Der Begriff Identität wurde seit den 1990er Jahren immer häufiger im Zusammenhang mit der jüngeren Entwicklungsgeschichte des Ostseeraums verwendet und diskutiert. Deswegen liegt die Vermutung nahe, dass es Gemeinsamkeiten zwischen den Ostseenationen gibt, die der Region eine Identität verleihen. Kann man hier allerdings wirklich von einer Ostseeidentität sprechen, die die Anrainerstaaten verbindet, oder ist es nur das Meer als Namens-geber der Region, das die angrenzenden Staaten zusammenhält?
Diese Arbeit erläutert zunächst die komplexe Thematik der „Identität“ und stellt die Ostseeregion und ihre jüngere Entwicklungsgeschichte seit 1990 bis heute vor. Im Hauptkapitel 4 richtet sich dann der Blick auf verschiedene Expertenmeinungen zum Thema der Ostseeidentität, um den aktuellen Forschungsstand zu diesem Themenkomplex festzuhalten. Es folgt ein exemplarischer Versuch mögliche Ansätze von Gemeinsamkeiten zwischen den Anrainern vorzustellen und zu bewerten. Des Weiteren werden verschiedene Untersuchungsmethoden, wie die Internetstichwortsuche und die Analyse von Umfragen zum Image und der medialen Wahrnehmung der Region und der Ostseeanrainerstaaten dazu dienen, Aussagen darüber zu treffen, ob aktuell ein Identitätspotential für die Region besteht und ob die Ostseeregion überhaupt als Einheit wahrgenommen wird.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Zielstellung und Aufbau der Arbeit
1.2 Methodik
2 Die Identität
2.1 Die Grundbedeutung der Identität
2.2 Die raumbezogene Identität
2.2.1 Die raumbezogene Identität als interdisziplinäres Phänomen
2.2.2 Forschungsansätze zur raumbezogenen Identität
2.3 Kultur, kulturelle Identität und die Bedeutung von Heimat
2.3.1 Die Heimat
2.3.2 Die Neubelebung von Heimat und raumbezogener Identität
2.4 Der Nutzen der raumbezogenen Identität
3 Der Ostseeraum
3.1 Eine Region stellt sich vor
3.1.1 Definition und topographische Abgrenzung des Raums
3.1.2 Die Ostseeregion als Naturraum
3.2 Die Entstehung und Entwicklung des Ostseeraums
3.2.1 Das Region-Building im Ostseeraum
3.2.2 Die Entwicklung des Ostseeraums zu einer Plattform der Kooperation
3.2.3 EU-Regionalpolitik: Die Ostseestrategie und das Ostseeprogramm
4 Die Identität des Ostseeraums
4.1 Ostseeraum - einheitlicher Raum?
4.2 Gibt es eine Ostseeidentität?
4.3 Ostseeraum versus Mittelmeerraum
4.4 Exemplarische Untersuchung verschiedener Ansätze einer Ostseeidentität
4.4.1 Eine gemeinsame Währung
4.4.2 Die Ostsee
4.4.3 Baltischer Bernstein
4.4.4 Eine gemeinsame Vergangenheit
4.4.5 Kunst und Baukunst
4.4.6 Die Sprache
4.4.7 Der Ostseeraum als Wissensgesellschaft
4.5 Untersuchungen des Images und der Identität der Ostseeregion
4.5.1 Branding the Baltic Sea Region
4.5.2 Visit and Invest
4.5.3 Wahrnehmungen über die Ostseeregion in ausgewählten Anrainerstaaten
4.6 Untersuchungen des Images und der Identität der Ostseeanrainer
4.6.1 Der Anholt-GfK Roper Nation Brands Index (NBI)
4.6.2 Das Image des Nordens
4.7 Die Medienpräsens der Ostseeanrainer und der Ostseeregion
5 Auswertung und Ausblick
6 Anhang
7 Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1: Die regionale Identität als Schnittmenge zwischen dem Charakter der Region und dem Wesen der Menschen
Abbildung 2.2: Die Identifikationsprozesse
Abbildung 2.3: Differenzierungsschema des Identifikationsprozesses
Abbildung 3.1: Der Ostseeraum
Abbildung 4.1: Taufbecken aus gotländischem Sandstein in der Aakirke in Aakirkeby auf Bornholm
Abbildung 4.2: „Der Totentanz“ von Bernt Notke in der Tallinner Nikolaikirche
Abbildung 4.3: Länder die zur Ostseeregion gehören aus Sicht der 3 polnischen Ostseeprovinzen (prozentuale Anteile)
Abbildung 4.4: Assoziationen mit der Ostseeregion - landesweit und in den 3 Ostseeprovinzen (prozentuale Anteile)
Abbildung 4.5: Zugehörigkeitsgefühl der Polen - landesweit und in den 3 Ostseeprovinzen (Angaben in Prozent)
Abbildung 4.6: Kontakte der Bewohner der polnischen Ostseeprovinzen mit Bewohnern der anderen Ostseeanrainer (prozentuale Anteile)
Abbildung 4.7: How Latvia is perceived versus reality: a qualitative estimate of a ‘perception/reality’ gap (2003)
Abbildung 4.8: Die 20 häufigsten Assoziationen mit Dänemark
Abbildung 4.9: Die 20 häufigsten Assoziationen mit Schweden
Abbildung 4.10: Die 20 häufigsten Assoziationen mit Finnland
Abbildung 6.1: Die Europäische Backsteinroute
Tabellenverzeichnis
Tabelle 2.1: Raumbezogene Identität als Problemstellung der Forschung - beteiligte Disziplinen und Themenbereiche
Tabelle 3.1: Identifikationsräume auf unterschiedlichen Maßstabsebenen
Tabelle 4.1: Unterrichtete Fremdsprachen in den Ostseeanrainern (ohne Russland)
Tabelle 4.2: Platzierungen der Ostseeanrainer (ohne Russland) und der Mittelmeerländer Italien, Spanien und Griechenland in der Pisa- Studie 2006 (von insg. 57 Ländern)
Tabelle 4.3: Platzierungen der Ostseeanrainerstaaten in der NBI -Studie von insgesamt 50 Plätzen, in den Jahren 2007, 2008 und 2009
Tabelle 4.4: Platzierungen der Ostseeanrainerstaaten (außer Lettland) in den NBI - Teilbereichen „People“ und „Tourism“ (2008)
Tabelle 4.5: Tourism Question Rating; Ranking from 1 (lowest) to 7 (highest)
Tabelle 4.6: People Question Rating; Ranking from 1 (lowest) to 7 (highest)
Tabelle 4.7: Tourism Word Associations
Tabelle 4.8: People Word Associations
Tabelle 4.9: Deutschland über die Menschen und den Tourismus in anderen Ländern der Ostseeregion (ohne Angaben über Lettland): Platzierungen in der NBI -Studie von insgesamt 50 Plätzen (2008)
Tabelle 4.10: Polen über die Menschen und den Tourismus in anderen Ländern der Ostseeregion (ohne Angaben über Lettland): Platzierungen in der NBI -Studie von insgesamt 50 Plätzen (2008)
Tabelle 4.11: Russland über die Menschen und den Tourismus in anderen Ländern der Ostseeregion (ohne Angaben über Lettland): Platzierungen in der NBI -Studie von insgesamt
50 Plätzen (2008) 90 Tabellenverzeichnis V
Tabelle 4.12: Schweden über die Menschen und den Tourismus in anderen Ländern der Ostseeregion (ohne Angaben über Lettland): Platzierungen in der NBI -Studie von insgesamt 50 Plätzen (2008)
Tabelle 4.13: Wahrnehmung der Bewohner und des Tourismus der Ostseeanrainerstaaten (außer Lettland) aus Sicht der USA (Platzierungen in der NBI -Studie von insgesamt 50 Plätzen) (2008)
Tabelle 4.14: Wahrnehmung der Bewohner und des Tourismus der Ostseeanrainerstaaten (außer Lettland) aus Sicht Japans (Platzierungen in der NBI -Studie von insgesamt 50 Plätzen) (2008)
Tabelle 4.15: Gegenüberstellungen der Ergebnisse der internationalen NBI s in den Bereichen „People“ und „Tourism“ der Ostseeanrainer und den durchschnittlichen Platzierungen durch die Bewertungen der Mitglieder der Ostseeregion: Deutschland, Schweden, Polen und Russland
Tabelle 4.16: Die häufigsten Assoziationen mit Nordeuropa
Tabelle 4.17: Die internationale Medienpräsens verschiedener Länder im Jahre 2006....
Tabelle 6.1: Veranstaltungskalender 2010: ausgewählte grenzüberschreitende Events im Ostseeraum
Tabelle 6.2: “Efforts to Brand the Baltic Sea Region”
Tabelle 6.3: Ausgewählte, identitäts- und imagerelevante transnationale Projekte des Baltic Sea Region Programme 2007-2013
Tabelle 6.4: Projektbeispiele für den südlichen Ostseeraum
Tabelle 6.5: „Nation Branding Efforts“ der einzelnen Ostseeanrainer
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
1.1 Zielstellung und Aufbau der Arbeit
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer ergaben sich völlig neue Möglichkeiten der Annäherung zwischen den Nationen die das Baltische Meer umgeben. Ein immer dichter gewordenes Kooperationsnetzwerk aus Vertretern der Länder, aus NGOs, verschiedenen Institutionen und vielen anderen Akteuren, das sich seit den 1990er Jahren entwickelte, überschritt die Ländergrenzen und ließ immer mehr Interaktionen zwischen den einst von- einander isolierten Ostseenationen zu. Im Zuge der Entwicklung der Ostseeregion seit den 1990er Jahren trat immer häufiger auch der Begriff der regionalen Identität zum Vorschein. Von einer Ostseeidentität, oder auch von einer Identität des Ostseeraums, ist in der Fachliteratur immer wieder die Rede, wobei die Expertenmeinungen über die Existenz einer solchen Identität auseinander gehen.
Aufgrund der Größe des Raums, seiner ungenauen Abgrenzung und der schwierigen „Messbarkeit“ einer regionalen Identität, können auch die Ergebnisse dieser Arbeit keine absolute Antwort auf die Frage geben, ob der Ostseeraum eine, mehrere oder gar keine Identitäten besitzt oder jemals besitzen wird. Hier werden zunächst die bisherigen Forschungsergebnisse, mögliche Identitäts- ansätze und Bemühungen zur Auffindung einer solchen Identität zusammen- fassend dargestellt. Durch verschiedene Untersuchungsmethoden, die im Verlauf der Arbeit noch näher erläutert werden, können verschiedene Tendenzen aufgezeigt werden, aus denen heraus versucht wird, die folgenden Fragen zu beantworten:
- Wird der Ostseeraum, sowohl in der Region als auch auf der internationalen Ebene als Einheit wahrgenommen?
- Ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Ostseeanrainern für eine solche Identität überhaupt erkennbar?
- Welche Images haften an den Ostseenationen und sind diese Images vergleichbar oder gar ähnlich?
Vor der Möglichkeit diese Fragen zu beantworten, muss geklärt werden, was sich hinter dem Begriff der Identität verbirgt. Im Kapitel 2 dieser Arbeit soll zunächst das theoretische Fundament zum T]hema Identität und raumbezogene Identität gelegt werden, das in den darauf folgenden Kapiteln zur Anwendung kommen wird. Es geht hier in erster Linie darum, die facettenreiche Begrifflichkeit zu erläutern, artverwandte Bezeichnungen aus diversen Fachrichtungen vorzustellen und bisherige Forschungsergebnisse, auch in Form von Identifikationsprozessen, zu präsentieren. Hervorgehoben werden außerdem die große Bedeutung, bzw. der Nutzen der raumbezogenen Identität, und auch die Relation zwischen Identität und Image.
In Kapitel 3 wird dann der Untersuchungsraum vorgestellt und topographisch sowie naturräumlich, d.h. klimatisch und geologisch, abgegrenzt. Darauf folgt ein Abriss der jüngeren Entwicklungsgeschichte der Ostseeregion seit 1989. In diesem Zusammenhang wird der Prozess des „region-building“, bedeutende Kooperationsnetzwerke und auch die aktuelle EU-Regionalpolitik, in Form der Ostseestrategie und des Ostseeprogramms vorgestellt. Bereits in diesem Kapitel wird ein Bezug auf den Begriff der regionalen Identität des Ostseeraums und seiner Bedeutung erfolgen.
Das Kapitel 4 stellt den Hauptteil dieser Arbeit dar, in dem die theoretischen Grundlagen zur raumbezogenen Identität Anwendung finden werden. In diesem Abschnitt wird die Identität des Ostseeraums näher untersucht und analysiert, ob eine Ostseeidentität bereits existent ist. Wenn sie existiert, stellt sich die Frage, ob es Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Raum gibt die ihr zu Grunde liegen. Wenn es sie nicht gibt, soll herausgefunden werden, warum bisher noch nicht von einer gemeinsamen Identität der Großregion gesprochen werden konnte, ob identitätsstiftende Potentiale im Ostseeraum überhaupt existieren und ob in der Region, als auch international der Raum als Entität angesehen und kommuniziert wird. Der Versuch die eingangs formulierten Fragen zu beantworten, erfolgt in diesem Kapitel.
Der Anhang dieser Arbeit beinhaltet einen Veranstaltungskalender mit grenz- überschreitenden Events im Ostseeraum, sowie eine Liste von Institutionen, Projekten und Kooperationen im Ostseeraum, die sich bereits dem Thema Ostseeidentität und Image annahmen. Auch Marketingbemühungen der einzelnen Ostseeanrainer sind im Anhang exemplarisch dargestellt und unterstreichen zusätzlich die Bedeutung der Identität und des Images der Region und seiner Anrainer.
1.2 Methodik
Bei der Recherche um die Ostseeidentität war es zunächst notwendig den Begriff „Identität“ und „raumbezogene Identität“ theoretisch zu fundieren und auch artverwandte Bezeichnungen vorzustellen. Als Grundlage diente hier die Literatur aus verschiedenen Fachrichtungen wie der Soziologie oder auch der Psychologie. Auch die Geographie befasst sich mit der raumbezogenen Identität in beispielsweise der Regionalbewusstseinsforschung, der Mental-Map Forschung oder der Sozialgeographie. Die Erkenntnisse zur raumbezogenen Identität sind allerdings nicht auf eine wissenschaftliche Richtung, wie die Geographie zu begrenzen, da die Forschungsergebnisse der Fachrichtungen nicht isoliert voneinander zu betrachten sind, sondern vergleichbar sind, einander ergänzen oder gar aufeinander aufbauen. Verdeutlicht wird dies durch den Vergleich der Arbeiten von Klaus Werthmöller, Peter Weichhart und Heinz-Werner Wollersheim. Der Sozialgeograph Weichhart, bietet ein außerordentlich gutes theoretisches Fundament der raumbezogenen Identität, da er von Identifikationsprozessen ausgeht, die die Komplexität, d.h. u.a. verschiedene Dimensionen und Perspektiven der Identität, erfassen. Aufgrund dessen werden diese, aber auch das vergleichbare Identitätsverständnis Werthmöllers, auch im späteren Verlauf der Arbeit Anwendung finden.
Das Kapitel 3 dient dazu den Ostseeraum vorzustellen, abzugrenzen und seine jüngere Entwicklungsgeschichte von 1989 bis heute summarisch darzustellen. Diese Informationen basieren auf verschiedensten Quellen wie dem Ostseeinstitut Rostock oder den Internetauftritten der Kooperationsinitiativen für den Ostsee- raum, wie dem Ostseerat. Dem Themenfeld des „region-building“ nahm sich u.a. Ute Papenfuß in ihrer 2002 an der Universität Rostock erschienenen Magisterarbeit an. Die Arbeit „Identitätsbildung in der Ostseeregion“ von Brand und Schröter beinhaltete ebenfalls wichtige Fakten zum Thema der Regionsbildung im Ostseeraum. Dieser Prozess wird in dieser Arbeit erläutert, da die raumbezogene Identität im „region-building“ eine wichtige Rolle spielt. Die aktuelle EU-Ostseestrategie und das EU-Ostseeprogramm werden hier so vorgestellt, dass deren Grundstrukturen nachvollzogen werden können und vor allem die Relevanz der Identität und des Images für die Region hervorgehoben wird. Die Informationen dafür wurden hauptsächlich der gedruckten Version des Baltic Sea Region Programme 2010 entnommen.
Das 4. Kapitel zeigt zunächst eine exemplarische Zusammenfassung von Expertenmeinungen, die sich dem Thema Ostseeidentität bereits annahmen. Zu diesen Experten zählen u.a. Armon von Ungern-Sternberg, Mitglied der Baltischen Historischen Kommission und Bernd Henningsen, Direktor des Nordeuropa- Instituts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Es wird außerdem erläutert, warum eine solche Identität so wichtig ist. Die Relevanz der regionalen Identität soll zusätzlich verdeutlicht werden durch die Gegenüberstellung der transnationalen Großregionen Ostsee- und Mittelmeerraum. Es folgt eine exemplarische Erläuterung und Bewertung von möglichen Ansätzen einer Ostseeidentität, die in der hier verwendeten Literatur thematisiert wurden. Die Ansätze werden vorgestellt und das identitätsstiftende Potential zum einen durch Literaturquellen belegt oder widerlegt, oder aber anhand des Faktes, ob der Ansatz eine Gemeinsamkeit für den Großteil der Ostseeanrainer darstellt oder nicht. Eine andere Möglichkeit den „Grad“ der Identifikation in der Region mit einem Identitätsansatz zu „messen“, ist die Stichwortsuche über die Internet-Such- maschine Google. Diese Methode wurde für den Identifikationsansatz Bernstein gewählt. Der Name des Ostseeanrainers wurde in Verbindung mit dem Begriff „Bernstein“, bzw. „Amber“ gesucht (z.B. „Lithuania Amber“ oder „Mecklenburg- Vorpommern Bernstein“). Den Suchergebnissen konnte man dann entnehmen, ob und in wie weit „Bernstein“ in dem jeweiligen Gebiet präsent ist (Namen von Hotels oder Firmen, Museen usw.).
In den Punkten 4.5 und 4.6 wird der Blickwinkel von der raumbezogenen Identität auf das Image erweitert, da diese Termini eng miteinander verwoben sind. Sehr hilfreich zum Aufbau dieses Kapitels erschien der 2010 vom „Branding Experten“ Marcus Andersson veröffentlichte Report „Place Branding and Place Promotion Efforts in the Baltic Sea Region - A Situation Analysis“. Ein weiterer Experte auf diesem Gebiet ist der Brite Simon Anholt.
Grundlage der Untersuchungen in 4.5 sind die Ergebnisse von Umfragen verschiedener Marktforschungsinstitute zur Wahrnehmung der Region in einigen Ostseenationen, aber auch diverse Internetrecherchen auf den Visit- und Invest seiten der Länder. Hier soll herausgefunden werden, in wie weit die Ostseeanrainer in ihren virtuellen Selbstdarstellungen im Hinblick auf den Tourismus und auf ihre Investitionsmärkte ihre Zugehörigkeit zur Ostseeregion betonen und wie sie sich vorstellen. Aus dieser Recherche heraus kann ebenfalls „abgelesen“ werden ob sich die Länder mit der Region identifizieren oder nicht. Die genauen Methoden werden in den entsprechenden Abschnitten noch nähere Erläuterung finden.
Nachdem der Focus auf die gesamte Region gelegt wurde, werden dann die raumbezogenen Identitäten und die Images der einzelnen Ostseeanrainergebiete im Mittelpunkt stehen, wobei hier insbesondere die so genannten „Fremdbilder“ untersucht werden. Dazu werden die Ergebnisse der Länder der Nation Brands
Index -Studie (kurz: NBI) aufgeschlüsselt und verglichen, um Aussagen über die internationalen Reputationen der Ostseenationen treffen zu können und zu überprüfen, ob diese Images gleiche Tendenzen aufweisen, die Grundlage für eine Ostseeidentität bilden können. Ein Focus bei dieser Analyse wird auf die Images der Bewohner und des Tourismus gelegt, da die theoretischen Grund- lagen zum Thema raumbezogene Identität auf diese Bereiche sehr gut an- gewendet werden konnten.
Eine weitere Vertiefung erfolgt in der genauen Darstellung der Bewertungen ausgewählter Ostseenationen über die anderen Länder der Ostseeregion. Durch den Vergleich der Ergebnisse der NBI -Ergebnisse auf der internationalen und regionalen Ebene soll herausgefunden werden, wie die Nationen übereinander denken und ob diese Bewertungen ein Zusammengehörigkeitsgefühl als Voraussetzung für eine Ostseeidentität vermitteln. Die genauen Methoden sind auch hier den entsprechenden Abschnitten zu entnehmen.
Es folgt eine weitere Studie über das Image des Nordens. Es handelt sich hier um genaue Assoziationen über die Ostseeländer Dänemark, Schweden und Finnland aus der Sicht junger deutscher Studenten. Es stellt sich die Frage, ob der Norden ein eigenes, und vor allem einheitliches Image hat. Die Images der Länder Nordeuropas werden verglichen und auch den Ergebnissen der NBI -Studie gegenübergestellt. Weitere Möglichkeiten Fremdbilder zu untersuchen, bieten die Darstellungen der Ostseenationen in verschiedenen Reiseführern und anderen Literaturquellen, in denen Aussagen über die Fremddarstellungen der Länder getroffen werden. Diese Gegenüberstellung ist ebenfalls Bestandteil dieses Kapitels.
Zum Abschluss des 4. Kapitels wird die Präsens der Ostseeregion und seiner Ostseeländer in den Medien beleuchtet, um zu erfassen, wie medienwirksam, d.h. „sichtbar“ der Raum und seine Anrainer sind. Grundlage dafür bot zum einen eine dänische Studie, in der die Medienpräsens verschiedener Länder untersucht wurde, sowie Expertenmeinungen diesbezüglich, wie beispielsweise von Marcus Andersson.
Probleme bei der Themenbearbeitung und Anmerkungen
Bei der Literaturrecherche zum Thema Ostseeidentität sind folgende Punkte aufgefallen:
- Ein großes Problem stellt die ungenaue Abgrenzung des Ostseeraums dar. Da man bei der Bearbeitung des Themas auf verschiedene Quellen zugreift, trifft man dementsprechend auch auf unterschiedliche Vorstellungen der Abgrenzung des Raums.
- Auch der Begriff Skandinavien wird in der Literatur nicht gleich gebraucht. Die Definitionen unterscheiden sich je nach Abgrenzungskriterium (z.B. naturräumliche oder historisch-kulturell bedingte Abgrenzungen). Die Definition des Brockhaus formuliert die Abgrenzung des Raums ebenfalls frei. Im engeren Sinne versteht man unter Skandinavien Schweden, Norwegen und den Nordwesten Finnlands (naturräumliche Abgrenzung) und im weiteren Sinne, aus historisch-kulturellen Gründen, auch Dänemark und ganz Finnland (BROCKHAUS 1973: 478). Für diese Arbeit wird der Begriff im weiteren Sinne benutzt, wobei auf Norwegen nicht weiter eingegangen wird, durch die fehlende Ostseelage des Landes.
- Die Relevanz der Identität des Ostseeraums ist in der entsprechenden Literatur weit verbreitet. Es gibt Literaturquellen, die davon ausgehen, dass die Ostseeregion eine Identität besitzt. Ansätze, woraus sich diese aller- dings zusammensetzt, werden kaum oder gar nicht weiter thematisiert.
- Der Anhang der Arbeit zeigt eine Fülle an Projekten und Initiativen, die sich der Identität des Ostseeraums bisher annahmen. Ob diese allerdings zu Ergebnissen kamen, ist aus der Recherche nicht hervorgegangen.
- Eine Identität kann man nicht messen, eine repräsentative Umfrage zu diesem Thema müsste entsprechend in weiten Teilen der Ostseeregion durchgeführt werden, um wahrgenommene Gemeinsamkeiten der Ostsee- anrainer nachvollziehen zu können. Aufgrund dessen mussten für diesen Umfang der Arbeit alternative, weniger repräsentative Methoden gewählt werden, um eine Identifikation zu erkennen (z.B. Stichwortsuche und Analyse unterschiedlicher Studien).
- Nicht in jeder Betrachtungsweise werden alle Ostseeanrainer untersucht, da wichtige Tendenzen für den ganzen Raum bereits aus der Sicht auf ausgewählte Anrainer ersichtlich sind.
- Bei der Auswertung der NBI -Studie konnten nicht die Images aller Anrainer- staaten in gleichem Maße analysiert werden, da die genauen Daten nur für einige Länder im Internet aufzufinden waren - so wurde Lettland kaum erwähnt, die Auswertung der Assoziationen waren nur für Estland, Finnland, Schweden und Dänemark erhältlich und nur 4 Länder der Ostseeregion repräsentieren die Imagebewertungen der Ostseeländer untereinander. Um trotzdem Aussagen über die Images mehrerer Anrainer treffen zu können, wurden die touristischen Darstellungen in unterschiedlichen Reiseführern ebenfalls betrachtet.
- Auch die Ergebnisse der Studie Das Image des Nordens decken nur einen kleinen Teil der gesamten Region ab. Trotzdem kann man schon durch diese begrenzte Betrachtung Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Ostseeländer herausstellen.
- Da über das Leningrader Gebiet, als russisches Anrainergebiet, wenig Literatur- und Internetquellen erhältlich sind, konzentrieren sich die Untersuchungen zum einen auf ganz Russland, oder aber auf das Kaliningrader Gebiet und die Stadt St. Petersburg.
- Bei den verschiedenen Untersuchungsmethoden können hier lediglich die Ergebnisse dieser dargestellt werden. In einer weiterführenden Arbeit könnte man auf die Ursachen dieser Ergebnisse, wie etwa Konflikte oder andere Ursachen für bestimmte Verhältnisse der Anrainer untereinander, eingehen.
2 Die Identität
2.1 Die Grundbedeutung der Identität
Was ist Identität? Die Bedeutung dieser omnipräsenten Begrifflichkeit scheint klar, jedoch bedarf es einer komplexen Beantwortung der Frage, denn je nach Wissenschaft wird der Terminus unterschiedlich definiert, was einer eindeutigen Auffassung von Identität entgegenwirkt.
Geht man von der Etymologie des Begriffes aus, wird Identität vom lateinischen „idem facere“ abgeleitet und bedeutet „etwas gleich machen“. Auch die prägnante Definition des DUDEN Fremdwörterbuchs geht bei der Worterklärung des Substantivs von einer Gleichheit, nämlich der „Wesensgleichheit“ aus (ROHRBACH 1999: 11). In der englischen Übersetzung heißt Identität nicht nur, wie naheliegend angenommen, „identity“, sondern auch „sameness“, womit erneut das Charakteristikum der Gleichheit aufgezeigt wird. Dieses Merkmal impliziert, dass man von mindestens zwei Referenzpunkten ausgehen muss, seien es zwei Personen, Aussagen oder andere Dinge, um von Gleichheit sprechen zu können. Dieser Grundsatz wird auch in der Verwendung des Adjektivs „identisch“ deutlich: X und Y sind identisch, oder, X ist identisch mit Y. Auch wenn sich X mit Y identifiziert (Verb), bedeutet es, dass X z. B. eine bestimmte Einstellung von Y mit seiner eigenen ver gleich t und erkennt, dass seine mit der von Y konform geht.
Weitere Anhaltspunkte zur Auffassung des Terminus Identität werden deutlich, wenn man nach zusammengesetzten Substantiven sucht: Identitätskarte (österr. für Personalausweis) oder auch Identitätsnachweis. Damit sind Dokumente gemeint mit denen sich Personen identifizieren oder auch ausweisen, um zu demonstrieren, wer sie sind, dass die Charakteristika auf dem Ausweis ihrer Person entsprechen, aber auch um sich von anderen zu unterscheiden, oder unterschieden zu werden. Um zu belegen wer man ist, ist die Abgrenzung zu anderen Individuen unabdingbar.
Schon in diesen Grundüberlegungen zur Bedeutung von Identität wird klar, dass diese nicht isoliert entstehen kann, sondern sich in Abhängigkeit von mindestens zwei Referenzpunkten entwickelt. Wenn man also von einer Person ausgeht, ist der zweite Referenzpunkt z. B. eine andere Person und deren Charakteristika, von denen sich die erste Person abgrenzt oder in der sie Ähnlichkeiten zu sich selbst feststellt.
Identität in der Theorie
Dieser Grundgedanke zur Thematik der Identität ist ebenfalls Bestandteil theoretischer Überlegungen in unterschiedlichen Wissenschaften wie der Psychologie, Soziologie und der Philosophie, von denen nun vier, in der Literatur weit verbreitete Auffassungen, summarisch skizziert werden, um zunächst die Grundbedeutung des Begriffes festzuhalten. Da allerdings in der Theorie unter- schiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden, um die beiden Grundformen der Identität zu benennen, bedarf es zunächst einer kurzen Gegenüberstellung der Termini. Man unterscheidet die Identität einzelner Individuen und die ganzer Gruppen. Die so genannte Ich-Identität wird auch personale Identität genannt und steht der Gruppenidentität, die auch als kollektive Identität bezeichnet wird, gegenüber (CHRISTMANN 2008: 1; WEICHHART 1990: 18-19).
Einer der Wegbereiter der Identitätsforschung ist der Soziologe George Mead. Dieser befasste sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Identität und konzentrierte sich in seinen theoretischen Überlegungen auf die Ausbildung der Ich-Identität in Abhängigkeit von sozialen Kollektiven, die das Individuum umgibt. Dabei beleuchtet er einen Kernaspekt der Identitäts- entstehung, der von zahlreichen anderen Theoretikern vielfach aufgegriffen wurde: die Voraussetzung für die Ausbildung einer Identität ist die Sprache (WEICHHART 1990: 15). Soziale Interaktionen sind von großer Bedeutung und Grundstein der Entstehung der Ich-Identität, die er „als einen Balanceakt zwischen äußeren Erwartungen und eigener Einzigartigkeit“ versteht (STURM 1999: 28).
Die Identität ist ebenfalls Gegenstand der Psychologie. Verbreitet ist in dieser Wissenschaft, dass der Mensch sein ganzes Leben auf der sozialen Ebene mit anderen Menschen interagiert und sich dabei abgrenzt oder aber mit anderen identifiziert. Somit findet auch in der Psychologie der Grundgedanke Meads, dass Identität in Interaktionsprozessen entsteht, Anklang. Wer bin ich und wie werde ich eigentlich von meiner Außenwelt wahrgenommen? Zum einen wird diese Frage in jeder Entwicklungsphase vom Menschen gewissermaßen anders beantwortet, was Identität zu einem dynamischen Phänomen macht, und zum anderen verlangt die Frage über die Wahrnehmung der eigenen Identität eine komplexe Antwort (DÜRRMANN 1994: 63).
Der Amerikaner Erikson entwickelte 1950 die „Ich-Identitäts-Theorie“, ein Identitätsmodell, bei dem er von 8 Stufen ausgeht, die der Mensch im Verlauf seines Lebens erklimmt, indem er verschiedene Hindernisse, Herausforderungen und soziale Rollenzuschreibungen, die das Leben stellt, überwindet, um stufenweise seine Ich-Identität ausbilden und formen zu können. Beim Überwinden verschiedener Hindernisse im Sozialisationsprozess eignet sich das
Individuum verschiedene konstante Verhaltensweisen an und übernimmt soziale Rollen. Durch soziale Interaktionen in Gemeinschaften entwickelt der Mensch ein Leben lang sowohl Gefühle der Zugehörigkeit, als auch der Abgrenzung, was der Identität sowohl das Charakteristikum der Wesensgleichheit, als auch das der Differenz gibt. Die Person definiert sich zunächst selbst, und ist dann gewillt sich auch einer Gemeinschaft zuzuordnen, mit deren Mitgliedern das Wesen des Ichs konform geht (DÜRRMANN 1994: 64). Folgt man den Annahmen Eriksons, so gilt das Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums einer Gruppe, deren Mitglieder ähnliche, beziehungsweise sogar gleiche Merkmale aufweisen. Solche Merkmale sind zum Beispiel die Nationalität, Sprache, Beruf, Religion, Traditionen aber auch Charaktereigenschaften, oder ganz banal ausgedrückt, der Kleidungsstil oder ein ganz bestimmter Haarschnitt (DÜRRMANN 1994: 65-66). Schon an diesen exemplarisch aufgeführten Merkmalen erkennt man, dass es einer komplexeren Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität bedarf, denn ein Individuum könnte sagen: Ich bin Deutscher, Arzt, Katholik und/oder Punk. „Ich-Identität (…) ist somit kein bloßes Mosaik aus einzelnen Identifikationen - ich bin Frau, Mutter, Altenpflegerin, Gemeinderatsmitglied, Deutsche -, sondern, wie Erikson schreibt, >>hier hat das Ganze eine andere Qualität als die Summe seiner Teile<< (DÜRRMANN 1994: 47).“
Folgt man der klassischen Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow, so ist das Finden der personalen Identität von sehr großer Bedeutung, die auf der höchsten Stufe eines hierarchischen Models steht. Um diese Stufe zu erreichen, sind die niedrigeren Bedürfnisse des Menschen, z.B. nach Sicherheit und Geborgenheit, Zugehörigkeit, nach Achtung und nach Anerkennung zu be- friedigen. Erst wenn diese befriedigt sind und der Mensch im Einklang mit sich selbst ist, kann die höchste Stufe der Pyramide, die der personalen Identität oder der „Selbstverwirklichung“, erreicht werden (BOURNE/EKSTRAND 2005: 293). Das Bedürfnis der Zugehörigkeit und Gemeinschaft ist demzufolge eine Voraussetzung für die Ausbildung der personalen Identität.
Sowohl Eriksons „Ich-Identitäts-Theorie“, als auch Meads identitätstheoretische Grundgedanken, wurden 1974 von dem Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas aufgegriffen und erweitert. Er versteht die Abhängigkeiten zwischen der Ausbildung der Ich-Identität und der Gruppenidentität in entgegengesetzter Weise. Die Ausbildung der kollektiven Identität ist die der Ich-Identität übergeordnet und entwickelt sich vor der Identität des Ichs. Er beschreibt, dass sich das Ich erst in Abhängigkeit von Gruppen entwickeln kann und stellt dabei nicht wie Erikson die Reifung der Ich-Identität in den Mittelpunkt, sondern die Gruppenidentität, an der sich das Ich orientiert (DÜRRMANN 1994: 69-70). „Um die Frage nach dem >>Wer bin ich?<< aber beantworten zu können, bedarf es einer Gruppenidentität, einer konkret vorhandenen Gesellschaft (DÜRRMANN 1994: 43).“ Dass diese Orientierung des Individuums an der Gruppe nur im Einsatz von Kommunikation und Interaktion funktioniert, vertritt somit, angelehnt an Meads Theorie, auch Habermas. Eine Übereinstimmung kann hier auch zwischen den Ansichten von Abraham Maslow und Jürgen Habermas erkannt werden, da beide die Zugehörigkeit zu einer Gruppe als Voraussetzung für die personale Identität verstehen.
Die grundliegenden Ansätze von Mead, Erikson, Maslow und Habermas benennen zunächst das Hauptkriterium zur Ausbildung der Identität, nämlich die soziale Interaktion. Desweiteren werden in den Grundtheorien Charakteristika der Identität deutlich - sie ist ein dynamisches, vielseitiges, menschliches Bedürfnis und sie dient sowohl der Findung einer Gleichheit zwischen Individuen, als auch einer Abgrenzung zu Personen deren Wesen andere Merkmale aufweisen als die eigenen. Außerdem benennen die Theoretiker die beiden Grundformen, die Ich- Identität und die kollektive Identität, wobei hier allerdings eine Uneinigkeit darüber besteht, welche der beiden Formen die Voraussetzung für die Entwicklung der anderen ist.
2.2 Die raumbezogene Identität
Die deutschsprachige Wissenschaft der Geographie stützt sich erst seit den 1980er Jahren ebenfalls auf diese und zahlreiche andere interdisziplinäre Arbeitsansätze zum Themenbereich Identität (WARDENGA 1998: 33). Allerdings unterscheidet man, unter anderem in der Geographie, weniger zwischen Ich- Identität und kollektiver Identität, sondern begibt sich in ein spezifischeres Forschungsfeld, indem das Phänomen Identität einen Raumbezug bekommt (WEICHHART 1990: 8). Grundsätzlich dienen zur Ausbildung der Ich-Identität und Gruppenidentität verschiedene Dimensionen wie z.B. „Geschlecht, Beruf, Körper, Alter, und so auch Kulturkreis und den Lebensraum (WOLLERSHEIM 1998: 50).“ Es ist in der Literatur umstritten, inwieweit der Raum die Identität beeinflusst. Man geht allerdings davon aus, dass die Bedeutsamkeit der raumbezogenen Identität geringer ist, als die der anderen genannten Teildimensionen (WEICHHART 1990: 24; WOLLERSHEIM 1998: 50).
Der Terminus raumbezogene Identität wurde 1990 von dem Sozialgeographen Peter Weichhart eingeführt. Weichhart, Weiske und Werlen verstehen diese als „die persönliche und emotionale Bindung von Menschen an bestimmte Orte oder Gebiete (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 21).“ Diese Orte sind zum Beispiel der Wohnort, Geburtsort, eine beliebte Urlaubsdestination und für einige Menschen vielleicht sogar der Arbeitsplatz. Bei der Bindung an einen Ort unterscheidet der Wirtschaftswissenschaftler Ewald Werthmöller zwei unterschiedliche
Empfindungen einer Ortsbindung. Diese kann „affektiv“ sein, indem man sich zugehörig oder aber fremd fühlt und sich damit emotional abgrenzt, oder die Ortsbindung ist „funktional“, wie zum Beispiel die Bindung an den Arbeitsplatz (WERTHMÖLLER 1995: 50). Die Bindung an den Raum geht einher mit der menschlichen Internalisierung des sozialen Wertesystems des Raums. Diese äußert sich in der Bildung symbolischer Gruppen von wesensgleichen Mitgliedern, die sich von anderen differenzieren und nach dem gegebenen Wertesystem agieren (WERTHMÖLLER 1995: 98).
In ihrem Vortrag zum Thema „Identität und Raum“ unterscheidet die Soziologin Christmann, angelehnt an die Grundformen der Identität, zwischen raum- bezogener kollektiver und personaler Identität, wobei sie erstere als „abstraktes, symbolisches Konstrukt, als ein auf den Raum bezogener gesellschaftlicher Wissensvorrat eines Sozialzusammenhangs (CHRISTMANN 2008: 1).“ versteht. Für Christmann orientiert sich die raumbezogene personale Identität an diesem symbolischen Kollektiv und das Individuum ist „mit dem Gefühl persönlicher Zugehörigkeit verbunden (=Identifikation mit dem Raum) (CHRISTMANN 2008: 1).“ Von dieser grundsätzlichen Unterscheidung wurde in der Mehrheit der verwendeten Literatur zum Themenkomplex der menschlichen Bindung an den Raum allerdings abgesehen. Daher werden die Aspekte dieses Phänomens auch in dieser Arbeit nicht grundsätzlich getrennt auf die personale und die kollektive Identität bezogen.
Neben der raumbezogenen Identität gibt es auch die Termini räumliche oder regionale Identität. Da der Terminus raumbezogene Identität am weitesten in der eingesehenen Literatur verbreitet ist, wurde diese Bezeichnung in der vorliegenden Arbeit aufgegriffen, wobei auch verwandte Begriffsverwendungen entsprechende Erläuterungen finden werden.
Der Raum
Bevor das Phänomen der raumbezogenen Identität detailierter erklärt wird, bedarf es zunächst einer Erläuterung des Raums auf den sich die hier thematisierte Identität bezieht, denn der Raum wird je nach Fachrichtung anders definiert. Diese Arbeit stützt sich auf die allgemeine Definition der Geographie. Hier wird der Raum als ein abgegrenzter „Container“ beschrieben, dessen Basis eine Fläche darstellt. Gefüllt ist dieser mit verschiedenen Dingen der physischen Umwelt, wie
Gewässer, Gebäude, Siedlungen oder Straßen, aber auch soziale Gegebenheiten wie Sprache, Bräuche, Normen und Traditionen (BLOTEVOGEL 1995: 55; WERTHMÖLLER 1995: 90-91). Verschiedene Sichtweisen des Raumbegriffs werden schon in der Geographie deutlich, denn in der Physiogeographie konzentriert man sich eher auf die erdräumliche Fläche als Basis des Raums, der gefüllt ist mit Geofaktoren wie Boden, Klima, Wettergeschehen, Wasser oder dem Relief, während der Humangeograph doch vielmehr kulturelle Gegebenheiten des Raumes untersucht (BLOTEVOGEL 1995: 64). Es ergeben sich verschiedene Räume. Anders als politische Räume und Naturräume sind Sprach- oder Kulturräume nicht genau abgrenzbar. Räume müssen also weder durch eine feste Abgrenzung, noch durch strikte innere Homogenität gekennzeichnet sein. Diese Merkmale führen allerdings auch häufig zu Definitionsschwierigkeiten des Raumbegriffes (BLOTEVOGEL 1995: 56, KUNZMANN 1995: 88). Im Hinblick auf die raumbezogene Identität fügt Werthmöller hinzu, dass der physische Raum einen noch geringeren Identifikationscharakter hat als der soziale, was die kulturellen Aspekte eines Raums hervorhebt, da diese die Identität stärker beeinflussen und formen als naturräumliche Elemente (WERTHMÖLLER 1995: 105). Aufgrund dessen wird der Begriff der Kultur im Verlauf der Arbeit noch näher erläutert (siehe 2.3).
Maßstabsebenen der raumbezogenen Identität
Wenn man die Identität auf den physisch-geographischen Raum bezieht, kann dieser auf unterschiedlichen Maßstabsebenen verstanden werden. In der Geographie spricht man z. B. von regionaler Identität aber die raumbezogene Identität kann man nicht ausschließlich auf die Region anwenden, sondern auf verschiedene räumliche Ebenen. Menschen identifizieren sich mit unter- schiedlichen physischen Räumen und häufig nicht nur mit einem. Man kann sich gleichzeitig als Greifswalder, Norddeutscher, Deutscher und Europäer fühlen.
Die Sozialgeographen Weichhart, Weiske und Werlen sehen die Identifikation zunächst im engeren Sinne. Das Individuum identifiziert sich zunächst mit seinem Zimmer, seiner Wohnung, seinem Haus oder auch mit seiner „kleinen Nachbarschaft“ auf der „lokalen Maßstabsebene“. Das ist der kleinste Maßstabsbereich der raumbezogenen Identität, gefolgt von dem Stadtviertel oder der Gemeinde, die das Individuum bewohnt. Auf diesen Maßstäben kann das Individuum die größte Bindung und eine entsprechende „Ortsloyalität“ ausbilden. Die nächst größeren Bezugsgrößen sind Städte, Regionen, Bundesländer, Länder oder die gesamte Erde. Das nahe, bzw. unmittelbare Wohnumfeld ist der Mittelpunkt der raumbezogenen Identität, in der das grundliegende Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt wird, aber auch auf höheren Maßstabsebenen können tiefe Bindungen mit dem Raum eingegangen werden. Wichtig sind die „Identifikations- potentiale“ des Raums, die die Bindung des Individuums fördern oder nicht. Je klarer die Grenzen eines Raums sind, desto einfacher ist es sich mit ihm zu identifizieren (WEICHHART 1990: 77; WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 84-89).
Ein anderer Versuch die raumbezogene Identität verschiedenen Maßstabsebenen zuzuordnen machen Tzschaschel, Bode und Micheel, aus Sicht der Raum- ordnung. Sie haben in diesem Zusammenhang den verschiedenen Identifikations- räumen unterschiedliche Identitätsebenen gegenübergestellt. Auf der „Mikro- ebene“ gibt es das Raumkonzept des „Satisfaktionsraums“, der sich auf das Zuhause, die Wohnung oder das Haus eines Individuums bezieht. Symbole für diesen Identifikationsraum sind die Haustür oder der Zaun, die das eigene Territorium von anderen Räumen abgrenzen. Auf der regionalen Ebene, bzw. „Mesoebene“, kann z.B. ein Landstrich, eine durch eine gemeinsame Geschichte beeinflusster Raum in Menschen ein Regionalbewusstsein oder ein Heimatgefühl erwecken. Symbole für derartige Identifikationsräume können Landschaftsformen und auch das kulturelle Erbe sein. Die nationale oder auch internationale Ebene wird auch als „Makro- oder Kollektivebene“ bezeichnet (siehe auch 3.1.1). Ein Beispiel dafür ist das bewohnte Land oder der Kontinent. Der Raum ist z.B. die Nation der zum Identifikationsraum werden kann, der verschiedene Merkmale beinhaltet, z. B. kulturelle Traditionen wie die Sprache, oder die politisch- administrative Zugehörigkeit, was den Menschen das Bewusstsein darüber gibt deutsch, schwedisch oder polnisch zu sein (TSCHASCHEL/BODE/MICHEEL 1998: 111).
Werthmöller greift die Maßstabsebenen aus Sicht der Regionalbewusstseins- forschung auf und erläutert die Variationen des menschlichen Bewusstseins in Abhängigkeit des Raummaßstabs. Er unterscheidet dabei ebenfalls zwischen „Mikro-, Meso- und Makromaßstab“. Das Individuum kennt den Mikromaßstab am besten, denn damit sind auch hier Wohnung, Vereinshalle, Stadtbezirk oder Ähnliches gemeint. Die Raumausschnitte der „Mesoebene“, wie die Stadt oder Region, sind den Individuen zum einen aus dem eigenen Erfahrungsschatz bekannt, aber auch Informationen aus den Medien, wie der Regionalzeitung, dem regionalen Radio und Fernsehen, vermitteln den Individuen einen indirekten Raumerfahrungsschatz (Sekundärerfahrungen). Tendenziell kann man sagen, dass der Identifikationsgrad steigt, je mehr eigene Erfahrungen die Person mit dem Raum gemacht hat. Je großräumiger allerdings der Raummaßstab, desto weniger Erfahrungen hat das Individuum i.d.R. direkt mit diesem gemacht (WERTHMÖLLER 1995: 124-125, 139). Es muss sich nicht für einen Maßstab entscheiden, sondern kann sich allen Maßstabsebenen bedienen um seine Identität zu entwickeln und zu beschreiben (WERTHMÖLLER 1995: 87).
2.2.1 Die raumbezogene Identität als interdisziplinäres Phänomen
Die raumbezogene Identität, bzw. die Beziehung zwischen Individuen und ihrer räumlichen Umwelt ist nicht nur Gegenstand der Geographie, sondern wird auch von anderen Wissenschaften erforscht, wie z.B. den Politikwissenschaften, verschiedenen Arbeitsbereichen der Psychologie, den Wirtschaftswissenschaften oder auch der Linguistik (WEICHHART 1990: 8-9; WOLLERSHEIM 1998: 47).
Raumbezogene Identität ist u.a. ein Forschungszweig der Psychologie, weil sie sich im Bewusstsein der Menschen abspielt. Sie ist Teil der Soziologie weil es um Bindungsgefühle der Menschen an einen Raum geht. Das sind nur zwei Forschungsergebnisse die von Nachbardisziplinen erbracht wurden, von denen die Geographie zehren kann. Diese befasst sich sowohl mit dem Bewusstseins- zustand des Menschen, als auch mit der physischen und sozialen Umwelt, der sich das Individuum bewusst ist (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 31-32). Aufgrund dessen ist die Wissenschaft der Geographie nicht isoliert zu betrachten. Der Themenkomplex der raumbezogenen Identität ist mit einem interdisziplinären Charakter behaftet. Durch dieses ausgedehnte Wissenschaftsfeld existiert allerdings auch eine Fülle an verwandten Begriffen der raumbezogenen Identität. „Schlagworte wie „Satisfaktionsraum“, „Heimat“, „emotionale Ortsbezogenheit“, „Regionalismus“, „Territorialismus“, „Regionalbewusstsein“ oder „regionale Identität“ tauchen seither immer wieder in humangeographischen Ver- öffentlichungen auf (WEICHHART 1990: 5).“ Die genannten Termini finden sich häufig in der verwendeten Literatur wieder. Weichhart, Weiske und Werlen nehmen sich dem weiten Feld der raumbezogenen Identität an und fassen einige Themenbereiche ausgewählter Fachrichtungen und Beispiele involvierter Vertreter in der aufgeführten Tabelle 2.1 zusammen:
Die Identität des Ostseeraums 16
Tabelle 2.1: Raumbezogene Identität als Problemstellung der Forschung - eine Auswahl an beteiligten Disziplinen und Themenbereichen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: geändert nach WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 27
Die Tabelle zeigt nur einige ausgewählte Fachrichtungen und deren Forschungsschwerpunkte im Themenbereich der räumlichen Bindungen von Menschen. Durch die Fülle der Wissenschaftszweige, die sich mit der raumbezogenen Identität, im engeren und weiteren Sinne, befassen, wird sowohl die Relevanz, als auch die Komplexität des Themas deutlich. Im Folgenden werden verschiedene Ansichten der aufgelisteten Forschungsrichtungen kurz erläutert, um einige Grundannahmen dieses Phänomens festzuhalten.
In der Verhaltensforschung wird die territoriale Bindung von menschlichen Lebewesen mit den Verhaltensweisen von Tieren verglichen, um herauszufinden, ob diese ebenfalls erblich bedingt ist. Oft geht man hier davon aus, dass ein „territorialer Instinkt“ dafür verantwortlich ist, dass sich Menschen an Räume binden (WERTHMÖLLER 1995: 48). Grammer und Greverus sehen z. B. das Verlangen des Menschen nach einem Territorium als ein Streben, dass von Geburt an existent ist und durch Lebenserfahrungen dann zusätzlich beeinflusst wird (DÜRRMANN 1994: 41). In der gewohnten Umgebung kann sich der Mensch verwirklichen und, im Rückblick auf Maslows Bedürfnispyramide, sowohl das gewünschte Gefühl der Sicherheit, als auch das der Zugehörigkeit befriedigen (DÜRRMANN 1994: 38).
Die Vertreter der Soziologie, angelehnt an die Identitätstheorie Meads, gehen allerdings davon aus, dass die raumbezogene Identität erst durch soziale Interaktionen und Beziehungen auf lokaler oder regionaler Ebene entsteht, also im näheren Umfeld der Menschen (IPSEN 1999: 152; WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 26). Sowohl die Soziologie als auch die Psychologie verstehen das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen zu einem Raum als unbewusst, wobei sich dieses Gefühl eher auf eine Bindung an eine Gruppe bezieht, die sich wiederum dem Raum zugehörig fühlt (WERTHMÖLLER 1995: 49). Aber warum binden sich Menschen emotional an einen Raum? Auslöser für die Entwicklung dieses Phänomens sind, laut Soziologie, die Ängste der Menschen ihren Raum, in dem sie soziale Kontakte pflegen, zu verlieren und nichts dagegen tun zu können. Verluste, die diese Ängste begründen, können zum Beispiel durch natürliche Einflüsse eintreten wie Hochwasser, Stürme oder Vulkanausbrüche. Andere Gefährdungen sind politische Entscheidungen, die große Veränderungen mit sich bringen, oder Maßnahmen wie Großbauprojekte, die das ursprüngliche Bild des Raums verändern könnten (WERTHMÖLLER 1995: 68-69).
Die Linguistik erkennt einen Zusammenhang zwischen der Sprache und der menschlichen Bindung an einen Ort, denn durch die Art und Weise des Sprechens, z. B. durch den Gebrauch von Akzenten oder Dialekten, drückt ein Individuum aus, welchem Territorium es sich verbunden fühlt und zu welchen Kollektiven es gehört. Mattheier nennt dieses Phänomen „Ortsloyalität“. Das Individuum kann anhand der Sprache auch von „Fremden“ als Mitglied eines bestimmten Kollektivs identifiziert werden (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 28).
Dieses Ortsverbundenheitsgefühl von Individuen findet auch Anklang in Konzepten der Stadt- und Regionalplanung, wenn es darum geht Städte und Regionen zu vermarkten und Imagekampagnen aufzubauen, bei denen man von der raumbezogenen Identität Gebrauch machen möchte (siehe auch 2.4). Spezifischer als von bloßer raumbezogener Identität zu sprechen, nutzt man sowohl im Regionalmarketing als auch in den Fachrichtungen der Geographie die Begrifflichkeit regionale Identität und grenzt damit den Maßstab des Phänomens ein (BLOTEVOGEL 1995: 53, 56; WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 28).
Die Regionalbewusstseinsforschung fasst die Bezeichnungen „regionale Identität“ und „Territorialität“ zu dem Begriff Regionalbewusstsein zusammen, um die menschliche Bindung, sei es die individuelle oder die sozialer Kollektive, an Räume zu untersuchen. Sowohl in der Mental-Map Forschung der Geographie als auch in der Regionalbewusstseinsforschung geht es vor allem um die subjektive Wahrnehmung des Raums und seiner Merkmale, wie z. B. die Landschafts- komponenten, Wirtschaftsschwerpunkte, Siedlungsstrukturen oder auch kulturelle Veranstaltungen (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 28). Dieses subjektive Wahrnehmen des Raums und das gleichzeitige Abgrenzen zu anderen Räumen bezeichnet Werthmöller als „kognitive Dimension“ des Regionalbewusstseins. Eine zweite Dimension ist die „affektive“, mit der die emotionale Bindung an den Raum gemeint ist. Die dritte Dimension ist die „konative“, die sich im Engagement für den Raum und in der individuellen Integration in den Raum äußert. Diese Dimensionen bezeichnet er als „Intensitätsstufen“, wobei die „konative Dimension“ der höchsten Intensität des Regionalbewusstseins entspricht und die beiden anderen voraussetzt. Trotzdem muss sich ein Individuum einem Raum nicht emotional verbunden fühlen, nur weil es sich diesem bewusst ist. Es muss auch kein Engagement für den Raum zeigen, nur weil es sich emotional an diesen bindet (WERTHMÖLLER 1995: 64-66).
2.2.2 Forschungsansätze zur raumbezogenen Identität
Von der anfänglichen Definition ausgehend, bleiben einige Fragen über das Phänomen der raumbezogenen Identität offen, die im Folgenden Beantwortung finden werden. Identifizieren sich Individuen mit dem ganzen Raum oder mit bestimmten Raummerkmalen? Gibt es verschiedene Verwendungsweisen des Phänomens? Besitzt der Raumausschnitt selbst eine Identität oder nur seine Bewohner? Aus welchen Perspektiven kann die raumbezogene Identität wahr- genommen werden? (IPSEN 1999: 150; WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 19; WERTHMÖLLER 1995: 92). Nachfolgend geben wissenschaftliche Arbeiten ver- schiedener Fachbereiche Aufschluss über die verschiedenen Facetten des Phänomens der menschlichen Bindungen an den Raum.
Christian Rohrbach geht bei seinem Versuch die raumbezogene, spezifischer gesehen, die regionale Identität, zu definieren von dem Merkmal aus, dass es sich hierbei immer um das Verhältnis zwischen Menschen und der Region, und, anknüpfend an die allgemeine Definition von Identität, deren „Wesensgleichheit“ handelt. Rohrbach bezeichnet die regionale Identität als den „Charakter der Region“ und meint damit eine „Wesensgleichheit in der Region“, beziehungsweise der Menschen in einer Region, was sich z.B. in gleichen Traditionen, dem Akzent oder Dialekt, in einheitlichen Siedlungsformen oder Ähnlichem äußert (ROHRBACH 1999: 12).
Abbildung 2.1: Die regionale Identität als Schnittmenge zwischen dem Charakter der Region und dem Wesen der Menschen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: nach ROHRBACH 1999: 14
Die Bewohner einer Region haben typische Eigenschaften, wie z.B. die Pünktlichkeit oder Gewissenhaftigkeit in unseren Landen. Die Menschen sind sich bestimmter Eigenarten der Region bewusst, eignen sich einige an, wie z.B. einen Akzent, dem man sich nur schwer entziehen kann, und identifizieren sich gewissermaßen mit der Region. Die Abbildung 2.1 zeigt die regionale Identität als die „Schnittmenge zwischen dem Charakter der Region mit seinen Ausprägungen und dem Wesen der Menschen aus derselben Region (ROHRBACH 1999: 14).“ Der Grad der Wesensgleichheit zwischen Mensch und Region hängt davon ab, wie „identitätsstiftend“ die Merkmale der Region für den Menschen sind. Rohrbach geht hier von einer allgemeinen Definition der regionalen Identität aus, wobei offen bleibt, ob die Region selbst auch eine Identität hat und aus welchen Perspektiven die regionale Identität wahrgenommen werden kann.
Ewald Werthmöller nimmt sich dem Forschungszweig an und spricht nicht von raumbezogener oder regionaler, sondern von räumlicher Identität, und bezieht sich mit dieser Bezeichnung und seinen Ausführungen auf die Sozialwissen- schaften (vgl. IPSEN 1999). Er unterscheidet zwei verschiedene Verwendungs- weisen der Begrifflichkeit. Die räumliche Identität entsteht aus der Beziehung zwischen den Menschen und den Merkmalen ihrer räumlichen Umwelt. Folgt man der Umweltpsychologie, so bekommen Menschen eine räumliche Identität, weil sie ihre Umwelt identifizieren und sich mit ihr identifizieren. Auch er definiert das Phänomen, ähnlich wie Rohrbach, als eine Wesensgleichheit zwischen dem Raum und seinen Menschen. Aber Werthmöller fügt noch eine zweite Verwendungsweise hinzu, bei der nicht die Individuen im Mittelpunkt stehen, sondern der Raum selbst, dessen Eigenarten identifiziert werden und daher auf subjektiven Zuschreibungen von Individuen basieren (IPSEN 1999: 151). Dies führt dazu, dass der Raum selbst eine Identität bekommt (ZEITLER 2001: 130). Je deutlicher die Raummerkmale hervorstechen, desto eindeutiger kann man diese identifizieren und sich gegebenenfalls mit ihnen identifizieren. Dies ist natürlich schwierig bei großen Regionen, die keine eindeutige Identität vorweisen können, durch eine Fülle von divergierenden Merkmalen. Daher ist die räumliche Identität auch so wichtig für das Regionalmanagement (WERTHMÖLLER 1995: 9-10) (siehe auch 2.4).
Der Wirtschaftswissenschaftler unterscheidet außerdem zwischen dem Subjekt, das identifiziert, und dem Objekt, das identifiziert wird. Desweiteren nennt er zwei Perspektiven des Identifizierens. Bei der Innenperspektive identifiziert die Person sich selbst, da sie gleichzeitig Subjekt und Objekt darstellt. In der Außen- perspektive handelt es sich bei dem Subjekt um eine Person aber das zu identifizierende Objekt ist eine andere Person, eine Gruppe, ein Verein oder eine Organisation. Wenn man die räumliche Komponente darauf bezieht, erfolgt eine Identifikation des Raums durch „Auswärtige“ wie Ortsfremde, die noch nie an diesem Ort waren, Touristen, die ein- oder mehrmals den Raum besucht haben oder Pendler (IPSEN 1999: 15; WERTHMÖLLER 1995: 37-39, 80).
Anders als Rohrbach versteht Werthmöller unter dem Phänomen nicht nur die Wesensgleichheit zwischen Mensch und Raum. Er unterscheidet verschiedene Arten des Identifizierens: Identifizieren von /Identifizieren mit. Dieses Identifizieren bezieht sich nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf den Raum und seine Merkmale. Der Raum selbst kann also Träger einer Identität sein. Desweiteren bringt Werthmöller zwei verschiedene Perspektiven des Identifizierens an, die Innen- und Außenperspektive.
An dieser Stelle ist es wichtig zwischen den Begrifflichkeiten Identität und Identifizieren, bzw. Identifikation zu unterscheiden. Der Pädagoge Wollersheim nimmt sich dieser Unterscheidung beispielsweise an. Bei der Verwendung der Begriffe ist grundliegend zu beachten, dass die Identifikation und das Identifizieren als Vorgänge oder Prozesse zu verstehen sind und die Identität doch eher als Zustand (ROHRBACH 1999: 13). „Identität lässt sich als eine Relation zwischen zwei Dingen oder Menschen auffassen, Identifikation hingegen als Erkennen oder Aufbau dieser Relation, oder zumindest als eine Aussage über das Bestehen dieser Relation (WOLLERSHEIM 1998: 48).“
Die unterschiedlichen Facetten der raumbezogenen, bzw. der räumlichen Identität, die Werthmöller bereits aufgezeigt hat, werden von Peter Weichhart theoretisch fundierter erläutert. Um die Entwicklung von raumbezogener Identität verstehen zu können, bedarf es einer Erläuterung bestimmter Identifikationsprozesse, als Bestandteil des Konzeptes der „multiplen Identitäten“, die der Umweltpsychologe Graumann 1983 bereits thematisierte und die 1990 von Peter Weichhart aufge- griffen wurden, um sein Konzept der „Raumbezogenen Identität“ zu entwickeln. Carl Friedrich Graumann erfasst drei Bedeutungen der Identifikation und teilt diese in drei Prozesse, die die Komplexität der raumbezogenen Identität erfassen und deren unterschiedliche Wahrnehmungsdimensionen beachten:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.2: Die Identifikationsprozesse Quelle: geändert nach WEICHHART 1990: 16-17
Alle drei Prozesse beschreiben die raumbezogene Identität, also den Zustand der Wesensgleichheit zwischen Menschen und Räumen. Anhand dieser Unterteilung werden zwei Merkmale der Identifikation deutlich. Zum einen werden hier ver- schiedene Perspektiven klar, denn das Individuum kann sowohl identifizieren (I), als auch als Identifikationsobjekt dienen (II). Zum anderen, verweist der Begriff der Umwelt (environment) nicht ausschließlich auf andere soziale Gruppen oder einzelne Individuen, sondern lässt auch die Identifikation von und mit Dingen aus der „physisch-materiellen Umwelt“ zu (WOLLERSHEIM 1998: 47). Generell beziehen sich diese Prozesse sowohl auf das einzelne Individuum, als auch auf die Identität ganzer Gruppen. Die Ich-Identität hat einen Bezug zur Gruppenidentität, da sich die Person einer Gruppe zugehörig fühlt, die sich wiederum einem Raum verbunden fühlt, (Identifikation III), oder von der Außenwelt als Gruppenmitglied identifiziert wird (Identifikation II) (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 35).
Weit verbreitet ist die Annahme, dass die raumbezogene Identität ein Ergebnis des Identifikationsprozesses I sei. „Raumausschnitte (…) stellen Gegenstände der alltäglichen Erfahrung dar. Sie werden dabei identifiziert (im Sinne der Identifikation I), klassifiziert und als kognitives Konstrukt handhabbar (WEICHHART 1990: 20).“ Dieses kognitive Konstrukt über einen bestimmten Raumausschnitt, wie z.B. eine Region, eine Stadt, Stadtteile, ein Dorf, ganze Länder oder Kontinente werden zum Objekt von sozialen Interaktionen zwischen Individuen, die dieses Objekt identifizieren und ihm bestimmte Merkmale zuordnen. Der Raumausschnitt wird von anderen abgegrenzt und steht im Mittelpunkt der Kommunikation und nicht das Individuum selbst. Es handelt sich hierbei also um die Identität des Raums, beziehungsweise um das „Raumbewusstsein“ von Individuen (WEICHHART 1990: 20; WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 32-33). Auf der Grundlage der Identifikation I ergibt sich folgende Definition der raum- bezogenen Identität, die von verschiedenen Wissenschaften wie der Psychologie, Kulturanthropologie und Soziologie vertreten wird: „die kognitiv-emotionale Repräsentation von räumlichen Objekten (Orten) im Bewusstsein eines Individuums bzw. im kollektiven Urteil einer Gruppe (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 33).“ Durch diese Definition sind auch Ähnlichkeiten zu Werthmöllers Ansatz des „Identifizierens von “ erkennbar.
Die Identifikation II beschreibt das Phänomen des Identifiziert-Werdens, wobei Subjekte zu Objekten der Beobachtung werden und als etwas Bestimmtes identifiziert werden, wie etwa als Kind, Teenager oder Erwachsener oder z.B. als Frau oder Mann. Bezieht man die raumbezogene Identität auf diesen Identifikationsprozess, kann man auch anhand „raumbezogener Klassifikations- kriterien“ identifiziert werden, wie z.B. als Ostdeutscher, Norddeutscher, Mecklen- burger oder als Greifswalder. Hinter dieser Rollenzuschreibung, im Sinne des Identifiziert-Werdens, verbirgt sich allerdings nicht nur die territoriale Herkunft des Objekts, sondern auch eine typische Assoziation. So gelten die Deutschen allgemein als gewissenhaft und pünktlich und die Schwaben als besonders geizig. Kognitionen, bzw. gedankliche Repräsentationen wie diese, sind verankert im Bewusstsein des Subjektes (Individuum oder Gruppe), Bestandteil sozialer Interaktionen und eine Grundlage für Rollenzuschreibungen (WEICHHART/WEISKE/ WERLEN 2006: 33). Angelehnt an Werthmöllers Unterscheidungen sieht man also bei diesem Prozess, dass auch aus einer Außenperspektive identifiziert werden kann.
Im Prozess der Identifikation III ist das Objekt, mit dem sich ein Individuum identifiziert, ein anderes Individuum, ein Kollektiv von Menschen, Räume oder bestimmte Raummerkmale wie Gesetze, Traditionen, Bräuche, Normen, Abstrakta oder Dinge der physisch-materiellen Umwelt. Dadurch, dass sich das Subjekt direkt mit dem Objekt identifiziert, wird dieses Teil der eigenen Identität (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 33-34). Das einzelne Individuum identifiziert sich auf der emotionalen Ebene mit dem Raum, bzw. mit Dingen aus diesem Raum und macht sie zum Teil seiner Ich-Identität. Verstärkt wird das Phänomen der raumbezogenen Identität im Kollektiv, da sich dann nicht nur einzelne Individuen einem Raum, bzw. seiner „Inhalte“ zugehörig fühlen, sondern eine ganze Gruppe. Ein Denkmal z. B. hat eine Geschichte, an die sich die Gruppe erinnert. Dies wiederum fördert deren Zusammenhalt. (WEICHHART 1990: 23; WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 36, 89).
Weichhart bezeichnet diese „Gruppenkohärenz“, bezogen auf einen Raum, als „Ortsloyalität“, da die Individuen ein Gefühl der Zugehörigkeit, Bindung und der Verantwortung für das Kollektiv verspüren, dessen Mitglieder sich wiederum dem Raum verbunden fühlen (WOLLERSHEIM 1998: 53; WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 35). Werthmöllers „Identifizieren mit “ entspricht Weichharts Identifikations- prozess III.
Peter Weichharts Theorie der raumbezogenen Identität basiert auf verschiedenen Prozessen der Identifikation, die auch die zwei Perspektiven des Identifizierens berücksichtigen. Desweiteren geben die Prozesse Aufschluss darüber, dass nicht nur Individuen eine raumbezogene Identität haben können, sondern der Raumausschnitt selbst. Diese Identität des Raums wird allerdings von Individuen wahrgenommen. Auch er unterscheidet ein Identifizieren von/mit (entspricht I und III), wobei auch hier zu erkennen ist, dass die bloße Identifikation von etwas oder jemandem noch kein „sich mit etwas identifizieren“ bedeutet, aber das „sich mit etwas identifizieren“ setzt das „identifizieren von “ voraus. Individuen identifizieren sich nicht nur mit dem Raum selbst, sondern mit bestimmten Merkmalen, die den Raum ausmachen, Diese werden im Folgenden noch genauer dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.3: Differenzierungsschema des Identifikationsprozesses Quelle: geändert nach WOLLERSHEIM 1998: 49
Heinz-Werner Wollersheim hat die Ansätze Graumanns und Weichharts erneut aufgegriffen und die genannten Identifikationsprozesse schematisch dargestellt (Abbildung 2.3). Er geht von vier verschiedenen Perspektiven, beziehungsweise Identifikationssubjekten (IFS) aus: Ich, Wir, Jemand und Andere. Bei dieser Sicht- weise wird deutlich, dass Wollersheim sowohl zwischen der Innen- und Außen- perspektive, als auch zwischen der Anzahl der Individuen, die identifizieren, unterscheidet. Die unterschiedlichen Perspektiven werden auch bei der Wahl der Objekte (O1, O2) deutlich. Objekt der Identifikation kann die eigene Person oder Gruppe, eine andere Person oder mehrere andere Personen sein oder auch ein sächliches Objekt. Laut Wollersheim ergeben sich aus seinem Schema circa 100 Identifikationsmöglichkeiten, die die Vielfältigkeit des Terminus erneut wider- spiegeln (WOLLERSHEIM 1998: 50).
Mit dem entsprechenden Raumbezug und dem Fokus auf der Identifikation einzelner Personen, oder Kollektiven mit ihrer räumlichen Umwelt, ergibt sich z.B. eine Kombination, die mit der Identifikation III einher geht: „ Ich/Wir identifiziere(n) Mich/Uns mit Etwas “ (WOLLERSHEIM 1998: 50). „Wir identifizieren uns mit Deutschland“ oder „Wir identifizieren uns mit dem Marketingkonzept MecklenburgVorpommerns“ sind Beispiele dafür.
Identifikation II wäre „ Andere identifizieren Uns als/mit Etwas “ , oder auch „ Jemand identifiziert Etwas als/mit Etwas “ (WOLLERSHEIM 1998: 50) . Ein Beispiel dafür ist: „Die Amerikaner identifizieren uns als die Krauts“.
Der Prozess der Identifikation I, mit Bezug auf den Raum, spiegelt sich unter anderem in der Kombination „ Wir/Andere identifizieren Etwas als Etwas “ wider (WOLLERSHEIM 1998: 50). Es könnte z.B. „Wir identifizieren den Dom als Wahrzeichen von Köln“ oder „Andere identifizieren New York als eine Stadt mit hoher Kriminalitätsrate“ bedeuten.
Etwas in Verbindung mit dem Raum gilt es noch näher zu bestimmen. Es kann mit diesem Objekt zum einen der gesamte Raum als solches zu verstehen sein, andererseits kann sich das Etwas auch auf bestimmte Inhalte des Raums beziehen, so genannte „Merkmale“ oder auch „Referenzpunkte“, wie sie von Christmann bezeichnet werden, wie z.B. materielle Gegenstände, Gebäude, die typische Architektur, typische Produkte, die Kulinarik, die Landschaft und ihre Merkmale, oder auch wirtschaftliche und politische Aktivitäten, Sprachen, Dialekte, Kleidung, Festivitäten, Geschichte, Traditionen und vieles mehr (CHRISTMANN 2008: 1). Aber nicht der Raum als solches und auch nicht die besonderen „Merkmale“, bzw. „Referenzpunkte“ des Raums sind „identitäts-stiftend“. Es sind die subjektive Bedeutung und die symbolische Zusprechung genau dieses Etwas, die Resultat sozialer Interaktionen sind. Diese machen die Merkmale erst zu „Identifikationspotentialen“, die eine Identität stiften können. Dem Raum selbst oder seinen Merkmalen wird eine Symbolik zugeschrieben, die Ergebnis subjektiver Wahrnehmungen und Erfahrungen ist (CHRISTMANN 2008: 1; FACH et.al. 1998: 4). In der verwendeten Literatur werden verschiedene Begriffe für diese „Identifikationspotentiale“ verwendet. Werthmöller bezeichnet sie als „Identitäts- faktoren“ oder „Identitätsbausteine“ und Detlev Ipsen und Klaus Werthmöller als „Identitätsanker“ (IPSEN 1995: 113; WERTHMÖLLER 1995: 93, 192). Weichhart, Weiske und Werlen nennen sie „Raum-Metaphern“, die als „Identifikations- potentiale“ dienen (WEICHHART/ WEISKE/WERLEN 2006: 35-36).
2.3 Kultur, kulturelle Identität und die Bedeutung von Heimat
Das beschriebene Etwas, als Objekt der Identifikation können Räume oder Raummerkmale sein, die mit einer symbolischen Zuschreibung behaftet sind und dadurch „Identifikationspotentiale“ werden können. Solche Potentiale ergeben sich u. a. aus der Kultur heraus, denn der Mensch wird als Kulturwesen bezeichnet und hat, folgt man den Überlegungen des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt, das Bedürfnis sich mit seinem kulturellen Umfeld zu identifizieren (DÜRRMANN 1994: 47). Laut Vivelo, einem Kulturanthropologen, versteht sich die Kultur als ein System mit bestimmten Richtlinien und Gesetzmäßigkeiten, die Orientierungs- charakter für die sich mit dieser Kultur identifizierenden Individuen haben (DÜRRMANN 1994: 47). Daraus ergibt sich eine Definition des Begriffes der Kultur, die von beiden Wissenschaftlern vertreten wird. „Sie ist die Gesamtheit der Lebewesen eines Volkes, einer kulturellen Gemeinschaft, welche sich in Sprache, Geschichte, Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte und Brauch äußert (DÜRRMANN 1994: 48).“ Wolfgang Berg fügt dem hinzu, dass unter Kultur alles zu verstehen sei, das der Mensch zur Lebensgrundsicherung und auch darüber hinaus braucht und sichert. Er gliedert seine Auffassung von Kultur in ver- schiedene Sparten. In materieller Hinsicht kann Kultur ein Gebäude sein und in künstlerischer Hinsicht z.B. eine Gitarre oder auch ein Bild oder Buch. Auch für ihn bietet das Konstrukt der Kultur Richtlinien, denen sich das Individuum bewusst ist, mit denen es sich identifiziert und nach denen es handelt (BERG 1996: 42, 46).
Kultur bietet Menschen die Möglichkeit der Identitätsfindung. Das einheitliche Auftreten einer bestimmten Sprache macht z.B. den Sprachraum aus, dem sich ein Individuum zugehörig fühlen kann. „Kultur ist dem Menschen anheim- gegebener geistiger Lebensraum, indem seine Bedürfnisse nach Identitätsbildung und Sinngebung, nach Selbstreflexion, Sich-Erkennen und von anderen Erkannt- und Angenommen-Werden zu verwirklichen sind (WINTER 1996: 10).“ Aus diesen Ansätzen ergeben sich zwei wichtige Komponenten des Identitätsstifters Kultur: die Zeit und der Raum (DÜRRMANN 1994: 48). Kultur braucht sowohl einen Raum, um sich zu entwickeln, als auch Zeit, denn diese Entwicklung benötigt mehr Zeit als die begrenzte Lebensspanne einer menschlichen Generation bietet (DÜRRMANN 1994: 52). Trotzdem das Leben des Menschen vergänglich ist, sollte man seinen Einfluss auf die Kultur nicht unterschätzen . Grundsätzlich braucht der Mensch die Kultur, folgt man dem deutschen Philosophen Arnold Gehlen. Die Kultur besteht allerdings nicht ohne das soziale Kollektiv, das sie erst erschaffen hat (DÜRRMANN 1994: 86). Verbindet man an dieser Stelle Gehlens Aussagen mit denen der klassischen Identitätstheorie von Jürgen Habermas, bedeutet das, dass das Individuum ohne das soziale Kollektiv und entsprechend ohne Kultur seine Ich-Identität nicht entwickeln könnte. In der Vergangenheit wurde die Kultur, mit der sich die Individuen identifizierten, gestaltet und geformt. Das Wissen über die Kultur wird generationsweise weitergegeben und von jeder Generation erneut beeinflusst und weiterentwickelt. Diese Weitergabe des kulturellen Guts verleiht ihr zum einen den Charakter der Kontinuität und zum anderen macht es aus ihr ein „Produkt“ verschiedener Generationen. Angelehnt an die allgemeine Auffassung von Identität basiert diese Weitergabe des historischen Erbes, mit dem sich Menschen identifizieren, auf Interaktion, beziehungsweise Kommunikation (CHRISTMANN 2008: 2; DÜRRMANN 1994: 54, 71).
2.3.1 Die Heimat
Eng miteinander in Verbindung stehen die Termini raumbezogene Identität und der häufig verwendete, schillernde Begriff der Heimat, der historisch gesehen schon diversen Renaissancen unterlag. „Heimat ist dort, wo man zu Hause ist!“ Das ist die wahrscheinlich häufigste Antwort auf die Frage was Heimat eigentlich bedeutet. Meist ist es der Geburtsort, zu dem man eine emotionale Bindung hat. Die Erinnerungen an typische Heimatlieder gehen einher mit der romantisch heilen Welt auf dem Lande, mit wunderschönen beruhigenden Landschaften, zwitschernden Vögeln und einer traditionellen Dorfgemeinschaft, fernab der großen Stadt. Heimat stand im 19. Jahrhundert, poetisch ausgedrückt, für die Sehnsüchte des Menschen nach genau dieser intakten Umwelt, anstatt für einen bestimmten Ort (WERTHMÖLLER 1995: 57; ZEITLER 2001: III). Später im Dritten Reich bekam der Begriff eine ideologische, egozentrische Konnotation im Sinne des Vaterlandes und der Nation, dem das „Fremde“ als Gefährdung gegenüber stand. Diese negative Einstellung zum Begriff der Heimat existierte bis in die 70er Jahre (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 24).
Heute wird Heimat verbunden mit konkreten Orten und häufig mit emotions- geladenen Erinnerungen an Kindestage, die ein Individuum nachhaltig prägen. Das Gefühl einen Ort seine Heimat zu nennen, wird erweckt durch soziale Kontakte, Bindungen an bestimmte Personen, Erlebnisse und Zugehörigkeits-, Sicherheits-, Vertrautheits- und Geborgenheitsgefühle des Menschen, die an diesem Ort erweckt werden. Fernab der Wissenschaft, hat die Begrifflichkeit Heimat, anders als die der raumbezogenen Identität, einen sehr stark emotionalen Charakter (BLOTEVOGEL 1995: 46; ZEITLER 2001: III). Im heutigen, geographischen Verständnis allerdings, sind die unterschiedlichen Auffassungen von raumbe- zogener, bzw. regionaler Identität und Heimat weitestgehend verschwunden, denn die beiden Begriffe beziehen sich gleichermaßen auf eine Raumeinheit, in dem Wesensgleichheiten wie z. B. im Baustil, in der Sprache oder in Traditionen bestehen. Die Bewohner sind sich dieser Charakteristika des Raums, den sie ihre Heimat nennen, bewusst und können sich mit ihnen identifizieren (ROHRBACH 1999: 15-16). Das Heimatbewusstsein und die Heimatliebe fördern die Findung und Bestimmung der Ich-Identität von Individuen. Aus sozialpsychologischer Sicht verhilft Heimat Mitgliedern von Kollektiven zu tiefen Bindungen und Zuge- hörigkeitsgefühlen. „Heimat ist die Basis für die Ausbildung der ersten sozialen Identität, um die sich im Laufe des Lebens andere, sekundäre Identitäten gruppieren (WINTER 1996: 11-12).“
2.3.2 Die Neubelebung von Heimat und raumbezogener Identität
Der Einfluss der Globalisierung führt zu einer Vernetzung und Vereinheitlichung der Welt. Dadurch lässt sich vermuten, dass das kleinräumige Besondere und die individuelle Bindung an eine Region von der übernationalen Maßstabsebene und weltumspannenden „Entankerungsmedien“, wie z.B. den Mitteln der Tele- kommunikation und des Verkehrswesens, überdeckt werden und in den Hintergrund geraten (CHRISTMANN 2008: 2). Durch diesen Trend der weltweiten Gleichschaltung und Uniformität, der seit den 80er Jahren im wissenschaftlichen Kontext als Globalisierung bezeichnet wird, verlieren regionale und nationale Traditionen, Werte und Normen an Bedeutung, an denen sich ihre Bewohner grundsätzlich orientieren und mit denen sie sich identifizieren. Trotz dem allmählichen Auflösen dieser „Identifikationspotentiale“, verbunden mit dem Bedeutungsverlust der menschlichen Bindung an die Mesomaßstabsebene, besteht für das Individuum dennoch der gesellschaftliche Zwang seine personale Identität zu finden. Der Soziologe Thomas Luckmann nennt diesen Zustand „Identitätskrise“ - eine Krisensituation in der sich das Individuum nach der Heimat sehnt, die es in der globalen Gesellschaft nicht finden kann (WEICHHART/ WEISKE/WERLEN 2006: 90-91). In dieser Situation wächst die Sehnsucht des Menschen nach einer kleineren, überschaubareren räumlichen Maßstabsebene, denn „die Welt als ungegliederte Ganzheit kann man nicht lieben (BLOTEVOGEL 1995: 48).“ Daraus ergeben sich zwei Entwicklungstrends, die gleichzeitig ab- laufen: die Globalisierung einerseits, und die Wiederbelebung der Heimat, des Regionalen und die Bindung an das kleinräumige Territorium, andererseits (BLOTEVOGEL 1995: 47; CHRISTMANN 2008: 2; ZEITLER 2001: VII). Diese Begriffe sind wieder aktuelle Belange der Politik und des Regional- marketings, die durch die Medien propagiert werden. Anders als die Weite und die Unbekanntheit der vernetzten Welt, gibt Heimat den Menschen das Gefühl der Vertrautheit und Sicherheit, da es das Bekannte darstellt und überschaubar zu sein scheint. „Heimatliche Stabilität und Geborgenheit wird als Gegenpol zu den Kräften der gleichmacherischen Globalisierung beschworen (WEICHHART/ WEISKE/WERLEN 2006: 26).“ Die Regionalisierung und Globalisierung verlaufen zeitgleich und stellen die nationale Ebene in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht in den Schatten. Trotz der naheliegenden Vermutung, dass das Regionale und das Lokale in der heutigen Zeit überholt seien, haben diese seit den 90er Jahren an Bedeutung gewonnen und politische, wirtschaftliche und soziale Schwerpunkte werden verstärkt zu Belangen der Regionen selbst. Trotz dieser Verlagerung sind sie noch immer Teil eines Netzwerks und sind damit verflochten mit einem höheren Raummaßstab (BLOTEVOGEL 1995: 47-48).
Wenn von einer Wiederbelebung des Regionalen gesprochen wird, müssen an dieser Stelle die zwei verschiedenen Auslegungen der Raumeinheit Region aufgegriffen werden. Die Region, im allgemeinen Verständnis, ist ein „ver- wachsenes“ Gebiet zwischen der lokalen/kommunalen und der nationalen Maß- stabsebene, das ein Identifikationsraum sein kann. (BLOTEVOGEL 1995: 53, 56). Unabhängig von der aufgezeigten Mesomaßstabsebene, in die sich die Region bettet, spricht man in der Politik und Wirtschaft auch von Region, indem man sie als einen Zusammenschluss, bzw. eine Zusammenfassung von Ländern versteht, die gemeinsam als Region auftreten (BLOTEVOGEL 1995: 57). Die Region wird als ein „Konstrukt“, also als „Modell der Gedankenwelt“ gesehen, indem sich die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Akteure verankern und mit dem sich Individuen gegebenenfalls identifizieren (PAPENFUß 2002: 10; ZEITLER 2001: 130). Die Basis dieses gesellschaftlich konzipierten „Konstrukts“ ist z. B. eine gemeinsame Geschichte und daraus resultierende ähnliche Traditionen, politische oder wirtschaftliche Kooperationen zwischen den Ländern aber z. B. auch verbindende naturräumliche Elemente. Trotz des unterschiedlichen Ver- ständnisses von der Maßstabsebene einer Region, kann man sie, ganz allgemein formuliert, auf einer mittleren Ebene ansetzen, die sowohl zwischen der „kleinen Nachbarschaft“ und der nationalen Ebene, als auch zwischen der nationalen und globalen Maßstabsebene (z.B. transnationale Großregionen, siehe auch 3.1.1) anzusiedeln ist. Die Konzeption und Erschaffung einer Region durch die Gesell- schaft, insbesondere die politische, wird auch als „region-building“ bezeichnet und im Abschnitt 3.2.1 erneut aufgegriffen (BLOTEVOGEL 1995: 57, 63; PAPENFUß 2002: 3, 20).
2.4 Der Nutzen der raumbezogenen Identität
Schon aus der Wissenschaft der Psychologie ist bekannt, dass Menschen nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Regelmäßigkeit suchen. Sie wiegen sich in Sicherheit wenn sie das Gewohnte, bzw. der bekannte Raum umgibt. Die raumbezogene Identität bietet Menschen die Konstanz in ihrem Lebensumfeld, die sie brauchen, um ein Gefühl der Stabilität und Sicherheit auszubilden, um wiederum ihre personale Identität untermauern zu können. Diese Bindung an den Raum entsteht durch die Interaktion von Menschen über diesen Raum. Dieser gibt dem Individuum ein Gefühl dazu zu gehören und kann zur Ausbildung einer „Ortsloyalität“ führen, die relevant für die Planungswissenschaft und das Marketing von Regionen und Städten ist (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 62). Die Bürger entwickeln, angelehnt an die „konative Dimension“ der raumbezogenen Identität, eine Verantwortung für ihren Raum. Sie setzen sich z.B. aktiv für den Erhalt prunkvoller Bauwerke ein, engagieren sich in Vereinen, erarbeiten Konzepte zur Verbesserung der regionalen Infrastruktur, kaufen regionale Produkte und kommunizieren ein „Bild“ ihrer Region nach außen. Genau diese Motivation der Bevölkerung geht aus der raumbezogenen Identität hervor und wird vom Marketing aufgegriffen (CHRISTMANN 2008: 3; WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 64, 73). Christmann bezeichnet diesen Einsatz der Bewohner, der aus einer gut entwickelten raumbezogenen Identität heraus entsteht, als „Imagefaktor“ für den Raum (CHRISTMANN 2008: 3).
Eine Voraussetzung für die Ausbildung der raumbezogenen Identität ist die Interaktion zwischen Menschen. Die Kognition über den Raum bzw., über die Bewohner des Raums, ist Bestandteil dieser Interaktionen. Genau diese Kenntnis ist die Plattform für die Klassifikation von Räumen und seinen Akteuren aus der Außenperspektive, die schnell in der Verallgemeinerung endet und dazu tendiert Klischees zu bedienen. Man klassifiziert Menschen zum Beispiel anhand ihres Dialekts, ihres Stadtviertels oder auch anhand ihrer Kleidung. Diese Klassifikation wird auch als „Kontextualisierung“ oder „Typisierung“ bezeichnet und dient dem Tourismusmarketing zur Umsetzung von Imagewerbekampagnen von Regionen und Städten. „Das Phänomen der raumbezogenen Identität ist der eigentliche psychosoziale Hintergrund dafür, dass diese Art von Werbung und Marketing tatsächlich funktionieren kann (WEICHHART/WEISKE/WERLEN 2006: 63).“
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- Citation du texte
- Juliane Heß (Auteur), 2010, Die Identität des Ostseeraums, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177452
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