Gegenstand dieser Arbeit sind die inzwischen interdisziplinär erforschten Themen autobiografisches Gedächtnis, Erinnerung und Persönlichkeit. Jeder Mensch stellt sich im Laufe seines Lebens inrgendwann die Frage "Wer bin ich?" In der modernen, hoch entwickelten und individualisierten Gesellschaft wird eine ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit immer erforderlicher. Was wären die Menschen ohne Persönlichkeit bzw. ist ein Überleben ohne eigenständige Identität überhaupt möglich? Ebenso muss die Frage gestellt werden, was der Mensch ohne seine Erinnerungen wäre.
In der vorliegenden Arbeit ist nicht nur der Prozess des Erinnerns an sich von Bedeutung, sondern hauptsächlich dessen Funktions- und Wirkungsweisen für den Einzelnen. Es geht also weniger um die kollektiven, als vielmehr um die individuellen Erinnerungen. Ausgehend von dieser Überlegung wurde die spezielle Bedeutung der autobiografischen Erinnerungen für die Persönlichkeitsentwicklung untersucht. Besonders in den vergangenen Jahren haben viele Wissenschaftler dazu beigetragen, neue Erkenntnisse auf diesem Forschungsgebiet hervorzubringen. So entstand ein breites Spektrum an ersten Theorien über die Zusammenhänge von Erinnerungen mit anderen kognitiven oder sozialen Prozessen. Daran wurde der Einfluss von Erinnerungen in den verschiedensten Bereichen deutlich.
Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, inwieweit zwischen den Erinnerungen an komplexe lebensgeschichtliche Ereignisse und der Persönlichkeit eine Beziehung besteht. Im Mittelpunkt steht dabei die Hypothese, dass die Entwicklung der Persönlichkeit durch die Erinnerungen beeinflusst bzw. sogar negativ beeinträchtigt wird. Diese soll anhand der Arbeiten bedeutender Gedächtnisforscher wie Schacter, Markowitsch und Welzer oder den Psychologen Estrade, Leman und Carlson sowie Tadié und Tadié geklärt werden. Auch die Theorien älterer Wissenschaftler wie Jung, Adler oder Freud werden Beachtung finden. Gewiss ist dies ein umfassendes Thema, das sich im Rahmen dieser Magisterarbeit nicht vollständig aufarbeiten lässt. Die Arbeit kann deshalb nur ein Schritt in diese Richtung sein.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
1. Gedächtnis und Autobiografie
1.1 Das menschliche Gedächtnis - Ideengeschichte, Neuroanatomie und Entwicklung
1.2 Das autobiografische Gedächtnis - ein Gedächtnis für Lebensereignisse
1.3 Die Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses
1.4 Zusammenfassung: Welche Bedeutung hat das autobiografische Gedächtnis für den Menschen und seine Erinnerungen?
2. Autobiografische Erinnerungen
2.1 Begriffsbestimmung und Abgrenzung
2.2 Die Ordnung autobiografischer Erinnerungen
2.3 Der rekonstruktive Charakter der Erinnerung
2.4 Quellenamnesie und Erinnerungsverzerrung
2.5 Blitzlichterinnerungen und traumatische Erinnerungen
2.6 Die infantile Amnesie
2.7 Zusammenfassung: Wozu braucht der Mensch persönliche Erinnerungen?
3. Die Persönlichkeit des Menschen
3.1 Persönlichkeit - Ideengeschichte und der Versuch einer Begriffsbestimmung
3.2 Biologische Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung und die Anlage-Umwelt-Problematik
3.3 Die Persönlichkeitsentwicklung
3.3.1 Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung
3.3.2 Die Bedeutung der Familie für die Persönlichkeitsentwicklung
3.4 Die Komplexität der Persönlichkeit
3.5 Zusammenfassung: Wozu braucht der Mensch eine Persönlichkeit?
4. Erinnerung und Persönlichkeit
4.1 Rückblick auf die biologischen Grundlagen
4.2 Sigmund Freud
4.3 Moderne Ansätze
4.4 Studien zum Thema
4.4.1 Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Schüler- und Jugendbegegnungen
4.4.2 Persönlichkeitsspezifische Effekte beim Erinnern lebensgeschichtlicher Ereignisse
4.4.3 Trauma und Erinnerung
4.5 Zusammenfassung: Welche Bedeutung haben die frühesten Erinnerungen für die Persönlichkeitsentwicklung?
Fazit und Ausblick
Quellenverzeichnis
Anhang
Vorwort
Den Ausgangspunkt zur Wahl des Themas dieser Abschlussarbeit bildete mein Interesse an den psychologischen Prozessen, welche Grundlage für das Lernen und die menschliche Entwicklung sind. Mit einem wissenschaftlichen Zugang widmete ich mich dabei speziell dem Phänomen des Erinnerns. Dieses bildet einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Pädagogik. Denn in deren Kontext werden die Grundlagen von Lernen, ermöglicht durch Erinnern, und Vergessen thematisiert. Für mich war aber nicht nur der Prozess des Erin- nerns an sich von Bedeutung, sondern hauptsächlich dessen Funktions- und Wirkungs- weisen für den Einzelnen. Es geht in der Arbeit also weniger um die kollektiven, als viel- mehr um die individuellen Erinnerungen. Ausgehend von dieser Überlegung untersuchte ich die spezielle Bedeutung der autobiografischen Erinnerungen für die Persönlichkeits- entwicklung.
Besonders in den vergangenen Jahren haben viele Wissenschaftler dazu beigetragen, neue Erkenntnisse auf diesem Forschungsgebiet hervorzubringen. So entstand ein breites Spektrum an ersten Theorien über die Zusammenhänge von Erinnerungen mit anderen kognitiven oder sozialen Prozessen. Daran wurde der Einfluss von Erinnerungen in den verschiedensten Bereichen deutlich. Diese Komplexität, in der sich das individuelle Erin- nern vollzieht, stellte für mich insofern eine Herausforderung dar, mich auf ein Thema zu begrenzen und dieses im Detail zu ergründen. Zwar existieren über den Zusammenhang zwischen autobiografischen Erinnerungen und der Persönlichkeit schon einige Untersu- chungen renommierter Wissenschaftler, doch deren Ergebnisse liefern noch keine ab- schließende Theorie über diese Wechselwirkung. Aktuelle Studien bauen größtenteils auf den bisherigen Forschungsergebnisse auf und erweitern diese. So basiert meine Diskus- sion vorrangig auf Befunden, welche z.T. noch durch weitere empirische Studien unter- mauert werden müssen.
Doch zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen und den Menschen danken, die mich immer wieder motiviert und mir Kraft gegeben haben. Dabei bin ich allem voran meiner Familie dankbar. Nicht nur für ihre Unterstützung während dieser Arbeit, sondern während meines gesamten Studiums. Sie hat mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite ge- standen und mir Rückhalt geboten. Aber auch meinen besten Freunden sei vielmals gedankt. Ein besonderer Dank gebührt auch den Betreuern meiner Magisterarbeit Prof. Dr. Brunner und Dr. Volkmar sowie allen anderen Universitätsmitarbeitern, die mich in meinen Fähigkeiten vorangebracht und dazu beigetragen haben, mein Wissen zu erweitern.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Galls Karte des menschlichen Gehirns
Abb. 2 Das menschliche Gehirn (von außen)
Abb. 3 Das menschliche Gehirn (von innen)
Abb. 4 Darstellung der Informationsverarbeitung im Gehirn
Abb. 5 Taxonomie des menschlichen Gedächtnisses nach Tulving
Abb. 6 Taxonomie des menschlichen Gedächtnisses nach Welzer
Abb. 7 Modell der Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses nach Welzer
Abb. 8 Darstellung der Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses nach Nelson
Abb. 9 Modell der Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt nach Asendorpf
Abb. 10 Zusammenspiel von Anlage und Umwelt bei der Persönlichkeits- entwicklung
Abb. 11 Modell der Persönlichkeitsentwicklung nach Asendorpf
Abb. 12 Entwicklung der Persönlichkeit nach Erikson
Abb. 13 Bedürfnispyramide nach Maslow
Abb. 14 Das Johari-Fenster
Abb. 15 Verteilung der Erinnerungen von 50-Jährigen über die gesamte Le- bensspanne
Abb. 16 Darstellung der Items für den Fragebogen
Einleitung
Gegenstand dieser Arbeit sind die inzwischen interdisziplinär erforschten Themen autobiografisches Gedächtnis, Erinnerung und Persönlichkeit.
Besonders in den letzten 20 Jahren stieg in Wissenschaft und Forschung das Inte- resse an diesen Themen stetig an. So konnten auch in der Gedächtnisforschung große Fortschritte erzielt werden - insbesondere durch die Entwicklung von bildgebenden Ver- fahren. Durch die neuesten Methoden wurden viele neue Erkenntnisse gewonnen (vgl. Welzer/Markowitsch 2006: 9ff.). Aus diesem Grund nennen die Gedächtnisforscher Wel- zer und Markowitsch das letzte Jahrzehnt das ÄJahrzehnt des Gehirns“ (ebd.: 9). In ihren Untersuchungen erforschen die Wissenschaftler v.a. die Gehirne von Kindern, kranken Menschen oder durch Unfälle beschädigte Gehirne (vgl. ebd.: 12). So wurde festgestellt, dass zum Gedächtnis mehr als allein das Erinnern vergangener Erlebnisse gehört, denn es beruht auf vielen Prozessen und Systemen (vgl. Schacter 2001: 21). Ferner weist das Ge- dächtnis einen ambivalenten Charakter auf: Einerseits kann der Mensch ohne Gedächtnis nicht leben und andererseits ist es sehr anfällig für Täuschungen und Verletzungen. Wäh- rend das Gedächtnis in den meisten Situationen also sehr genau arbeitet, kann es in ande- ren Situationen wiederum sehr unzuverlässig sein (vgl. ebd.: 25f.). Dennoch ist gerade einmal ein Bruchteil der Leistungen des Gehirns bisher erforscht (vgl. ebd.: 18).
Ferner stellte sich heraus, dass in der modernen Forschung bisher nur wenige Langzeitstudien zum Thema existieren. Zwar wurde schon Anfang des 20. Jahrhunderts die Beziehung zwischen Persönlichkeit und autobiografischen Erinnerungen in der klinischen Psychologie und der Persönlichkeitspsychologie thematisiert1, doch gingen die Forscher nicht explizit auf die erinnerten Ereignisse an sich ein (vgl. Weber 1993: 13f.).
Die Psychologen Leman und Carlson gehen davon aus, dass alle Fragen, die sich ein Mensch bezüglich seines Lebens stellt, auf eine wichtige Frage des Lebens hinauslaufen: Wer bin ich? (vgl. Leman/Carlson 2007: 8ff.). In der modernen, hoch entwickelten und individualisierten Gesellschaft wird eine ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit immer erforderlicher (vgl. Welzer/Markowitsch 2006: 9). So muss man sich fragen: Was wären die Menschen ohne Persönlichkeit bzw. ist ein Überleben ohne eigenständige Identität überhaupt möglich? Sicher ist nur eines: Die Folgen eines Identi- tätsverlustes sind dramatisch. Doch ebenso muss die Frage gestellt werden, was der Mensch ohne seine Erinnerungen wäre, denn
Ä[o]ft zu denken und dabei nie auch nur einen Augenblick der Erinnerung daran zu bewahren, ist eine äußerst nutzlose Art des Denkens; bei solchem Verhalten ist die Seele wenig oder gar nicht besser als ein Spiegel, der fortgesetzt eine Fülle verschiedener Bilder oder Ideen empfängt, aber keine festhält.“ (Locke 1988: 117).
Die Erinnerungen stehen in einer wechselseitigen Beziehung zum autobiografischen Ge- dächtnis. Eine wichtige Funktion dessen ist das Bereitstellen der persönlichen Erinnerun- gen. Menschen brauchen ihre lebensgeschichtlichen Erinnerungen. Diese bilden die Basis der Persönlichkeit, aller Vorstellung und des Denkens (vgl. Tadié/Tadié 2004: 234) und sie Äsprechen über das, was wir waren und was wir erlebt haben und über die Art, wie wir es erlebt haben.“ (Estrade 2007: 10). Markowitsch bezeichnet die menschlichen Erinne- rungen deshalb als einen ÄFundus, auf dem unser biographisches Gedächtnis beruht und das uns als Person und Persönlichkeit weitestgehend ausmacht.“ (Markowitsch 2002a: 172). In der Erinnerung entwirft der Mensch seine Identität. Diese Identitätskonstrukte werden zu einer (Gesamt-)Identität zusammengefügt (vgl. Bublitz 2003: 21ff.; Fuhs 1999: 40). So werden die autobiografischen Erinnerungen zum Kern der Biografie (vgl. Welzer 2005: 12). In den Handlungen bildet sich diese einmalige Identität ab. Doch erst durch das Erzählen der Erinnerungen wird das eigene Leben reflektiert und mit Bedeutung be- setzt (vgl. Fuhs 1999: 41).
Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, inwieweit zwischen den Erinnerungen an komplexe lebensgeschichtliche Ereignisse und der Persönlichkeit eine Beziehung besteht. Im Mittelpunkt steht dabei die Hypothese, dass die Entwicklung der Persönlichkeit durch die Erinnerungen beeinflusst bzw. sogar negativ beeinträchtigt wird. Diese soll anhand der Arbeiten bedeutender Gedächtnisforscher wie Schacter, Markowitsch und Welzer oder den Psychologen Estrade, Leman und Carlson sowie Tadié und Tadié geklärt werden. Auch die Theorien älterer Wissenschaftler wie Jung, Adler oder Freud werden Beachtung finden. Gewiss ist dies ein umfassendes Thema, das sich im Rahmen dieser Magisterarbeit nicht vollständig aufarbeiten lässt. Die Arbeit kann deshalb nur ein Schritt in diese Richtung sein.
In den ersten drei Kapiteln soll zunächst auf das autobiografische Gedächtnis (Kap. 1), die lebensgeschichtlichen Erinnerungen (Kap. 2) und die Persönlichkeit (Kap. 3) einge- gangen werden. Dabei rücken insbesondere die neuroanatomischen Grundlagen in den Fokus der Arbeit. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, welche Bedeutung das Ge- dächtnis und die Erinnerungen für den Menschen haben und welche Parameter seine Per- sönlichkeitsentwicklung beeinflussen. Ferner gilt das Interesse der Beziehung zwischen einigen Aspekten der lebensgeschichtlichen Erinnerungen und der Persönlichkeit. Dies soll im letzten Teil der Arbeit thematisiert werden (Kap. 4). Dazu werden zunächst An- nahmen formuliert, welche sich aus der Analyse theoretischer Aufsätze zur Bedeutung der Erinnerungen für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und aus bisher durch- geführten Studien zum Thema ergeben haben. Die Arbeit schließt mit einem Fazit (Kap. 5), in dem die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst dargelegt werden und einem Ausblick für die weitere Forschungsarbeit.
1. Gedächtnis und Autobiografie
Beim menschlichen Gedächtnis handelt es sich um eine der komplexesten Strukturen. Es ermöglicht den Individuen ein eigenständiges Bestehen im alltäglichen Leben und ist so- mit allgegenwärtig (vgl. Schacter 2005: 8f.). Aufgrund des Gedächtnisses kann der Mensch auf sein allgemeines Wissen zugreifen und sich selbst in Beziehung zu anderen setzen. Spezifisch menschlich ist die Fähigkeit, die eigene Vergangenheit bewusst zu erle- ben und reflektieren zu können. Verantwortlich dafür ist das autobiografische Gedächtnis. Dieses bildet die Grundlage der autobiografischen Erinnerungen eines Menschen und umfasst demzufolge alle Informationen, welche die eigene Person betreffen (vgl. Tulving 2006: 50f.; Markowitsch 2002a: 19).
Im folgenden Kapitel soll zunächst auf den theoretischen Rahmen zur Gedächtnisfor- schung eingegangen werden. Dafür werden die Begriffsgeschichte sowie die Neuroanato- mie des Gedächtnisses betrachtet. Anschließend rückt das autobiografische Gedächtnis ins Blickfeld der Betrachtungen. Besonderes Augenmerk gilt hierbei nicht nur dessen Be- schaffenheit sowie der Entwicklung und ihren Faktoren, sondern auch der speziellen Be- deutung des autobiografischen Gedächtnisses für den Menschen und seine Erinnerungen.
1.1 Das menschliche Gedächtnis - Ideengeschichte, Neuroana tomie und Entwicklung
Die Erforschung von Gedächtnis und Erinnerung reicht bis zu den Vorsokratikern zurück (vgl. Tadié/Tadié 2004: 17; Markowitsch 2002a: 30). Seitdem wurden beständig neue Fragen gestellt, Begriffe entwickelt, Hypothesen und Theorien formuliert sowie verschiedenste Experimente durchgeführt. Fortwährend brachten die Philosophen und Wissenschaftler neue Ideen in die Ansätze ihrer Vorgänger ein. Es würde den Rahmen der Arbeit überschreiten, auf jedes Detail der langen Entwicklung des Gedächtnisbegriffs einzugehen. Deshalb sollen nur einige wichtige Punkte herausgestellt werden.
Schon 400 Jahre v.Chr. begannen die Philosophen der Antike über das Gedächtnis nachzudenken. Vorherrschend waren hierbei die Theorien von Platon, Aristoteles und später Augustinus. Allen gemeinsam waren die große Diskussion um den Sitz des Ge- dächtnisses im Herzen sowie die Hypothesen, dass das Gedächtnis in seiner Beschaffen- heit einer Wachstafel gleiche und der Mensch seine Erkenntnisse durch Erinnerung wie- dererlangt. Auch unterschieden sie verschiedene Arten des Gedächtnisses. Aristoteles, welcher die erste vollständige Gedächtnistheorie formulierte, erweiterte Platons Ansatz, indem er u.a. erkannte, dass das Erinnern ein gewisses Zeitmaß voraussetzt, auf autobio- grafische Ereignisse bezogen ist und im Menschen eine materielle Veränderung hervor- ruft. Ferner vermutete er eine Beziehung zwischen Erinnerung und Verstand, denn Ä[d]as Gedenken geistiger Dinge kann nicht ohne Bilder stattfinden.“ (Tadié/Tadié 2004: 27).
Augustinus, der auf den Ideen Aristoteles’ aufbaute, verglich das Gedächtnis mit einem Palast, in dessen Gemächern alle Bilder und Gedanken aufbewahrt werden. Des Weiteren sprach er erstmals von Deckerinnerungen2, welche besonders bei Freud wieder bedeutsam wurden. Somit wiesen Aristoteles und Augustinus für ihre Zeit ein sehr fortschrittliches Denken auf (vgl. Tadié/Tadié 2004: 23-38; Minninger 2004: 76ff.; Markowitsch 2002a: 31-39).
Diese Ansichten der antiken Philosophen wurden bis zur Renaissance nur unerheb- lich verändert (vgl. Markowitsch 2002a: 31ff.). Erst die Philosophen des 17. und begin- nenden 18. Jahrhunderts bescherten der Diskussion über den Gedächtnisbegriff mit ihren Ideen einen entscheidenden Aufschwung. Insbesondere Descartes, Spinoza, Locke, Vol- taire und Diderot entwickelten hochmoderne Theorien und brachten damit die Analyse des Gedächtnisses um einige wesentliche Schritte voran. Trotz der z.T. erheblichen Unter- schiede ihrer Konzepte, erwähnten alle Philosophen die Notwendigkeit eines Bewusstseins für das Erinnern und definierten den Sitz des Gedächtnisses im Äinneren Teil des Gehirns“ (Descartes 1969: 110) bzw. im Zentralnervensystem (Diderot). Spinoza entwarf aufbauend auf den Ideen Descartes’ ein sehr rationales Konzept des Gedächtnisses, indem er im menschlichen Verstand ein selbstständiges und von allen äußeren Einflüssen unabhängi- ges Erkenntnisorgan sah. Auch führte er Tests mit Wortlisten durch. Locke war der erste Philosoph dieser Aufreihung, der eine entgegengesetzte Theorie aufstellte. Ihm zufolge entfalten sich alle Dinge aus der Sinneserfahrung und nicht aus der Vernunft. Ferner verstand er das Gedächtnis als Lagerhalle aller Vorstellungen, dessen Aufgabe es ist, Ädie ‚schlafenden Ideen’ zum richtigen Zeitpunkt zu liefern“ (Tadié/Tadié 2004: 43). Voltaire und Diderot entwickelten Lockes Ideen weiter und bauten diese aus (vgl. ebd.: 38-46).
Im 18. Jahrhundert wurden von den Wissenschaftlern neue Wege eingeschlagen. Durch den Fortschritt der Gedächtnisforschung konnte die Verbindung zwischen dem Gedächtnis und dem Nervensystem nachgewiesen werden. Gall zeichnete die erste Karte des Gehirns und ordnete jeder menschlichen Fähigkeit ein Gedächtnis zu (Abb. 1). Mit Maine de Biran kam die Diskussion um den Sitz der Erinnerung wieder auf. Grundlage des Gedächtnisses und der menschlichen Erinnerungen ist seiner Meinung nach die per- s|nliche Identität als Ädauerhafter Aspekt unserer Existenz“ (ebd.: 50). Auch betonte er im Rückgriff auf die Theorien Descartes’ und Lockes die Wichtigkeit der Ich-Empfindung beim Erinnern. Ohne sie Ä[k|nnten wir] nicht von dem Punkt aufbrechen [...], an dem wir uns gerade befinden - in der Gegenwart.“ (ebd.: 50). Des Weiteren hob er aufbauend auf der antiken Unterscheidung zwischen dem Ideengedächtnis und dem Bildergedächtnis Ersteres als zum logischen Denken notwendiges Gedächtnis hervor. Taine - und daran anknüpfend Ribot - entwickelte die Theorie der Neuronennetze. Seinem Ansatz zufolge Äberuht jeder Gehirnprozess auf den Strömen, die durch die Fasern laufen, und dem Tanz, der in den Zellen stattfindet“ (nach Taine, zitiert in: Tadié/Tadié 2004: 53). Ribot sieht im Gedächtnis Äeine ständige Entwicklung zur Organisation“ (nach Ribot, zitiert in: Tadié/ Tadié 2004: 54). Auch diese Wissenschaftler unterschieden verschiedene Arten des Ge- dächtnisses (vgl. ebd.: 47-56).
Mit den Anatomen des 20. Jahrhunderts konnte die Theorie vom Gedächtnis als unbegrenztes Lager überwunden werden. Freud entwickelte stattdessen ein dynamisches Gedächtniskonzept und revolutionierte so die Kenntnisse über das Gedächtnis. Auch un- terstrich er seine Skepsis gegenüber der Dauerhaftigkeit von Gedächtnisspuren. Seinem Konzept zufolge sind auch Erinnerungen nichts Unveränderliches, sondern stellen viel- mehr eine ÄDeutung früherer Eindrücke unter dem Einfluss aktueller Umstände“ (Tadié/ Tadié 2004: 58) dar. Des Weiteren ging Freud schon davon aus, dass das gesamte Gehirn am Gedächtnisprozess beteiligt ist. Bergson behauptete darauf aufbauend, dass Erinne- rungen aufgrund des dynamischen Charakters des Gedächtnisses selbst aktiv rekon- struiert würden, wodurch es keinen Sitz für Erinnerungen geben kann. Ferner entdeckte Bergson, einige Jahrzehnte vor den wissenschaftlichen Befunden, die Äneuronale[ ] Plasti- zität“ (ebd.: 14). Auch Edelmann ging davon aus, dass die Aktivität der Neuronen die Grundlage vieler Gedächtnisprozesse darstellt. Zudem berücksichtigte er die Rolle der Emotionen als Äkompliziertesten geistigen Zustand“ (ebd.: 66) für das Gedächtnis (vgl. ebd.: 58-66).
Ebbinghaus führte die erste dokumentierte Studie zum Erinnern und Vergessen durch. Seine Ergebnisse basierten auf 163 Selbstversuchen zu sinnlosen Silben3. Die grundlegende Vorgehensweise bestand darin, dass er sich eine Silbenliste so lange mit gleichbleibender Geschwindigkeit vorlas, bis er diese perfekt erinnern konnte. Die Diffe- renz zwischen der benötigten Zeit beim Lernen und der beim späteren erneuten Lernen nannte er Zeitersparnis. Damit hatte er eine Grundlage zur Untersuchung von Erinnern und Vergessen geschaffen. Die wichtigsten Ergebnisse4 wurden später von verschiedenen Wissenschaftlern (z.B. McGeoch 1932) auch mithilfe modernster Methoden bestätigt (vgl. Schermer 2006: 109-115; Mazur 2004: 43-49; Tadié/Tadié 2004: 60).
Zusammenfassend wird zum einen deutlich, dass schon Aristoteles die Fragen zum Ge- dächtnis zu beantworten versucht hat, die für die Erforschung des Gegenstandes wichtig sind und, dass die Wissenschaftler lange Zeit davon ausgingen, dass das menschliche Ge- dächtnis einem riesigen Archiv gleicht, in dem alle Erlebnisse detailliert festgehalten sind und bei Bedarf originalgetreu wiedergegeben werden können. Doch musste festgestellt werden, dass das Gedächtnis die Erlebnisse nicht in ihrer Gesamtheit speichert, sondern nur einzelne Schlüsselelemente aus den Ereignissen herausfiltert. Bei jedem Abruf werden diese Bestandteile zu einer neuen Erinnerung, welche minimal von der des vorherigen Abrufs abweicht, zusammengesetzt (vgl. Schacter 2005: 21). Das menschliche Gedächtnis basiert somit viel mehr auf Konstruktion und Interpretation und arbeitet auf das Ziel hin, dem Leben in seinem Verlauf einen Sinn zu geben (vgl. Tadié/Tadié 2004: 14). Besonders im Erwachsenenalter werden die Erinnerungen den aktuellen Lebensumständen ange- passt, sodass sie sich ideal einfügen (vgl. Tadié/Tadié 2004: 69, 118; Estrade 2007: 169ff.). Außerdem werden immer nur diejenigen Kindheitserinnerungen aufbewahrt, die zum mo- mentanen Selbst- und Weltbild der jeweiligen Person passen. Dieses Phänomen nennen Leman und Carlson das ÄGesetz der kreativen Beständigkeit“ (Leman/Carlson 2007: 11). Allerdings ist auch ein Gedächtnis, das es dem Menschen ermöglicht, sich jederzeit unge- filtert zu erinnern, so wie es Schacter beschreibt (vgl. Schacter 2001: 135f.), nicht wün- schenswert. ÄWürde das Gehirn alles Erlebte speichern, käme es irgendwann unweigerlich zum Kurzschluss.“ (nach Damasio, zitiert in: Schön 2008: 57).
Das Gehirn und die organischen Grundlagen der darin ablaufenden Prozesse zu erfor- schen, hat sich die funktionelle Neuroanatomie zur Aufgabe gemacht. Anatomisch besteht das Gehirn aus einer linken und einer rechten Hemisphäre, welche jeweils in vier Gehirn- lappen - Stirnlappen, Scheitellappen, Hinterhauptslappen und Schläfenlappen5 - unter- teilt werden können (Abb. 2). Jeder dieser Hirnlappen erfüllt bestimmte Aufgaben der Sinneswahrnehmung. Das Gedächtnis, so haben die Wissenschaftler im Anschluss an Freud herausgefunden, ist im gesamten Gehirn verteilt und wird somit nicht von einem der genannten Zentren allein gesteuert. Dies hat den Vorteil, dass eine lokale Schädigung zu keiner kompletten Gedächtnisstörung führt. Neben einigen Strukturen des medialen Temporallappens konnte der Hippocampus (Abb. 3) als das wichtigste Areal für das expli- zite und insbesondere das autobiografische Gedächtnis identifiziert werden (vgl. LeDoux 2003: 142). Beide Areale sind besonders gefährdet für Verletzungen. Die Hippocampus- formation ist eine entscheidende Schaltstelle für die Langzeitspeicherung von Informatio- nen. Nur durch die Verbindung zu den Regionen im medialen Temporallappen kann eine Speicherung im Neokortex erfolgen (vgl. Pohl 2007: 49). Aus diesem Grund ist es von au- ßerordentlicher Bedeutung, dass die Areale unversehrt bleiben (vgl. Tadié/Tadié 2004: 71ff.). Wie wichtig diese Formationen für den Menschen sind, wird bspw. in dem bekann- ten Fall des H.M. deutlich. Ihm wurden Teile des Temporallappens entfernt, in der Hoff- nung, seine Epilepsie unter Kontrolle zu bekommen. Das gelang zwar mithilfe der Opera- tion, doch verlor H.M. sein Gedächtnis (vgl. LeDoux 2003: 137-141). Besonders für Traumata kann eine Schädigung des Hippocampus ursächlich sein (s. Kap. 4.4.3).
Die wichtigsten Elemente des Gehirns, so haben schon Bergson und Edelmann herausgefunden, sind die Neuronen6. Alle Funktionen des Gehirns basieren auf deren Aktivitäten. Auch Tulving bestätigt diese Theorie in seiner Definition der Gedächtnissysteme, welche er beschreibt als Ägeordnete Strukturen, die sich aus grundlegenderen Bausteinen zusammensetzen. Ein Baustein eines Systems besteht aus einem neuralen Substrat und seinen kognitiven oder Verhaltenskorrelaten. Einige Bausteine werden von allen Systemen in Anspruch genommen, andere nur von manchen und wieder andere sind einmalig nur bei bestimmten Systemen zu finden. Unterschiedliche Lernund Erinnerungssituationen erfordern unterschiedliche Verkettungen von Bausteinen aus einem oder mehreren Systemen [...].“ (Tulving 2006: 56).
Durch die einzigartige Fähigkeit - der neuronalen Plastizität - können sich die Neuronen in ihren Verbindungen den Gehirnfunktionen sowie den Erfordernissen der den Menschen umgebenden Welt anpassen. Dieser Charakter wirkt sich auch auf die Erinnerungen aus, denn diese ändern sich in Abhängigkeit der Erfahrungen des Menschen mit seiner Umwelt (vgl. Tadié/Tadié 2004: 69ff.).
Tadié und Tadié stellen die Hypothese eines Äglobale[n] Mechanismus der Gedächt- nisspeicherung“ (ebd.: 74) auf. So werden die Empfindungen und Eindrücke der Außen- welt in den für die jeweilige Sinneswahrnehmung zuständigen Gehirnarealen aufgezeich- net. Dabei spielen individuelle Filter, wie die eigene Persönlichkeit oder die Kultur, in der ein Mensch aufgewachsen ist, eine entscheidende Rolle. Danach werden die selektierten Informationen zum Hippocampus und den übrigen Strukturen im limbischen System übermittelt. Dort werden sie emotional bewertet und eine zeitlang gespeichert, bevor sie zum mammilo-thalamischen Kortex weitergeleitet werden, wo die Langzeitspeicherung - im Schlaf7 - erfolgt8. So macht der Hippocampus Aufnahmekapazität frei für neue Erfahrungen. Neue Informationen gelangen also vom Kurzzeitgedächtnis über das limbi- sche System ins Langzeitgedächtnis. Der Abruf der gespeicherten Informationen geschieht in Teilen des frontalen und temporalen Kortex (Abb. 4) (vgl. ebd.: 74f., 80ff.).
[...]
1 Einer der ersten Wissenschaftler, welche die Kindheitserinnerungen genauer erforschten, war Sigmund Freud. Die tiefgreifendsten Forschungen stammen aber, laut Estrade, von Alfred Adler (vgl. Estrade 2007: 9).
2 Unter Deckerinnerungen werden Erinnerungen verstanden, bei denen nicht das eigentliche Ereignis erinnert wird, sondern anstelle dessen ein inhaltlich naheliegendes - sozusagen Ersatzerinnerungen. Freud beschreibt dies in dem Vergleich: Äein gewisses Erlebnis der Kindheit kommt zur Geltung im Gedächtnis, nicht etwa weil es selbst Gold ist, sondern weil es bei Gold gelegen ist.“ (Freud 1991: 536f.).
3 Ebbinghaus entschied sich für Silben ohne Bedeutung, weil er davon ausging, dass erwachsene Menschen schon unzählige Assoziationen zu Wörtern haben (bspw. Schnee - kalt), wodurch das Ergebnis des Experiments negativ beeinflusst worden wäre (vgl. Mazur 2004: 43).
4 Die wichtigsten Ergebnisse waren folgende: 1) Mit der Länge der Liste nimmt auch die benötigte Zeit für das Erlernen jeder Silbe zu. 2) Das Fortsetzen des Lernvorganges, selbst nachdem die Liste perfekt erinnert werden konnte, führt zu einer verbesserten Wiedergabe auch noch nach längerer Zeit. Auch bekannt unter der Bezeichnung des Überlernens. 3) Vergessenskurve: Die Assoziation ist umso stärker, je kürzer die seit dem Lernvorgang vergangene Zeit ist. 4) Prinzip der Kontiguität: Die Assoziation zwischen zwei Silben der Liste ist umso zuverlässiger, je näher sie beieinander stehen. 5) Die Reihenfolge, in der die Silben gelernt wurde, beeinflusst die Fähigkeit zur Wiedergabe (vgl. ebd.: 44-47).
5 Der Stirnlappen wird auch Frontallappen, der Scheitellappen auch Parietallappen, der Hinterhauptslappen auch Okzipitallappen und der Schläfenlappen auch Temporallappen genannt (Markowitsch 2002: 200).
6 Im menschlichen Gehirn finden sich etwa 300 bis 400 Mio. Neuronen. Auf jeden mm2 Hirnrinde verteilen sich ca. 150.000 Neuronen. Jedes Neuron kann mit bis zu 10.000 weiteren Neuronen in Verbindung stehen (vgl. Welzer 2005: 7).
7 Nach Winson ist besonders die REM-Phase am Konsolidierungsprozess beteiligt (vgl. Schacter 2001: 147).
8 Allerdings ist anhand der vorliegenden Daten bisher nur denkbar, dass der Kortex die vom Hippocampus konsolidierten Erinnerungen tatsächlich erfasst (vgl. LeDoux 2003: 147).
- Arbeit zitieren
- Juliane Pawlaßek (Autor:in), 2009, Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/173014
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