder bis zu 30% aller Äußerungen Nachahmungen" (a.a.O.).
- CI-Kinder haben Schwierigkeiten im Gebrauch von Artikeln.
Nur 3 CI-Kinder unterschieden sich im Gebrauch von Artikeln nicht mit den hörenden Kindern. Alle anderen CI-Kinder machten deutlich mehr Fehler als die normal hörenden Kinder. Grund für diese Schwäche könnte die Annahme sein, dass undeutlich hörbare grammatische Markierungen für hörbehinderte Kinder schwerer zu erwerben sind (Szagun 2001, 169).
- CI-Kinder unterscheiden sich sehr stark voneinander.
Im Unterschied zu einer relativ homogenen Lautsprachentwicklung der normal hörenden Kinder, zeigten die CI-Kinder in der Studie große individuelle Unterschiede. Szagun (2006, 11f) teilt die CI-Kinder in drei Gruppen ein: Drei Kinder hatten eine schnelle Lautsprachentwicklung, die mit der hörender Kinder vergleichbar ist. Sieben CI-Kinder hatten eine im Vergleich zu den hörenden Kindern verlangsamte Lautsprachentwicklung. Zwölf Kinder hatten eine sehr langsame Lautsprachentwicklung, sie kamen erst zwei Jahre nach der Operation zu ersten Zweiwortäußerungen und auch ein Jahr später bildeten sie keine komplexeren Sätze.
Die Studie von Szagun (2006, 13) zeigt bei etwas weniger als der Hälfte der CI-Kinder eine Lautsprachentwicklung, die der natürlichen Lautsprachentwicklung hörender Kinder gleicht. „Etwas mehr als die Hälfte der Kinder jedoch durchlief eine Sprachentwicklung, die der natürlichen nicht ähnelte. (...) Sie kamen über einen Zeitraum von drei bis dreieinhalb Jahren nicht zu ganzen Sätzen. Sie gebrauchten kaum Mehrzahl oder korrekte Endungen an Verben, und Artikel und Hilfswörter fehlten fast gänzlich." Die Gründe für diese unterschiedliche Lautsprachentwicklung sind unklar, Szagun (2006, 13) konnte in ihrer Studie allerdings drei Einflussfaktoren finden, die die Lautsprachentwicklung der CI-Kinder beeinflussten: die Qualität des prä-operativen Hörens mit Hörgeräten, das Implantationsalter, die Sprache der Eltern. „Kinder, die mit Hörgeräten vor der Operation besser hören, haben auch eine schnellere Sprachentwicklung, insbesondere im grammatischen Bereich" (a.a.O.). Der Einfluss des Implantationsalters erwies sich als nicht so stark wie der des prä-operativen Hörens, ergab jedoch eine etwas schnellere Lautsprachentwicklung bei den jüngeren Kindern. Bezüglich der Sprache der Eltern wirkte es sich positiv aus, wenn Eltern in Phasen der Aufmerksamkeit ihres Kindes, „ein inhaltlich interessantes und reichhaltiges Sprachangebot machen, das am Thema des Kindes orientiert ist" (a.a.O.).
Das Ergebnis dieser Studie ist vergleichbar mit der Annahme Grasers (2007, 69), dass die Hälfte der CI-Kinder das erwartete Ziel - die natürliche Erlernung der Lautsprache - nicht erreichen.
Die technische Weiterentwicklung ermöglicht mittlerweile eine Cochlea ImplantatVersorgung im Säuglingsalter. Aus medizinischer Sicht wird eine CI-Versorgung innerhalb des ersten Lebensjahres angestrebt, weil angenommen wird, je früher ein Kind mit einem CI versorgt wird, umso besser kann eine natürliche Lautsprachentwicklung erreicht werden. Die Ergebnisse der Studie von Szagun (2001) bestätigen jedoch die Annahme einer besseren Entwicklung der Lautsprache bei sehr früher CI-Versorgung nur bedingt: So konnte zwar ein schwacher Zusammenhang zwischen Lautsprachentwicklung und Implantationsalter hergestellt werden, das Lebensalter alleine prognostiziert allerdings nicht die spätere lautsprachliche Entwicklung (a.a.O., 265). Das erhöhte medizinische Risiko und der erhöhte Druck, schnell eine Entscheidung für bzw. gegen das CI treffen zu müssen, sprechen sogar gegen eine CI-Versorgung im ersten Lebensjahr (Szagun 2006, 15). Feststellen lässt sich allerdings, dass sich eine Operation in den ersten Lebensjahren positiv auf die Lautsprachentwicklung auswirkt (Szagun 2006, 16; Diller 2005, 80; Leonhardt 2002, 145). Sowohl Szagun (2001, 265) als auch Diller (2005, 80) sprechen sich für eine CI-Versorgung vor dem 4.Lebensjahr aus: „Aus unseren Ergebnissen der Studie kann man den Schluß ziehen, daß ein natürlicher Spracherwerb möglich ist, wenn Kinder vor dem Alter von vier Jahren implantiert werden ..." (Szagun 2001, 265).
2.6 Ethische Bedenken gegenüber dem CI
Katrin Bentele (2001) hat sich in ihrem Werk „Das Cochlea-Implantat. Versuch einer ethischen Bewertung" mit den medizin- und sozialethischen Problematiken, die mit einer CI- Versorgung prälingual gehörloser Kinder verbunden sind, auseinandergesetzt. Zusammengefasst stellt Bentele (2001, 79ff) vier ethische Problemfelder dar:
1. Die CI-Technologie ist noch im Entwicklungsstadium. Die Schwierigkeiten, die durch eine Implantation auftreten können, sind noch nicht vollends absehbar.
2. Wenn das CI die technische Antwort auf Gehörlosigkeit ist, ist dann ein gehörloser Mensch ein Patient/ eine Patientin?
3. Gehörlose Kinder können die Entscheidung für oder gegen eine Implantation nicht selbst treffen, sie werden dadurch in ihrer Autonomie eingeschränkt.
4. Bei der Diskussion um das CI werden die Bedürfnisse gehörloser Menschen nur wenig beachtet, es besteht die Gefahr des Aussterbens der Gehörlosengemeinschaft.
ad 1) Die in der Medizin gesetzten Ziele sind für Bentele (a.a.O.) oft „Wunschvorstellungen", die nicht tatsächlich erreichbar sind. Anhand einer Datenanalyse der bis 2001 erschienenen Forschungsberichte über die Lautsprache von CI-Kindern sei für prälingual hörbehinderte Kinder ein Cochlea Implantat nur bedingt effizient[23], „so daß von unumstrittenem Nutzen des Implantats nicht die Rede sein kann" (a.a.O., 31). Aus medizinethischer Sicht stellt Bentele daher fest: „Vom gegenwärtigen Standpunkt aus, scheint die CI-Technologie, zumindest was kongenital bzw. prälingual gehörlose Kinder angeht, noch im Entwicklungsstadium, so daß es meines Erachtens nicht rechtens ist, sie als Mittel der Wahl zu präsentieren" (a.a.O., 79).
ad 2) Von Seiten der Gehörlosengemeinschaft wird kritisiert, dass das CI die Gehörlosigkeit zur Krankheit und den gehörlosen Menschen zum Patienten/ zur Patientin macht. Durch das CI soll - aus Sicht der hörenden Gesellschaft - der „Defekt" des Nicht-Hörens behoben und die betroffene Person an die hörende Welt angeglichen werden. Diese defizitorientierte Ansicht steht im Gegensatz zur Selbstdeutung gehörloser Menschen, nach der ein gehörloser Mensch „eine sprachlich und kulturell anders sozialisierte Person" (a.a.O.) ist. Um hörbehinderten Kindern die Möglichkeit zu geben, an der Gehörlosengemeinschaft teilzunehmen, betont Bentele (a.a.O., 81): „Die Entscheidung für ein CI darf nicht mit einer Ablehnung der Gehörlosengemeinschaft und der Gebärdensprache verbunden sein."
ad 3) Die Entscheidung für die CI-Versorgung stellt für die Entwicklung eines Kindes eine wesentlichen Eingriff dar, über den es selbst nicht mitbestimmen kann. Um die Autonomie des Kindes nicht einzuschränken, ist es daher notwendig, CI-Kinder nicht nur an die hörende Welt anpassen zu wollen, sondern das CI als „zusätzliche Hilfe" anzubieten sich auch in die hörende Welt eingliedern zu können (a.a.O., 80). „Zwar bleibt das Autonomieproblem zunächst erhalten ..., doch relativiert es sich dahingehend, daß dem Kind beide Optionen offengehalten werden: in welcher Gemeinschaft das Kind später hauptsächlich leben möchte, kann es selbst entscheiden" (a.a.O.).
ad 4) Obwohl mit der CI-Versorgung hörbehinderter Menschen nicht das Ziel verfolgt wird, die Gehörlosengemeinschaft zu eliminieren, werden durch die Sozialisation von CI-Kindern in der hörenden Gesellschaft die Mitglieder der Gehörlosengemeinschaft immer weniger. Ein solcher Mitgliederschwund bedingt die Gefahr des „Aussterbens" der Gehörlosenkultur. Da für die betroffenen Mitglieder der Gehörlosengemeinschaft, die Gehörlosenkultur wesentlicher Aspekt ihrer Identitätszugehörigkeit ist (vgl. Kapitel 1.3), kann dies negative psychische Auswirkungen haben (a.a.O., 45f).
Damit das CI als ethisch vertretbar angesehen werden kann, sind für Bentele (2001, 81) einige Bedingungen zu erfüllen: umfassende Informationen über das CI für Betroffene, Rücksichtnahme auf die Selbstdeutung Gehörloser als nicht krank, weitere Untersuchung der Auswirkungen des CIs im allgemeinen und im individuellen Fall, bilinguale Förderung von CI- Kindern und mögliche Teilnahme an der Gehörlosengemeinschaft auch für CI-TrägerInnen.
3 Die Entwicklung der Gehörlosenbildung hinsichtlich lautsprachlichem und gebärdensprachlichem Unterricht
Im folgenden Teil wird die Geschichte der Gehörlosenbildung in Österreich seit der Aufklärung kurz dargestellt. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die historische
Entwicklung der Methoden in der Erziehung und Bildung gehörloser Menschen gelegt. Die Entwicklung der Gehörlosenbildung ist geprägt von der Debatte, ob die Lautsprachmethode oder die Gebärdensprachmethode die bessere für den Unterricht gehörloser bzw. schwerhöriger Mensch ist. Auch heute ist diese Debatte in veränderter Form präsent: VertreterInnen des lautsprachlichen Unterrichts stehen solchen einer bilingualen Unterrichtsform gegenüber.
3.1 Institutionalisierte Bildung Gehörloser
Die institutionalisierte Erziehung und Bildung Gehörloser nahm ihren Anfang in der Zeit der Aufklärung. Die Gründung von Bildungseinrichtungen für taubstumme[24] Kinder gegen Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich einerseits auf den aufklärerischen Grundgedanken zurückführen: „Erziehung und Unterricht sollten vernünftige, mündige Bürgerinnen und Bürger machen" (Strachota 2002, 242). Andererseits hatte die beginnende Industrialisierung auch Auswirkungen auf das Bildungswesen: Menschen sollten zu bürgerlicher Brauchbarkeit geführt werden. „Die Vermutung, taubstumme ... Kinder wären am ehesten brauchbar zu machen, war die naheliegendste" (a.a.O.) Im Zuge der Anerkennung von Bildungsfähigkeit gehörloser Menschen kam es weltweit zur Gründung von Gehörlosenschulen. Das erste Taubstummeninstitut wurde 1770 von Abbé de l'Epée in Paris gegründet. In Deutschland entstand 1778 unter der Leitung von Samuel Heinicke das erste Institut zur Unterrichtung taubstummer Personen (Leonhardt 2002, 213). Auch in Wien wurde unter der Leitung von Johann Friedrich Stock 1779 ein Taubstummeninstitut gegründet: die „Freischule zum Zwecke der Erziehung und des Unterrichts taubstummer Kinder aus allen Teilen der Monarchie" (Schott 1995, 59).
3.2 Der „Methodenstreit"
Mit der Gründung von Taubstummeninstituten ging die Debatte einher, welche Methode für die Unterrichtung gehörloser SchülerInnen besser geeignet sei: Lautsprache oder Gebärdensprache? Diese Auseinandersetzung ist als sogenannter „Methodenstreit" zwischen der Deutschen und der Französischen Methode in die Geschichte der Gehörlosenbildung eingegangen (Leonhardt 2002, 215).
Die Französische Methode bemühte sich „um eine Visualisierung der Sprache auf der manuellen Ebene, in deren Zentrum das Handalphabet und die Gebärden stehen" (Wisch 1990, 132). Entwickelt wurde diese Methode vom bereits erwähnten Abbé de l'Epée, der davon überzeugt war, „daß die Gebärde von der Natur der Gehörlosen ausgehe" (Leonhardt 2002, 212). Gebärden waren für de l'Epée das am Besten geeignete Verständigungsmittel und somit die Muttersprache der Gehörlosen (Wisch 1990, 132). Lautsprache erhielt in seinem Unterricht nur eine sehr geringe Bedeutung, er hielt das Sprechenlernen allerdings für erstrebenswert und erreichbar (Leonhardt 2002, 212). Das Erlernen der Schriftsprache war für de l'Epée wichtig, da er in der Schrift das Bindeglied zur hörenden Umwelt sah. Der von de l'Epée praktizierte Unterricht wurde von seinem Schüler Roch-Ambroise Cucurron Sicard weiterentwickelt. Dieser verbreitete die „Französische Methode" über Frankreich und Europa hinaus. In Amerika wurde sie durch Thomas Hopkins Gallaudet und Laurent Clerc zum bestimmenden Verfahren in der Gehörlosenbildung (Wisch 1990, 132).
Wegbereiter der Deutschen Methode sind der Schweizer Johann Konrad Amman und der Deutsche Samuel Heinicke. Diese Methode ist gekennzeichnet durch die Lautsprach- bzw. Sprecherziehung (a.a.O., 132f) von Gehörlosen. Heinickes vorrangiges Ziel bestand in der lautsprachlichen Ausbildung Gehörloser, um ihnen zu ermöglichen nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Er versuchte, durch die von ihm entwickelten Methoden den fehlenden Gehörsinn mittels Geschmack- und Tastsinn zu kompensieren (Leonhardt 2002, 214f). „Heinicke ... forderte für den Gehörlosen die Lautsprache. Die Vermittlung der Lautsprache sah er als Aufgabe des Gehörlosenunterrichts an" (a.a.O., 215).
Die Wiener Schule - das k. k. Taubstummeninstitut - fühlte sich in ihren Anfängen sehr stark der „französischen Methode" verpflichtet. Der Schulgründer Johann Friedrich Stork und Jospeh May waren annähernd ein Jahr in Paris, um von Abbé de l'Epée dessen Lehrmethode, den gebärdensprachlichen Unterricht, zu erlernen (Löwe 1983, 20). Mit der Übernahme der Leitung durch Joseph May, gewann die lautsprachliche Methode in Wien immer mehr an Bedeutung. Grund dafür war das Ziel, seine Schüler sozial zu integrieren, das heißt ihnen die Verständigung mit den hörenden Menschen ihrer Umgebung zu ermöglichen. Dessen ungeachtet blieben Schrift, Handalphabet und Gebärden die wichtigsten Sprachmittel in der Schule (a.a.O., 20f).
Der Methodenstreit fand ein vorläufiges Ende auf dem internationalen Taubstummenlehrerkongress in Mailand 1880. Die deutsche Methode mit ihrem Ziel, Taubstummen die Lautsprache zu vermitteln, hatte sich durchgesetzt, und es wurde der Beschluss gefasst, Lautsprache im Unterricht mit Gehörlosen vorzuziehen (a.a.O., 199). Diese Entscheidung ist auch im heutigen Schulsystem noch deutlich zu spüren, obwohl der Unterricht von Gebärdensprache nie völlig außer Acht gelassen wurde. „Seit der vermehrten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vollwertigkeit und Eigenständigkeit der Gebärdensprache ..., erlebt diese Strömung wieder einen deutlichen Aufschwung" (Linimayr 2007, 86). Einen wesentlichen Beitrag dazu hat auch die rechtliche Anerkennung der Gebärdensprache als eigenständige Sprache 2005 gebracht (Krausneker 2007, 11).
3.3 Die Verallgemeinerungsbewegung
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die bestehenden Gehörlosenschulen von deutschen Fachleuten kritisiert: Die Schulen würden zur Isolierung und Absonderung gehörloser Kinder führen (Löwe 1983, 22). Der deutsche Pädagoge und Theologe Wilhelm Harnisch war überzeugt, dass viele der dort beschulten Kinder auch in Volksschulen unterrichtet hätten werden können. In Folge wurden Volksschullehrer und Geistliche dazu ermutigt, gehörlose Kinder in ihre Schulen aufzunehmen. Durch das Engagement von Johann Baptist Graser entstanden innerhalb weniger Jahre viele kleine Gehörlosenklassen, die an allgemeine Volksschulen angegliedert wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
wurde der Gedanke der Verallgemeinerung wieder aufgegeben (a.a.O.). Die teilintegrierte Beschulung war zu dieser Zeit gescheitert, es fehlten die aus heutiger Sicht unabdingbaren Voraussetzungen: So gab es keine technischen Hilfen zu Ausnützung von Hörresten der hörbehinderten Kinder, die Möglichkeit eines individuellen Unterrichts war nicht gegeben und einzelne gehörlose Kinder saßen teilweise „völlig verloren in Klassen, die mit 130 Schülern besetzt waren" (a.a.O., 24).
Die schulische Integration von hörbehinderten Kindern, gewann erst Ende des 20.Jahrhundertes wieder an Bedeutung. Im Zuge der Integrationsbewegung kam es in den 1980er Jahren vermehrt zur Integration von hörbehinderten Kindern in Regelschulen. Auf die heutige schulische Situation hörbehinderter Kinder werde ich im folgenden Kapitel eingehen.
3.4 Derzeitige Schulsituation hörbehinderter Kinder in Österreich
Seit dem 15.SchOG[25] (Schulorganisationsgesetz) 1993 können Eltern behinderter Kinder zwischen einer Beschulung in einer Sonderschule und integrativem Unterricht wählen: „Der Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf kann auf Wunsch der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten entweder in einer der Behinderungsart entsprechenden Sonderschule oder in integrativer/inklusiver Form in der Regelschule erfolgen" (BMUKK 2009, [1]; H.i.O.). In den Integrationsklassen der Volksschule, Hauptschule bzw. Unterstufe allgemein höher bildender Schulen werden behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche gemeinsam unterrichtet (a.a.O.). In Hinblick auf diese Arbeit bedeutet schulische Integration der gemeinsame Unterricht hörbehinderter und hörender Kinder. Um eine - im Vergleich zur Sonderschule - adäquate Förderung zu ermöglichen, gibt es für hörbehinderte Kinder in Integrationsklassen häufig einen spezifischen Lehrplan bzw. eine zusätzliche Lehrkraft (a.a.O.).
[...]
[1] Die Bezeichnung „ertaubt" ist in der Literatur ein gängiger Begriff für Menschen, die nach dem Spracherwerb gehörlos wurden (z.B. durch einen Unfall oder eine Krankheit) und wird in dieser Arbeit nicht diskriminierend verstanden.
[2] In der Literatur werden die Schreibweisen Cochlea Implantat, Cochlear Implantat und Cochlear Implant synonym verwendet. Ich werde in dieser Arbeit die Schreibweise Cochlea Implantat bevorzugen, da sie dem Deutschen am Nächsten kommt.
[3] Cochlea (aus lat. Cochlea = Schnecke): „Schnecke" des Innenohrs, das eigentliche Hörorgan (Duden 2007, o.S.)
Zum sprachlichen Umfeld zählen vor allem die Familie, aber auch soziale Einrichtungen für Kinder und Jugendliche (Graser 2007, 67f).
[5] Gute Bedingungen sind laut Graser (2007, 69): eine frühe CI-Versorgung, nur kurze Dauer der Gehörlosigkeit, gute Qualität des prä- und postoperativen Hörens, Teilnahme an auditiv-verbalen Erziehungs- und Förderprogrammen und ein sprachreiches, anregendes familiär-soziales Umfeld.
[6] Hörbehinderte Menschen müssen sich im Vergleich zu ihren normal hörenden Mitmenschen verstärkt um eine befriedigende Verständigungssituation bemühen. Lautsprachliche Kommunikationssituationen führen bei hörbehinderten Menschen durch die Anstrengung der Kompensationsarbeit (auditive Defekte müssen durch erhöhte Konzentration ausgeglichen werden), oft zu rascher Ermüdung (Steiner 2009b, 93). Besonders Störschall (z.B. Baustellen- oder Verkehrslärm - Geräusche, die für die gewollte Schallaufnahme störend sind) beeinträchtigt das Lautsprachverständnis negativ und kann Hörstress bewirken.
[7] Alle untersuchten CI-Kinder waren in logopädischer Betreuung in einem Rehabilitationszentrum für Menschen mit CI.
[8] Bei der deduktiven Kategorienbildung werden vor der Auswertung theoretisch-begründete Kategorien entwickelt, diese werden in der Auswertung Textstellen zugeordnet (Mayring 2000, [5]).
[9] Nach einer Studie von Krausneker (2007) gibt es in ganz Österreich nur 10 bilingual unterrichtete Klassen. In manchen Schulen verwenden die Lehrpersonen allerdings zusätzlich zum lautsprachlichen Unterricht lautprachbegleitende Gebärden (LBG).
[10] Die Entwicklung eines hörbehinderten Kindes hängt von weiteren entscheidenden Faktoren ab. Dazu zählen individuelle Persönlichkeitseigenschaften, die Sprachbegabung und -fähigkeit, der Sprachentwicklungsstand, der Intelligenzgrad, psychische und soziale Entwicklung und mögliche zusätzliche Behinderungen von Seiten des hörbehinderten Kindes. Auch die Einstellung der Familie zur Behinderung, deren Bereitschaft zur Mitarbeit mit dem Kind, das soziale Umfeld, die heilpädagogische Betreuung sowie schulische Maßnahmen beeinflussen die Entwicklung und Integration des hörbehinderten Kindes (Löwe 1974, 52).
[11] 2 Asphyxie: Atemstillstand bzw. Atemdepression (Pschyrembel 1994, 126)
[12] Meningitis: Entzündung der Hirnhaut bzw. Rückenmarkhäute (Pschyrembel 1994, 959)
[13] In der Fachsprache wird das Ohr, an dem der/die Betroffene mehr Schallempfindungen wahrnimmt, als besseres Ohr bezeichnet.
[14] Auf der Internetseite „Sozialportal" ([2009], [5]) ist zu lesen, dass der Frequenzbereich von 500 bis 2000 Hz (d.h. Schwingungen pro Sekunde) angenommen wird, „weil er als der Hauptsprachbereich der Vokale und Konsonanten fungiert. Eine Beeinträchtigung in diesem Frequenzbereich stellt daher ein besonderes Problem bei der Kommunikation dar."
[15] Um den Hörverlust einschätzen zu können, gebe ich einige Beispiele für dB-Lautstärken an:
0 dB Hörschwelle normalhörender Personen; 30 dB Rauschen von Bäumen; 40 dB gedämpfte Unterhaltung; 60 dB Staubsauger; 80 dB starker Straßenlärm; 100 dB Autohupe; 130 dB schmerzender Lärm (Lindner 1992, 40 zit. n. Leonhardt 2002, 54)
[16] Lautsprache kann durch pädagogische Förderung dennoch erlernt werden, die Sprechweise von gehörlosen Menschen bleibt jedoch immer auffällig, da es keine Möglichkeit zur auditiven Eigenkontrolle gibt. Wird ein gehörloses Kind nicht auditiv gefördert, hat es auch keine Lautsprachentwicklung (Leonhardt 2002, 81).
[17] Für eine erste Orientierung kann allerdings auch in der Pädagogik nicht auf die Klassifikation von Hörschädigungen verzichtet werden (Leonhardt 2002, 50).
[18] Die Österreichische Gebärdensprache ist seit 1.9.2005 in der österreichischen Bundesverfassung (§ 8, Abs. 3) als eigenständige Sprache anerkannt (Krausneker 2007, 11).
[19] Bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit kann ein herkömmliches Hörgerät kein Wortverständnis mehr erzielen (Szagun 2001, 65).
[20] Nach Leonhardt (2002, 145) haben vor allem gehörlose Personen, die zur Implantation überredet wurden, psychische Schwierigkeiten. Einen Zusammenhang sehe ich auch durch die veränderte Wahrnehmungs- und Kommunikationssituation: Vergleichbar mit der psychischen Situation eines ertaubten Menschen, der sich plötzlich an die neue Situation der Gehörlosigkeit gewöhnen muss (vgl. Kapitel 1.1.4), stellt auch die CI- Versorgung für gehörlose Erwachsene eine neue psychische Situation dar.
Unter Kommunikationskompetenz verstehe ich in dieser Arbeit die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Kommunikation (vgl. Kapitel 4.3).
[22] Der genaue Zeitpunkt, an welchem diese Unterschiede festgestellt wurden, wird in der Studie von Szagun nicht angegeben - ich gehe davon aus, dass die beschriebenen Unterschiede das Fazit der Analyse der Tonaufnahmen sind.
[23] Szaguns Studie zur Lautsprachentwicklung von CI-Kindern erschien im selben Jahr wie Benteles Werk und ist deshalb in die Datenanalyse nicht mit einbezogen. Obwohl in Szaguns Studie die Kritik Benteles der geringen Effizienz des CIs auf die Hälfte der untersuchten CI-Kinder zutrifft, brachte das CI für die andere Hälfte der CI- Kinder erheblichen Nutzen (vgl. Kapitel 2.5). Zumindest aus quantitativer Sicht, muss die Kritik der geringen Effizienz des CIs deshalb relativiert werden.
[24] Der Begriff „taubstumm" hat in den letzten 200 Jahren einen starken Bedeutungswandel vollzogen und wird heute als diskriminierend empfunden. Dies beruht auf der Tatsache, dass er die Fähigkeit zu sprechen und Lautsprache zu erlernen verleugnet. Im Zuge der Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge werden Begriffe allerdings so verwendet, wie sie zur jeweiligen Zeit üblich waren, das heißt anstatt des heute gebräuchlichen Begriffes „gehörlos" wird der damals verwendete Begriff„taubstumm" verwendet.
[25] Mit der 15.SchOG-Novelle wurde nur das Recht auf Integration in der Volksschule eingeführt. Die Wahl
zwischen Sonderschule und integrativer Hauptschule gibt es seit der 17.SCHOG-Novelle 1996.
- Arbeit zitieren
- Tina Reitbauer (Autor:in), 2010, Meine Sitznachbarin hat ein CI, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/180177
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