Die vorliegende Arbeit widmet sich der Fragestellung nach dem Protagonisten des sogenannten Rönne-Zyklus und dem Verhältnis seines Schöpfers, Gottfried Benn, zu ihm. Wie sich bei der Behandlung dieser Frage herausstellen wird, berührt diese Fragestellung implizit auch andere der vielen Themengebiete, die der Zyklus streift. Insbesondere wird das Verhältnis von Realität und Konjunktiv einen zentralen Stellenwert erhalten. Um dies angemessen behandeln zu können, wird diese Arbeit mit dem Begriff des konjunktivischen Feldes agieren, den einzuführen und zu erläutern zuvor noch unternommen werden muß. Hierfür wird ein kurzer Ausblick auf frühere und gleichzeitige Literatur des Expressionismus vorzunehmen sein. Dabei hofft der Verfasser über die Auseinandersetzung mit Gottfried Benn und seiner Gestaltungsweise möglicherweise einen neuen Impuls zum Verständnis der ganzen klassischen Moderne geben zu können.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Material
2.1 Die Textgestalt
2.2 Die Zyklushaftigkeit
2.2 Der Novellenbegriff
3. Wer ist Dr. Rönne
3.1 Der Konjunktiv in der klassischen Moderne
3.1.1 Noa Noa
3.1.2 Weltende
3.1.3 Bebuquin
3.2 Der Konjunktiv im Rönnekomplex
3.2.1 Gehirne
3.2.2 Die Reise
3.2.3 Der Geburtstag
4. Schluß
5. Bibliographie
1. Einleitung
Die 1916 erstmals bei Kurt Wolff unter dem Titel Gehirne erschienene Zusammenstellung von Prosatexten aus der Feder Gottfried Benns, deren auf den ersten Blick verbindendes Element in der Figur des Protagonisten, eines erst im letzten Text mit dem Vornamen Werff ausgestatteten Arztes namens Rönne, zu sehen ist und die erst auf den zweiten Blick auch eine inhaltliche Entwicklung aufweisen, so daß sich von einem Zyklus sprechen läßt, weist eine solche Fülle von Themen auf, daß es Interpretatoren aller Generationen schwer fiel, sie umfassend zu analysieren. Resultat dieser Schwierigkeit war häufig eine Vernachlässigung dieser Prosa, die gegenüber der Lyrik und Essayistik Benns annähernd in Vergessenheit geriet, und die erst in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine auch quantitativ angemessene Rezeption erfuhr. Besonders hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf Martin Preiß, „...daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe“. Gottfried Benns Rönne-Novellen als Autonomieprogramm, St. Ingbert 1999
Die vorliegende Arbeit erhebt selbstredend nicht den Anspruch, eine Klärung in die Diskussion um den Rönnezyklus bringen zu können. Dafür ist das Spektrum der darin behandelten Themen einfach zu umfassend. Einige der Themengebiete sind beispielsweise die Dualismen Nord – Süd; Ratio – Intuition; Metapher – Assoziation; Wissenschaft – Kunst; Gesellschaft – Natur; Körper – Geist; Ordnung – Extase; Statik – Dynamik und besonders Realität – Konjunktiv.
Die vorliegende Arbeit widmet sich vielmehr der Fragestellung nach dem Protagonisten und dem Verhältnis seines Schöpfers zu ihm. Wie sich bei der Behandlung dieser Frage herausstellen wird, berührt diese Fragestellung aber implizit auch einige der vorgenannten Themengebiete. Insbesondere wird das Verhältnis von Realität und Konjunktiv einen zentralen Stellenwert erhalten. Um dies angemessen behandeln zu können, wird diese Arbeit mit dem Begriff des konjunktivischen Feldes agieren, den einzuführen und zu erläutern zuvor noch unternommen werden muß. Hierfür wird ein kurzer Ausblick auf frühere und gleichzeitige Literatur des Expressionismus vorzunehmen sein. Dabei hofft der Verfasser über die Auseinandersetzung mit Gottfried Benn und seiner Gestaltungsweise möglicherweise einen neuen Impuls zum Verständnis der ganzen klassischen Moderne geben zu können.
2. Das Material
2.1 Die Textgestalt
Der Rönnekomplex hat sein Gesicht so oft geändert, wie er veröffentlicht wurde. So brachte es Benn nicht über sich, einen alten Zyklus im neuen Zusammenhang etwa einer Gesamtausgabe in seiner alten Form zu belassen. Teils entfernte er einzelne Texte, die ihm mißraten oder auch einfach nicht mehr passend erschienen, teils gruppierte er die Texte neu an. Man wird sich also, wenn man die These aufrechterhalten will, daß es sich bei den Rönnetexten um einen Zyklus handelt, darüber einigen müssen, in welcher Gestalt man diesen zu behandeln gedenkt.
Die vorliegende Arbeit bezieht sich zur Analyse auf die Textgestalt der ersten Ausgabe des Gesamtkomplexes in Kurt Wolffs Almanach Der jüngste Tag, Leipzig 1916. Zugänglich gemacht wurde diese Erstausgabe durch die textkritische Ausgabe von Jürgen Fackert, Stuttgart 1974, die lediglich eine andere Paginierung aufweist, auf welche sich aber die hier verwendeten Quellenangaben beziehen. Dies ist zum einen darin begründet, daß diese erste zusammenhängende Ausgabe wohl der ursprünglichen Aussage und Ästhetik des Dr. Benn noch am nächsten liegt, bevor sich nachträgliche Überlegungen zwischen Dichter und Werk schoben. Andererseits aber stützt die Anordnung dieser Ausgabe die These vom Zyklus am stärksten. Denn hier läßt sich deutlich eine Entwicklung sehen, die in der vorliegenden Arbeit allenfalls skizziert werden soll, da sie nicht wirklich deren Thema ist.
2.2 Die Zyklushaftigkeit
Diese zyklushafte Entwicklung ist in allen Bereichen abzulesen, die die Textsammlung berührt. So wandelt sich beispielsweise das Verhältnis Rönnes zu seinem sozialen Umfeld von der gewollten Isolation Rönnes in Gehirne[1] über die ungewollte Isolation in Die Eroberung[2] , Rönnes verzweifelte Versuche einer Anbiederung in Die Reise[3], schließlich den Ekel vor Kommunikation in Die Insel[4], bis zur völligen Absage an Kommunikation und Umfeld zugunsten egozentrischer Weltschöpfung in Der Geburtstag[5].
Voraussetzend daß die Skizzierung besagter Entwicklung dem Leser ausreichen möge, den Gebrauch des Wortes „Zyklus“ in Bezug auf die Rönnetexte zu rechtfertigen,[6] wird sich die vorliegende Arbeit dessen in der Folge befleißigen. Der Zykluscharakter der Textsammlung wird sich darüber hinaus im Hauptteil der vorliegenden Arbeit in seiner Entwicklung noch deutlich erweisen.
2.2 Der Novellenbegriff
Noch ein Begriff im Bezug auf das Textmaterial wird zu klären sein, bevor die eigentliche Arbeit begonnen werden kann. Benn selbst bezeichnet seine Rönnetexte im Untertitel als Novellen. Über diese Klassifikation ist vieles geschrieben worden. Sie wurde als Provokation aufgefaßt, oder einfach der Tatsache zugeschrieben, daß sich um 1900 der Novellenbegriff verändere und erweitere und nur noch als Synonym zum Gattungsbegriff der Erzählung fungiere.[7] Aber gerade als Erzählungen lassen sich die Rönnetexte sicherlich nicht lesen. Diese Bezeichnung ihrerseits wäre allenfalls provokativ zu verstehen. Denn im Rönnezyklus erteilt Benn trotz des verhältnismäßig traditionell beginnenden ersten Textes Gehirne im weiteren Textverlauf (auch dies eine der in anderer Form bereits erwähnten Entwicklungen) dem Erzählen an sich eine Absage. Vielmehr läßt sich mit Goethes Novellendefinition sagen, daß der Rönnzyklus gerade durch diese Absage an das Erzählen eine ‚unerhörte Begebenheit‘ darstelle.[8] Aber auch die außersprachliche, inhaltliche Unerhörtheit läßt sich unschwer auffinden, thematisiert doch der Zyklus die Verschiebung der Wahrnehmung und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Realität und Nichtrealität. Zunehmend gerät Rönne in den Sog eines Konglomerats aus Irrealität, Potentialität, Projektion, Gedankenspiel, sich verselbständigenden Assoziationen und immer wieder anklingendem Mythos. Dieses Zusammenspiel sich gegenseitig bedingender Faktoren, wird in der vorliegenden Arbeit, deren größten Raum es einnimmt, kurz das „konjunktivische Feld“ genannt werden. Im Abdriften des Protagonisten in besagtes konjunktivische Feld sehen wir eine unerhörte Begebenheit, die die Texte auch im Goetheschen Sinne berechtigt, als Novellen bezeichnet zu werden.
3. Wer ist Dr. Rönne
Protagonist und einziger Gegenstand des sogenannten Rönnezyklus ist Werff Rönne, eine Figur, die nicht bis zur Person ausgeformt wird, aber auch nicht Type bleibt. Tatsächlich haftet diesem Rönne immer etwas Exemplarisches an, das ihn in seiner Individualität verhindert, und das, obwohl seine Problematik andererseits eine ganz spezielle, nicht allgemein menschlich zu nennende ist. So wird es nur der Minderzahl der Leser der „Novellen“-Sammlung gelingen, sich mit ihm zu identifizieren. Nichtsdestotrotz gelingt es Benn, ihn in der Art der Gestaltung als paradigmatisch darzustellen. Und die Frage, die sich dem Verfasser dieser Arbeit aufdrängt – und mit ihm vielleicht auch dem Leser – ist die Frage, wofür dieses Paradigma steht. Damit verbindet sich, wie sich gleich zeigen wird, die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Gottfried Benn, dem künstlerischen Schöpfer des Zyklus, und Werff Rönne, dem Geschöpf aus seiner Feder, gestaltet.
Tatsächlich ist die Zahl derer, die in Dr. Rönne eine Art literarischen alter egos des Dr. Benn sehen, nicht wenige. Zu ihnen gehören so prominente Vertreter wie beispielsweise Dieter Wellershoff, der 1958 bei Kiepenheuer & Witsch die, wenngleich von der Forschung längst überholte, so doch immernoch grundlegende Schrift zu Gottfried Benn veröffentlichte.[9] Und wirklich sind die Parallelen zwischen Benn und seinem Geschöpf nicht von der Hand zu weisen.
So sind beide gleichaltrig und werden 1916, im Jahr des Entstehens der Novelle Der Geburtstag, sowie der meisten Texte des Zyklus, dreißig. Beide haben offenbar die Medizinerkarriere eingeschlagen und sind nun Ärzte. Auch das soziale Umfeld von Geschöpf und Schöpfer ähnelt sich, zumindest in den meisten der Novellen. So hat beispielsweise – um nur den deutlichsten Hinweis zu nennen – die Ausgangssituation in der zweiten Novelle (Die Eroberung), also der Umstand, daß eine „Eroberung [...] zu Ende“ sei[10], ihre Entsprechung in der historischen Situation Benns, der zur Zeit der Niederschrift als Militärarzt im besetzten Brüssel fungierte. Völlig zu recht weist Wellershoff auch auf die Ähnlichkeit hin, die zwischen beispielsweise dem mittleren Kapitel der Novelle Die Reise und den Zuständen in einem Offizierskasino besteht.[11]
Selbst was die psychische Disposition von Schreiber und Geschriebenem betrifft, läßt sich laut Wellershoff eine Parallele erkennen. Der zunehmenden Depersonalisierung Rönnes, seiner Unfähigkeit, eine Rolle auszufüllen und sich einer Gemeinschaft einzufügen, korrespondiere dieser Argumentation zufolge,
„daß Benn ein introvertierter Mensch war, der sich aus Kontaktscheu mit allerlei Hindernisfeldern gegen die Außenwelt abschirmte, praktisch und noch mehr gedanklich“[12]
All dies scheint dazu angetan, die Rönne-Novellen als eine Art literarisierten Tagebuchs zu lesen. Eine Lesart, die irreführenderweise noch gestützt wird durch den Fakt, daß beispielsweise Die Eroberung bei ihrer Erstveröffentlichung noch mit dem Untertitel Ein Stück Tagebuch versehen war, den Benn erst später wieder strich.[13]
Hier allerdings stellt sich die Frage, warum er diese Untertitelung wieder entfernte. War es der nachträgliche Versuch, die Texte unpersönlicher zu machen, ihnen zumindest den eindeutigen Reflex auf den Verfasser zu nehmen und sie damit zu poetisieren? Oder erwies sich diese Maßnahme als zwingend, weil dem Autor aufgegangen war, daß ein eventueller Leser der Bezeichnung „Tagebuch“ diesen Reflex auf ihn beilegen könnte? Entfernte demnach Benn die drei Worte, weil sie die Lesrichtung des Textes auf einen Nebenschauplatz abbogen?
Tatsächlich ist der Wellershoffsche Interpretationsansatz der Rönnefigur nicht unumstritten. So insistiert beispielsweise Johann Siemon[14] auf eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses von Erzähler und Protagonist, wenn er darauf hinweist,
daß es sich bei Benn um einen sehr reflexiven, seiner selbst bewußten Künstler handelt, der Aspekte der eigenen Biographie kalkuliert als künstlerisches Material verwendet, um dank ihres überindividuellen Gehalts mögliche Lebenserfahrungen zum Ausdruck zu bringen.[15]
Der zuletzt vorgetragenen These gedenkt die vorliegende Arbeit sich nicht unreflektiert anzuschließen, nutzt sie jedoch als Ausgangspunkt für eine eigene Vertiefung der Problematik, in der sich über die Umgewichtung des Schwerpunktes ein neuer Lösungsansatz ergibt. Insbesondere interessant ist dabei die Formulierung von den möglichen Lebenserfahrungen. Siemon scheint hier auf eine Potentialität des Erlebens abzuheben. Und eben dieser Potentialis trifft nach unserem Dafürhalten den Kern der Figur Rönne.
Betrachten wir hierzu zunächst den Namen des Protagonisten näher. Es ist vieles gesagt worden zu dem Infinitiv „rinnen“, der ihm zu Grunde liegt. Es wurde in diesem Zusamenhang aufmerksam gemacht auf die zerrinnende Stirn aus dem dramatischen Text Ithaka[16], es wurde spekuliert über den Wortstamm „gerinnen“, der mit der Tätigkeit des Obduzierens zusamenhängt, und den Wortstamm „entrinnen“, der Rönnes Fluchtwunsch versinnbildlichen könnte.[17] Diese Hinweise sind ebenso richtig wie wichtig,[18] allerdings berücksichtigen sie nur die semantische Seite des Namens und übergehen die grammatische Komponente völlig. Es ist ja bezeichnend, daß der Protagonist nicht etwa „Rinne“ heißt, sondern eben „Rönne“ und sich damit der Konjunktiv bereits im Namen etabliert.
Um die Tragweite dieser grammatischen Wendung für den Namen und damit für die Figur des Dr. Rönne zu verstehen, wird es notwendig sein, das Verhältnis der Texte insgesamt zum Konjunktiv, und alles was mit ihm verbunden ist, zu beleuchten. Dabei wird sich zeigen, daß der Begriff des konjunktivischen Feldes, wie er ja bereits an anderem Ort eingeführt wurde, prägend nicht nur für den Rönnezyklus[19] sondern vielmehr für große Bereiche der expressionistischen Literatur ist. Es mag der vorliegenden Arbeit nachgesehen werden, wenn sie im folgenden aus Platzmangel außer auf den Rönnezyklus nur auf drei andere, für die Moderne grundlegende Texte eingehen wird, in denen die Wirkung des konjunktivischen Feldes nachzuweisen sein wird. Dies wird erstens das literarische Schaffen, also die Briefe (1895 – 1903) und die Erzählung Noa Noa (1893), Paul Gaugins sein, der in der Malerei als Frühexpressionist und Wegbereiter der Expressionisten gilt und dessen Bezug zu unserem Thema deshalb so wichtig ist, weil das Motiv der südlichen Insel, das besonders stark in der Insel hervortritt und das in der dem Rönnezyklus folgenden Schaffensphase eine enorme Bedeutung für Benn erlangen wird, man denke nur an Poeme wie Palau (1922) oder Osterinsel (1927), beide Künstler gegenüberstellt.[20] Zweitens das Gedicht Weltende (1905) von Else Lasker-Schüler, die eine lebenslange Haßliebe mit Gottfried Benn verband, deren sexueller und kreativ höchst fruchtbarer Teil 1916 bereits abgeschlossen war.[21] Und drittens der Antiroman Bebuquin (1912) von Carl Einstein, dessen formale und inhaltliche Bezüge zu Rönne neben der persönlichen Bekanntschaft und gegenseitigen Bewunderung der beiden Autoren auf der Hand liegen.
Erst wenn also der ganze Bedeutungshorizont dieser Denkfigur des konjunktivischen Feldes ausgelotet sein wird, werden wir uns wieder mit dem Namen Rönnes und damit mit der Frage auseinandersetzen, wer dieser Werff Rönne denn eigentlich sei.
3.1 Der Konjunktiv in der klassischen Moderne
Daß der Name des Protagonisten im Konjunktiv steht, ist kein Zufall, es ist eigentlich noch nichtmals eine Besonderheit. Vielmehr ist der Konjunktiv der zunehmend um sich greifende Modus des Zyklusses. Dabei geht es um mehr, als um eine grammatische Konstruktion. Der Konjunktiv ist bei Benn vielmehr der grammatische Ausdruck des neuen Denkmodells, das sich in der Moderne als Alternative zur Realität und zum Realitätsbezug überkommener Epochen etabliert.[22] Dieses Denkmodell, das auch das später von Benn kontrastiv gebrauchte Begriffspaar ‚halluzinatorisch‘ – ‚konstruktiv‘ synthetisch umfaßt,[23] basiert auf dem Nichtrealen, eben dem Möglichen, Potentialen, aber damit auch auf dem Irrealen, dem Mythischen, der Projektion des Idylls bei einer gleichzeitig desillusionierten Realität auf zeit- und ortsferne Gegebenheiten, in der Hoffnung vermittels dieser Projektion den Kern des Wünschenswerten als wünschbar zu erhalten. Dieses Denkmodell meint die Arbeit im folgenden, wenn sie vom konjunktivischen Feld spricht.[24]
3.1.1 Noa Noa
Drei Beispiele seien zur Erhellung dieses Begriffs hier angeführt. Als das erste diene der frühexpressionistische Maler Paul Gaugin,[25] der Zeit seines Lebens von der Südsee träumte und all seine, insbesondere auch sozialen Hoffnungen in dieses „primitive Paradies“ projezierte. Als er sich 1891 zum ersten Mal nach Tahiti einschiffte, diagnostizierte er die europäische Situation folgendermaßen:
In Euopa bereitet sich für das kommende Geschlecht eine furchtbare Zeit vor: die Herrschaft des Goldes. Alles ist verfault, die Menschen und die Kunst.[26]
Dem wollte er die Unverfälschtheit der Südsee entgegensetzen, in die er floh. Aber wie sich seinen Briefen deutlich entnehmen läßt, erfüllt sich seine Hoffnung nicht. Gerade der „Herrschaft des Goldes“ vermag er nicht zu entfliehen. Verarmt und erkrankt sitzt er in seinem Inselparadies und schreibt Bitt- und Schmähbriefe an seine Galeristen, die ihn am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Aber wie sehr – und das ist der Kern dieses kurzen Exkurses - unterscheidet sich die Wirklichkeit, die aus seinen nonfiktionalen Briefen spricht, von dem Idealbild, das er in der poetisierten Erzählung Noa Noa entwirft. Er kennt zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits die Wirklichkeit, die sich hinter den Träumen und Projektionen der Südsee verbirgt – und doch bringt er es nicht übers Herz, sich von ihnen zu verabschieden und hält stattdessen in der Fiktion die Illusion aufrecht, die selbständig eine literarische Parallelexistenz zur gleichzeitig in den Briefen dokumentierten Realität führt. Man könnte sagen, nachdem seine Flucht in die Südsee mißlungen war, flüchtete Gaugin in den Traum von der Südsee, in ihre Möglichkeit, ihren Konjunktiv. In seinen Bildern übrigens versteht er es, diesen Traum mit der Wirklichkeit unlösbar zu verquicken, sie sprechen mit einer nie wieder erreichten Ambivalenz von Schönheit und Würde sowie von Trauer und Zerstörung, und vermitteln so gleichzeitig die Sehnsucht nach der Verwirklichung, das Glück über die Erfüllung und die Trauer über die Zerstörung des Traums. Aber das sei hier nur am Rande erwähnt.
[...]
[1] „umleuchtet von seiner Einsamkeit“, Gehirne, S. 3
[2] „Liebe Stadt, laß Dich doch besetzen!“, Gehirne, S. 9
[3] „Vor dem Nichts stand er; ob Antwort käme?“, Gehirne, S. 17
[4] „zwischen Denkanstößen geht der Zahnstocher hin und her“, Gehirne, S. 28
[5] „Gestatten Sie, daß ich Sie erschaffe“, Gehirne, S. 36
[6] eingehender wird diese Fragestellung abgehandelt bei Martin Preiß, ...daß es die Wirklichkeit nicht gäbe, St. Ingbert 1999, S. 297ff
[7] diese Auffassung vertritt z.B. Thomas Pauler, Schönheit und Abstraktion: über Gottfried Benns absolute Prosa, Würzburg 1992, S. 92, aber auch Martin Preiß, S. 250f
[8] auch Pauler spricht von einer ‚unerhörten Sprachprägung‘, aber nur um diesen Gedanken gleich darauf wieder als überhaupt zu verwerfen.
[9] Dieter Wellershoff, Gottfried Benn – Phänotyp dieser Stunde, Köln 1958
[10] Gehirne, S. 8
[11] Wellershoff, S. 11ff
[12] Wellershoff, S. 11.
Wellershoffs Sichtweise mag ja noch angehen. Immerhin ist er differenziert genug zu erkennen, daß eine rein biographische Lesart der Texte zu kurz greift, um sie wirklich interpretieren zu können (so ausgedrückt auf Seite 14). Wirklich gefährlich wird diese Art der Bezugsetzung erst, wenn popularwissenschaftliche Autoren wie Helma Sanders-Brahms sie zu Sätzen verkürzen wie:
„Er [Benn] ist jetzt, wenn er schreibt, nicht mehr das lyrische Ich, sondern der Arzt Werff Rönne, der dieselben Erfahrungen macht wie er selbst und von dem er doch in der dritten Person schreiben kann, mit Abstand also und mit der Möglichkeit, von sich selbst auch abzusehen. [...] Benn versteckt sich hinter Rönne [...]“ (Helma Sander-Brahms, Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler, Hamburg 1998, S. 122)
Auch Werner Rübe setzt den Autor Gottfried Benn fas allen seinen Protagonisten gleich. Für ihn ist Benn Rönne, Dieserweg und Olf und er versucht nicht nur, die Hermetik der Texte durch die Vita Benns aufzubrechen, sondern auch die Unklarheiten dieser Vita durch die Prosatexte zu erhellen, was eine beseondere Qualität der Verkürzung darstellt. (Werner Rübe, Provoziertes Leben. Gottfried Benn, Stuttgart 1993, S. 155ff)
[13] vgl Pauler, S. 70
[14] ebenso wie Pauler und Preiß
[15] Johann Siemon, Die Formfrage als Menschheitsfrage, München 1997, S. 80
[16] vgl Norbert Reichel, Der erzählte Raum, Darmstadt 1987, S. 107
[17] Beides bei Pauler, S. 64
[18] weniger interessant ist der Verweis Werner Rübes auf Berliner Straßennamen, die möglicherweise anstoßgebend waren, aber nicht programmatisch lesebar sind. Vgl Rübe, S. 155
[19] Sahlberg sagt hierzu: „Der allgemeine Ablauf ist in allen Stücken der gleiche: von der Realität in den Traum vom Süden.“ (Oskar Sahlberg, Gottfried Benns Phantasiewelt, München 1977, S. 50)
[20] vgl auch: Sahlberg, S. 77
[21] zumindest wenn man Helma Snders-Brahms glauben schenken will
[22] hingewiesen sei in diesen Zusammenhang auch auf die Überlegungen, die Preiß über Psychiatrie und Antipsychiatrie anstellt (Preiß, S. 98ff)
[23] zur Begründung für dieses Vorgehen beziehe ich mich auf: Preiß, S. 68
[24] Es wird noch zu klären sein, welcher Techniken sich Benn neben der Setzung des konjunktivischen Modus bedient, um dieses konjunktivische Feld zu gestalten. Es sei hierzu verwiesen auf das Kapitel „Der Konjunktiv im Rönnekomplex“ in dieser Arbeit.
[25] Alle Informationen zu diesem Thema stammen aus: Paul Gaugin. Der Traum von einem neuen Leben, Berlin 1991
Das Buch stellt, nachdem das Vorwort die nötigen Hintergrundinformationen gegeben hat, kommentarlos zwei literarische Ausdrücke Gaugins nebeneinander: die Erzählung Noa Noa, entstanden 1893 nach seinem ersten Tahitiaufenthalt, und die Briefe an Georges Daniel de Monfreid von 1891 bis zum Tod des Malers 1903.
[26] Gaugin, S. 7
- Citation du texte
- Magister Artium Norbert Krüßmann (Auteur), 2002, Rönne oder der Konjunktiv des Gottfried Benn, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17268
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