Am Beispiel der französischen Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte wird das Problem der unterschiedlichen europäischen statistischen Erfassung dokumentiert.
Migrationsströme in Frankreich und die Probleme der statistischen Erfassung
Als Folge der deutschen Reichsgründung 1871 und mit dem damit zu konstatierenden Bevölkerungswachstum ist die französische Republik unabhängig von der jeweiligen Regierung immer bemüht, ein demographisches Gegengewicht zur „deutschen Bedrohung“ aufzubauen. Denn in Angst vor dem Nachbarn im Osten hatte demographische Gründe. Zwischen 1850 bis zum Beginn des 1. Weltkriegs wächst die deutsche Bevölkerung von 32 auf 59 Millionen, während die französische Bevölkerung lediglich um fünf Millionen anwächst.[1] Als Folge des ungenügenden eigenen Bevölkerungsüberschusses ist die politische Klasse davon überzeugt, durch Forcierung der Einwanderung aus den europäischen Nachbarstaaten nicht nur den nur den steigenden Bedarf der Industrie nach Arbeitskräften nachzukommen, sondern auch unterbevölkerte französische Provinzen verstärkt zu besiedeln. Somit steht die französische Einwanderungspolitik immer im Zeichen von Bevölkerungspolitik und wird ideologisch gesteuert von der Angst einer Bevölkerungsdominanz des östlichen Nachbarn. Wie noch zu sehen sein wird, besitzt die Kultur der Einwanderung bis in die sechziger Jahre hinein eine letztlich uneingeschränkte Gültigkeit.
Schon in der Zwischenkriegszeit schließt die französische Regierung diverse bilaterale Rekrutierungsabkommen beispielsweise mit Polen, Italien und der Tschechoslowakei ab. Auch versucht die 1924 gegründete Société Génerale d´Immigration in ganz Europa neue Arbeitskräfte anzuwerben. Bereits 1931 hat sich die Zahl gegenüber 1911 der Arbeitsimmigranten auf rund 2,7 Millionen fast verdoppelt.[2]
Als Folge der globalen Finanzkrise[3] in den zwanziger und dreißiger Jahren ist auch die französische Regierung zu einer Änderung der Arbeitsmigration gezwungen. Erstmalig werden Rückkehrhilfen genehmigt, auch die Zahl der vorgenommenen Einbürgerungen geht zurück.
In der Phase der Nachkriegszeit von 1946 bis 1962 nimmt die Zahl der Ausländer – Algerier sind keine Ausländer - in Frankreich lediglich um 500.000 auf 2,2 Millionen zu. Doch in den ersten Nachkriegsjahren sieht die Arbeitsmarktsituation wie folgt aus. Im Gegensatz zu Deutschland, wo als Folge der Vertreibung der deutschen Bevölkerung im Osten kein Mangel an Arbeitskräften herrschte, sah dieser Sachverhalt dagegen in Frankreich aber in England völlig anders aus. Ohne auf diese Detailfrage näher einzugehen, reicht hier der Einwand, dass sowohl England wie Frankreich den expandierten Arbeitsmarkt durch die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte entspannen wollte.[4] Die Situation ist in Frankreich weiterhin dadurch geprägt, dass in großer Zahl deutsche Kriegsgefangene in den Bergwerken und in der Landwirtschaft zwangsweise arbeiten mussten. Aber auch die gezielte Anwerbung von italienischen Arbeitskräften gehörte zum Instrument französischer Politik. Weiterhin werden nach Angaben von Schwab in dieser Phase erstmalig auch Marokkaner für die französischen Kohlegruben angeworben.[5]
Auch nimmt die Zahl der algerischen Zuwanderer – formal keine Ausländer – auf 350.484 Personen bis zum Tag der algerischen Unabhängigkeit zu.[6] Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass erst ab 1962 die britische und französische Ministerialbürokratie die Möglichkeit besaß, die koloniale Zuwanderung überhaupt zu erfassen. Algerier besitzen bis zu diesem Zeitpunkt die volle Niederlassungsfreizügigkeit zwischen dem sog. Metropolterritorium und den algerischen Departements. Algerien wird bis dahin als integraler Teil der französischen Republik angesehen. Allerdings findet eine Differenzierung zwischen muslimischen und französischen Algeriern statt. Erst 1962 findet die bisherige Freizügigkeit im sog. Vertrag von Evian ein Ende und es erfolgt fortan eine Kontigentierung der Zuwanderung.
Wie bereits mehrfach erwähnt, ist die Phase der uneingeschränkten Einreise algerischer Bewohner 1962 vorbei. Im selben Jahr erlässt auch Großbritannien ein Einwanderungsgesetz. Bis dahin steigt die Zuwanderung aus den britischen Kolonien nach dem Vereinigten Königreich stetig an. Gründe liegen einerseits in der mangelnden Industriealisierung und andererseits in dem Bevölkerungsdruck in den Kolonien. Diese beiden Faktoren wirken als „push-factoren“.
Die Zuwanderung nach Frankreich bewegt sich bis Anfang der fünfziger Jahre jährlich zwischen 30.000 und 68.000 Ausländer. Doch seit Mitte der fünfziger Jahre geht die europäische Einwanderung zurück. Frankreich begegnet diesem Sachverhalt dadurch, dass der Status der illegal eingereisten Einwanderer nachträglich legalisiert wird bzw. Naturalisierungsverfahren beschleunigt eingesetzt werden. Im Kontext dieser Argumentation sollte allerdings auch bedacht werden, dass in der ersten Phase der Nachkriegszeit die Zahl der in Frankreich lebenden Ausländer immer noch nicht das Niveau der Vorkriegszeit erreicht hat.
Wie sehr die von der französischen Regierung gewünschte Zuwanderung erfolgreich ist, lässst sich daran erkennen, dass im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg rund 14 % des Bevölkerungswachstums und im zweiten Jahrzehnt weitere 21 % der Zuwanderung zu verdanken ist.[7]
Nach französischen Angaben halten sich 1958 über 300.000 Algerier in Frankreich aus, nur wenige Jahre später, kurz nach der algerischen Unabhängigkeit, wird die Zahl der Algerier und der Afrikaner bereits auf rund 550.000 geschätzt. Die Dunkelziffer dürfte aber erheblich sein.
Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten, sieht man einmal von den Niederlanden ab, fand eine nach Frankreich und Großbritannien koloniale Einwanderung nach dem 2. Weltkrieg statt, wobei beide Staaten auf diese staatsrechtliche Binnenwanderung keinen Einfluß im Sinne von Beschränkungen nehmen konnte.
Im Kontext der Migrationsdebatte muss an dieser Stelle auf die Entwicklung der französischen Staatsbürgerschaftsrechts eingegangen werden, wobei konstatiert werden kann, dass das französische sich grundsätzlich von dem deutschen Staatsbürgerschaftsrecht unterscheidet. Während das deutsche Selbstverständnis geprägt ist vom Verständnis der Nation im ethnischen Sinne, wird das französische geprägt durch den volutaristischen Charakter. Man bekennt sich zur französischen Kultur und ist offen für den Prozess der Assimilierung. Dies war ein wesentlicher Grund dafür, dass Frankreich in den Jahren nach 1945 bemüht ist, überwiegend eine Zuwanderung aus den europäischen Nachbarstaaten zu forcieren. Europäer gelten als assimilierungsbereit. wobei allerdings auch konstatiert werden muss, dass die Assimilierung nicht mehr von allen zugewanderten Gruppen geteilt wird. So kam es in den letzten Jahrzehnten zur Bildung von Parallelgesellschaften. In Deutschland wird von zugewanderten Migranten eine „Integration“ und keine Assimilierung in die deutsche Gesellschaft erwartet.[8]
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[1] Kaelble, Hartmut: Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880. München 1991, S. 28.
[2] Vgl. Sturm-Martin, Imke: Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich. Ein historischer Vergleich (1945-1962). Frankfurt a.M 2001, S. 36.
[3] Es genügt an dieser Stelle auf einen Klassiker hinzuweisen Kindleberger, Charles P.: Die Weltwirtschaftskrise. 1929–1939. München 1973.
[4] Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik, a.a.O., S. 54f.
[5] Schwab, Christa: Integration von Moslems in Großbritannien und Frankreich. Wien 1997, S. 26.
[6] Weil, Patrick: La France et ses étrangers. L´aventure d´une politique de I´mmigration de 1938 á nos jours. Paris 1995. Hier finden sich auch detailliert die Ergebnisse der Volkszählungen.
[7] Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik, a.a.O., S. 163.
[8] Zu diesem Problemkomplex vgl. Francois, Etienne (Hrsg.): National und Emotion: Deutschland und Frankreich im Vergleich, 19. Und 20. Jahrhundert. Göttingen 1995.
- Arbeit zitieren
- Karl-Heinz Pröhuber (Autor:in), 2011, Migrationsströme in Frankreich und die Probleme der statistischen Erfassung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/178249
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