Studienarbeit darüber, inwiefern der Gläubiger in Fällen einer Leistungsstörung durch § 29 ZPO einen weiteren Gerichtsstand erhält.
Inhaltsverzeichnis
A. Einführung
B. Nationale Streitigkeiten
I. Anwendungsbereich des § 29 ZPO
II. Die Bestimmung des Erfüllungsortes
1. Lehre von der Identität des Leistungs- und Erfüllungsortes
2. Theorie des eigenständigen prozessualen Erfüllungsortes
3. Konsequenzen für den Erfüllungsort bei Leistungsstörungen
a) Erfüllungsort des Anspruchs auf Nacherfüllung im besonderen Schuldrecht
aa) Herrschende Meinung: Belegenheitsort
bb) Mindermeinung: Erfüllungsort des primären Erfüllungsanspruchs
cc) Stellungnahme
b) Erfüllungsort von Schadensersatzansprüchen
aa) Ladengeschäfte
bb) Dienstverträge
(1) Bisherige Rechtsprechung: Grundsatz des einheitlichen Gerichtsstandes
(2) Neue Rechtsprechung: Einheitlicher Gerichtsstand als Ausnahme
(3) Stellungnahme
cc) Werkverträge
(1) Herrschende Meinung: Einheitlicher Erfüllungsort am Ort der Baustelle
(2) Mindermeinung: Erfüllungsort am jeweiligen Schuldnerwohnsitz
(3) Stellungnahme
dd) Arbeitsverträge
(1) „Fester“ Arbeitsplatz
(2) Außendiensttätigkeit mit wechselndem Einsatzgebiet
(3) Außendiensttätigkeit mit festem Einsatzgebiet
c) Erfüllungsort von Ansprüchen aus Rückgewährschuldverhältnissen
aa) Theorie des einheitlichen Gerichtsstands des Erfüllungsortes
bb) Theorie von der Trennung der Erfüllungsorte
cc) Stellungnahme
III. Zusammenfall von Ansprüchen aus vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnissen
1. Lehre vom Sachzusammenhang
2. Spaltungslehre
C. Internationale Streitigkeiten
D. Zusammenfassung
A. Einführung
Nach der Regel „actor sequitur forum rei“ ist ein Kläger grundsätzlich gezwungen, seine Klage im Zivilprozess bei dem sachlich zuständigen Gericht anhängig zu machen, in dessen Bezirk der Beklagte seinen Wohnsitz hat.
Neben diesen allgemeinen Gerichtsstand aus §§ 12 iVm 13, 17 ZPO können weitere, sog. besondere Gerichtsstände treten, wenn sie für den betroffenen Streitgegenstand ebenfalls eine örtliche Zuständigkeit begründen. § 35 ZPO räumt dem Kläger ein Wahlrecht ein, sofern nicht ein ausschließlicher Gerichtsstand gegeben ist. Einen solchen besonderen Gerichtsstand normiert § 29 ZPO für alle auf eine Verpflichtung gerichteten Vereinbarungen am sog. Erfüllungsort.1
Zu den Streitigkeiten, die § 29 I ZPO erfasst, gehören alle Klagen, die einen Anspruch aus einem Vertragsverhältnis zum Gegenstand haben, also auch Sekundäransprüche wegen Leistungsstörungen. Unter dieser auf Heinrich Stoll zurückgehenden Sammelbezeichnung der „Leistungsstörung“2 versteht man im Allgemeinen die Nichtleistung, Schlechtleistung sowie die Verletzung von Nebenpflichten. Von § 29 ZPO werden demgemäß sowohl Klagen wegen Verletzungen von Haupt- als auch von Nebenpflichten aus einem Schuldverhältnis erfasst,3 falls nicht der ausschließliche Gerichtsstand bei Miet- und Pachträumen (§ 29a ZPO) bzw. bei Klagen gegen Verbraucher aus Haustürgeschäften (§ 29c I 2 ZPO) Anwendung findet.
Der prozessuale Begriff des „Erfüllungsortes“ in § 29 ZPO und der materiell-rechtliche Begriff des „Leistungsortes“ in § 269 I BGB bezeichnen im Wesentlichen den Ort, an dem der Schuldner eine Leistungshandlung zu erbringen hat.4 Davon zu unterscheiden ist der Ort, an dem der Erfolg der Handlung eintreten muss, der sog. Erfolgsort, welcher keine ausdrückliche Erwähnung im Gesetz findet. Zur Ermittlung des nach § 29 ZPO örtlich zuständigen Gerichts ist es darum erforderlich, ebendiesen Erfüllungsort des streitgegenständlichen Schuldverhältnisses zu bestimmen. Sofern dieser Ort vom (Wohn)sitz des Schuldners (§§ 13, 17 ZPO) abweicht, steht dem Kläger nach §35 ZPO ein „echtes“ Wahlrecht zwischen zwei verschiedenen Gerichtsorten zu.
Sinn und Zweck dieses besonderen Gerichtsstandes besteht darin, einen Rechtsstreit an einem Gericht führen zu können, das einen örtlichen Bezug zum Streitgegenstand selbst aufweist.5 § 29 ZPO löst den Rechtsstreit von den Personen der Parteien und gewährleistet auf diese Weise eine prozessuale Chancengleichheit für Kläger und Beklagten.6
Durch die Beweisnähe des Gerichts zur Streitsache können Kosten und Zeit gespart werden, beispielsweise wird die Notwendigkeit einer Amtshilfe anderer Gericht verhindert.
Daneben bietet der Gerichtsstand des Erfüllungsortes dem Kläger ab Vertragsschluss eine fixierte und kontinuierliche Zuständigkeit.7 Für § 13 ZPO ist erst der Wohnsitz des Schuldners oder dessen Rechtsnachfolgers im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage entscheidend, ein Wohnsitzwechsel nach Vertragsschluss schlägt sich somit auf den allgemeinen Gerichtsstand nieder. Der Gerichtsstand nach § 29 ZPO kann sich hingegen nicht mehr verändern.8
Diese kurze Einführung bietet bereits einen ersten Einblick in die zum Teil kontrovers diskutierte Problematik des § 29 ZPO, die vorwiegend an zwei Stellen zu Tage tritt: Zum einen bei der Frage, auf welche „Vertragsverhältnisse“ § 29 ZPO überhaupt Anwendung finden kann; zum anderen, anhand welcher Kriterien die Bestimmung des konkreten Erfüllungsortes zu erfolgen hat. Im Folgenden soll daher untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen einem Gläubiger im Falle einer Leistungsstörung der besondere Gerichtsstand des Erfüllungsortes zur Verfügung steht und wann das nach § 29 ZPO örtlich zuständige Gericht und das Gericht am Wohnsitz des Beklagten (§§ 13, 17 ZPO) tatsächlich divergieren. Desweiteren ist zu klären, ob und wie weit § 29 ZPO auch auf Streitigkeiten mit internationalem Bezug Anwendung findet.
B. Nationale Streitigkeiten
I. Anwendungsbereich des § 29 ZPO
Dem aktuellen Wortlaut des § 29 ZPO ist zu entnehmen, dass am Gerichtsstand des Erfüllungsortes über Streitigkeiten aus Vertragsverhältnissen und über deren Bestehen entschieden werden darf. Dass der Anwendungsbereich sich nach dem Willen des historischen Gesetzgebers auch auf Sekundäransprüche wegen Leistungsstörungen, insbesondere auf ein Recht zur Entschädigung, erstreckt, zeigt die ursprüngliche Fassung des § 29 CPO:9
„ Für Klagen auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Vertrages, auf Erf ü llung oder Aufhebung eines solchen sowie auf Entsch ä digung wegen Nichterf ü llung oder nicht geh öriger Erf ü llung ist das Gericht des Ortes zust ä ndig, wo die streitige Verpflichtung zu erf üllen ist. “ Diese Einzelaufzählung wurde im Zuge der Gerichtsstandsnovelle10 im Jahr 1974 durch eine Generalklausel ersetzt. Absatz 1 wurde mithin nur sprachlich, nicht auch inhaltlich verändert,11 Absatz 2 wurde neu eingefügt.
Unerheblich ist für § 29 ZPO, ob zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche Verträge gem. § 54ff. VwVfG vorliegen.12 Für Letztere ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten wegen § 40 I VwGO aber nur selten eröffnet.
Im Falle einer Leistungsstörung stehen dem Gläubiger verschiedene Abwehrrechte zu. Grundsätzlich kann er vom Vertrag zurücktreten gemäß § 323f BGB und Schadens- sowie Aufwendungsersatz verlangen gemäß §§280ff BGB, §325 BGB. Diese Sekundäransprüche können wie dargelegt auch am Gerichtsstand des Erfüllungsortes geltend gemacht werden.13
Im Anwendungsbereich des besonderen Schuldrechts, allen voran im Kauf- und Werkvertragsrecht, kommt dem Verkäufer darüber hinaus das Recht zur zweiten Andienung zu.14 Dieser Nacherfüllungsanspruch gemäß §§439, 635 BGB kann eine streitige Verpflichtung im Sinne des § 29 ZPO darstellen.
Übt der Gläubiger ein gesetzliches oder vertragliches Rücktrittsrecht aus, so wandelt sich das ursprüngliche Schuldverhältnis in ein Rückgewährschuldverhältnis gemäß § 346 I BGB. Daraus resultierende Ansprüche auf Rückabwicklung fallen unter § 29 ZPO, ebenso wie Ansprüche infolge Minderung gemäß §§ 441, 638 BGB.15
Nach wohl herrschender Ansicht16 ist der Begriff des Vertragsverhältnisses in § 29 ZPO weit auszulegen, so dass gleichermaßen Ansprüche aus Verschulden bei Vertragsschluss, der sog. culpa in contrahendo (c.i.c.), erfasst werden. Seit der Schuldrechtsreform im Jahr 2002 sind diese Ansprüche auch ausdrücklich im BGB verankert gem. §§ 280 I, 311 II iVm 241 II BGB; ebenso die Haftung eines Sachwalters in §311 III BGB.17
Die Gegenmeinung18 lehnt eine Gleichstellung von Verschulden vor und nach Vertragsschluss im Anwendungsbereich des § 29 ZPO ab. Dies sei nur im Wege einer Analogie möglich. Für eine analoge Anwendung des § 29 ZPO fehle es aber schon an einer planwidrigen Regelungslücke, weil der Gesetzgeber § 29 ZPO bewusst nur für bestimmte Anspruchsgruppen geschaffen habe. Diese rechtshistorische Argumentation19 überzeugt nach Einführung der § 311 II, III BGB als „rechtsgeschäftsähnliches Schuldverhältnis“ durch die Schulrechtsreform nicht mehr. Ein Anspruch aus c.i.c. wird ebenso wie Ansprüche wegen positiver Vertragsverletzungen auf die Nicht- oder Schlechterfüllung von Pflichten nach § 280 I BGB gestützt.20
Wenn die gesetzliche Haftungsgrundlage schon identisch ist, gibt es keinen Grund im Anwendungsbereich des § 29 ZPO zwischen vor- und nachvertraglichen Verschulden zu differenzieren. Desweiteren ist zu beachten, dass den Regelungen der culpa in contrahendo neben vertraglichen Gewährleistungsregeln eine ergänzende und lückenfüllende Funktion zukommt, so dass die Anwendbarkeit des § 29 ZPO erst Recht geboten sein muss.21 Das Gesagte gilt für die vertragsähnliche Haftung des sog. falsus procurator (§ 179 BGB), dem Vertreter ohne Vertretungsmacht, entsprechend.22
Problematischer ist hingegen die Frage, ob auch Ansprüche wegen Leistungsstörungen bei familien- und erbrechtlichen Verträgen am Gerichtsstand des Erfüllungsortes eingeklagt werden können. Fast unstrittig23 erfasst § 29 ZPO nur schuldrechtliche Verpflichtungsverträge. Somit ist der besondere Gerichtsstand bei Streitigkeiten aus Erbverträgen (§ 2274 BGB), welche dingliche Verfügungsgeschäfte darstellen, nicht gegeben. Für Ansprüche aus einem Verlöbnis gemäß §§ 1297ff BGB und den damit verbundenen Streitigkeiten hat der BGH die Anwendbarkeit des § 29 ZPO ebenfalls abgelehnt. Zwar erblickt die herrschende Meinung24 in einem Verlöbnis ein Vertragsverhältnis, das auf das Zustandekommen einer Ehe/Lebenspartnerschaft gerichtet ist, dieses sei mit anderen schuldrechtlichen Vereinbarungen der Sache nach aber nicht gleichzusetzen.25
Nach abweichender Ansicht26 werden auch Ansprüche aus Verlöbnissen sowie anderen familienrechtlichen Verpflichtungsgeschäften, z.B. aus Lebenspartnerschaftsverträgen gemäß § 7 LPartG, erfasst. Der Gerichtsstand des Erfüllungsortes einer Klage aus einem Ehe- /Lebenspartnerschaftsvertrag liege an dem Ort der Eheschließung/Verpartnerung, in der Regel also dem Standesamt. Meines Erachtens stehen die gesetzgeberischen Wertungen in § 1297 BGB (Unklagbarkeit aus einem Verlöbnis auf Eingehung der Ehe/Lebenspartnerschaft) und § 888 III ZPO (mangelnde Vollstreckbarkeit ehelicher/lebenspartnerschaftlicher Pflichten) einer Gleichstellung von diesen und anderen schuldrechtlichen Verträgen entgegen, so dass eine Klage am Gerichtsstand des Erfüllungsortes nicht in Betracht kommt.
In den Anwendungsbereich des § 29 ZPO fallen schon wegen des entgegenstehenden Wortlauts der Norm grundsätzlich nicht die gesetzlichen Schuldverhältnisse, d. h. weder Ansprüche aus einer Geschäftsführung ohne Auftrag27 noch aus ungerechtfertigter Bereicherung. Auch ein Anspruch aus unerlaubter Handlung kann den Gerichtsstand des Erfüllungsortes insoweit nicht begründen. Im Weiteren wird jedoch noch zu klären sein, inwiefern ein nach § 29 ZPO originär zuständiges Gericht über konkurrierende Ansprüche aus gesetzlichen Schuldverhältnissen mitentscheiden kann und gegebenenfalls muss (Theorie vom Gerichtsstand des Sachzusammenhangs).
Stark diskutiert wird aber,28 ob Ansprüche aus Leistungskondiktion gemäß § 812 I 1 (1) BGB ausnahmsweise dann eine originäre Zuständigkeit nach § 29 ZPO begründen können, wenn der Beklagte die Anfechtung eines Vertrags durch sein Verhalten provoziert hat, bspw. mittels einer arglistigen Täuschung(§ 123 BGB).
Nach einer Ansicht29 ist § 29 ZPO dem Wortlaut nach nicht anwendbar, wenn der Kläger selbst vorträgt, dass ein Vertrag nichtig oder unwirksam sei. Auf diese Weise stelle er das Nichtbestehen des Vertrags unstreitig.
Die Gegenmeinung30 eröffnet dem anfechtenden Bereicherungsgläubiger mit Hinweis auf dessen besondere Schutzbedürftigkeit sowie Sinn und Zweck der (ebenfalls umstrittenen) Saldotheorie31 die Klagemöglichkeit am Gerichtsstand des Erfüllungsortes. Die Saldotheorie beruht auf dem Grundprinzip des vertraglichen Synallagmas, also der äquivalenten Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung. Die Kondiktionsansprüche der Parteien werden deshalb dergestalt miteinander verrechnet, dass nur diejenige Partei kondizieren darf, für deren Konto sich ein positiver Saldo ergibt.
Meines Erachtens ist diese synallagmatische Verknüpfung der Bereicherungsansprüche vergleichbar mit der Struktur des ursprünglichen „Vertragsverhältnisses“. Wenn schon ein Anspruch aus c.i.c., der ebenfalls kein wirksames Vertragsverhältnis voraussetzt, am Gerichtsstand des Erfüllungsortes eingeklagt werden darf, so würde es Widersprüche erzeugen, dem Bereicherungsgläubiger ein solches Recht abzuerkennen. § 29 ZPO darf konsequenterweise allerdings dann keine Anwendung finden, wenn auch die Saldotheorie nicht zur Anwendung kommt, so etwa im Bereich des vorrangigen Schutzes von Minderjährigen.32 In diesen Fällen greift nur das Wohnsitzprinzip in § 13 ZPO für den jeweiligen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung.
II. Die Bestimmung des Erfüllungsortes
Der Erfüllungsort im Sinne des § 29 ZPO ist anhand der konkreten „streitigen Verpflichtung“ zu ermitteln. Dem Kläger kann dieser besondere Gerichtsstand nur von Nutzen sein, wenn der Erfüllungsort tatsächlich vom allgemeinen Gerichtsstand nach §§ 13, 17 ZPO abweicht und für ihn vorteilhafter gelegen ist.
Eine Mindermeinung33in der Literatur spricht sich zur Ermittlung des zuständigen Gerichts für einen eigenständigen prozessualen Erfüllungsortbegriff aus, während sich die herrschende Lehre und die Rechtsprechung,34 an den Wertungen des materiellen Rechts (§§ 269, 270 BGB) orientieren und eine Identität von prozessualem Erfüllungs- und materiell-rechtlichem Leistungsort annehmen.
1. Lehre von der Identität des Leistungs- und Erfüllungsortes
Letztere35 ermitteln den Erfüllungsort daher anhand materiell-rechtlicher Normen. Nach der Regelung des § 269 I BGB kann der Leistungsort primär von den Parteien selbst bestimmt werden. Gemäß § 29 II ZPO hat eine solche Vereinbarung aber grundsätzlich nur materiell-rechtliche Bedeutung (Gefahrübergang, Konkretisierung etc.) und wirkt nicht gerichtsstandsbegründend.36 In erster Linie soll verhindert werden, dass Kaufleute einem Verbraucher in AGB mittelbar einen Erfüllungsort aufzwingen, ohne dass dieser die Reichweite dieser Klausel als Gerichtsstandsvereinbarung erfasst.37 Eine echte Prorogation, d.h. die ausdrückliche Vereinbarung eines eigentlich unzuständigen Gerichts, ist Privaten schon nach § 38 I ZPO untersagt. § 29 II ZPO stellt somit lediglich ein Umgehungsverbot dar.38 Es wird sogar vertreten,39 dass eine unwirksame Vereinbarung eines Gerichtsstandes eine prozessuale Sperrwirkung auslöse, so dass § 29 ZPO gar nicht anwendbar sei. Eine solche „Sanktion“ findet im Gesetz jedoch keine Grundlage.
Eine Ausnahme von dem Prorogationsverbot enthält § 29 II ZPO nur für Vereinbarungen von Kaufleuten, juristischen Personen des öffentlichen Rechts und öffentlich-rechtlichen Sondervermögen. Deren Absprachen lösen ausdrücklich auch prozessuale Folgen aus.
Ebendarum können Rechtsanwälte, die sich nicht in einer Handelsgesellschaft (§ 6 HGB) zusammengeschlossen haben, nach der überwiegenden Meinung40 keinen Gerichtsstand mit kaufmännischen Mandanten vereinbaren. Sie fallen als Freiberufler nicht unter die §§ 1ff. HGB. Gegenstimmen41 fordern stattdessen eine teleologische Reduktion der §§ 29 II, 38 I ZPO. In der Tat können die Vorschriften ihren Sinn und Zweck im Bezug auf Rechtsanwälte nicht erfüllen, denn das Telos besteht darin, rechtlich Unerfahrene zu schützen. Die Ratio legis rechtfertigt deshalb eine eingeschränkte Anwendung des Prorogationsverbotes.
Ein Teil der Lehre42 vertritt die Ansicht, dass das Verbot in § 29 II ZPO Vereinbarungen unter Privaten ausnahmsweise dann nicht erfasst, wenn am verabredeten Ort tatsächlich geleistet wird. Es sei nicht Aufgabe des Zivilrichters sich mittels der ZPO über dieses materielle Recht hinwegzusetzen.43 Daher müsse zwischen solchen „echten, ernsthaften“ Erfüllungsortsvereinbarungen und „abstrakten“ Gerichtsstandsvereinbarung differenziert werden. Zur Bestimmung des Erfüllungsortes sei folglich auch bei Nicht-Kaufleuten primär die Parteivereinbarung des § 269 I BGB zu prüfen.44
Gegen die Ansicht spricht, dass der Gesetzgeber § 29 II ZPO im Jahr 1974 bewusst eingeführt hat, um den Schutz von Privaten über § 38 I ZPO hinaus zu stärken. Auf das Merkmal der „Ernsthaftigkeit“ von Parteivereinbarungen hat er verzichtet, obwohl ihm dies möglich war und ihm entsprechende Vorschläge der Literatur bekannt waren.45 Diese Auslegung contra legem ist darum abzulehnen.
Sofern die Ausnahme des § 29 II ZPO nicht greift ist der Leistungsort gemäß § 269 I BGB anhand der „Natur des Schuldverhältnisses“, d.h. der vertragsmaßgeblichen Umstände, zu bestimmen. Dabei ist insbesondere die klassische Unterscheidung zwischen Hol-, Schick- und Bringschuld zu treffen. Im Fall der Hol- und Schickschuld befindet sich der Leistungsort grundsätzlich am Wohnsitz des Schuldners bzw. am Ort seiner gewerblichen Niederlassung (§ 269 II BGB), bei der Bringschuld hingegen am Wohnsitz des Gläubigers. Die Holschuld ist gemäß § 269 I BGB der gesetzliche Regelfall für Leistungen.
In Bezug auf Geldschulden ist in § 270 IV BGB ausdrücklich normiert, dass die Regeln über den Leistungsort unberührt bleiben, obwohl eine Geldschuld nach noch herrschender Meinung46 als sog. qualifizierte Schickschuld angesehen wird. Darunter ist zu verstehen, dass der Schuldner der Geldzahlung die Leistungsgefahr unabhängig vom Leistungsort bis zur Ankunft beim Gläubiger, dem Erfolgsort, trägt. Nach neuer EuGH-Rechtsprechung47 muss im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung deutscher Gesetze sogar eine Einordnung als Bringschuld in Betracht gezogen werden. Dann läge der Leistungsort sogar am Wohnsitz des Gläubigers.
Vielfach wird auch behauptet,48 dass im Rahmen der Vertragsauslegung nach § 269 I BGB der mutmaßliche Parteiwille besondere Berücksichtigung finden müsse. Meines Erachtens ist ein solches Vorgehen nicht möglich. § 29 II ZPO verbietet Privaten die ausdrückliche Vereinbarung eines Erfüllungsortes. Dieses Verbot würde umgangen, wenn stattdessen ein konkludenter Konsens Berücksichtigung finden könnte. Dafür spricht auch der Wortlaut des § 38 I ZPO, der eine stillschweigende Vereinbarung ausdrücklich verbietet. Eine konkludente Parteivereinbarung kann auch keine Verkehrssitte, also eine längere Übung, begründen, die sich auf den Erfüllungsort auswirken könnte.49
Da der Parteiwille somit nicht herangezogen werden kann, müssen sich andere Kriterien zur Auslegung der Natur bzw. der Umstände des Schuldverhältnisses finden lassen. Neben der Beachtung von Verkehrssitten, örtlichen Gepflogenheiten und Handelsbräuchen,50 greift insbesondere die Rechtsprechung vielfach auf die Konstruktion der sog. vertragscharakteristischen Leistung51 zurück. Eine Solche liege immer dort vor, wo ein räumlicher Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses erkennbar ist und die Leistung einen besonderen Akzent setzt. Dieses Auslegungskriterium wurde in Anlehnung an § 28 II
1 EGBGB entwickelt.52 Dort ist normiert, dass das auf einen internationalen Vertrag anzuwendende Recht danach zu bestimmen ist, in welchem Land die für den Vertrag charakteristische Leistung erbracht wird. Obwohl der Erfüllungsort jeder „streitigen Verpflichtung“ des § 29 ZPO grundsätzlich separat zu bestimmen ist,53 könne sich nach dieser Ansicht aus dem Schwerpunkt eines Vertrags und der besonderen Ortsgebundenheit von Leistungen ein einheitlicher Gerichtsstand für alle Ansprüche ergeben. Sind einem Vertragsverhältnis derartige Umstände nicht zu entnehmen, so soll im Zweifel das o.g. Schuldner- Wohnsitzprinzip gelten. Die genauen Einzelheiten sind jedoch sehr umstritten, darauf wird im Folgenden noch näher einzugehen sein.
2. Theorie des eigenständigen prozessualen Erfüllungsortes
Entgegen all diesen Ausführungen hält eine Mindermeinung54 die Gleichstellung des materiellrechtlichen Leistungsortes und des prozessualen Begriffs des Erfüllungsortes für unhaltbar, gar für eine „Perversion des forum contractus“,55 und steht daher für einen eigenständigen prozessualen Erfüllungsortsbegriff ein.
Nach welchen Kriterien sich dieser prozessuale Erfüllungsort bestimmen soll, bleibt allerdings eher nebulös. In erster Linie müsse dieser „leicht feststellbar“ und „klar“ sein,56 sich deshalb aus tatsächlichen, objektiven Merkmalen ergeben. Die Vornahme von Wertungen (z.B. Berücksichtigung der Schutzbedürftigkeit bestimmter Personengruppen) und Auslegungen unbestimmter Rechtsbegriffe wie der „Natur des Schuldverhältnisses“ durch die Gerichte, sei unangebracht. Zu den objektiven Merkmalen sollen insbesondere der Standort des Vertragsgegenstandes und der Wohnsitz des Schuldners gehören.57 Subjektive Kriterien könnten allenfalls Voraussetzungen für Sondergerichtsstände sein.
Die Notwendigkeit58 dieses prozessualen Erfüllungsortsbegriffs ergebe sich aus den unhaltbaren Schwächen der Rechtsprechung. Diese lasse außer Acht, dass der Leistungsort (§ 269 I BGB) einzelfallbezogen zu bestimmen sei. Aus Gründen der Rechtssicherheit bedürfe der Erfüllungsort (§ 29 I ZPO) hingegen einer festeren Typisierung.
Dagegen ist einzuwenden, dass sich eine solche Typisierung sehr wohl erkennen lässt. Die Gerichte haben sich etwa abstrakt eingelassen zur charakteristischen Natur von Anwalts-, Arzt- und Arbeitsverträgen etc. und den daraus resultierenden Folgen für den Leistungs- und Erfüllungsort. Parallel dazu ist eine einzelfallbezogene Bestimmung des Leistungsorts auch weiterhin möglich, denn Parteivereinbarungen über den Leistungsort werden von § 29 II ZPO nicht verboten. Sie wirken sich lediglich nicht negativ auf das Verfahrensrecht aus.
[...]
1 Schilken, Zivilprozessrecht, Rn. 312; Zöller/Vollkommer, §29 Rn. 5ff.
2 Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen, S. 13f.; Brox/ Walker, Allgemeines Schuldrecht, §21 Rn. 3; Palandt/Heinrichs, vor §275 Rn.1; Zimmer, NJW 2002, 1ff.
3 Musielak/Heinrich, §29 Rn. 10; Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 15.
4 Döhmel, Der Leistungsort, S. 36; MünchKommBGB/Krüger, §269 Rn. 2.
5 LG München, MDR 2003, 53; Roth, FS für Schlosser, S. 773; Wolf, FS für Lindacher, S. 202.
6 Wieczorek/Schütze/Hausmann, §29 Rn. 1; Zöller/Vollkommer, §29 Rn. 1.
7 Schack, ZEuP 1998, 931 (933); Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 1, 12.
8 Musielak/Heinrich, §29 Rn. 3; Schack, Der Erfüllungsort, Rn. 152.
9 Siemon, MDR 2002, 366 (367) m. w. N.; OLG Saarbrücken, NJW 2000, 670 (671).
10 Gesetz zur Änderung der ZPO v. 21. 3. 1974; BGBl. I S. 753.
11 Wipping, Der europäische Gerichtsstand des Erfüllungsortes, S. 46f.
12 Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 4; Wieczorek/Schütze/Hausmann, §29 Rn. 4.
13 OLG Schleswig, OLGR 2005, 631; OLG Saarbrücken NJW 2000, 670 (671); Musielak/Heinrich, §29 Rn. 10.
14 Brox/ Walker, Besonderes Schuldrecht, §4 Rn. 40, §24 Rn. 12.
15 RGZ 32, 430ff; Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 16; Thomas/Putzo/Hüßtege, §29 Rn. 4; Wolf, FS für Lindacher, S. 207.
16 OLG München, OLGR 2009, 332 (333); BayObLG NJW-RR 2002, 1502 (1503); Spickhoff, ZZP 1996, 493 (509); Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 5; Wieczorek/Schütze/Hausmann, §29 Rn. 5.
17 Zimmer, NJW 2002, 1 (7).
18 LG Kiel, NJW 1989, 841; LG Arnsberg, NJW 1985, 1172; Busche, DRiZ 1989, 370.
19 Busche, DRiZ 1989, 370 (371); Küpper, DRiZ 1990, 445.
20 Brox/Walker, Allgemeines Schuldrecht, §5 Rn. 2; Zimmer, NJW 2002, 1 (6); Zöller/Vollkommer, §29 Rn. 6.
21 So auch: Küpper, DRiZ 1990, 445 (447).
22 OLG Hamburg, MDR 1975, 227; Musielak/Heinrich, §29 Rn. 4; Schack, Der Erfüllungsort, Rn. 154.
23 BGH NJW 1996, 1411 (1412); Musielak/Heinrich, §29 Rn. 6; Schack, a.a.O., Rn. 154.
24 MünchKommBGB/Wacke, §1297 Rn. 5; Palandt/Brudermüller, Einf v §1297 Rn. 1f.; Zöller/Vollkommer, §29 Rn. 10.
25 BGH NJW 1996, 1411 (1412); Spickhoff, ZZP 1996, 493 (515).
26 Schack, Der Erfüllungsort, Rn. 137; Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 8.
27 A. A. jedenfalls bei berechtigter GOA: Wolf, FS für Lindacher, S. 210f.
28 Vgl. OLG Saarbrücken, NJW 2005, 906 (907).
29 BGH NJW 1962, 739; Schumann, ZPO-Klausur, Rn. 198; Zeiss/ Schreiber, §13 Rn. 88 m.w.N.
30 Musielak/Heinrich, §29 Rn. 7; Schilken, Zivilprozessrecht, S. 170; Spickhoff ZZP 1996, 493 (510); Wieczorek/Schütze/Hausmann, §29 Rn. 8; Zeiss/Schreiber, §13 Rn. 88.
31 RGZ 54, 137 (141); BGH NJW 1995, 454 (455); Palandt/Sprau, §818 Rn. 48; A.A. Zweikondiktionen-Theorie, vgl. Brox/ Walker, Besonderes Schuldrecht, §39 Rn. 11.
32 So auch: Spickhoff, ZZP 1996, 493 (510f); Brox/ Walker, a.a.O., §39 Rn. 14.
33 Schack, Der Erfüllungsort, Rn. 219f; Ders., Internationales Zivilverfahrensrecht, §8 Rn. 270; Ders.; ZEuP 1998, 931 (937); teilweise zustimmend: Wolf, FS für Lindacher, S. 205.
34 BGH NJW 2004, 54; Einsiedler, NJW 2001, 1549; Musielak/Heinrich, §29 Rn. 15; Prechtel, NJW 1999, 3617; Wipping, Der europäische Gerichtsstand des Erfüllungsortes, S. 77f.
35 Siehe Fußnote 34, S. 5.
36 Jauernig, Zivilprozessrecht, S. 30; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §37 Rn. 7; Siemon, MDR 2002, 366 (369); Wrangel, Der Gerichtsstand des Erfüllungsortes, S. 34.
37 Brehm/ John/ Preusche, NJW 1975, 26; Krügermeyer-Kalthoff/ Reutershan, MDR 2001, 1216 (1219); Schack, Der Erfüllungsort, Rn. 173.
38 Musielak/Heinrich, §29 Rn. 2; Schumann, JuS 1985, 39 (43).
39 Brehm/ John/ Preusche, NJW 1975, 26 (27).
40 Balthasar, JuS 2004, 571 (573); MünchKommZPO/Patzina, §38 Rn. 17; Prechtel, NJW 1999, 3617.
41 Krügermeyer-Kalthoff/ Reutershan, MDR 2001, 1216 (1219); Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 33ff; Stöber, AGS 2006, 413 (415); Zöller/Vollkommer, §38 Rn. 18.
42 Roth, FS Schlosser, S. 778 m. w. N.; Schumann, Die ZPO-Klausur, Rn. 202; Ders., FS für Larenz, S. 600f; Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 34; A.A. Musielak/Heinrich, §29 Rn. 42.
43 Schumann, FS für Larenz, S. 601.
44 Roth, FS für Schlosser, S. 783; Wolf, FS für Lindacher, S. 203ff.
45 Vgl. Wrangel, Der Gerichtsstand des Erfüllungsortes, S. 37, 58.
46 Döhmel, Der Leistungsort, S. 54; Fleischer, Der Gerichtsstand des gemeinsamen Erfüllungsortes, S. 67; MünchKommBGB/Krüger, §270 Rn. 2; Palandt/Heinrichs, §270 Rn. 1.
47 EuGH, Urteil v. 3. 4. 2008, Aktenzeichen: Rs. C-306/06, in DNotZ 2009, 196.
48 Balthasar, JuS 2004, 571 (573); Gaul, Leistungs- und Erfüllungsort im Arbeitsverhältnis, S. 43ff; Siemon, MDR 2002, 366 (367); Wolf, FS für Lindacher, S. 204f.
49 Vgl. Wrangel, Der Gerichtsstand des Erfüllungsortes, S. 63f.
50 Döhmel, Der Leistungsort, S. 46; Stein/Jonas/Roth, §29 Rn. 41; Wrangel, Der Gerichtsstand des Erfüllungsortes, S. 62.
51 BGH NJW 1996, 1411 (1412); Palandt/Heinrichs, §269 Rn. 13; Zöller/Vollkommer, §29 Rn. 24.
52 BGH NJW 2006, 1806 (1807); Balthasar, JuS 2004, 571; Wrangel, a.a.O., S. 42.
53 BGH NJW 1995, 1546 (1547); Döhmel, Der Leistungsort, S. 208; Schmid, MDR 1993, 410; Siemon, MDR 2002, 366; Wieczorek/Schütze/Hausmann, §29 Rn. 24.
54 Siehe Fußnote 33, S. 5.
55 Schack, Der Erfüllungsort im Zivilprozessrecht, Rn. 204f.
56 Schack, a.a.O., Rn. 208.
57 Schack, a.a.O., Rn. 212ff.
58 Vgl. Schack mit einer Auflistung einzelner Argumente, a.a.O., Rn. 207.
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- Kathrin Homeyer (Autor), 2009, §29 ZPO - Der besondere Gerichtsstand des Erfüllungsortes bei Leistungsstörungen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/174557
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