„Shift happens/Did you know?“ – so lautet der Titel einer
PowerPoint-Präsentation, die Fisch und McLeod im August 2006
für die US-amerikanische Arapahoe High School in Centennial/Colorado vorstellten. Im Februar 2007 wurde die Präsentation auf YouTube.com online gestellt und dort bis zum Juni 2007 über fünf Millionen Mal angesehen. Ursprünglich sollte „Shift happens“ provokante Ideen für den Einstieg in ein neues Studienjahr an der High School darbieten und die Aufmerksamkeit auf innovative Bereiche im 21. Jahrhundert lenken. Den Entstehungsweg dieser „berühmten“ PowerPoint-Präsentation
beschreibt der Autor auf seinem Blog folgendermaßen:
„I remixed content from David Warlick, Thomas Friedman, Ian
Jukes, Ray Kurzweil and others, added some music, and came up
with the following presentation.”
Die Aufmerksamkeitsströme und viralen Effekte im Internet verhalfen der einst als kleinen Input gedachten Präsentation zu weltweiter Bekanntheit. Die virale Weitergabe der Informationen, hier durch reale Mundpropaganda, wird von folgendem Cartoon bildhaft veranschaulicht:
In diesem Jahr fand in Berlin die dritte re:publica’09 statt, in deren Rahmen die Besucher und Teilnehmer dieser Social-Media-Konferenz auf die erfolgreiche Verbreitung der PowerPoint-Präsentation „Did you know 2.0“ aufmerksam gemacht wurden. Blogger, Netzbenutzer und weitere Interessierte fanden sich in Berlin zusammen, um sich auf der re:publica’09 über die unterschiedlichen Einflussbereiche und Entwicklungen des Internets auszutauschen und zu informieren.
Kultur, Medien und Politik gehören zu den lebensweltlichen Bereichen, die vom Internet und dessen technischen Möglichkeiten in ihren Entwicklungen beeinflusst werden. Diese wiederum nutzen sie für sich selbst und beeinflussen durch ihre Anwendung und Weiterentwicklung ebenfalls das „System Internet mit seinen Möglichkeiten.“ Die Konferenz fand unter dem Motto “Shift happens” -
„Veränderung passiert” statt und stand, wie selbst auch in der
Präsentation von Fisch und McLeod, für den rasanten Wandel des
Mediensystems: Das Internet und seine vielfältigen und immer
wieder neu entstehenden Kommunikationsformen werden immer
mehr in das Leben der Menschen integriert und kreieren dadurch
einen neuen Lebensstil. Die Gesellschaft und ihr Wissen, welches sich vermehrt auf digitalen Plattformen wie Wikipedia6 oder Knol7
wiederfindet, wird durch Entwicklungen, die zusammenfassend
unter dem Oberbegriff Web 2.0 diskutiert werden, verändert und
bestimmt.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
2. Bohème - Von analog bis digital
3. Die Bohème in deutschen Metropolen
4. Die Digitale Bohème als Mikrokosmos - außen vor, unter sich und mittendrin?
5. Das „normale“ Arbeitsverhältnis
6. Entgrenzung von Arbeit und Leben
7. Lebensstil als Entgrenzungsfaktor von Arbeit
8. Digitale Bohème = Arbeit + Lebensstil?
9. Ökonomie und Kapital(ismus) der digitalen Bohème
10. Abschluss oder Don’t cry - Work
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde mit Hilfe von digitalen Medien und gleichzeitig über sie geschrieben.
Mein wärmster Dank gilt meiner Familie, meinen Mentoren, Kommilitonen, Inspiratoren und Unterstützern.
1. Einleitung
„Shift happens/Did you know?“ - so lautet der Titel einer PowerPoint-Präsentation, die Fisch und McLeod1 im August 2006 für die US-amerikanische Arapahoe High School in Centennial/Colorado vorstellten. Im Februar 2007 wurde die Präsentation auf YouTube.com online gestellt und dort bis zum Juni 2007 über fünf Millionen Mal angesehen. Ursprünglich sollte „Shift happens“ provokante Ideen für den Einstieg in ein neues Studienjahr an der High School darbieten und die Aufmerksamkeit auf innovative Bereiche im 21. Jahrhundert lenken. Den Entstehungsweg dieser „berühmten“ PowerPoint-Präsentation beschreibt der Autor auf seinem Blog folgendermaßen:
„ I remixed content from David Warlick, Thomas Friedman, Ian Jukes, Ray Kurzweil and others, added some music, and came up with the following presentation. ” 2
Die Aufmerksamkeitsströme3 und viralen4 Effekte im Internet verhalfen der einst als kleinen Input gedachten Präsentation zu weltweiter Bekanntheit. Die virale Weitergabe der Informationen, hier durch reale Mundpropaganda, wird von folgendem Cartoon bildhaft veranschaulicht:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In diesem Jahr fand in Berlin die dritte re:publica’09 statt, in deren Rahmen die Besucher und Teilnehmer dieser Social-Media- Konferenz auf die erfolgreiche Verbreitung der PowerPoint- Präsentation „Did you know 2.0“ aufmerksam gemacht wurden. Blogger, Netzbenutzer und weitere Interessierte fanden sich in Berlin zusammen, um sich auf der re:publica’09 über die unterschiedlichen Einflussbereiche und Entwicklungen des Internets auszutauschen und zu informieren. Kultur, Medien und Politik gehören zu den lebensweltlichen Bereichen, die vom Internet und dessen technischen Möglichkeiten in ihren Entwicklungen beeinflusst werden. Diese wiederum nutzen sie für sich selbst und beeinflussen durch ihre Anwendung und Weiterentwicklung ebenfalls das „System Internet mit seinen Möglichkeiten.“5
Die Konferenz fand unter dem Motto “Shift happens” - „Veränderung passiert” statt und stand, wie selbst auch in der Präsentation von Fisch und McLeod, für den rasanten Wandel des Mediensystems: Das Internet und seine vielfältigen und immer wieder neu entstehenden Kommunikationsformen werden immer mehr in das Leben der Menschen integriert und kreieren dadurch einen neuen Lebensstil. Die Gesellschaft und ihr Wissen, welches sich vermehrt auf digitalen Plattformen wie Wikipedia6 oder Knol7 wiederfindet, wird durch Entwicklungen, die zusammenfassend unter dem Oberbegriff Web 2.0 diskutiert werden, verändert und bestimmt. Web-2.0-Anwendungen, besonders Social-Media Plattformen wie Xing8, Twitter9 oder Facebook10, entwickeln sich zu erfolgreichen Selbstläufern, die beim Verkauf den Entwicklern viel Geld bringen. So brachte der Verkauf von Studivz11 laut Spiegel Online ca. 80 Millionen Euro.12 Als Social-Media-Konferenz in Berlin wurden die digitale Gesellschaft und all jene, die sich damit identifizieren, zur re:publica’09 zusammengerufen. Damit wurde eine Plattform für Diskussionen und eine Möglichkeit für den Aufbau von Netzwerken geschaffen. Die Konferenz soll als ein Knotenpunkt fungieren, um den Lebensbereich der virtuellen mit dem der realen Welt zu verbinden. An dieser Schnittstelle trifft sich die sogenannte „digitalen Bohème“.13
Sie sind besonders in Metropolen wir Berlin, Hamburg und München anzutreffen. Ursachen dafür sind in diesen Kernstädten die vermeintliche Nähe zu der wissenschaftlichen Entwicklung einerseits, andererseits gelten sie als Brennpunkte durch den sich zuspitzenden Prozess der sozialen und soziokulturellen Meinungsunterschiede und der Verstärkung eines bestehenden Ungleichgewichts in der Wirtschaft. Sie lassen Stilwandel und Stilverluste parallel stattfinden und vereinen in sich Gegensätze. Es entstehen und stehen unterschiedliche Lebens- und Wohnformen nebeneinander - wachsende Bindungsängste jedes einzelnen gehen einher mit mehr Eigensinn: Freiheitsbedürfnisse wollen ausgelebt werden und laufen dabei Gefahr, Solidaritäten zu zerstören (Hauff 1988, S. 7). Die Vermutung liegt nahe, dass wenn Urbanität14 zum angestrebten Lebensgefühl und die Stadt als Lebensart und virtueller und kultureller Brennpunkt angehoben wird, dies eine Grundlage für eine neue Vielfalt an Lebensstilen bietet. Weiterhin ist anzunehmen, dass Lebenszusammenhänge durch neue digitale Optionen rationalisiert und von lokalen und temporären Dimensionen abgekoppelt gelebt werden. So ist es möglich, dass online auf den Plattformen 24h eingekauft werden kann. Höge15, taz-Autor, beschreibt das Phänomen „Bohème“ in seinem Blog folgendermaßen:
Sie haben dort [in Großstädten] Jobs oder suchen einen, verkehren jedoch fast nur untereinander und nehmen ihre Umgebung ansonsten kaum wahr. Sie könnten so überall auf der Welt leben, es zieht sie jedoch in die hauptstädtischen Mitten, wo es ihrer Meinung nach abgeht.16
Diese Ausführung beschreibt die mobilen Stadtbewohner der heutigen Zeit und deren Gestaltung und Nutzung von ihren Stadträumen. Mobil bedeutet für sie die höchst gelebte Flexibilität. Ein Anspruch, der nicht von jedem Menschen erfüllt werden kann. Digitalität, Urbanität und Bohème werden dabei als avantgardistisches Lebensgefühl und progressiver Lebensstil aufgegriffen und seit einigen Jahren durch die Massenmedien wie Online-Blogs oder Stadtzeitschriften geradezu proklamiert. TVSender heben diese neuen Formen als neue Kultur hervor. Ein Beispiel ist die Sendung Sixtus vs. Lobo auf 3Sat.17 Treten die Lebensstilformen der Bohème also wieder in den Vordergrund, jedoch in digitalisierter Form, da sie durch die Technik und die New Economy abgewandelt und beeinflusst wird?
Die vorliegende Arbeit spannt eine Brücke von den Anfängen und Initiatoren der analogen Bohème bis hin zu den „neuen“ Lebensstilen des digitalen Bohèmien. Eingegangen wird dabei auf historische Hintergründe und neuere Entwicklungen. Der „vermeintlich“ innovative Lebensstil soll näher beleuchtet und seine Eigenarten herauskristallisiert werden. Globale Behauptung dieser Arbeit ist, dass die digitale Bohème als ein Mikrokosmos bezeichnet werden kann, der hoch pokert. Wie nutzen und definieren die digitale Bohème Arbeit und welche Wirkung hat diese Zuschreibung auf ihren Lebensstil? Die digitale Bohème wird in dieser Arbeit als Mikrokosmos betrachtet, der unzähligen Einflüssen und Faktoren unterliegt, welche in dessen Darstellung mit einfließen. Dieser Schritt ist notwendig um die Komplexität der Thematik zu reduzieren indem im gleichen Zuge andere gesellschaftliche Typen außen vor bleiben. Ist die digitale Bohème auf dem Arbeitsmarkt als eigenständige und freiberufliche Tätigkeit eine scheinbare Notlösung oder eine avantgardistische Bewegung? Versucht sie, nicht nur das Verhältnis von Arbeit, sondern auch den dahinter stehenden Lebensstil mit seinem alten Traum vom selbstbestimmten Arbeiten, abgekoppelt der Bürgerlichkeit mit all seinen vermeintlichen Zwängen und Grenzen, zu realisieren?
Die Gleichzeitigkeit von Stabilität und Umbruch, die im instabilen Nebeneinander von Alt und Neu die Komplexität erhöht und dadurch eine unübersichtliche Gestalt annimmt, soll als Ausgangsform der Untersuchung der Arbeit zugrunde liegen. Die Analyse eines neuen Lebensstils auf der Grundlage eines Umbruchprozesses durch die Digitalisierung soll nicht dazu dienen zu erklären, dass es eine generelle Ablösung des „Alten“ durch das „Neue“ gibt. Es sind nicht die Arbeitsformen, Unternehmensstrukturen oder andere institutionelle Arrangements, die dies bewirkt haben (vgl. Dörre 2001, S. 84f.).
Diese Arbeit thematisiert einen auf historische Gegebenheiten Bezug nehmenden Prozess, aus dem bestimmbar wird, was bislang konstitutive Grenzen sind und ob und wieweit diese einem Wandlungsprozess unterliegen. Dieses historische Basiswissen wird mit Hilfe der Analyse der analogen Bohème mit ihren Eigenarten und Verhältnis von Arbeit und Leben im Verhältnis zu dem bürgerlichen Milieu in Kapitel 2 beleuchtet. Des Weiteren werden Konzepte des Normalarbeitsverhältnisses, der Entgrenzung und der Individualisierung im Kapitel 4 und 5 vorgestellt. Sie dienen zur Einordnung des Verhältnisses von Arbeit und Leben, welche im Wandlungsprozess durch neue Grenzziehungen bestimmt werden.
Außerdem werden im Diskussionsprozess anhand verschiedener Analysen auf Websites, in Blogs und Online-Magazinen und deren Kommentare, welche auf die Basisideen der Arbeit Bezug nehmen, die Thesen untersucht und überprüft. Die Ausformulierung des „Neuen“ - hier der digitalen Bohème - soll auf seine Einordnung in Kapitel 3 und 7 überprüft werden. Ist es ein neuer Arbeitskrafttypus oder ein durch die neuen Medien hervorgerufenes neues Strukturierungsprinzip oder sogar ein neuer Gesellschaftstypus? Solche Aussagen darüber sind nur dann möglich, indem der Trend von der analogen zur digitalen Bohème zum Umbruchprozess erklärt wird.
Basis dieser Arbeit bildet das Buch von Friebe und Lobo (2007) als auch der dazugehörige, ergänzende Blog auf der gleichnamigen Seite wirnennenesarbeit.de , der das Buch fortschreibt und somit der Anschein entsteht, dass dieser Prozess während und nach der Veröffentlichung einen lebendigen, viralen Informations-Transfer zwischen Autoren und Konsumenten zuließ.
2. Bohème- Von analog bis digital
Die Bohème, die sich durch eine bestimmte affektive Kombination auszeichnete, durch ästhetische Verfeinerung und Hass auf das Bestehende, ist Gegenstand dieser Untersuchung. Sie bildet die historische Quelle für die Darstellung der digitalen Bohème als eine Ausprägung entgrenzter Arbeit, die durch die Einflüsse der Technologie eine neue Lebensform kreiert.
Der Begriff Bohème stammt aus dem mittellateinischen Wortschatz und leitet sich von bohemus (Böhme) ab. Der Titel geht auf Bohèmien (frz.) für Böhme oder auch Zigeuner zurück (vgl. Elsner 1997, S. 5). Diese Gruppe wanderte als Volksstamm im 15. Jahrhundert aus dem nordwestlichen Indien in Europa ein (vgl. ebd., S. 5, vgl. Kreuzer 1971, S. 1).
Bild einer Zigeunerfamilie (1925)18
Die Zigeuner, oder auch „fahrendes Volk“ genannt, führten zugleich unterschwellig den Ruf von Ketzerei und Heidentum mit sich. Ihrer Legende nach, liegt ihnen die Wanderschaft als Buße auf, da sich ihre Vorfahren weigerten in Ägypten die Heilige Familie bei sich aufzunehmen (vgl. Kreuzer 1971, S. 1). „Fahrendes Volk“ sind demnach auch in Deutschland Nichtsesshafte, die ein verwahrlostes und romantisch-sorgloses Leben (Zigeunerleben) führen (vgl. ebd.). Seit dem 18. Jahrhundert treten die Nomaden verstärkt in Romanen als Figuren auf. Schriftsteller entdeckten den pittoresken Reiz des Zigeunerlebens und dessen Schönheit . (Kreuzer 1971, S. 1) In Honorés Romanzyklus „Menschliche Komödie“ spielen seine Romanfiguren im Pariser Kern und somit im Lebenszentrum der Bohèmiens. Weitaus geläufiger wurde der Begriff durch den Roman „Scènes de la vie de Bohème“ von Henri Murger (1851) und die danach gestaltete Oper „La Bohème“ von Giacomo Puccini (1896). Obwohl die Legende mit der Zeit verblasste, so blieb ihnen zumindest der Ruf von einem Leben in Romantik, Unordentlichkeit und Schlampigkeit (vgl. ebd.). Künstler nahmen diese Darstellungen als Ideal auf. Dieser Fakt ließ die verschiedenen Künste wie Malerei, Komödie und Schriftstellerei enger zusammenrücken und zugleich einen Schritt von der bürgerlichen Welt entfernen (vgl. ebd. S. 3).
Diese Brückenschläge (Kreuzer 1971, S. 3) eröffneten die Option für einen zweiten, neuen Bohème-Begriff aus den eigenen Landsleuten, welches ab dem Jahr 1835 auch schriftlich belegt wird (vgl. ebd.). Kreuzer (1971) beschreibt sie folgendermaßen: Diese Bohème hat der Gesellschaft nicht den Rücken gekehrt, sondern erwartet und sucht die Chance ihres Aufstiegs, sie ist ein sozialer microcosme der Intelligenz, in dem nicht die Kunst allein regiert. (ebd.)
Die Idee der Mikrokosmos- und Makrokosmos-Einteilung19 geht aus der Disposition von Mensch und Kosmos sowie Mensch und Welt zurück: was diese im Großen ist, ist jener im Kleinen und umgekehrt. (Bertelsmann Lexikon 1988; S. 90) Ihnen liegen die Vorstellungen einer geordneten Welt zugrunde in der eine Analogiebeziehung - einerseits zwischen der Welt als Ganzem und andererseits ihren einzelnen Teilen, insbesondere dem Menschen - bestehe (vgl. Brockhaus, 1974, S. 667f.). Die Erkenntnis über einen Teil der Welt ermögliche eine entsprechende Erkenntnis des Ganzen. Jede Vorstellung über das Ganze habe ihre Entsprechung in den Teilen (vgl. Bertelsmann Lexikon 1988; S. 90). Daher lässt sich schließen, dass Mikrokosmos und Makrokosmos aufeinander bezogene Maxime verkörpern. Sozialwissenschaftlich wird der Begriff Mikrokosmos metaphorisch eingesetzt, um eine soziale Struktur zu beschreiben, die ein in sich ruhendes und nach außen abgeschlossenes System darstellt, das nach seinen eigenen Gesetzen lebt. Dies können bspw. Haftanstalten sein, aber auch freiwillige Zusammenschlüsse im Bereich von Subkulturen, die spezifische Formen des Gruppenlebens zur Norm erheben.
Champfleury unterteilt die Bohème in zwei Gruppen: in jene neuen Künstlerkreise und in ihre Randgruppen des Proletariats, die weniger zur Kunst tendieren (vgl. ebd. S. 4). Dazwischen liegt, so vermutet Kreuzer eine bunte Vielfalt und viele Zwischentypen, bei denen viele Berührungspunkte und Übergänge zu finden sind (ebd. S. 4f.). Kreuzers Ausführungen gleichen einer Analyse. Er neigt, trotz aller methodischen Ausgewogenheit dazu, die literarischen Texte weniger um ihrer selbst willen zu betrachten, sie vielmehr typologischen, soziologischen und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen unterzuordnen. Im Folgenden werden einige Beispiele der verschiedenen Sichtweisen über die Bohème genannt, die Kreuzer in seinem Werk sammelt.
Die unterschiedliche Verteilung von materiellen Mitteln, welche in den Bohème-Kreisen vorhanden ist, wird von Marx unter dem abwertenden Begriff Lumpenproletariat (ebd. S. 5) zusammengefasst. Sie vereint arm und reich miteinander unter dieser Begrifflichkeit. Obwohl er laut Kreuzer weiß, dass das Bohème-Milieu einen Abhub aller Klassen (ebd.) bedeute. Valles, ein Verfechter und Stellvertreter der Bohème, beschreibt laut Kreuzer ihre Mitglieder als Inbegriff des schwarzen Elends, denn in ihm finden sich für ihn alle deklassierten Akademiker und Intellektuellen am Schnittpunkt der Verzweiflung und Drohung wieder, die auf Befreiung durch literarisch-künstlerischen Erfolg warten oder auf die soziale Revolution (vgl. ebd.). Murger wiederum sieht die wahre Bohème als Probezeit der jungen Menschen an, die ihre erfolgslose Zeit überstehen müsse, um ihre Talente auszutesten (vgl. Kreuzer 1971, S. 6). Auf längere Sicht leben sowohl die Vorstellung Murgers als auch die von Valles weiter. Es entwickelten sich drei Hauptströme, die der Grünen, Schwarzen und Roten Bohème. Erstere verkörperte Jugend, Freiheit, Heiterkeit und Farbigkeit, der zweite eher Armut, Laster und Verzweiflung, während die dritte Trotz und Kampf der Bohème verkörperten (vgl. ebd. S. 7).
Die Vielfalt an Ausbildungen von Überzeugungen und Einstellungen der Bohème, soll in Anlehnung von Kreuzers Gesichtspunkten der Beurteilung anhand einer Übersicht geschehen. Er verwendete Gegensatzpaare, die sich einander herausfordern (vgl. Kreuzer 1997, S. 14ff.). Die folgende Tabelle verdeutlicht die Grundtypen der Bohème:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Tabelle in Anlehnung an Kreuzer (1971) S. 15ff.) 20
Mit Bohème wird eine Klasse der Veränderbaren, Unsteten und Unruhigen verbunden. Mit Hilfe Murgers These kann auf ein jugendliches Übergangsstadium geschlossen werden, in der sich die literarische und künstlerische Intelligenz versammelt (vgl. ebd.). Gegenwärtig wird die damalige Bohème entweder geografisch (Böhmen) oder in die Formen der Künstler-Bohème oder dem Bohèmien/Zigeuner eingeteilt (vgl. ebd.).
Zuerst wurden die Mitglieder einer Gruppe romantischer, antibürgerlicher Schriftsteller und Maler in Paris um 1830 als Bohème bezeichnet. Künstler wie Hugo, Murger und de Balzac werden stellvertretende Impulsgeber dieser Zeit. De Balzac, als Vertreter und wohl erster Bohèmien brach bspw. mit zwanzig Jahren aus seinem bürgerlichen Leben aus und erhob sich selbst im Jahr 1831 in den Adelsstand (vgl. Elsner 1997, S. 5). Dies zeugt von der souveränen Gleichgültigkeit gegenüber allen Formen gesellschaftlichen Verhaltens. Von Paris aus erfasste diese geistige Bewegung Deutschland, zu deren Zentren München und Berlin wurden. Das Leben des frühen Bohèmien spielte sich europaweit in Lokalitäten wie Cafés und Kneipen ab. In Berlin traf man sich im "Lutter & Wegner" oder in der "Hippelschen Weinstube", in München in der „Dichtelei“ oder im „Café Leopold“. In diesen Etablissements wurde nächtelang diskutiert und getrunken (Elsner 1997, S. 5). Die Fülle literarischer Bohème-Darstellungen ist unüberschaubar, und auch die Forschungsliteratur ist längst so angewachsen, dass Kreuzers Feststellung, es gebe zwar einzelne Bohème-Forschungen, aber keine kontinuierliche Bohème- Forschung (Kreuzer 1971, S. 23f.), nicht mehr ohne weiteres zutrifft. Diese Arbeit richtet ihr Augenmerk im folgenden Abschnitt auf die Forschung über die für die Bohème bedeutenden beiden deutschen Metropolen Berlin und München.
3. Die Bohème in deutschen Metropolen
„ Ein Bohèmien ist in erster Linie Skeptiker, ein Mensch,
der die Welt so fatalistisch wie nur denkbar ansieht, einer, der vom Leben nichts erhofft, und der deshalb darauf los lebt mit der erhabenen Wurstigkeit, die ihm dem bourgeoisen Geschäftstrotter gegenüber als Ausnahmewesen, als komischer Kauz erscheinen lässt. Es ist nicht notwendig, daßman Künstler ist um Bohèmien zu sein; aber daßman [ … ] >Künstlermensch< ist, das ist allerdings Voraussetzung dazu. “
(Wilhelm 1993, S. 110)
Im Jahr 1904 veröffentlichte Bab einen knappen Abriss von der Entwicklung der Bewegung der Berliner Bohème. Der Autor stellte zwei Voraussetzungen für das Entstehen einer Bohème fest: einerseits müsse es einen „geistigen Anlass“ geben - so waren die Betreffenden mit dem Wertesystem und der Sinngebung der Gesellschaft, in der sie lebten, nicht einverstanden - zum anderen war es die materielle Notwendigkeit (Bab 1997, S. 8), da ihre schlechte wirtschaftliche Lage die Führung einer gesellschaftsfähigen Existenz (ebd.) nicht gestattete. Eine noch grundlegendere Voraussetzung ist nach Kreuzer (1968) das Bestehen einer relativ liberalen Gesellschaft (mit einer Presse, einem Literatur- und Kunstbetrieb, die Aggressionen gegen die Gesellschaft oder Extravaganzen einen Spielraum lassen) in relativ guten wirtschaftlichen Verhältnissen [...], die eine lässlich- dilatorische Schuldenregelung und vor allem den Zuschuss arbeitslosen Einkommens ermöglicht, der einen beachtlichen Posten im Gesamt- ‘ Budget ’ der Bohème ausmacht .21 Umgekehrt sieht Bab (1997) die Existenz und den Charakter einer Bohème als Symptom für den kulturellen und gesellschaftlichen Zustand eines Landes.
Oft befindet sich eine Persönlichkeit im Zentrum des Kreises, wie etwa Jaeger22 in der Kristiania-Bohème, zu der Munch vor seiner Ankunft in Berlin gehörte. Jaeger hatte für seinen Kreis neun Gebote formuliert, die 1889 in der Zeitschrift Impressionisten veröffentlicht wurden:
1. Du sollst Dein Leben schreiben.
2. Du sollst Dich von Deiner Familie lossagen.
3. Du kannst Deine Eltern nicht schlecht genug behandeln.
4. Du sollst Deinen Nächsten nie für weniger als 5 Kronen anpumpen.
5. Du sollst alle Bauern wie Björnstjerne Björnson, Kristoffer Kristoffersen und Kolbenstvedt hassen und verachten.
6. Du sollst nie Zelluloid-Manschetten tragen.
7. Versäume nie, einen Skandal im Theater von Kristiania zu erzeugen.
8. Du sollst nie bereuen.
9. Du sollst Dir das Leben nehmen.
Sie drücken radikal die wesentliche Züge der Bohème aus und fassen diese zusammen: die Ablösung von allen bürgerlichen Normen und der entschiedene Individualismus, der in der Aufforderung, das eigene Leben zu schreiben und letztlich zu beenden, seinen Höhepunkt findet. Weniger deutlich geht aus den Geboten hervor wie sehr eine Bohème-Gruppe von den persönlichen, freundschaftlichen Bindungen jedes einzelnen Mitglieds durch gegenseitige Unterstützung lebte.
In der Regel gehörten zu einem Bohème-Kreis um das Jahr 1880 ebenfalls „bürgerliche“ Existenzen mit geregeltem Einkommen. Feste Gehälter bekamen sie aus künstlerischer oder nichtkünstlerischer Tätigkeit. Sie spielten als Förderer eine wesentliche Rolle und nahmen in der „Freizeit“ am Bohème-Leben teil (vgl. Wilhelm 1993, S. 125). Aus jenen beschriebenen Bohème- Kreisen erwuchsen häufig Projekte wie Ausstellungen, Theater, Verlage und Zeitschriften, Lesungen oder Feste, mit der Absicht, die eigenen Anschauungen einem breiteren Publikum zu präsentieren. Alle diese Unternehmungen mussten finanziert werden. Viele Mitglieder von Bohème-Kreisen waren demzufolge darauf angewiesen, einen „ordentlichen Beruf“ neben ihrer künstlerischen Tätigkeit auszuüben, um sich und ihren Familien den Lebensunterhalt zu sichern (vgl. ebd.). Die Ablehnung durch das Publikum wurde zum Qualitätsmerkmal eines hervorragenden Dichters und Querdenkers umgedeutet. So schreibt etwa Schmidt darüber:
Dichter: erhältst Du den Beifall des Volkes, so frage Dich: was habe ich schlecht gemacht?! Erhält ihn auch Dein zweites Buch, so wirf die Feder fort: Du kannst nie ein Großer werden.23
Die Notwendigkeit, dass die schöpferische Arbeit strikt vom Geldverdienen getrennt sein musste, um überhaupt stattfinden zu können; notiert Rilke folgendermaßen:
Allein schon das Bewusstsein, dass zwischen meinem Schreiben und des Tages Notdurft eine Beziehung besteht, genügt, mir die Arbeit unmöglich zu machen.24
Er unterteilt diesen Gesellschaftsstrang in die Bohème ( Erzzigeuner (vgl. Bab 1994, S. 25)), die sie selbst als dauerhafte Existenzmöglichkeit betrachtet und sich aufgrund ihrer gesellschaftskritischen und kontroversen Einstellungen nicht in die Strukturen der Gemeinschaft eingliedern kann. Der andere Bohème-Strang ( heranwachsende Generation (Bab 1994, S. 95)) wird als Stadium zusammengefasst, der für sich einen Raum beansprucht, in dem er seine Kräfte entfalten und erproben muss (vgl. ebd.).
Allgemein lassen sich Bohème-Gruppen mit Hilfe von Kreuzer als Randgruppen mit vorwiegend schriftstellerischer, bildkünstlerischer oder musikalischer Aktivität oder Ambitionen und mit betont un- oder gegenbürgerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen
(Kreuzer 1971, S. 9) definieren. Der Autor Elsner beschreibt außerdem die Schwierigkeit, heutzutage jenen Bohèmien aus Überzeugung von solchen, die aufgrund ausbleibenderäußerer Erfolge eine zigeunernde Existenz lebten, zu unterscheiden. (ebd. 1997, S. 6) Während einige diese Lebensart bewusst zum Wahlzustand erhoben, wurde er für den anderen zum ausweglosen Zustand und einer Notlage, der die Menschen in beiden Situationen jedoch vorübergehend miteinander verband. Daher stellt sich die Frage, ist die Bohème Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung, ein Durchgangsstadium (Purgatorium), eine verinnerlichte Überzeugung, Veranlagung, gewollter Lebensstil, historisch gebunden oder gar eine fortwährende Revolution gegen bürgerliches oder gegen bislang vorgelebte Ideale? Ihre Charakteristik zeige sich laut Kreuzer in ihrer ambivalenten Verhaltensweise und ihrer Daseinsform im Zwischenzustand ohne Eindeutigkeit (Kreuzer 1971, S. 20).
Über den Einfluss der Verwegenheit und Melancholie einzelner hinaus, kamen bei ihren ritualisierten Treffen in Kneipen, Gasthäusern und öffentlichen Lokalen (vgl. Kreuzer 1968, S. 202) um das Jahr 1880 eine ernstere Bedeutung hinzu: Sie alle hegten den Traum der sozialen Revolution und der vormärzlichen Gedanken (vgl. Bab 1994, S. 25). Obwohl nicht direkt in der Öffentlichkeit getätigt, wurden ihre Aufrufe und Visionen in ihren bohemistischen Werken unsterblich (vgl. ebd.). So resümiert Bab (1994): Denn was ist >>Bohème<< im Grunde anderes als ein friedlicher Versuch zu praktischen Anarchismus, d.h. zur Bildung eines unbeherrschten Lebenskreises außerhalb der staatlich organisierten Gesellschaft?! (ebd. S. 23) Dies lässt auf ein Verlangen einer bewussten, neuen Gestaltung von neuer politischer und sozialer Weltanschauung in diesen Jahren vermuten. Bab bestätigt mit seinen Aussagen, dass neben denästhetischen [ … ] die ethisch-sozialen Debatten zum eisernen Bestand ihrer Zusammenkünfte (ebd. S. 53) gehörten.
Die Cafés bilden laut Kreuzer die wichtigste Kategorie der Treffpunkte der analogen Bohème (vgl. Kreuzer 1968, S. 203). Diese Lokalitäten, in denen sie sich über Stunden aufhielten, ermöglichten den Vertretern der Bohème eine Separation und gleichzeitig eine Provokation durch das Präsentieren ihrer selbst (vgl. ebd.). Des Weiteren verhalf es Neuankömmlingen in dieser „Szene“ die darin erlebbaren innergesellschaftlichen Kräfte auszuhalten und eine leichtere Integration und überschaubaren Zugang zu vollziehen (vgl. ebd. S. 205). Viele beschriebene Bohèmien lebten unverheiratet und in möblierten Zimmern ohne vollständigen Haushalt (vgl. ebd. S. 212). Daher gingen sie gerne in bestimmte ausgewählte Speiselokale, die als Künstlerwirtschaften (vgl. Kreuzer 1968, S. 212) die Funktion der Cafés übernahmen. Als Wohnorte wählten sie laut Aussagen Kreuzers bestimmte Großstadtviertel oder -Vororte, die aus praktischen Gründen in der Umgebung von Universitäten, Ateliers, Malschulen, Konservatorien, Akademien, geeigneten Lokalen und Geschäften lagen (vgl. Kreuzer 1968 S. 217). Also Viertel, in denen sich ö konomische Vorteile mit folkloristischen oder historischen Reizen verbinden (ebd. S. 217). Kreuzer schlussfolgert, dass im Lauf dieser Entwicklung eine kleinere oder gr öß ere ‚ Stadt in der Stadt ’ (vgl. Kreuzer 1968, S. 217) mit eigenem charakteristischem und bohèmistischen Ambiente entstanden. Abwanderungen aus diesen beschriebenen Vierteln gab es nur bei Erhöhung der Mieten und Preise (vgl. ebd. S. 218).
Als Fazit schließt Bab seine Darstellungen damit, dass die Bohème in Berlin wohl nie ausstirbt. Grund dafür bietet zum einen die Zusammensetzung der Stadt und die Anwesenheit der Wirkungskreise der Studenten und Künstler (vgl. ebd. S. 87). Der Autor bemängelt jedoch, dass unter diesen pumpenden und sumpfenden Leutchen (ebd. S. 90) vom damaligen Bohèmetum im 20. Jahrhundert wenig zu spüren ist. Weiterhin wurde deutlich gemacht, dass sogenannte „echte“ Bohèmien sich vorsätzlich über die Schranken der sozioökonomischen Gemeinschaft hinwegsetzen und ihren bürgerlichen Konventionen bewusst widerstreben (vgl. Elsner 1997, S. 6). Ausgedrückt wird dies in einem Desinteresse gegenüber materiellen Werten und bürgerlichen Konventionen bis hin zu dessen Ablehnung und einer Liebe zur Individualität (vgl. Elsner 1997, S. 6). Im 21. Jahrhundert kommen anlässlich neuer Technologien auch neue Einflüsse auf. Was laut Bab nur ein Geplänkel ist, wird unter dem Titel digitale Bohème als großer Einfluss in der digitalen Welt gewertet (vgl. Bab 1994, S. 25). Wieder sind die Metropolen - hauptsächlich Berlin im Fokus der Betrachtung. Die Tragweite, mit der sich die Entgrenzung der Arbeit als Lebensstil auswirkt soll im Folgenden vorgestellt und untersucht werden.
4. Die Digitale Bohème als Mikrokosmos - außen vor, unter sich und mittendrin?
Denn die Bohème ist ein Großstadtkind, erzeugt und geboren von diesen Zentren moderner Kultur, die alle Talente in sich aufzusammeln trachten und ihnen hier so schnell, so vielfältig Lebensnahrung zuzuführen, dass kritische Erkenntnis und Neuschöpfungswille weit schneller keimt und reift, als eine soziale Möglichkeit ihnen innerhalb dieser Gesellschaft nachzuleben - und genau da entstehen die trotzig genialen Außenseiter, die Bohèmiens. (Bab 199425 )
Der Autor Bab beschreibt hier die analoge Bohème als ein Kulturphänomen, welches im 19. Jahrhundert innerhalb der damals bestehenden gesellschaftlichen Reihen keinen entsprechenden Raum für sich fand. In ihren heutigen digitalen Kreisen begegneten und begegnen sich Angehörige unterschiedlichster Schichten und Berufsgattungen.26 Die in ihnen Agierenden wählen laut Friebe und Lobo dieses Lebensmodell nicht als Notstand, sondern auch aus den oben beschriebenen Motiven der Freiheit und Selbstbestimmtheit (Bab 199427 ). Sie bilden ein Netzwerk aus freien Produzenten, mit unterschiedlichsten Fähigkeiten und Geisteskräften innerhalb eines eigenen Mikrokosmos (vgl. Friebe und Lobo 2007, S. 30). So fanden sich nicht nur Literaten und Maler in diesen Kreisen, sondern auch Geisteswissenschaftler, Musiker und Schauspieler, die kulturelles -meist gesellschaftskritisches - Gut erschufen.
Die digitale Bohème als Avantgarde und neues Kollektiv (vgl. Friebe und Lobo 2007, S. 15ff.), die in und mit virtuellen Netzwerken sich auf Social Media Plattformen wie Facebook oder Xing bündelt und auf ihnen ihr Geld verdient, kann als eine Subkultur gesehen werden. Sie bekommen Aufträge für neue Projekte oder pflegen ihre Kontaktnetzwerke in den Chats wie Skype oder MSN, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Sie äußert sich durch ihre non-konforme Lebenseinstellung und Lebensart im Vergleich zu der eines Festangestellten. In ihrem Lebensstil zeigen sich die verschiedenen Einflüsse von Entgrenzung von Arbeit, auf die in Kapitel fünf und sechs näher eingegangen wird. Digitale Bohèmien sind in den verschiedenen virtuellen Netzwerken und Plattformen unter sich und grenzen sich vom Bürgertum durch ihren Lebensstil ab. Sie stellen sich neben das Geschehen im Angestelltenverhältnis und sind doch, dank der Informations- und Kommunikationstools, mitten drin im global vernetzten Geschehen. Jedoch nicht alle Selbständigen werden als digitale Bohème eingestuft. Im Folgenden werden die Aussagen der digitalen Bohème als Mikrokosmos und der Übereinstimmung mit bereits genannten analogen und digitalen Prinzipien überprüft. In der weiteren Argumentation sollen Unterschiede zu Festangestellten und Selbständigen näher herausgearbeitet werden. Die Aussagen über die digitale Bohème als Mikrokosmos stehen an dieser Stelle im Fokus der Überprüfung.
Menschen machen ihr Hobby zum Beruf und verdienen anhand kreativer Projekte im Web2.0 mit Hilfe neuer Technologien ihr Geld. Sie bezeichnen sich selbst als digitale Bohème und verbreiten in den Massenmedien wie Fernsehen, Magazine und Internet den Traum von einem selbstbestimmten Leben jenseits der Festanstellung. Besonders das anwenderorientierte Internet mit seinen vielfältigen Kommunikationsmechanismen und Online- Plattformen für Produktmarketing und -verkauf bietet freiberuflich arbeitenden Künstlern wie Musiker oder Fotografen die Möglichkeiten preiswerter zu produzieren. Schnellere Wege zum Kunden werden über Kleinlabels, mittels Produkte aus der Handarbeit, entdeckt und beschritten. Sie verbinden damit Kunst, Handwerk und das digitale Medium gleichermaßen. Dies können zum Beispiel Produkte „Marke Eigenbau“ sein, die im Internet über etsy28 oder dawanda29 weltweit vertrieben werden können. Software und der Aufbau der Homepages sind für den Anwender selbsterklärend und leicht verständlich, so dass selbst IT-Fremde Freiberufler sich diesen Bereich einfach zugänglich machen können. Auf diesen Seiten finden sich kreative Freiberufler, die eigene Modekollektionen oder Einrichtungsgegenstände, selbstgefertigtes Spielzeug, Schmuck, Terrakotta, Keramik und ähnliches vertreiben.
www.etsy.com; Zugriff am 14.09.2009
Es scheint auf den ersten Blick ganz einfach, Fremdbestimmung und Festanstellung aufzugeben und Selbstbestimmung anzustreben. Was ein digitaler Bohème vermeintlich dafür einzig benötigt, ist ein Laptop und ein Internetzugang. Er steht allein vor der entscheidenden Gretchenfrage: „Wie will ich leben?“ - Draußen arbeiten die Leute so, wie sie leben wollen, drinnen leben die Leute so, wie sie arbeiten müssen. (Rathgeb, FAZ)30 Diese Aussage lässt auf den Zwiespalt der digitalen Bohème schließen, die sich zwischen einer abgesicherten Festanstellung und dem Freiberuflertum entscheiden muss.
Bereits 1993 erkannten Rose und Danner - beides Medienkünstler aus Linz - diese Entwicklungen der Technik. Als gemeinsames Künstlerduo „Station Rose“ gründeten sie 1988 ein öffentliches Multimedialabor und wurden mit diesem Schritt die ersten, die Kunst und multimediale Technik miteinander verbanden. Bereits Jahre vor einer tatsächlich elektronischen Vernetzung erklärten sie ihre Arbeit zu einer multimedialen Kunststation .31 Station Rose ist der Name des Hauses, in dem Elisa Rose und Gary Danner lange Zeit gewohnt haben. Es diente ihnen gleichzeitig als Galerie und Atelier. Während des Studiums an der Kunstakademie, zwischen Modenschauen und Videokunst, kommen sie in Kontakt mit multimedialer Technik und gewöhnen sich an diesen Begriff. Danner proklamiert heute jedoch, dass der Begriff für veraltet gelte:
Wir verändern unsere Kunst ständig - im Kommunikationsprozess mit anderen Künstlern, mit denen wir vernetzt sind. Das ist eine Weiterentwicklung von Multimedia, die wir als ’ Hypermedia ’ bezeichnen.32
So bezeichnet auch Rakuschan auf Spiegel-Online Rose und Danner als erste, die im Wiener Kunstfeld zum Daten-Dandyismus abgehoben haben. Nach der Amsterdamer Agentur Bilwet nimmt der "Daten-Dandy" den Platz des vormaligen Cyberpunks ein.33 Station Rose selbst bezeichnet sich als Pioniere der Digital Culture .34 1991 zogen sie von Wien nach Frankfurt am Main und begannen sich praktisch mit dem Internet auseinanderzusetzen. Das Duo schloss sich der virtuellen Gemeinschaft WELL (Whole Earth 'Lectronic Link) an.
[...]
1 Scott McLeod, J.D.; Ph.D., ist ein Junior-Professor und Leiter des Bildungs- und Verwaltungsprogramms der Iowa State University. Er ist auch der Direktor der UCEA Zentrum für Advanced Study of Technology Leadership in Education (CASTLE), das einzige Zentrum für die Technologie-Bedürfnisse der Schule. Außerdem war er Co-Autor des beliebten Video: „Did you know?“ (Shift Happens). Er erhielt zahlreiche nationale Auszeichnungen für seine Technologieführerschaft im Bereich Arbeiten, einschließlich der jüngsten Erkenntnisse aus der Kabelindustrie, Phi Delta Kappa, und den nationalen School Boards: dangerouslyirrelevant.org. (http://www.scottmcleod.net/bio; Zugriff am: 10.09.2009) Karl Fisch ist Director of Technology for Arapahoe High School in Centennial, Colorado und Mitentwickler des prämierten Videos “Did you know” (Shift happens). (vgl.: http://www.blogger.com/profile/11121548023409279686; Zugriff am: 10.09.2009)
2 http://thefischbowl.blogspot.com/2006/08/did-you-know.html; Zugriff am: 06.09.2009
3 Aufmerksamkeitsströme sind ein Effekt des Framings, in der Kommunikationswissenschaft. Dort werden Ereignisse und Themen so eingebettet und akzentuiert, dass sie Informationen in Form von abstrakten themenunabhängigen Deutungsmustern herstellen, die wiederrum mit neuen Themen verknüpft werden können. Dadurch wird eine neue Komplexität geschaffen und neue Selektionen von neuen Informationen hergestellt. (Hahn et al. 2008; S. 11)
4 Es gibt viele verschiedene Formen von echten Viren. Was sie gemein haben, ist aber nicht die Form des Virus (der Inhalt), sondern die Art der schnellen, massenhaften Teilung auf den Trägerwirten (die Struktur). Gefunden auf : http://blog.kmto.de/strategie/was-macht-virale-videos-viral/ (Zugriff am 06.09.2009) So wie dies bei der Weiterempfehlung der besagten Powerpoint Präsentation „Shift happens“ passierte. Bei dieser Art von Mundpropaganda werden die sozialen Netzwerke und Medien gezielt genutzt, um Informationen zu streuen. Der Term „viral“ besagt, dass Informationen über ein Produkt oder eine Dienstleistung innerhalb kürzester Zeit gleich einem biologischen Virus von Mensch zu Mensch weitergetragen werden.
5 Foto auf: http://blog.kmto.de/strategie/was-macht-virale-videos-viral
6 http://de.wikipedia.org; Zugriff am: 12.09.2009
7 http://knol.google.com/k; Zugriff am: 12.09.2009
8 https://www.xing.com; Zugriff am: 12.09.2009
9 http://www.twitter.com; Zugriff am: 12.09.2009
10 http://www.facebook.com; Zugriff am: 12.09.2009
11 http://www.studivz.net; Zugriff am: 30.09.2009
12 http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,457536,00.html; Zugriff am: 12.09.2009
13 Gefunden auf: http://www.re-publica.de/09/; Zugriff am: 06.09.2009
14 Urbanität aus dem lateinischen urbs (Stadt) umschreibt die Ideale wie Bildung, Weltläufigkeit, feines Wesen und Höflichkeit. Das Vorkommnis der „Urbanisierung“ charakterisiert dagegen die Verdichtung und Vergrößerung von menschlichen Siedlungen. (vgl. Eisinger 2004) Gefunden auf: http://www.tg.ethz.ch/dokumente/pdf_files/EisingerURBANITAET.pdf; Zugriff am: 09.09.2009
15 Helmut Höge, taz-Autor der ersten Stunde, arbeitet im taz-Verlagshaus in der Berliner Rudi-Dutschke-Straße (vormals: Kochstraße) als Aushilfshausmeister. Zuletzt erschien von ihm der Reiseroman “Neurosibirsk” (Peter Engstler Verlag), in Vorbereitung ist eine “Anti -Darwin”- Anthologie (Kadmos-Verlag), seit seine Gedächtnisleistungen altersbedingt zurückgehen, zieht es ihn verstärkt ins “facility management.” Gefunden auf: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/06/25/digitale-pennerurbane-Bohème/; Zugriff am: 09.09.2009
16 Gefunden auf: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/06/25/digitale- pennerurbane-Bohème/; Zugriff am: 09.09.2009
17 Auch zu finden unter: http://www.YouTube.com/watch?v=IUYqQN20Kdo; Zugriff am: 20.09.2009
18 Gefunden auf: http://www.fotofahl.com/index.html?d_3689_Zigeuner___RIEDER__E___Zigeuner_Wagen__ca_ _1925__5363.htm, Zugriff am: 19.09.2009
19 Der Begriff Mikrokosmos stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus den zwei Begriffen míkros „klein“ und kósmos „Welt“ zusammen (vgl. Brockhaus, 1974, S. 667f.). In der Philosophie meint er die kleine Welt des Menschen, vorgestellt als reduziertes Abbild des als großer Organismus gedachten Universums (Makrokosmos).
20 Aber: eindeutige Zuordnung nicht immer möglich durch Vielfalt der Lebensweisen
21 Gefunden auf: http://www.societyofcontrol.com/ppmwiki/pmwiki.php/Main/KreuzerBohème; Zugriff am: 12.09.2009
22 Jaeger galt als der Anführer der Kristiania-Bohème, einem Kreis radikaler Anarchisten in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre. (vgl. Wilhelm 1993, S. 125)
23 Mader 2009; Gefunden auf: http://www.matthias-mader.de/text/zitate/; Zugriff am: 12.09.2009
24 Mader 2009; Gefunden auf: http://www.matthias-mader.de/text/zitate/; Zugriff am: 12.09.2009
25 Kreuzer 2008; Gefunden auf: www.gbv.de/du/services/agi/53DFD44F64171664C125712C0059196F/420000037 597, Zugriff am: 10.09.2009
26 Vgl. ebd.
27 Kreuzer 2008; Gefunden auf: www.gbv.de/du/services/agi/53DFD44F64171664C125712C0059196F/420000037 597, Zugriff am: 10.09.2009
28 http://www.etsy.com; Zugriff am 02.09.2009
29 http://de.dawanda.com
30 Rathgeb F.A.Z., 08.12.2006, Nr. 286; auf: http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~EF67729 E92A7E41239ACE1CF187AEC5E2~ATpl~Ecommon~Scontent.html; Zugriff am: 19.09.2009
31 Rakuschan SPIEGEL ONLINE 1999; auf: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,46784,00.html; Zugriff am: 11.09.2009
32 Danner 28.12.2001; auf: http://www.inselmedia.de/leeson/nr2/station-rose.htm; Zugriff am: 11.09.2009
33 Ebd.
34 Danner und Rose 2001; gefunden auf: http://www.stationrose.com/STR_infobook.pdf; Zugriff am: 11.09.2009
- Citation du texte
- Pamela Hackel (Auteur), 2009, Arbeit und Lebensstil der digitalen Bohème , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/172046
-
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X.