Noch während der Zeit der Militärdiktatur in Argentinien von 1976 bis 1983 erlangten die Madres de Plaza de Mayo Weltruf. Ihr weißes Kopftuch ist Symbol für friedlichen Widerstand gegen grausamste Verbrechen geworden; ihre wöchentlichen Demonstrationen auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires Sinnbild des Einstehens für Menschenrechte. Die Madres sind zweifelsohne die bekannteste Menschenrechtsorganisation Argentiniens, fast schon ein Mythos für sich. Doch es gab und gibt nicht nur sie. Zehn Menschenrechtsgruppen organisierten Widerstand gegen die Verbrechen der Militärdiktatur. Sie existieren bis heute und viele neue Gruppierungen sind dazugekommen. Das Thema Menschenrechte sowohl zu Zeiten der Diktatur als auch im heutigen Argentinien erscheint in zeitlichen Abständen immer wieder im Vordergrund der argentinischen Politik.
Doch die Intensität der Debatte schwankt. Die Gründe für das Auf und Ab der Menschenrechtsfrage in der argentinischen Öffentlichkeit, in ihrer Politik und Gesellschaft sind der zentrale Gegenstand dieses Buches. Antonio Gramscis Konzept der Zivilgesellschaft ist dabei die Grundlage für die Untersuchung der Rolle der Menschenrechtsbewegung im Demokratisierungsprozess in Argentinien.
Die Entwicklung der Menschenrechtsbewegung, ihre Stellung in Politik und Gesellschaft sowie ihren Einfluss auf den argentinischen Demokratisierungsprozess zeigen zwei Epochen der nachdiktatorischen Geschichte Argentiniens im Vergleich: zum einen die Regierungszeit des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Raúl Alfonsín von 1983-1989 und zum anderen die Zeit von 1998 bis zur Gegenwart. Beide Epochen sind durch eine "Konjunktur" der Menschenrechtsfrage gekennzeichnet. Gleich nach dem Ende der Diktatur wurden die Verbrechen öffentlich und machten so die Menschenrechtsfrage zum zentralen Thema in Politik und Gesellschaft und zum festen Bestandteil des Demokratisierungsversuches. 1998 erlebte sie einen erneuten Aufschwung. Die Festnahme von Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet in London hatte Vorbildwirkung auch für Argentinien und aufsehenerregende interne Erfolge der argentinischen Menschenrechtsbewegung wie die erneuten Festnahmen bekannter Ex-Diktatoren fachten die Diskussion um die Vergangenheitsbewältigung wieder an. Welche Faktoren waren für diese "Konjunkturen" ausschlaggebend?
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. DAS ZIVILGESELLSCHAFTSKONZEPT VON ANTONIO GRAMSCI
2.1. Der integrale Staat
2.2. Schaffung von Hegemonie
2.3. Der Alltagsverstand
2.4. Eine Arbeitsdefinition
3. DIE ENTSTEHUNG DER MENSCHENRECHTS- BEWEGUNG IN ARGENTINIEN
4. ZWEI EPOCHEN IM ARGENTINISCHEN DEMOKRATISIERUNGSPROZESS
4.1. Die Zeit der Transition
4.1.1. Das Ende der Diktatur
4.1.2. Die Regierungszeit von Raúl Alfonsín
4.2. Die „Renaissance“ der Menschenrechtsbewegung
4.2.1. Aspekte der Menschenrechtspolitik unter Carlos Menem
4.2.2. 1998 - Umbruch in der Menschenrechtsdebatte
4.2.3. Menschenrechte unter der Regierung Fernando De la Rua
5. RESÜMEE
Literaturnachweis
1.EINLEITUNG
Siebzehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien haben die Madres de Plaza de Mayo Weltruf erlangt. Ihr weißes Kopftuch ist Symbol für friedlichen Widerstand gegen grausamste Verbrechen geworden. Ihre wöchentlichen Demonstrationen auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires Sinnbild des Einstehens für Menschenrechte. Die Madres sind zweifelsohne die bekannteste Menschenrechtsorganisation Argentiniens, fast schon ein Mythos für sich. Doch es gab und gibt nicht nur sie. Zehn Menschenrechtsgruppen organisierten Widerstand gegen die Verbrechen der Militärdiktatur. Sie existieren bis heute und neue Gruppierungen sind dazugekommen. Ihr Aufbegehren zu Zeiten der Diktatur, vor allem aber ihr ungeheures Potential, Menschen zu mobilisieren als die Macht des Militärregimes unaufhaltsam schwand, trugen maßgeblich dazu bei, daß die Transition von der Diktatur zu einer demokratischen Grundordnung in Argentinien im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern einen einzigartigen Verlauf nahm. So war die Menschenrechtsdebatte im entscheidenden Moment des Umbruchs 1983 politikbestimmend. Nur in Argentinien wurde führenden Militärs der Diktatur der Prozeß gemacht. Im Gegensatz zum Nachbarland Chile, in dem die Armee maßgeblich die Transition bestimmte und das Schweigen über die Verbrechen der Diktatur erst in jüngster Zeit durchbrochen wurde, ist die Menschenrechtsdebatte aus der öffentlichen Diskussion in Argentinien nicht wegzudenken. Dabei läßt sich allerdings feststellen, daß sie zu unterschiedlichen Zeiten mit verschieden starker Intensität geführt wurde. War die Debatte nach dem Ende der Diktatur tonangebend in Medien, Gesellschaft und Politik, so ebbte sie Ende der 80-er Jahre immer mehr ab und wurde vor allem von ökonomischen Sorgen der Bevölkerung verdrängt. Doch ganz verstummte sie nie. Im Gegenteil, eine erneute „Renaissance“ der Diskussion um die Verbrechen der Diktatur zeigt seit 1998, daß das Thema latent weiter existierte. Externe Faktoren wie die Festnahme von Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet in London mit Vorbildwirkung auch für Argentinien und aufsehenerregende interne Erfolge der argentinischen Menschenrechtsbewegung wie die erneuten Festnahmen bekannter Ex-Diktatoren fachten die Diskussion um die Vergangenheitsbewältigung wieder an und zeigten, daß die Frage der Menschenrechtsverbrechen der Diktatur noch immer nicht befriedigend geklärt wurde, und die Ruhe um das Thema in der Gesellschaft nur oberflächlich war.
Wie es zu diesen Schwankungen in der Intensität der Debatte, dem Auf und Ab der Menschenrechtsfrage in der argentinischen Öffentlichkeit, in Politik und Gesellschaft kam und kommt, soll zentraler Gegenstand dieser Arbeit sein. Anhand von Antonio Gramscis Konzept der Zivilgesellschaft wird die Rolle der Menschenrechtsbewegung im Demokratisierungsprozeß in Argentinien untersucht. Im Mittelpunkt stehen dabei die Verflechtung der politischen Gesellschaft und der Menschenrechtsbewegung als zivilgesellschaftlichem Akteur, das Ringen beider um Meinungsführerschaft im politischen Diskurs und der Versuch, den Alltagsverstand bzw. die politische Mentalität der Bevölkerung jeweils für die eigenen Anliegen zu sensibilisieren und zu formen. Dabei wird von der Menschenrechtsbewegung allgemein gesprochen. Unterschiede zwischen den einzelnen Organisationen in ihren Forderungen, Zielvorstellungen und Aktivitäten sollen damit nicht negiert werden. Auf sie wird an gegebener Stelle auch eingegangen. Jedoch würde es den Rahmen der Ausführungen sprengen, jede einzelne Organisation zu betrachten, so daß mit dem übergreifenden Begriff Menschenrechtsbewegung gearbeitet wird. Dies ist insofern zulässig, als daß allen Organisationen, die vor und während der Diktatur entstanden sind, trotz ihrer Diskrepanzen in ihren Forderungen und ihrer Herangehensweise der Wille gemein ist, eine Kultur der Erinnerung in Argentinien aufzubauen, Straflosigkeit nicht zuzulassen und die Frage der Menschenrechte als einen unabdingbaren Bestandteil der demokratischen Ordnung durchzusetzen. An letztere Forderung schließen sich auch die Bestrebungen neugegründeter Organisationen an, deren Fokus nicht in der Vergangenheit der Diktatur, sondern bei den Menschenrechtsverletzungen der Gegenwart liegt. Sie alle, die „alten“ wie die „neuen“ Menschenrechtsorganisationen eint das Bekenntnis zur Demokratie sowie die Ablehnung von Gewalt als Protestform.
Die Entwicklung der Menschenrechtsbewegung, ihre Stellung in Politik und Gesellschaft sowie ihr Einfluß auf den argentinischen Demokratisierungsprozeß wird anhand zweier Epochen der nachdiktatorischen Geschichte Argentiniens untersucht und verglichen: zum einen der Regierungszeit des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Raúl Alfonsín von 1983-1989 und zum anderen der Zeit von 1998 bis zur Gegenwart. Beide Epochen sind durch eine „Konjunktur“ der Menschenrechtsfrage gekennzeichnet - gleich nach dem Ende der Diktatur, als die Verbrechen öffentlich wurden, war die Menschenrechtsfrage zentrales Thema in Politik und Gesellschaft und fester Bestandteil des Demokratisierungsversuches und 1998 erlebte sie aus den schon genannten Gründen einen erneuten Aufschwung.
Anhand beider Epochen wird der Frage nachgegangen, welche Faktoren für die „Konjunktur“ der Menschenrechtsbewegung eine Rolle spielten. Dabei ist vor allem das Verhältnis der offiziellen Politik zur Menschenrechtsbewegung/Zivilgesellschaft von besonderem Interesse, da von der These ausgegangen wird, daß nur in Zusammenarbeit von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft das Thema Menschenrechte zu einem politikbestimmenden Bestandteil in Argentinien werden konnte und kann. Das Abhängigkeitsverhältnis beider Gesellschaften soll am Beispiel der Menschenrechtsdebatte aufgezeigt und näher erläutert werden.
2. DAS ZIVILGESELLSCHAFTSKONZEPT VON ANTONIO GRAMSCI
Zur Analyse der unterschiedlich intensiven Phasen der argentinischen Menschenrechtsdebatte wird in dieser Arbeit das Zivilgesellschaftskonzept von Antonio Gramsci herangezogen werden. Der Begriff Zivilgesellschaft ist spätestens seit dem Umbruch in den osteuropäischen Staaten Ende der 80-er Jahre in aller Munde. Zum Modebegriff in Medien, Politik und Wissenschaft geworden, wird er zum Teil wahllos genutzt, um alle möglichen gesellschaftlichen (Oppositions)Phänomene zu beschreiben und zu erklären. Das Verständnis von dem Begriff bleibt dabei wage und ungenau - Grund genug, seiner Anwendung skeptisch gegenüber zu stehen.
Es existiert keine einheitliche Definition dessen, was Zivilgesellschaft ist und erreichen kann oder soll. Gerade deshalb ist es wichtig, so genau wie möglich zu umreißen, in welchem Kontext und mit welchem Inhalt man selber mit dem Begriff zu arbeiten gedenkt. Dies soll im folgenden Kapitel geschehen.
In der Vielzahl der inzwischen existierenden Zivilgesellschaftskonzepte schien das Model von Antonio Gramsci für die Analyse der Situation der argentinischen Menschenrechtsbewegung am geeignetsten. Gründe dafür liegen vor allem in dem sehr weit gefaßten Begriff von Zivilgesellschaft, der Konzentration auf das Zusammenspiel von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft beim Ringen um die Macht- und Meinungsführerschaft (Hegemonie) im Staat sowie im besonderen Augenmerk auf den sogenannten Alltagsverstand bzw. die politische Mentalität der Bevölkerung als maßgebliche Komponente bei der Durchsetzung von Hegemonie.
Antonio Gramsci bezog sein Konzept der Zivilgesellschaft auf den italienischen Staat zu Beginn des 20. Jahrhunderts und analysierte die Herrschafts- und Machtstrukturen zwischen Politik und Zivilgesellschaft im Hinblick auf eine mögliche sozialistische Revolution. Aus diesem Grunde kann Gramscis Konzept natürlich nicht 1:1 auf die argentinische Gesellschaft der 80-er und 90-er Jahre übertragen werden, obwohl es, wie Ulrich Schreiber zutreffend feststellt, ein Model für die Staatsanalyse ist, „das nicht nur für die bürgerliche und sozialistische, sondern für sämtliche staatlich verfaßte Gesellschaften gilt.“[1] Es wird deshalb im letzten Teil des Kapitels anhand des Zivilgesellschaftsmodels von A. Gramsci eine Schwerpunktsetzung und Begriffsdefinition anhand des Models vorgenommen werden, die für eine Analyse der spezifischen Situation in Argentinien geeigneter und sinnvoller erscheint. Doch zunächst eine Darstellung der wichtigsten Punkte des Zivilgesellschaftskonzepts von Gramsci.
2.1. Der integrale Staat
Grundvoraussetzung für das Verständnis von Politik, Macht, Herrschaft und Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci ist seine Verwendung eines erweiterten Staatsbegriffes, dem des integralen Staates. Hier erschließt sich, was bisher mit Zusammenspiel von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft gemeint war.
Der integrale Staat setzt sich aus zwei unterschiedlichen, aber sich gegenseitig bedingenden Wirkungsebenen zusammen: der Zivilgesellschaft (societá civile) und der politischen Gesellschaft (societá politica). Beide Ebenen existieren in allen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Räumen. Sie sind organisch nicht voneinander trennbar, denn sie sind miteinander verwoben, aufeinander angewiesen und bedingen sich gegenseitig. Wird trotzdem von Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft separat gesprochen, so geschieht das aus rein methodischen Gründen zur Analyse der Funktionsweise von Herrschaft und Staat. Auf beiden Ebenen wird, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln und unter unterschiedlichen Voraussetzungen, um die Machtfrage und Meinungsführerschaft in Politik und Gesellschaft gerungen (vgl. 2.2. Schaffung von Hegemonie).
Gramsci versteht dabei unter politischer Gesellschaft diejenige Ebene, die durch Exekutive, Legislative und Judikative verkörpert wird. Sie wird fälschlicherweise oft mit dem Staat an sich gleichgesetzt, was nicht der Begrifflichkeit von Gramsci entspricht. Die politische Gesellschaft ist wie auch die Zivilgesellschaft nur ein Bestandteil des Staates. Sie ist allerdings diejenige Schicht der Bevölkerung, die die Macht im Staat innehat. Sie verfügt damit im Gegensatz zur Zivilgesellschaft zusätzlich noch über die (gesetzlichen) Repressions- und Zwangsinstrumentarien zu ihrer Herrschaftssicherung.
Die Zivilgesellschaft ist bei Gramsci sehr weit definiert. Sie umfaßt alle Schichten, Klassen und Gruppen, die nicht zur politischen Gesellschaft gehören. Sie ist laut Gramsci die „Gesamtheit aller ‘privat’ genannten Organismen“.[2] Darunter sind auf der einen Seite soziale Institutionen wie die Familie, ideologische Machtzentren wie Kirchen und Parteien, außerparlamentarische Organismen von Nichtregierungsorganisationen über soziale Bewegungen bis hin zu Nachbarschaftshilfen sowie kulturelle Einrichtungen zu verstehen. Auf der anderen Seite gehören auch Kommunikationsstrukturen, Sitten oder Alltäglichkeiten zur Zivilgesellschaft. Kein Bereich der Zivilgesellschaft läßt sich im realen Kontext klar von einem anderen trennen. Nichts ist neutral und ungewertet, sondern alles bedingt sich gegenseitig. Die Zivilgesellschaft ist somit der Ort, an dem die Menschen in ihrem sozialen, kulturellen und politischem Verhalten sowie ihrem Weltverständnis geprägt werden. Je größer die Räume, die sich die Zivilgesellschaft jenseits der Dominanz der politischen Gesellschaft geschaffen hat, desto vielfältiger sind auch die zu Tage kommenden Vorstellungen von Politik und Gesellschaft.
Trotzdem ist die Zivilgesellschaft „kein Reich der Freiheit ..., sondern ein Terrain der Herrschaft, die von einer Gruppe oder Gruppierung über andere ausgeübt wird.“[3] Denn hier wird der Kampf um die Macht, um die Zustimmung der Menschen zu der einen oder anderen politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Linie oder Idee ausgetragen und entschieden (vgl. 2.2. Schaffung von Hegemonie).
Geht man von dieser weitgefaßten Definition Gramscis aus, so läßt sich sagen, daß schon die ersten Anfänge der Menschenrechtsbewegung in Argentinien unter der Diktatur, also die in Gruppen nach ihren Kindern und Verwandten suchenden Mütter, als zivilgesellschaftliche Akteure verstanden werden konnten, lange bevor sie sich wirklich organisierten.
2.2. Schaffung von Hegemonie
Hegemonie in allen relevanten Bereichen des Staates ist für die politische Gesellschaft das Rückrad der Macht, soll diese nicht nur auf Zwang und Gewaltherrschaft beruhen. Deshalb gilt ihr das besondere Augenmerk von A. Gramsci in seiner Analyse von Staats- und Herrschaftsstrukturen.
Hegemonie ist das Gegenteil von Gewalt, Zwang und Terror. Sie ist diejenige Macht, die auf einem Konsens der Gesellschaft aufbaut. Sie wirkt subtil, denn sie realisiert sich in der alltäglichen Lebensweise der Menschen. Deshalb ist der Ort, an dem Hegemonie entsteht und gehalten oder verändert wird, die Zivilgesellschaft. Hier entscheidet sich, ob die politische Gesellschaft fähig ist, ihre Macht mit nicht-gewaltsamen Mitteln zu erhalten und zu stärken, oder ob es einem alternativen Herrschaftsprojekt gelingt, sich im Alltagsverstand (vgl. 2.3. Alltagsverstand und politische Mentalität) und in der Weltanschauung der Menschen durchzusetzen, und - sollte dies in allen wichtigen Bereichen von Politik und Gesellschaft der Fall sein - dann seinerseits die Macht der politischen Gesellschaft zu übernehmen.
Gramsci unterscheidet deshalb zur Analyse dieses Prozesses zwischen zwei Herrschaftsformen, die fundamental für Machterringung und -erhalt sind: Herrschaft und Führung. Eine Klasse, Schicht oder Gruppe ist herrschend gegenüber den Gegnern, aber führend gegenüber den Verbündeten. Um überhaupt herrschend werden zu können, muß sie bereits vor Machtantritt führend sein. Dieses Ringen um Führung und Herrschaft spielt sich in der Zivilgesellschaft ab, denn Führung in der Zivilgesellschaft und Herrschaft in der politischen Gesellschaft sind untrennbar miteinander verbunden. Demnach kann die politische Gesellschaft auch nur dann herrschend, also hegemonial bleiben, wenn es ihr gelingt, die Führung in der Zivilgesellschaft beizubehalten. Je stärker sie mit ihrem Konzept dort präsent ist, um so größer ihre Macht. Denn Hegemonie bedeutet, Konsens mit der Bevölkerung gefunden zu haben, die bewußt oder unbewußt die Spielregeln der herrschenden Macht anerkennt.
Eine etablierte Macht auf lange Sicht zu ändern, bedarf es eines umfangreichen und andauernden Alternativprogrammes. Denn: „Für Gramsci besteht revolutionäres Handeln nicht in der Aufstachelung zur Rebellion, sondern in dem langwierigen Unterfangen, auf breiter Basis und mit einem theoretisch ausgearbeiteten und sorgfältig geplanten kulturellen Instrumentarium (d.h. intellektueller Entwicklung und Erziehung) eine alternative Mentalität durchzusetzen.“[4]
Der Erfolg bzw. Mißerfolg der Menschenrechtsbewegung in Argentinien hing und hängt unmittelbar mit ihrer Durchsetzungsfähigkeit in der Zivilgesellschaft, also dem Einwirken auf Alltagsverstand und politische Mentalität der Bevölkerung und darüber wiederum dem Einfluß auf die politische Gesellschaft zusammen. Gelang es ihr, die Menschenrechtsfrage zum zentralen Thema der Zivilgesellschaft zu machen, also auf ihrem Gebiet eine „Teilhegemonie“ zu erlangen, so kam auch die politische Gesellschaft nicht umhin, sich den Forderungen der Menschenrechtsbewegung zuzuwenden, wollte sie selber nicht allzu viel Raum in der Zivilgesellschaft verlieren. Umgekehrt hatte aber auch die politische Gesellschaft enormen Einfluß auf die Intensität der Menschenrechtsdebatte, ist doch sie hegemonial in (fast) allen anderen Bereichen der Gesellschaft und somit fähig, Meinungen und Diskussionen bis zu einem bestimmten Punkt zu lenken (zumal sie zusätzlich noch über die herrschaftssichernden Instrumente des Machtapparates verfügt). Möglicherweise ist der Einfluß der politischen Gesellschaft auf die Intensität der Menschenrechtsdebatte in der Zivilgesellschaft sogar entscheidender als die Aktivitäten der direkt betroffenen Menschenrechtsorganisationen. Denn die Zivilgesellschaft, so die Behauptung von Joseph Buttigieg, „ist keine neutrale Zone, in der unterschiedliche Elemente der Gesellschaft als freie und gleiche operieren und konkurrieren, ungeachtet der Tatsache, wer die Regierungsmacht innehat.“[5] Für diese Annahme spricht, daß es zu einer „Konjunktur“ der Menschenrechtsfrage in Argentinien immer dann kam, wenn auch die politische Gesellschaft sich des Themas angenommen hatte. Die Menschenrechtsbewegung allein war lediglich gleich nach dem Ende der Diktatur in der Lage, aus eigener Kraft das Interesse eines Großteils der Bevölkerung für ihre Anliegen zu wecken (vgl. Kapitel 3.1.1.).
Dieser gegenseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung von politischer Gesellschaft und Menschenrechtsbewegung auf dem Terrain der Zivilgesellschaft soll im empirischen Teil der Arbeit nachgegangen werden. Denn unter Berücksichtigung des Hegemonieaspekts finden sich mögliche Antworten auf die Fragen, warum die Menschenrechtsdebatte zu unterschiedlichen Zeiten verschieden stark geführt wurde und was geschehen muß, damit sie dauerhaft Eintritt in den Diskurs der argentinischen Gesellschaft findet und ihre Forderungen durchsetzen kann.
2.3. Der Alltagsverstand
Der sogenannte Alltagsverstand (senso comun) ist der wichtigste Anknüpfungspunkt beim Kampf um Hegemonie. Gleichzeitig Ziel und Produkt der Auseinandersetzung um Vormachtstellung und Meinungsführerschaft, ist er das Terrain der Hegemoniebildung.
Gramsci unterscheidet zwischen der Philosophie der Intellektuellen und dem Alltagsverstand der sogenannten „Einfachen“. Der Alltagsverstand ist demnach das weitverbreitete Selbstverständnis der Mehrheit der Bevölkerung, die Philosophie das politische und gesellschaftliche Projekt der Eliten. Diese Unterscheidung wird allerdings nur rein analytisch unternommen, ist doch der Übergang zwischen Philosophie und Alltagsverstand prozeßhaft, da eines das andere permanent beeinflußt.
Die Philosophie der politischen Gesellschaft, der Machtinhaber, schlägt sich als Konsens im Alltagsverstand nieder. Soll es zu einer Umkehr dieser hegemonialen Strukturen kommen, zu der Durchsetzung eines alternativen Projektes also, bedarf es eines „Geistes des Bruchs“. Dieser kann nur in der Zivilgesellschaft entstehen. Hier muß Widerstandspotential aufgespürt und mobilisiert werden. Laut Gramsci sind dabei die Intellektuellen gefragt. Sie haben eine alternative Philosophie zur herrschenden zu entwickeln und langfristig im Alltagsverstand der Bevölkerung so durchzusetzen, daß sie mehrheitsfähig wird. Die Auseinandersetzung um die Vormachtstellung im Staat, wenn sie erfolgreich sein soll, muß also „in einer sorgfältigen Formulierung einer gegen-hegemonialen Konzeption der gesellschaftlichen Ordnung verankert sein, in der Verbreitung einer solchen Konzeption und in der Formierung gegen-hegemonialer Institutionen - was nur in der ZG stattfinden kann und ihre Ausdehnung verlangt.“[6]
Auch hier sind die Mechanismen subtil und werden von der Mehrheit der Bevölkerung nicht bewußt wahrgenommen. Sie vollziehen sich in allen Bereichen, die in irgendeiner Art meinungsbildend sind: von der Kommunikation der Medien und Kunst über die Erziehung in Familie und Schule bis hin zur Werbung, zu Sitten, Gebräuchen und Sprache.
Es ist deshalb beispielsweise für die Etablierung und Akzeptanz der Menschenrechtsfrage in Argentinien nicht unerheblich, ob die Toten und Verschwundenen der Diktatur im allgemeinen Sprachgebrauch als Terroristen und Subversive bezeichnet werden oder als Opfer. Denn daran verdeutlicht sich, welches Konzept von der Diktatur die öffentliche Meinung beherrscht: das der brutalen, doch notwendigen Terroristenbekämpfung oder das der willkürlichen Gewaltherrschaft. Davon nämlich hängen dann wieder Unterstützung oder Ablehnung der Forderungen der Menschenrechtsbewegung durch die Bevölkerung ab.
2.4. Eine Arbeitsdefinition
Wie eingangs schon erwähnt, konzipierte Antonio Gramsci seine Analyse der Zivilgesellschaft für eine Gesellschaft mit Aussicht auf einen Umbruch zum Sozialismus. Für ihn ergab sich deshalb eine Trennung zwischen zwei konkurrierenden Philosophien: der kapitalistischen Philosophie der herrschenden Klasse und der sozialistischen Philosophie, die in der Zivilgesellschaft durchgesetzt werden und zur Ablösung des kapitalistischen Systems führen sollte. Dieser Kontext trifft heute auf Argentinien natürlich nicht zu. Zwar lassen sich mit Gramscis Analyse Herrschafts- und Machtstrukturen im Staat und verschiedenste gesellschaftliche Umbruchphänomene bis heute erklären. Jedoch läßt sich dies nicht ohne Einschränkungen auf jede Gesellschaft übertragen. Es werden deshalb an dieser Stelle Begrifflichkeiten so eingegrenzt und definiert, daß sie auch für eine Analyse des argentinischen Systems brauchbar sind.
Zunächst ein sprachliches Problem: es gibt im Deutschen keine adäquate Übersetzung für senso comun. Bisher wurde senso comun zumeist mit „Alltagsverstand“ übersetzt. Das trifft jedoch den Sinn dieses Wortes nicht direkt. Joseph Buttigieg benutzt bei seiner Beschreibung dessen, was ausschlaggebend und grundlegend für Hegemoniegewinnung und -erhalt ist, den Begriff politische Mentalität. Schon alleine das Wort Mentalität kommt dem senso comun näher, da Alltags verstand auf Rationalität deutet, senso jedoch dem Sinn entspricht. Die Philosophie ihres „Alltagsverstandes“ ist der Mehrheit der Menschen in den seltensten Fällen eindeutig bewußt. Trotzdem bestimmt und beeinflußt sie ihre Handlungen und Haltungen. Da das Rationale in diesem Prozeß zu einem großen Teil ausgeklammert bleibt, scheint das Wort Mentalität angemessener, um das zu erfassen, was mit senso comun gemeint ist. Aufgrund des spezifischen Themas - der Menschenrechtsfrage in Argentinien - soll auch die Einschränkung politische Mentalität von Buttigieg übernommen werden, da die Frage der Menschenrechte zwar kulturelle, gesellschaftliche und soziale Aspekte enthält, ihre Durchsetzung jedoch noch heute vor allem eine Frage der Politik ist. Sie im Bewußtsein der Menschen zu verankern, heißt also, deren politische Mentalität so zu sensibilisieren und zu beeinflussen, daß die Menschenrechte und ihre Durchsetzung festen Eingang ins politische Konzept eines Staates finden
[...]
[1] Schreiber, Ulrich: Die politische Theorie A. Gramscis. Berlin, 1990, S.41
[2] Antonio Gramsci, zitiert nach ebenda, S.26
[3] Buttigieg, Joseph A.: Gramscis Zivilgesellschaft und die civil-society-Debatte. In: Das Argument 206/1994, S.553
[4] Buttigieg, S.539
[5] ebenda, S.550
[6] ebenda, S.553
- Quote paper
- Antje Krüger (Author), 2000, Menschenrechte und Zivilgesellschaft in Argentinien - Eine Analyse der Rolle der Menschenrechtsbewegung bei der Demokratisierung Argentiniens anhand zweier ausgewählter Epochen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17195
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