»Der Talmud lebt auch heute noch.« – Mit diesem Satz schließt der österreichische Judaist
Günter Stemberger seine vielbeachtete Einführung zum Talmud. Dieser Schluss stellt zum
einen die fortwährende Geltung des religiösen Textes heraus, weist zum anderen mit dem Zusatz
noch aber auf eine Art Zukunftspessimismus hin. Der Hinweis auf dieses letzte Wort soll
hier nicht überbewertet werden, zumindest scheint sich darin aber die stete Auseinandersetzung
mit der (zukünftigen) Geltung des Talmuds widerzuspiegeln.
Im Zuge der jüdischen Reformbewegungen in der Mitte des 19. Jahrhundert schrieb etwa
Abraham Geiger diesem Werk eine Reflexion ständiger gesetzlicher Kreativität zu, die immer
auf ihre Umgebung reagiere. Zudem seien der Talmud wie auch die Bibel als Produkte ihrer
Zeit anzusehen. Derlei Thesen sind auf eben jene Auseinandersetzung zurückzuführen, die
den Talmud und seine Historie von jeher zu begleiten scheinen: Inwieweit kann der jahrhundertealte
Talmud mit seinen Gesetzen Geltung in der Gegenwart erheben, in der andere Umstände
herrschen und sich andere Fragen stellen? Geiger beantwortete die Frage also mit dem
Herausstellen der Fähigkeit des Textes, auf seine Umgebung zu reagieren und mit dem In-Beziehung-
Setzen zu dessen Entstehungszeit, ohne den Talmud als sakrales Relikt zu deklassieren.
Für den Gläubigen stellt sich die Frage nach der Geltung des Talmud nicht, denn für ihn
stellt das Werk »die einzige Quelle [dar], aus welcher das Judentum geflossen [ist, den]
Grund […] auf welchem das Judentum besteht und die Lebensseele besteht und die Lebensseele
ist, welche das Judentum gestaltet und erhält.«
Der Talmud gilt, doch gibt es zwischen seinen Bestandteilen Unterscheidungen; schon der
Text selbst ist so konstituiert, dass er lediglich in seinem gesetzlichen Teil normativen Anspruch
erhebt – diesem halakhischem Teil steht aber der haggadische Teil gegenüber; d.h. das Gesetz wird immer auch von Auslegungen und Kommentaren begleitet. Dieses System bewirkt
den großen Umfang des Talmuds und scheint die Frage nach Geltung und Deutungsoffenheit
der Textelemente zu nähren. [...]
Inhaltsverzeichnis
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- René Ferchland (Author), 2011, Das Meer des Talmud. Aspekte zur Unbestimmtheit des religiösen Textes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176020
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